Es ist ein Mädchen - Camille Laurens - E-Book

Es ist ein Mädchen E-Book

Camille Laurens

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Beschreibung

Eine bahnbrechende Bestandsaufnahme der Condition Féminine »Haben Sie Kinder?«, wird der Vater gefragt. »Nein, ich habe zwei Mädchen«, antwortet er. – Diese Szene ist eine der ersten Erinnerungen einer Frau, die um 1960 in gutbürgerlichen Verhältnissen in Rouen aufwächst. Was folgt, ist ein Leben, wie es exemplarisch scheint für ihre Generation: Laurence befreit sich aus der Enge des Elternhauses, erlebt sexuelle Freiheit, aber auch Gewalt, sie verliert einen Sohn bei der Geburt und bringt eine Tochter zur Welt. Und mit dieser Tochter, die sich allen Rollenzuschreibungen entzieht, öffnet sich etwas – auch für Laurence und ihr Leben als Frau. Aus dem Besonderen eines Frauenschicksals leitet dieser klug konstruierte Roman ab, was im Allgemeinen folgt, nachdem es heißt: »Es ist ein Mädchen.«

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Camille Laurens

Es ist ein Mädchen

Aus dem Französischenvon Lis Künzli

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Einem Mädchen:meiner wundervollen Tochter

I

1

»Es ist ein Mädchen.«

Es beginnt mit einem Wort, wie das Licht oder wie die Finsternis. Deine Geburt gleicht der Erschaffung der Welt, es wurde Himmel und es wurde Erde, ein Wort scheidet den Raum, spaltet die Menge, trennt die Zeit. Nicht Gott jedoch hat es gesprochen, damit du es gleich weißt, es war Catherine Bernard, Hebamme in der Klinik Sainte-Agathe, in der die Wanduhr Viertel nach fünf anzeigt. Sie hat die Verkündigung nicht vorbereitet, sie hat nichts gewünscht und nichts entschieden, sie ist Nonne und von daher recht offen in der Frage, doch das Ergebnis ist dasselbe: Sie spricht es aus. Während sie dich zur Welt befördert, benennt sie dich, unter ihrer unbefleckten Haube fällt die jungfräuliche Braut Gottes das Verdikt, sie hebt dich in die Welt, indem sie dich benennt. Du gehst aus einem Wort hervor wie aus einer Rose, du entsprießt der Sprache. Du bist noch nichts, kaum ein Subjekt, gelangst unter Mühen zur Existenz; du kannst noch nicht sagen »ich bin«, niemand sagt »sie ist«, nicht mal in der Vergangenheit, »und das Mädchen war«, nicht mal mit dem unbestimmten Artikel, »und ein Mädchen war«, so was sagt man nicht. Im Übrigen bist du ganz und gar nicht unbestimmt, oh nein, du bist alles andere als unbestimmt geboren, da ist bereits das vielsagende »das«. Du bist im Gegenteil ein eindeutig bestimmter Artikel. Die Tatsachen sprechen für sich. Als Mädchen geboren. So ist es, es ist raus, es hallt durch den Raum – weißes Zimmer, Wasserflasche, schmales Bett, Kruzifix. Deine Geburt ist ein banales Geheimnis. Ein kleines Häufchen, ans Licht der Welt gepresst. Ein Schisma spielt sich ab, aber wo nur? Es gibt einen Abend und einen Morgen. Das eine folgt auf das andere, das eine geht in das andere über. Du nicht. Du bist nicht wandelbar. Es ist, wie es ist. Zu spät, keine Feen werden sich über deine Wiege beugen. Die Sache ist gelaufen. Mit dem Kopf nach unten betrittst du die Szene, an die freie Luft wirst du entbunden, na ja, frei, das ist so dahingesagt, denn tags oder nachts, abends oder morgens, es wird nie mehr etwas anderes sein als das, was ist. Du schreist, du brüllst, die Wahrheit ist kalt, die dir die Lungen füllt, es schreit und schafft ein raues Gefühl von Trennung, du spürst nur, dass sich etwas teilt, aus eins wird zwei, ein Schnitt, es ist entzwei. Deine Geburt trennt dich von deiner Mutter, die ebenfalls ein Mädchen ist, das ist bekannt, und im selben Atemzug von der gesamten Menschheit, die nicht den Namen Mädchen trägt. Das entgegengesetzte Wort wird nicht gesprochen, und das mit Grund, aber es schwebt doch still durch den Äther des Zimmers, das gegenteilige Wort setzt den Effekt einer Schablone in die Luft, der Embryo, der Fötus, der Säugling: Bis dahin hattest du das Geschlecht auf deiner Seite. Ein paar Sekunden lang, sie oder er, war alles möglich, die Grammatik schwebte noch über ihrer Landschaft, jetzt hat man dir die Flügel gestutzt (sonst nichts?), du bist einsamer als Robinson, doch es ist getan, die Plazenta ist raus, der Mutterkuchen gegessen. Gott, als Junge geboren, wie man sagt, Vater eines Sohnes, wie man glaubt, Gott ist ein Kind, das mit Würfeln spielt: Es ist ein Mädchen.

 

»Es ist ein Mädchen.«

Die Stimme, die den Auftakt gibt, hat keinen besonderen Tonfall, höchstens dass ein zufriedenes »Das wäre geschafft« durchklingt. Catherine Bernard hebt gern einen, wenn sie nicht im Dienst ist, aber bis jetzt war ihre Leistung davon nicht tangiert. Wie viele Frauen hat sie nicht zu Müttern gemacht, oh ja, wie viele von ihrer Leibesfrucht entbunden. Doch man kann nachbohren, so viel man will, man findet keine Präferenz – eine Ambivalenz, wenn’s hochkommt: Ein neugeborener Junge erinnert sie stets an den kleinen Jesus in der Krippe, an das Heilige ihres Berufs und die Geburt Christi. Aber Mädchen sind ihr weniger fremd, das Waschen geht leichter von der Hand. Und da wir gerade dabei sind, eigentlich verbringt sie recht viel Zeit damit, Geschlechtsteile zu befingern. Die der Jungen sind riesig im Verhältnis zum übrigen Körper, hormongeschwollen, man sieht nichts anderes mehr. Die der Mädchen, unauffällig, sind ihr weniger genierlich, auch wenn das töricht ist. Herr, vergib mir meine Gedanken.

 

»Es ist ein Mädchen.«

Am anderen Ende von Schwester Catherines Satz befinden sich deine Eltern, für die er bestimmt ist und die dafür zuständig sind, die Mädchenmacher, die Verursacher der ganzen Schererei – wer von beiden, er oder sie, hat zum Zeitpunkt t irgendetwas falsch gemacht? Das jedoch ist im Augenblick nicht der springende Punkt, den Schwarzen Peter wird man sich später zuschieben, um seiner Enttäuschung Luft zu machen. Sie nehmen die Nachricht entgegen. Im Moment, da sie sie erwarten, da sie dich erwarten, sind sie ganz und gar im Ungewissen. Sie haben nicht gesehen, wie du auf einem Leuchtbildschirm von einem Weißkittel untersucht wirst, den opaken mütterlichen Bauch durchdringst und deine Hände die flüssige Luft aufwirbeln, während sie der erlösenden Losung, dem entscheidenden, stets zweifelbehafteten Satz (das Berufsgewissen!) entgegenfiebern, ergriffen durch ihre persönliche Deutung (so wie es sich bewegt, ist es bestimmt ein …), der Verkündigung des Orakels, der wahrscheinlichen Wahrheit, nicht dem Satz: »Es ist ein Mädchen«, sondern seinem vorsichtigen Äquivalent, das in etwa ein Synonym dafür ist: »Ich sehe nichts.« Sie wurden nicht darüber informiert, dass du da, wo es sich formen sollte, formlos bist. »Ich sehe nichts«, man verstehe: »Es ist ein Mädchen.« Da gibt es nichts zu sehen, weitergehen, nicht stehen bleiben, es ist ein Mädchen. Deine Eltern hören keine solche Ankündigung und erwarten sie auch nicht, denn die Apparate zu diesem Zweck sind noch nicht erfunden. Wir befinden uns im Jahr 1959. Von der Sohn-o-grafie kennt man gerade erst die Idee; die Technik erzeugt noch nicht die gelierte Welle von Sehnen und Bangen, kein Bild erfasst die Fruchtwasserathleten, da kannst du Glieder bilden, so viele du willst, sogar das eine, kleine, mit Fußtritten Himmel und Hölle in Bewegung setzen, die Spannung bleibt bis zum Schluss, und vergeblich sind deine Zehengrüße, allen Voraussagen zum Trotz: keine Übelkeit, es ist ein Junge, ständig Brechreiz, es ist ein Mädchen; Libido auf dem Höhepunkt, es ist ein Junge, die Lust im Keller, es ist ein Mädchen. Heißhunger auf Salz, Heißhunger auf Zucker? Die Mädchen sind vernascht, das weiß doch jeder. Runde Kugel, Grund zu Jubel; Rugby-Oval, dann ein andermal.(»Pff«, sagt dein Rugbystar von einem Großvater, der 1925 im ausverkauften Stadion die All Blacks austrickste.) Doch es gibt auch geheimere Theorien, die unter Gebärenden zwischen zwei hechelnden Atemzügen von Ohr zu Ohr gelangen: Ist man während der Empfängnis gekommen, ist es ein Junge, hat man nichts gespürt, dann ist es ein Mädchen. Deine Mutter ist besorgt.

Sehr originell ist die Botschaft nicht, da du nicht das erste Mädchen der Familie bist. Du bist das zweite Mädchen und die letzte Chance, denn eine Fortsetzung ist nicht geplant (man täuscht sich.) Du bist nicht nur ein Mädchen, du bist noch ein Mädchen. Du folgst auf ein Mädchen. Deine Schwester (das wirst du bald begreifen), deine Schwester ist vor dir geboren – du bist es, die sie durch deine Geburt zur Schwester macht, du bist es, die euch beide auf diesen anderen Mädchennamen tauft, auf den gemeinsamen Namen Schwester (sie will keine haben, weder dich noch eine andere). Deine ältere Schwester hat man ohne allzu großes Tamtam in Empfang genommen, komme, was wolle. Man hat sie aber doch Claude genannt, ein Name, der für beides geht, ein kleiner Wink an den lieben Gott (an den man nicht glaubt): Na, siehst du, wir haben erwartet, gedacht, gehofft … Du, die Zweite, verstörst. »Es ist noch ein Mädchen«: Du bist eine Hiobsbotschaft. Mit dir hat man nicht gerechnet. Schon deine Schwester war nicht gerade erste Wahl, dir blieb im Grunde keine. Du bist kein Wunschmädchen.

Dabei hat sich dein Vater extra herbemüht. Erwartungsvoll wohnt er deiner Entbindung bei. Das ist zehn Jahre vor dem Mai Achtundsechzig noch nicht die Regel; die Väter werden von dem geweiteten Geschlecht der Frauen auf Distanz gehalten, von dem Schmerz, der in einem Duft von Kacke und Blut in ihnen aufsteigt, von dem Stöhnen wie bei einem krepierenden Tier. Sie würden sich nicht mehr davon erholen, heißt es, es mache sie gar impotent. Man schützt die Männer vor der Schlappe und die Paare vor dem Ekel vor sich selbst. Für deinen Vater jedoch hat man eine Ausnahme gemacht, man hat ihn für robust genug gehalten, um im Kreißsaal zu bleiben, schließlich ist er mit von der Partie, zumindest fast: Er ist Zahnarzt. Und somit an klaffende Löcher gewöhnt, er wird beim Anblick blutiger Schleimhaut kaum in Schockstarre fallen. Mit der Mundhöhle vertraut, wird er sich nicht von einer gezahnten Vagina einschüchtern lassen. Plopp, in Ohnmacht fallen und für den Rest des Lebens durch den gruseligen Anblick kastriert sein. Er hat es jeden Tag mit … Nein, Moment … Nicht dein Vater ist Zahnarzt, so ein Blödsinn, Doktor Galiot ist Zahnarzt, den deiner eben in einer Rauchwolke vor dem Hebammenzimmer angetroffen hat; er wird dein Zahnarzt sein, wenn du mal Zähne haben wirst, und sein Sohn, den er, ohne seine Kippe auszumachen, gerade in den Arm nehmen will, wird in der Siebten und Achten mit dir gehen – Jérôme Galiot, ein kleiner, am selben Tag wie du geborener Dummkopf, dein falscher Zwilling, der mit seinen schwachen Witzen den Ausdruck »starkes Geschlecht« Lügen strafen wird, im Augenblick jedoch ist er die Trophäe seiner Eltern in der Klinik Sainte-Agathe zu Rouen und hat, eine Viertelstunde früher gekommen, eine knappe Länge Vorsprung auf dich. Nein, dein Vater ist Allgemeinmediziner, in der Rue Jeanne-d’Arc, und er hatte bereits einen Namen für dich parat : Jean-Matthieu. Jean wie sein eigener Vater und Matthieu wie er selbst, zur Ehre der Männer der Familie und der beiden schönsten Evangelien, wie der Ungläubige behauptet, Johannes und Matthäus. Man hat in der Praxis angerufen, es gehe los, er lässt alles stehen und liegen und eilt herbei, verschwindet wieder und kommt um fünf Uhr morgens zurück, als ein Duft von XY-Chromosom in der nächtlichen Luft liegt, diesmal ist es so weit, es ist ein Junge, er fühlt es, er will dabei sein. Er grüßt im Vorbeigehen Doktor Galiot, »herzlichen Glückwunsch«, und stürzt in dem Moment in den Kreißsaal hinein, als du aus dem Schlund herausschaust.

Schwester Catherine, nicht sehr begeistert über diesen Eindringling, glättet ihre Schürze, als hätte man sie nackt ertappt, er hat kaum Zeit, einen Blick auf deinen Schädel zu erhaschen, kommandiert sie ihn an die Seite deiner ahnungslosen und benommenen Mutter: Hier wird keiner bevorzugt, und es gehört sich so. Den spärlichen Strähnen nach zu schließen, die auf deinem Kopf kleben, bist du männlichen Geschlechts, mit Sicherheit, man kann dir sogar, ohne sich zu weit vorzuwagen, um die fünfzig eine rasante Alopezie voraussagen, lange vor der Glatze: Dein Vater macht Witze, aber niemand lacht, deine Mutter leidet Höllenqualen, sie hat sie vergessen, diese Pein, sie wird dir kein Wort davon sagen, denn der körperliche Schmerz löscht sich prompter aus dem Gedächtnis als die Lust, die Natur ist gut gemacht, und du wirst diesen ultimativen Schmerz der als Mädchen Geborenen noch früh genug erfahren. Dein Vater steht neben dem Bett und hält zerstreut die Maske deiner Mutter, der es an Sauerstoff und Zärtlichkeit fehlt, den Hals zu Schwester Catherine gedreht, die sich in die Strapazen der Geburt miteinbezieht, »los, wir pressen, los, wir atmen, chh, chh, weiter geht’s, noch einmal, wir schieben die Schultern durch«, wie viele Kinder hat sie nicht mit Worten zur Welt gebracht? Die Entbindung steht kurz bevor, und dein Vater, im Atemstillstand des Ungeborenen, glaubt plötzlich nicht mehr daran, die Gurgel zugeschnürt, die Stimme abgewürgt, schwankt er am Rande des Abgrunds. »Was ist es?«, fragt die Mutter zwischen zwei Atemstößen, es ist zu früh, noch ein letztes Mal pressen, wie das stinkt, nicht gerade ladylike, und doch, da haben wir’s, dein Vater fällt in sich zusammen, hat er wirklich dran geglaubt? Was ist es? Ein Flop.

Man legt dich auf den Bauch deiner Mutter, Hallöchen, sagt dein Vater angesichts der unleugbaren Vulva. Du schreist. Mechanisch ringt er sich zu einem Lächeln durch und weicht zurück. Du weinst nicht, du brüllst, du schreist dir die Lunge aus dem Hals, was für ein Brustkasten, fürs Ohr ist kein Unterschied. Eine Stentorstimme, drei Kilo neunhundert, zweiundfünfzig Zentimeter, viel hätte nicht gefehlt. Dein Vater zieht sich zurück. Das alles erschöpft ihn auf einmal, er ist ausgelaugt, geht schlafen – die Nabelschnur, das Stillen, das Bad, das ist nichts für ihn, in vier Stunden ist wieder Sprechstunde. Die Familie in der Ardèche anrufen und aufpassen, dass die Stimme nicht entgleitet: »Es ist ein Mädchen … Ja, ja, das ist doch auch gut.« Ein Mädchen. So, es ist raus, es ist getan. Der Champagner wird im Peugeot 403 bleiben. Bei einem Jungen wäre er beim ersten Bad dabei gewesen, für das Vergnügen, die Geschlechtsvorteile schwimmen zu sehen. Während bei einem Mädchen … Da ist ja nichts. Nicht, dass er unglücklich wäre, das nicht. Es fehlt nur ein winziges kleines Teil zu seinem Glück, das ist alles. Er drückt sich an der Wand entlang, um nicht Doktor Galiot in die Arme zu laufen, trifft aber am Eingang des Parkplatzes auf ihn. »Und?« – »Es ist ein Mädchen.« – »Ah! Das ist doch auch gut.«

 

»Es ist ein Mädchen.«

Bei genauerem Nachdenken ist es vielleicht gar nicht der erste Satz, den du hörst – denn dass du ihn hörst, steht außer Zweifel: Man weiß nicht genau, was die Babys bei ihrer Geburt sehen, ob sie ganz zu Beginn mehr oder weniger blind oder kurzsichtig sind, aber dass sie taub sind, hat noch nie jemand behauptet. Es heißt sogar, dass sie schon in utero Töne hören, mehrere Monate, bevor sie auf die Welt kommen, dass sie, verformt durch die Geräusche von Darm und Fruchtwasser, die Stimme ihrer Mutter oder deren Vibration vernehmen, und das Klopf, klopf des Vaters auf dem Bauch, falls es existiert, oder die Musik, wenn sie laut genug gespielt wird. Was dich angeht, so hat dein Vater wohl kaum das Gespräch mit dir gesucht vor deiner Geburt, es ist nicht sein Stil, mit Unbekannt*innen zu diskutieren. Es bestehen auch nur geringe Chancen, dass du Bach-Kantaten oder Mozart-Sonaten gelauscht hast, denn er hört seine Platten erst spätabends, zu einer Zeit, da eine schwangere Frau ins Bett gehört. Wenn dein Vater hingegen nicht da ist, morgens, nachmittags, läuft auf dem Plattenspieler in Endlosschleife der Hit des letzten Jahres, Only You, von den Platters gegurrt, You’re my dream come true, my one and only you, denn deine Mutter hat die Single gleich am Tag ihres Erscheinens erstanden. Oder Doris Day, Qué será, será, whatever will be, will be … Vielleicht hast du also vor deinem Antrittssatz, während deines polyglotten Werdeprozesses ein paar Brocken Englisch aufgeschnappt, im Schwimmbeckenmodus, einer Sprache, die du später übersetzen wirst, wenn das dein Beruf geworden ist, du bist mein Traum, der Wirklichkeit geworden, und sogar drei Wörter Spanisch, wie durch Ohrstöpsel hindurch, Was sein wird, wird sein (man hat keinen Einfluss auf das, was kommt), Letzteres passender als Ersteres zum freudigen Ereignis, denn was ist, ist definitiv nicht, was man erträumt hat, denn was in Wirklichkeit gekommen ist, das bist du, das heißt, bist nur du. Mit sechs Monaten deiner Entwicklung bist du also ganz Ohr, bereit, erst die Refrains deiner späteren Existenz zu hören, und dann, an der Schwelle zur äußeren Welt, gleichzeitig das Platsch des schräg auf der relativ glatten Oberfläche des Schweigens aufprallenden Steines (»Es ist ein Mädchen.«) und die Kiesel, die von Mund zu Mund springen (»Das ist doch auch gut.«, »Dann klappt es das nächste Mal.«, »Mädchen sind pflegeleichter.«, »Übung macht den Meister.«).

 

Du wirst in einen weißen Strampler eingewickelt, von deiner Großmutter gestrickt, die das Schicksal nicht herausfordern wollte. Kennst du die Geschichte von den beiden Babys auf der Geburtsstation? Zwei Babys sind zur Welt gekommen, sie liegen nebeneinander im Säuglingszimmer. Das erste sagt zum zweiten: »Was bist du? Ein Junge oder ein Mädchen?« – »Weiß ich nicht«, antwortet das andere. »Warte mal, bis die Schwester gegangen ist«, sagt das erste und beugt sich dann über seine Wiege. Es hebt die Decke, schaut drunter und sagt: »Du bist ein Junge.« – »Woher weißt du das?«, fragt das andere. »Ganz einfach, du hast blaue Söckchen.« Bei dir hat man Vorsicht walten lassen, bei dir hat man es sich verkniffen, himmelblau zu stricken, die Wände in Veilchenfarbe zu streichen, im wartenden Zimmer eine ultramarine Bordüre zu kleben. Man wollte nicht zu blauäugig sein. Man soll den Tag nicht loben, bevor das Kind geschaukelt ist. Aber man hat sich auch nicht mit den Bonbonfarben, Lachs oder Zartrosa, reingesteigert, selbst Eierschale hat man verworfen zugunsten eines reinen Schneeweiß (jungfräulich), auf das dann das Schicksal und die Chromosomen Rot (Blut) oder Blau (König) werfen würden: Die Natur, nicht der Traum schreibt die Märchen. Das Zögern jedoch wird bald mit den Geburtsgeschenken wettgemacht. Häschen, Rassel, Mütze, Frotteetuch, du wirst das Leben in Rosarot sehen – rosa wie Grace Kellys Kleid, das alle Frauen kopieren, seit sie ihren Prinzen geheiratet hat. Selbst die Sicherheitsnadeln, die deine Windeln zusammenhalten, werden rosa sein – denn ja, du bist kurz vor dem historischen Übergang von den waschbaren zu den Wegwerfwindeln geboren worden; das macht dich nicht jünger, ich weiß. Und macht es deiner Mutter nicht einfacher, wie du dir vorstellen kannst. Diese schneeweiße Säuglingsausstattung indessen war keine so grandiose Idee. Da deine Großmutter für mindestens sechs Monate vorgestrickt hat, Strampler und Jäckchen und Höschen und Söckchen, alles in neutralem Weiß, muss deine Mutter den Passanten auf der Straße, den Nachbarn aus dem Haus, den Patienten ihres Mannes, die sich neugierig und ohne jeden Anhaltspunkt über den Kinderwagen beugen, »Was ist es denn?«, oder »Wie heißt es denn?«, ohne Unterlass antworten: »Es ist ein Mädchen«, oder gar, es ist der Gipfel, diejenigen eines Besseren belehren, die sich wundern ob deiner Statur: »Doch, doch, ich versichere Ihnen, es ist ein Mädchen.«

 

Am Morgen begibt sich dein Vater ins Rathaus, um deine Geburt anzumelden, an der er was vermisst, deine Missgeburt, aber nein, so weit wird er nicht gehen. Vor dem Beamten erinnert er sich nicht mehr an den Namen, für den man sich entschieden hat für den Fall der Fälle, sollte es auf Teufel komm r… Was war es noch mal? Juliette, wie deine Patentante? Nein, das geht nicht, das kommt von Julia, das ist das Pendant zu Romeo, sein Anhängsel sozusagen, von wegen Anhängsel, hängt ja gar nichts dran, ha, ha! Julia, das ist der Nullpunkt des Pimmels, die ständige Erwartung dessen, was sie nicht ist, was sie nicht hat, das lebenslängliche Suffix, Juliette ist die kleine Julia, der Inbegriff des Diminutiv-Mädchens, niedlich, herzig, das auf ewig verkleinerte Mädchen, die ewig verkleinerte Julia, das Balkonliebchen, Romeo, der Held, glänzt hier indirekt durch seine Abwesenheit. Man muss dazu sagen, dass dein Vater Barraqué heißt, mit zwei R, wie er stets präzisiert, doppelt genäht hält besser. Jean-Matthieu Barraqué, da weiß man, was man hat. Während hier … Die Namenkunde ist nicht sein Ding – und wird dir das Leben auch nicht erleichtern, nebenbei gesagt. Aber was denn nun? Nathalie? Annie? Sophie? – der Walzer der stummen E, der Tango der Stummen. Martine? (Aber sonst geht’s gut?!) Jeannine? Na ja. Josette? Nein (Uff!). Er ist völlig überfordert. Da fällt ihm ein Film ein, den er vor Kurzem im Kino gesehen hat, Der Prinz und die Tänzerin, mit Marilyn Monroe und Laurence Oliver. Marilyn Monroe ist die Tänzerin. Also Marilyn? Mit einem E dran, damit es französischer ist? Marilyne. Nicht schlecht … Aber wenn du hässlich wirst? Wenn du nicht genug entwickelst, dass die Hand eines anständigen Mannes ordentlich was zu fassen bekommt. Marilyne, das ist kein Geschenk. Das ist ein Gewicht auf den Schultern. Und auf den Brüsten, und auf dem Po. (Und dann Marilyne Barraqué, hm. So blöd ist dein Vater nun auch wieder nicht.) Das ist wie Juliette, nur in einem anderen Stil: zu auffällig. Warum nicht Carmen, wenn wir schon dabei sind? Aber was würde Simone, deine Mutter, dazu sagen? Das wäre ja, als lege man ihr eine Rivalin in die Wiege. Der Prinz hingegen … »Vorname des Kindes?«, wiederholt der Zivilstandesbeamte. Laurence Olivier … Dein Vater sieht ihm ähnlich, nebenbei bemerkt, man hat es ihm schon mehr als einmal gesagt (und auch Sean Connery. In Tyrone Power ein bisschen). Laurence Olivier. Ein finsterer Schönling, genau wie er. Sohn eines Pastors (Anglikaner, aber gut …), grandioser Schauspieler (er hat Romeo gespielt, da haben wir’s doch). Verdacht auf Homosexualität? Das weiß dein Vater nicht, er hört nicht auf Lästerzungen. »Laurence«, sagt er. Laurence, vom lateinischen laurus, Lorbeer, (gekrönt mit) Lorbeeren (dein Vater ist keine Leuchte in Etymologie, aber er ist Arzt, er kennt die Pflanzen bei ihren lateinischen Namen). Du wirst also ein griechischer Athlet, ein römischer Tribun, mit einer Krone um die Stirn. Du wirst Spartakus sein, du wirst Romeo sein, Caesar, Apollon, Napoleon, wenn’s sein muss. Du wirst ein Prinz sein, meine Tochter. Zumindest bei den Inselaffen. Du wirst Laurence sein, der ewige Laureat. Oder die ewige Laureat*in, wenn dir das lieber ist (der Vater ist versöhnlich am Tag deiner Geburt. »Inklusive Schreibweise? Was soll der Quatsch«, wird er sechzig Jahre später zu dir sagen, »die Frau ist doch schon im Mann enthalten.«).

 

Später kommt er mit deiner Schwester Claude zurück, die noch keine Ahnung hat, dass man dich nach Hause bringen wird, und das ganze Brimborium nicht versteht, das um dich gemacht wird, was alle an dir finden. Im Wesentlichen: der Mund von Onkel Albert (du Ärmste), die Nase von Omi Marcelle (umso besser), große Füße für dein Alter (zwölfeinhalb Stunden), und dann die schmalen Augen, man fragt sich, wo die wohl herkommen. Zwei Schlitze mitten im Gesicht: Du siehst asiatisch aus (aber nicht mongolisch, versprochen). »Ich habe Schwester Catherine gefragt, warum meine Tochter ein Chinesengesicht hat«, sagt dein Vater, um ein bisschen für Unterhaltung zu sorgen (und von seiner Gedächtnislücke im Rathaus abzulenken). »Sie hat mir etwas von Gelbsucht erzählt, von Genetik, göttlichem Willen: Sie konnte mich nicht ganz überzeugen. Und als ich nachhakte, sagte sie: ›Na ja, es kann auch ein post-nataler Faktor im Spiel sein.‹ Ah, wusste ich es doch, dass der Postbote damit zu tun hat …«

Alle lachen, außer deine Urgroßmutter (sie wird sich den Briefträger genau ansehen). Laurence, l’eau rance, ranziges Wasser, rümpft deine Großmutter die Nase. Warum nicht lieber Florence? Dein Vater: Ranziger Floh? Oder wie Florenz. Du hättest eine ganze Stadt im Schlepptau. Was für ein Einfall! Wir würden die Lorbeeren verlieren, du würdest dich nicht aufgefordert fühlen, sie auf deinem Kopf anzuhäufen, wie ein Mann. Das wäre doch schade. »So kriege ich meine Rugbymannschaft aber nicht zusammen«, sagt dein Großvater, befühlt aber trotzdem kurz deinen Bizeps.

 

Du bist ein Mädchen. Ein Drama ist das nun auch wieder nicht, siehst du. Du hast zwar Schlitzaugen, aber wir sind hier nicht in China. Wir sind hier nicht in Indien. In Indien ist der Satz »Es ist ein Mädchen« heute verboten. Vor der Geburt zu sagen, »Es ist ein Mädchen«, kann drei Monate Gefängnis und zehntausend Rupien Buße einbringen: Man darf keinen Ultraschall mehr verlangen oder vornehmen, um das Geschlecht des Kindes festzustellen und dann abzutreiben, denn es sind zu viele Mädchen verschwunden; man hat so viele im Keim erstickt, dass es inzwischen ganze Dörfer voller Junggesellen gibt. Sie haben so viele Mädchen liquidiert, dass für die Auserwählte keine große Wahl mehr bleibt. Vor Erfindung des Ultraschalls wurden sie bei der Geburt getötet. Wärst du in Indien oder in China geboren, wärst du vielleicht tot. In Rouen hast du deine Ruhe. Man hat dich ja trotzdem lieb.

Du wirst einwenden, dass es in einigen Regionen der Welt genau umgekehrt ist: In Mexiko, bei den Zapoteken in Juchitán de Zaragoza, wird ein großes Fest veranstaltet, wenn ein Mädchen auf die Welt kommt, denn dort ist die Frau das Familienoberhaupt und gibt ihren Namen an die Kinder weiter. Die Männer bringen ihren Lohn den Frauen, die das Geld verwalten. Aber na gut, das ist in Mexiko, wenn überhaupt, auf einem winzigen Flecken dieser Erde. Bei dir währenddessen hat deine Mutter kein eigenes Bankkonto und darf ohne Einwilligung deines Vaters keinen Scheck ausstellen oder arbeiten gehen – sie arbeitet übrigens nicht. Sie kocht (und zwar sehr gut – sie hat eine Haushaltsschule besucht), sie spielt Tennis (gut) und Dame (nicht schlecht). Das mit dem Tennis ist nicht so einfach, dein Vater sieht es nicht gern, wegen der Turniere, für die sie im Minirock vom sonntäglichen Essen fernbleibt, das husch, husch zubereitet oder gleich ganz ihm überlassen wird. Bald wird sie ihr Faulenzen nutzen, um sich einen Liebhaber zu nehmen. Das ist die Art, die Mädchen hierzulande gefunden haben, sich den Jungen gleichzustellen. Only you – ihr Lieblingssong – erfährt Erweiterung, and you, and you. Wie er ihr, so sie ihm. Wessen Frau Freunde hat, der braucht keine Feinde mehr.

 

»Es ist ein Mädchen.«

Es beginnt mit einem Wort, wie das Licht und wie die Finsternis, wie die Finsternis, die das Licht auslöscht.

Auch wenn du das Wort mehrmals aus dem Mund von Catherine Bernard und danach mit der Stimme deiner Mutter hörst, die, das Gesicht weiß auf dem Kopfkissen, die Nachricht am Telefon verkündet, auch wenn du es schon am ersten Tag mehrmals vernimmst, so verstehst du es nicht unbedingt. Du verstehst es natürlich ganz und gar nicht. Das Wort »Mädchen« ergibt keinen Sinn für dich, nicht mehr als das Wort »Junge«, das hin und wieder im Gespräch deiner Mutter aufblitzt. Erst nach und nach wirst du im Zusammenhang mit anderen Wörtern die Bedeutung begreifen, die es von Anfang an hatte. Dir wird klar, dass es nicht nur, wie es das einleitende »Es ist« glauben machen könnte, eine neutrale Bemerkung, eine Feststellung ist, sondern auch und eher eine Beziehung zur Welt, ein darin angelegtes Schicksal. »Es ist ein Mädchen« bedeutet zuallererst »Es ist kein Junge«. Doch dafür musst du erst durch andere Wörter hindurch.

Du lernst deine Familie kennen. Mit dem Ohr, dann mit dem Auge, durch die Berührung. Vor allen Dingen ist da Mama. Mama ist das erste Wort, das du lernst, und es ist der Name eines Mädchens. Wärst du ein Junge, wäre es dasselbe, du würdest genau gleich Mama lallen – Papa kommt später, das ist erwiesen. Ob Junge oder Mädchen, alle lieben als Erstes Mama. Die Liebe ist von Natur aus ein Mädchen. Zweifler behaupten, es sei nur das erste Wort, weil es am leichtesten auszusprechen ist. Mmmmh machen die Lippen ganz natürlich, wenn sie die Brust suchen. Der bilabiale Konsonant entsteht automatisch beim Mampfen und Mümmeln. Mama, das heißt eigentlich nur mmmh, mmmh, lecker, sagen sie, es ist der von der Phonetik unterstützte Ruf nach der Mamille. Die Liebe ist von Natur aus eine Brust, nichts weiter. Ja, aber die Brust eines Mädchens. Prall, voller Milch, nahrhaft. Die Papas haben keine, du wirst es noch bemerken. Du hast es bereits bemerkt. Wenn Papa dich auf den Arm nimmt, ist nichts zu holen unter dem weißen Hemd, alles flach. Nichts und wieder nichts hinter der Krawatte. Bestimmt nimmt er dich darum fast nie auf den Arm. Nähme er dich öfter auf den Arm, wenn du ein Junge wärst? Wahrscheinlich nicht, denn ob Junge oder Mädchen, in diesem Stadium bist du nichts anderes als ein sabbernder Säugling. Und außerdem brauchen Jungen nicht so viele Streicheleinheiten. Das verweichlicht sie nur. Trotz allem, die Frage steht im Kinderzimmer. Die Mama hingegen ist die ganze Zeit da. Du schreist, sie kommt. Du hast Hunger, die Brust taucht auf. Du kackst in die Windeln, sie macht dich sauber. Stinkst du, tut sie ein Duftwässerchen drauf. Hast du Zahnweh, gibt sie dir die Giraffe zum Reinbeißen. Hast du im Dunkeln Angst, macht sie dein Nachtlicht an. Und das alles recht zügig. Papa hingegen tut gar nichts, du wirst es noch bemerken. Du bemerkst auch, dass Mamas Stimme sanfter und zärtlicher ist, sie sagt Küsschen, Hallihallo, Hamham, Schatzi, sie singt Wörter, die dich in den Schlaf wiegen. Der Klang der tieferen Stimmen, die du bald mit all diesen flachen, behaarten Gestalten in Verbindung bringen wirst, mit einer Kugel am Hals und einem Paar Hosen, ist fragender, alles klar mit der Kleinen, wo ist mein Hemd, ist das Essen fertig? Im großen Ganzen stellt die Papa-Stimme Fragen und die Mama-Stimme antwortet. Der Mama-Körper ist im Allgemeinen jetzt und hier, du spazierst mit ihm herum, erkundest auf dem Arm die Küche, das Bad, das Schlafzimmer, während der Papa-Körper woanders ist, hinter der Tür, außer Sichtweite. Die Papa-Stimme richtet sich nicht an dich, sie spricht über dich, gelegentlich, wissenschaftlich beinahe: Windelausschlag, Milchpumpe, Impfengpass, während die Mama-Stimme für dich ein Wort mit einem Ding, einem Gefühl, einer Geste verbindet. Töpfchen, Badewanne, Küsschen, heiß, Heia machen, hab dich lieb. Der Begriff Papa meint eine Abwesenheit, Papa ist nicht da, aber Mama schon. Und wenn sie dir mal nicht antwortet, übernimmt eine andere Stimme, ebenfalls mit Brüsten und Kleidern, eine Stimme, die auf den Namen Oma hört, oder Uromi oder Tante oder Ginette, eine sanfte, aufmerksame Stimme – eindeutig eine Mädchenstimme. Ein logischer Schluss verankert sich in deinem sich bildenden Hirn: Liebe, das heißt da zu sein. Die Mädchen sind da. Also sind die Mädchen die Liebe. Deine Schwester stellt allerdings die Ausnahme dieser Regel dar. Sie trägt Kleidchen, hat eine Krächzstimme, aber sie ist nicht oft da, und wenn sie da ist, fühlst du dich nicht in Sicherheit. Es ist also nicht sicher, dass deine Schwester ein Mädchen ist. Zu überprüfen.

Apropos Mädchen, etwas ist merkwürdig. Du bist ein Mädchen, das steht fest. Aber du bist auch eine Tochter, die Tochter deines Vaters und deiner Mutter. Und in deiner Sprache gibt es nur ein Wort für beides: fille. Der Sohn von Doktor Galiot hingegen, der hat im französischen Wörterbuch zwei Einträge, einen für Junge und einen für Sohn. Später wirst du sehen, dass es in anderen Sprachen ebenfalls zwei Wörter für dich gibt, eins für Mädchen und eins für Tochter. Aber wenn dein Vater ma fille sagt, sagt er gleichzeitig meine Tochter und mein Mädchen. Du wirst in deiner Sprache immer nur ein Wort haben, um deine Abstammung, deine Zugehörigkeit und deine Identität auszudrücken. Ein französisches Mädchen existiert also nie für sich allein, es kommt nie ohne seine Verwandtschaft daher. Du schleppst deinen Anhang auch später mit, wenn du groß bist. Du bist eine Frau, aber nur, wenn du einen Mann hast, verheiratet bist, vorher bist du nur eine Miniaturform davon, eine mademoiselle, ein Fräulein. Das Wort, das dich bezeichnet, erinnert stets an deine Fesseln, du wirst ständig zu jemandem in Beziehung gesetzt, zu deinen Eltern, deinem Ehemann, während ein Junge seinen eigenen Mann steht. Die Sprache will es so, wie es dir später, in der kleinen Mädchenschule gleich neben der der Jungen, die Grammatik eintrichtern wird: »Das Männliche setzt sich gegen das Weibliche durch.« Du wirst das auswendig lernen müssen, aber eigentlich weißt du es schon ab dem ersten Tag. Für den Fall, dass du es dir nicht gemerkt hast, wird der Pfarrer es dir noch einmal mit einem Bild verdeutlichen. Gott hat Adam geschaffen, und da er sich so allein fühlte, hat er ihm aus einer seiner Rippen eine Gefährtin angefertigt. Eva ist aus einem Stück des männlichen Brustkorbs geboren! Also so was! Du bist acht Jahre alt, du hast das mit dem Storch geschluckt, konntest dir vorstellen, dass die Mädchen in einer Rose und die Jungen in einem Kohl geboren werden, aber Mädchen und Frau aus einem Männerknochen gebastelt, nein. Das geht zu weit! Du lachst mit deiner Schwester auf dem Weg zum Katechismus: »Dann hat Adam also eine Rippe weniger? Nicht gerade gut beisammen, der Ahnherr! Die Jungs haben einen Hau weg.« Und bei den Vorbereitungen zum Glaubensbekenntnis, da bist du fünfzehn, fragst du in die Runde: »He, Mädels, wusstet ihr, warum Gott Adam vor Eva erschaffen hat? Weil man vor einem Meisterwerk erst einen Entwurf macht.« Sämtliche Konfirmandinnen prusten los. Der Pfarrer hingegen findet, du bist noch nicht reif genug, um in diesem Jahr deine Kommunion zu empfangen. Du wirst sie nicht empfangen. Du wirst sie nie empfangen. Jesus ist nur ein Vatersöhnchen und dir geht das alles ziemlich auf den Sack. Doch greifen wir nicht vor.

 

Du bist seit ein paar Wochen auf der Welt, bist inzwischen zu Hause. Deine Schwester Claude schaut dir argwöhnisch beim Trinken zu. Über deine Wiege gebeugt, ein falsches Lächeln auf den Lippen, würde sie dir am liebsten eine Stricknadel in die Pupille stechen, aber Mama ist auf der Hut. Jeden Tag lutschst du ihre Brust leer, du kennst nichts Besseres, als in die Armbeuge geschmiegt diese weiße Flüssigkeit einzusaugen, die sich durch Bewegung deiner Lippen nach Lust und Laune, sozusagen ad Lippidum erneuert. Abgesehen von deiner Schwester, die dich im Auge behält, und dem ganzen Rosarot, das dein Blickfeld beherrscht, besteht kein Anlass zur Beschwerde. Dein Glück hält genau vier Monate an, bis dir deine Mutter, aus zunächst unbekanntem Grund, einen Gummistöpsel mit Loch am Ende in den Mund stopft. Die Milch, die da herauskommt, hat nicht denselben Geschmack, vor allem aber ist deine Mutter vollständig davon abgetrennt, du siehst sie am anderen Ende des Wohnzimmers telefonieren, besorgt, während deine Großmutter oder Ginette, die Putzfrau, dir die Flasche gibt, und manchmal siehst du sie auch nicht, ist sie gar nicht da. Hatte sie es satt, dass du ihr viermal am Tag an den Brüsten ziehst und ihre Schönheit zu ruinieren drohst? Denn was soll aus ihr werden, wenn ihre Schönheit dahin ist? Was soll aus einem hässlichen Mädchen werden? Oder will sie frei über ihre Zeit verfügen können, nicht mehr an diesen unersättlichen Terminkalender gebunden sein, auch wenn sie nicht arbeitet? Denn mit zwei kleinen Kindern zu Hause zu bleiben, das ist keine Arbeit, das weiß man doch.

In Wahrheit gibt es einen anderen Grund. Deine Mutter ist schwanger. Was? Schon wieder?! Ja. Deine Mutter hat glatt geglaubt, was dein Vater ihr versichert hat (er ist schließlich der Studierte hier, er weiß, wie es funktioniert, der weibliche Körper hat keine Geheimnisse für ihn): Solange sie stillt, kann sie nicht schwanger werden. Das ist reine Mathematik. Die Laktation verhindert die Ovulation. Herzlichen Glückwunsch! Dein Vater, der Verhütungsspezialist! Es sei denn, es hat ihn insgeheim wieder der männliche Ehrgeiz gejuckt: einen Sohn zu haben. Deine Mutter hatte kaum Zeit, uff zu sagen. Und du »mehr, mehr«. Du wirst brutal entwöhnt. Abgestillt und abgestellt. Deine Mutter ist immer noch da, aber sie ruht sich aus. Weil sie ein Kind trägt, heißt es. Dabei ist es genau umgekehrt: Sie trägt dich nicht mehr. Du wirst auf dem Teppich abgelegt, im Bett, in deiner Wippe. Du verstehst die Welt nicht mehr. Du kommst dir vor wie eine vergessene Puppe, ein Restposten auf einem Regal, ein Ladenhüter, aussortiert in Erwartung einer neuen Lieferung. Was ist los mit dir? Was fehlt dir?

Eines Freitagnachmittags platzt die Fruchtblase deiner Mutter, sie ist mit André, einem Freund der Familie, im Kino. Er ist mit dem Auto da, das trifft sich gut, er bringt sie in die Klinik, ohne das Ende des Films abzuwarten. Dein Vater fährt mit seinen Konsultationen fort, kommt nicht, er versteckt seine Hoffnung lieber hinter dem Telefonhörer. Was ist es? Es ist ein Mädchen.

Und da waren es drei. Aller schlechten Dinge sind drei.