Es war einmal in deinen Armen - Marie Ferrarella - E-Book

Es war einmal in deinen Armen E-Book

Marie Ferrarella

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Beschreibung

„Du trägst noch immer dieses Parfum“, flüstert Sebastian, als sie sich in seinen Armen wiegt – zum selben Lied wie vor zehn Jahren. Doch nach dieser Nacht wird sie wieder ein Ozean trennen. Kein Mann gibt wegen eines einzigen Tanzes sein gewohntes Leben auf – oder etwa doch?

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Seitenzahl: 163

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IMPRESSUM

Es war einmal in deinen Armen erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2013 by Marie Rydzynski-Ferrarella Originaltitel: „Ten Years Later …“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA, Band 18 Übersetzung: Valeska Schorling

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A., Roman Rybalko / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2023

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751521932

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

„Maizie, kann ich mit Ihnen reden?“

Maizie Sommers blickte von ihrem Schreibtisch hoch und sah die sympathische, etwas untersetzte Frau auf sich zukommen, die gerade ihr Maklerbüro betreten hatte.

Sie kannte diesen Blick. Sie hatte ihn schon mehr als einmal gesehen, und zwar nicht in ihrer Funktion als Maklerin mit eigenem Büro, sondern bei ihrer Lieblingsbeschäftigung als noch erfolgreichere Kupplerin.

Was vor einigen Jahren mit ihrer eigenen Tochter – und den Töchtern ihrer zwei besten Freundinnen seit der Grundschulzeit – begonnen hatte, war inzwischen zur Berufung geworden.

Bisher hatten Maizie, Theresa Manetti und Cecilia Parnell dabei noch keine Misserfolge gehabt. Sie ließen sich von ihren treffsicheren Instinkten leiten, wenn sie für die Kinder von Freunden und Verwandten perfekte Partner suchten und fanden. Nicht für Geld, sondern weil es ihnen Spaß machte.

Da sie viele glückliche Ehen gestiftet hatten, hatte ihr Erfolg sich mittlerweile herumgesprochen. Das ging so weit, dass die drei Frauen in ihren eigentlichen Berufen gelegentlich zugunsten ihrer „wahren Mission“, wie Maizie es gern ausdrückte, zurückstecken mussten.

„Kommen Sie rein, Barbara“, sagte Maizie freundlich. Sie stand auf und zog einen Stuhl an ihren Schreibtisch, damit ihre Besucherin sich setzen konnte. „Schießen Sie los. Was kann ich für Sie tun?“

Barbara Hunter, deren Schwäche für gutes Essen offensichtlich war, ließ sich auf den angebotenen Stuhl sinken. Die pensionierte Englischlehrerin seufzte tief. Sie hatte lange damit gerungen, sich an Maizie zu wenden, aber ihr war einfach keine bessere Lösung eingefallen. „Sie könnten mir einen Rat geben, wie ich meinem sturen Sohn Beine mache.“

Maizie sah ihre Besucherin verwirrt an. „Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz …“

Barbara wurde konkreter. „Er wollte für das Zehnjahrestreffen seines Highschooljahrgangs nach Hause kommen, aber jetzt behauptet er, dass er keine Zeit für diesen ‚Schwachsinn‘ hat – das war sein Ausdruck, nicht meiner – und dass er stattdessen länger über Weihnachten bleiben will.“ Beschwörend sah sie Maizie aus sanften braunen Augen an. „Ach Maizie, ich hatte so sehr für ihn gehofft, dass er endlich …“ Barbaras Stimme erstarb. Die ältere Frau seufzte erneut.

Maizie verarbeitete die Informationen in Windeseile. „Wo hält sich Ihr Sohn zurzeit auf?“

„Sebastian lebt in Japan und bringt Geschäftsleuten Englisch bei. Er ist sehr gut in seinem Job“, sagte Barbara voller Stolz. „Als er das Fünfjahrestreffen ausfallen ließ, hat er gesagt, dass er nächstes Mal aber ganz bestimmt kommen würde. Das waren seine Worte.“ Sie wirkte resigniert. „Ich hatte so sehr gehofft, dass er mich diesmal tatsächlich besuchen und vielleicht wieder mit Brianna zusammenkommen würde.“

Der Name hing bedeutungsvoll in der Luft. „Brianna?“, hakte Maizie nach.

Barbara nickte. „Ja. Brianna MacKenzie, das Mädchen, mit dem Sebastian während seines Abschlussjahrs zusammen war. Ich habe noch ein Foto vom Abschlussball aufgehoben. Sie ist ein wundervoller Mensch. Ich dachte wirklich, die beiden würden heiraten, aber Sebastian ging ans College, und Brianna blieb hier, um sich um ihren Vater zu kümmern.“ Sie holte tief Luft.

„Der arme Mann hatte am Abend des Balls einen schrecklichen Autounfall, bei dem er fast ums Leben gekommen wäre. Sie hat ihn wieder gesundgepflegt und ist inzwischen eine ganz hervorragende Krankenschwester.“

Barbara schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich hatte gehofft …“ Sie stockte für einen Moment. „Aber jetzt hat Sebastian seine Meinung anscheinend schon wieder geändert. Ich glaube allmählich, dass mein Sohn niemals heiratet und ich keine Enkelkinder bekomme. Sebastian ist mein einziges Kind, Maizie. Ich habe weiß Gott versucht, geduldig zu sein. Bisher habe ich mich nie in sein Leben eingemischt, aber ich lebe nicht ewig. Haben Sie vielleicht einen Rat für mich?“, fragte sie hoffnungsvoll.

In Maizies Kopf überschlugen sich die Gedanken. „Könnten Sie bitte wiederholen, was Sie gerade gesagt haben?“

„Ob Sie einen Rat für mich haben.“

Maizie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht das. Was haben Sie davor gesagt?“

Barbara überlegte kurz. „Dass ich mich nicht in sein Leben einmischen will?“ Sie hatte keine Ahnung, worauf Maizie hinauswollte.

Maizie runzelte nachdenklich die Stirn. „Nein, unmittelbar danach.“

„Dass ich nicht ewig lebe?“

Maizie lächelte. „Ja, das war’s.“

Barbara sah sie verwirrt an. „Wie meinen Sie das?“

Endlich fügten sich die Puzzleteilchen zusammen. Maizie strahlte. „Genau damit kriegen Sie Sebastian nach Hause – und auch dazu, zum Jahrgangstreffen zu gehen.“

Barbara konnte der anderen Frau nicht folgen. „Glauben Sie nicht, dass Sebastian schon weiß, dass ich nicht unsterblich bin?“

„Etwas zu wissen, ist eine Sache, aber plötzlich vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, eine ganz andere.“ Maizie sah Barbara triumphierend an.

Was die Frau sagte, ließ nur einen Schluss zu. „Soll ich Sebastian etwa sagen, dass ich sterbe?“

„Nicht, dass Sie sterben, Barbara“, korrigierte Maizie sie sanft. „Nur, dass Sie einen Anfall hatten.“

Für Barbara ergab das noch immer keinen Sinn. „Einen Anfall? Was für einen Anfall?“

„Wenn ich mich recht erinnere, findet das Jahrgangstreffen der Bedford Highschool in zehn Tagen statt, oder?“

Barbara starrte die andere Frau überrascht an. „Woher wissen Sie das?“

„Meine Freundin Theresa Manetti hat es mir erzählt. Sie richtet das Catering für die Party aus, aber machen Sie sich keine Gedanken darüber. Rufen Sie einfach Ihren Sohn an und sagen Sie ihm, dass Sie ihn nicht beunruhigen wollen, aber möglicherweise einen leichten Schlaganfall hatten und ihn wirklich gern wiedersehen würden, nur für alle Fälle.“

„Aber das wäre eine Lüge, und noch dazu eine ganz schreckliche“, protestierte Barbara bestürzt.

Maizie sah sie mit gespielter Unschuld an. „Dann wollen Sie ihren Sohn also nicht schon jetzt wiedersehen?“

„Doch, natürlich! Aber ich hatte überhaupt keinen Schlaganfall, weder einen schweren noch einen leichten.“

Maizie berief sich auf die Statistiken. „Wussten Sie schon, dass manche Menschen einen Schlaganfall haben, ohne es zu merken?“

„Nein, das wusste ich nicht. Sie meinen, dass ich die Wahrheit ein bisschen dehnen soll, Maizie?“

„Nicht wirklich. Barbara, gerade Sie als Englischlehrerin müssten doch wissen, wie entscheidend die richtige Wortwahl ist. Es geht nicht darum, was man sagt, sondern wie man es formuliert“, erklärte Maizie lächelnd. „Allzu große Skrupel sind nur hinderlich, wenn Sie Ihr Ziel erreichen wollen.“

Barbara schien die Vorstellung immer noch unangenehm zu sein. „Also, ich weiß nicht recht, Maizie …“

„Was wissen Sie nicht? Ob Sie Ihren Sohn als glücklich verheirateten Ehemann und Vater sehen wollen?“

„Doch, natürlich will ich das!“, widersprach Barbara mit Nachdruck.

Maizie spürte, wie ihr das Adrenalin durch die Adern schoss und ihr Auftrieb verlieh. Sie liebte Herausforderungen – und diese hier war äußerst vielversprechend. „Gut zu wissen. Ich werde mir etwas überlegen und Sie dann anrufen. Da die Party unmittelbar bevorsteht, bleibt uns nicht mehr viel Zeit. In der Zwischenzeit holen Sie Ihren Sohn ans Telefon und sagen ihm, dass Sie ihn unbedingt sehen müssen und damit nicht bis Weihnachten warten wollen – nur für alle Fälle. Verstehen Sie?“

Barbara nickte. Sie konnte nur hoffen, dass Sebastian ihr die Notlüge eines Tages verzeihen würde.

Sebastian Hunter war völlig erschöpft, als er und seine dreihundert Mitpassagiere nach elfeinhalb Stunden Flugzeit in Los Angeles aus dem Flugzeug stiegen. Seit er vor zwei Tagen mit seiner Mutter telefoniert hatte, hatte er kaum ein Auge zugemacht, solche Sorgen machte er sich um sie.

Nach ihrem Anruf hatte er sofort seine Sachen gepackt und seinen Arbeitgeber informiert, dass er wegen einer dringenden Familienangelegenheit nach Hause müsste. Und jetzt, wo er mit den Nerven ohnehin schon am Ende war, musste er auch noch durch die Sicherheitskontrolle und dabei so tun, als sei er ruhig und gefasst.

Wenn er sich seine Nervosität und Ungeduld anmerken ließ, würde man ihn bestimmt eine Ewigkeit festhalten, um ihn und sein Gepäck gründlich zu durchsuchen. Angespannte und nervös wirkende Passagiere wurden grundsätzlich mit Misstrauen betrachtet.

Komm schon, wie lange brauchst du denn noch dafür, ihre Unterwäsche zu durchwühlen? dachte er irritiert, als der junge Zollbeamte vor ihm den Koffer einer jungen Frau durchsuchte. Die Prozedur schien endlos zu dauern, und Sebastian hatte es eilig. Zum ersten Mal in seinen neunundzwanzig Lebensjahren war er mit dem Thema Sterblichkeit konfrontiert worden.

Es war nicht sein eigener Tod, der ihm zu schaffen machte. Er ging davon aus, noch ein Weilchen zu leben, und falls nicht, konnte er auch nichts daran ändern. Aber bei seiner Mutter hatte er sich irgendwie an den Gedanken gewöhnt, dass sie immer da sein würde. Für ihn war sie unsterblich. Natürlich war das unrealistisch, aber die Vorstellung, dass sie eines Tages nicht mehr existierte, war unerträglich.

„Sind Sie beruflich oder zum Vergnügen hier?“, fragte der Taxifahrer, als sie im Schneckentempo über den Freeway von San Diego krochen. Es war Freitagabend, und sämtliche Straßen waren verstopft. Sebastian dachte gerade an seine Mutter und hörte die Frage daher kaum. „Was?“

„Sind Sie beruflich hier oder zum Vergnügen?“, wiederholte der Mann.

„Keins von beidem.“

„Ach.“

Sebastian spielte kurz mit dem Gedanken, irgendetwas hinterherzuschieben, um dem Fahrer zu signalisieren, dass er nicht unhöflich sein wollte, entschied sich jedoch dagegen. Er hatte gerade keine Lust auf eine Unterhaltung.

Obwohl er wie auf Kohlen saß, schloss er die Augen, lehnte sich zurück und versuchte, sich wenigstens etwas zu entspannen.

Leider vergeblich.

Sebastian brauchte mehr als zwei Stunden, um bei dem nur fünfundvierzig Meilen vom Flughafen entfernten Haus seiner Mutter in Bedford anzukommen. In seiner Hast zog er eine Handvoll Scheine aus seiner Brieftasche und drückte sie dem Fahrer in die Hand. Das befriedigte Grunzen des Mannes ließ darauf schließen, dass Sebastian viel zu viel gezahlt hatte.

Der Mann sprang aus dem Wagen, nahm Sebastians Koffer aus dem Kofferraum und stellte ihn auf den Gehweg. Zwei Sekunden später saß er wieder hinterm Steuer und fuhr eilig davon, als hätte er Angst, dass sein Fahrgast es sich plötzlich anders überlegen und einen Teil des Geldes zurückverlangen würde.

Endlich allein. Sebastian betrachtete das dunkle Haus, in dem er aufgewachsen war. Die Eile, die sein Handeln in den letzten beiden Tagen diktiert hatte, trat in den Hintergrund und wurde von der lähmenden Angst verdrängt, gleich schlimme Neuigkeiten von seiner Mutter zu hören. Solange er keine Einzelheiten kannte, konnte er noch so tun, als würde gar keine Bedrohung existieren oder das Problem zumindest kleiner als befürchtet sein, auch wenn das feige war.

Selbstkritisch runzelte er die Stirn.

Seit wann bin ich so ein Feigling? fragte er sich. Er packte doch sonst auch jede Herausforderung an, ohne sich groß Gedanken zu machen. Hatte er nicht immer behauptet, dass es besser war, die Wahrheit zu erfahren, als im Unklaren zu sein?

Das ist ja gut und schön, aber hier geht es um deine Mutter. Die Frau ist dein einziger Rückhalt. Ohne sie wärst du nie im Leben so weit gekommen.

Sebastian hatte Angst, seine Mutter zu verlieren. Sie hatte ihm immer Halt gegeben und ihn unterstützt. Und solange sie existierte, hatte er die Freiheit, alles zu tun, was er wollte.

Aber wenn nicht …

Sebastian wollte diesen Gedanken lieber nicht zu Ende ausführen. Stattdessen nahm er sich vor, von jetzt an für seine Mutter da zu sein, so wie sie immer für ihn da gewesen war.

Werd endlich erwachsen, Hunter!

Seit seinem fünften Lebensjahr, nach dem Tod seines Vaters, hatte sie ihn allein erzogen. Es wurde Zeit, dass er sich bei ihr für all die Unterstützung revanchierte, die sie ihm so bereitwillig gewährt hatte.

Seufzend schob Sebastian die rechte Hand in die Hosentasche und zog den Haustürschlüssel heraus, den er als Glücksbringer immer bei sich trug. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, ihn zu benutzen – die Tür aufzuschließen, das Haus zu betreten und seine Mutter mit seiner Ankunft zu überraschen. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass sie gerade einen – hoffentlich – leichten Schlaganfall gehabt hatte, wollte er keine Risiken eingehen.

Deshalb zog er sein Handy aus der Tasche und drückte auf eine Schnellwahltaste. Kurz darauf hörte er das Freizeichen.

„Hallo?“, fragte seine Mutter nach dem zweiten Klingeln schläfrig.

Bei dem Klang ihrer Stimme musste Sebastian schlucken. Doch dann gab er sich einen Ruck. Er würde niemandem eine Hilfe sein, wenn er sich nicht zusammenriss! „Hi, Mom.“

„Sebastian?“ Ein Lächeln lag in ihrer Stimme. „Wo steckst du?“

„Ich stehe vor deiner Haustür.“

„Vor meiner Haustür?“, wiederholte sie, plötzlich hellwach geworden. „Du bist hier?“

„Hast du denn noch eine andere Haustür, von der ich nichts weiß?“, witzelte Sebastian.

Seine Mutter klang wieder genauso frisch und energiegeladen wie immer. Möglicherweise handelte es sich um einen Irrtum. Vielleicht hatte sie ja doch keinen Schlaganfall gehabt. Schließlich waren ihre Routineuntersuchungsergebnisse bisher jedes Mal bestens ausgefallen. Seine Mutter war immer kerngesund gewesen, was die Neuigkeit mit dem Schlaganfall noch unglaublicher machte.

Barbara ignorierte die Frage ihres Sohns. „Na, dann steh nicht einfach dort herum, Sebastian, sondern komm rein.“

Noch bevor er nach seinem Koffer greifen konnte, flog die Haustür auf, und seine Mutter stand auf der Schwelle. Sie trug den blauen Morgenmantel, den Sebastian ihr zum letzten Weihnachtsfest geschickt hatte. Ihr grau meliertes Haar schimmerte im Licht des Flurs hinter ihr wie ein Heiligenschein. Sie streckte die Arme nach Sebastian aus.

Er nahm den Koffer und ging auf sie zu, um sie zu umarmen, wäre jedoch beinahe auf eine sehr empört reagierende grauweiß gestreifte Katze getreten, die zwischen seinen Beinen herumstreifte. Sie hatte offensichtlich ein Problem mit dem Eindringling in ihrer gut organisierten kleinen Welt.

Sebastian tat so, als würde er sie nicht sehen, als er sich vorbeugte und seine Mutter in die Arme nahm. Ein Gefühl der Erleichterung überwältigte ihn.

„Komm rein“, drängte Barbara und trat zur Seite, damit er eintreten konnte.

„Seit wann hast du denn eine Katze?“ Seine Mutter war nie besonders tierlieb gewesen.

„Erkennst du sie denn nicht wieder?“, fragte Barbara überrascht.

Sebastian zuckte die Achseln. „Sorry, aber Katzen sehen für mich alle gleich aus.“

„Das meint er nicht so, Marilyn“, versuchte Barbara das Tier zu besänftigen und drehte sich zu ihrem Sohn um. „Das ist das Kätzchen, das du mir vor deiner Abreise nach Japan geschenkt hast. Sie ist ganz schön gewachsen.“

„Ganz schön?“ Sebastian musterte die Katze ungläubig. Sie sah aus, als hätte sie dringend eine Diät nötig. „Sie ist das reinste Monster.“

„Verletz ihre Gefühle nicht, Sebastian“, ermahnte seine Mutter ihn. „Sie versteht alles, was wir über sie sagen.“

Skeptisch musterte Sebastian das Tier, das ihm noch immer um die Beine streifte. Er tat seiner Mutter ja gern einen Gefallen, aber es gab gewisse Grenzen. Er warf der Katze einen strengen Blick zu. „Geh mir aus dem Weg, Katze.“ Das Tier rührte sich nicht von der Stelle. Grinsend drehte Sebastian sich zu seiner Mutter um. „Anscheinend versteht sie doch nicht alles.“

„Oh doch, das tut sie“, beharrte Barbara fröhlich. „Sie will nur nicht gehorchen, das ist alles. In dieser Hinsicht ähnelt sie einem kleinen Jungen, den ich mal kannte“, fügte sie voller Zuneigung hinzu.

Sebastian brachte seinen Koffer ins Haus und stellte ihn neben der Tür ab, bevor er sie schloss. Dann drehte er sich zu seiner Mutter um und musterte sie eingehend. „Du siehst gut aus“, stellte er halb erleichtert, halb verwirrt fest. „Sehr gut sogar. Wie geht es dir?“

Erst in diesem Moment fiel Barbara wieder ein, dass sie eine Rolle zu spielen hatte. Prompt bekam sie ein schlechtes Gewissen, doch dann fielen ihr wieder die Tipps ein, die Maizie ihr gegeben hatte.

Ihr blieb keine andere Chance, als die Geschichte mit dem Schlaganfall durchzuziehen. Sie musste dem Schicksal einfach eine Chance geben. „Leider nicht so gut, wie es aussieht. Aber ein Make-up bewirkt Wunder.“

Seltsam. „Seit wann trägst du im Bett Make-up?“

„Seit ich mitten in der Nacht den Krankenwagen rufen musste“, antwortete sie kurz angebunden.

„Dir ist doch bewusst, dass die Sanitäter damit rechnen, dich ins Krankenhaus zu bringen und nicht zu einer Party?“

„Ich wollte ihnen den Anblick einer alten und hässlichen Frau ersparen.“

„Du bist keine alte hässliche Frau, sondern eine hübsche alte Frau“, widersprach Sebastian belustigt.

„Erinnere mich daran, dir eine Ohrfeige zu geben, sobald es mir besser geht.“

Das war ein Test gewesen. Hätte Barbara ihn zurechtgewiesen, so wie früher, wenn ihre gegenseitige Neckerei eskalierte, hätte er daraus geschlossen, dass alles nur falscher Alarm war und es ihr gut ging. Doch ihre Zurückhaltung ließ auf das Gegenteil schließen. Es ging ihr eindeutig nicht gut.

Er gab ihr einen Kuss auf eine Schläfe. „Du bist nicht alt, Mom, das weißt du genau. Du siehst jünger aus als manche Frau, die fünfzehn Jahre jünger ist als du.“

Dankbar lächelte sie ihm zu, auch wenn sie wusste, dass sein Kompliment übertrieben war. „Trotzdem sollte man als Frau darauf achten, immer so vorteilhaft wie möglich auszusehen.“

Sebastian schüttelte den Kopf, diesmal jedoch aus Zuneigung. Er bewunderte ihren starken Willen. Erst dann wurde ihm bewusst, was sie ihm gerade erzählt hatte. „Du musstest den Krankenwagen rufen?“

Das ist nur die erste von vielen Lügen, dachte Barbara schuldbewusst, tröstete sich jedoch damit, dass sie das für einen guten Zweck tat. „Ja. Aber so schlimm war es gar nicht, mein Lieber“, versicherte sie ihm. „Die jungen Männer haben sich gut um mich gekümmert.“

Sebastian sah sie schuldbewusst an. „Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war, Mom.“

Beruhigend tätschelte sie ihm eine Hand. „Vergiss es, Sebastian. Du hast dein eigenes Leben. Außerdem bist du ja jetzt hier, das ist das Wichtigste.“

„Erzähl mir alles“, bat er. „Was hat der Arzt gesagt?“

Sie winkte ab. „Lass uns morgen darüber reden“, antwortete sie ausweichend. „Heute Abend will ich dich einfach nur ansehen. Trinkst du immer noch gern Kaffee?“ Sie machte sich auf den Weg zur Küche. „Oder bist du inzwischen zu grünem Tee übergegangen?“

„Nein, ich bin immer noch Kaffeetrinker.“

„Gut zu wissen, dass manches immer noch so wie früher ist.“

Stimmt, aber die meisten Dinge ändern sich, dachte Sebastian, als er seiner Mutter folgte. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich. Er hätte öfter nach Hause kommen sollen, auch wenn seine Besuche ihn immer an Dinge erinnerten, die er verloren oder noch immer nicht hatte. „Bist du sicher, dass du das schaffst?“, fragte er seine Mutter besorgt.

Barbara knipste das Licht an. „Wasser in eine Kaffeemaschine zu füllen? Ich glaube schon“, sagte sie trocken. „Und sollte ich dazu nicht imstande sein, kann ich jetzt ja dich fragen.“ Sie stellte die Kaffeekanne für einen Moment hin und drückte ihren Sohn kurz an sich. „Ach, es ist so schön, dich wieder hier zu haben. Du bist die beste Medizin für mich.“

Ihre Worte begeisterten ihn und machten ihm zugleich ein schlechtes Gewissen. Rasch wechselte er das Thema. „Marylin also, hm?“ Das Tier war ihnen in die Küche gefolgt und legte sich direkt vor den Kühlschrank. „Warum heißt sie so?“