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Sehnlichst erwartet: Endlich geht die beliebte historische Thriller-Reihe von Kerri Maniscalco weiter Audrey Rose und Thomas stecken nicht zum ersten Mal in einer Mordermittlung. Diesmal führt sie ihr Weg auf einem Ozeandampfer nach New York. Eine Truppe Zirkusartisten sorgt für Unterhaltung an Bord, doch das Vergnügen ist von kurzer Dauer. Bald erschüttert eine Reihe brutaler Morde die Passagiere. Jeder ist verdächtig, auch der undurchsichtige Entfesselungskünstler Harry Houdini. Der einzige Fluchtweg führt in den dunklen Abgrund der See. Es liegt an Audrey Rose und Thomas, den Mörder zu überführen, bevor sie die nächsten auf seiner Liste sind. Weitere Bände der Reihe: Stalking Jack the Ripper. Die Spur in den Schatten (Band 1) Hunting Prince Dracula. Die gefährliche Jagd (Band 2) Escaping from Houdini. Mord auf dem Atlantik (Band 3) Capturing the Devil. Der Teufel von Chicago (Band 4)
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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel
© Kerri Maniscalco 2018
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Escaping from Houdini«, Jimmy Patterson Books, New York 2018
Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Anita Hirtreiter
Illustrationen/Fotos: Alamy (Foto vor Kapitel 1), Etsy (Fotos vor den Kapiteln 6, 8, 9, 12, 13, 16, 18, 25, 32), Billy Rose Theatre Division, The New York Public Library Digital Collections (Fotos vor den Kapiteln 5, 28, 38).
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Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einem Entwurf von Jeff Miller, Faceout Studio / Hachette Book Group, Inc.
Coverabbildung: Carrie Schechter and Shutterstock.com
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Abbildung
1
Mondscheinkarneval
RMS Etruria
Liverpool, England
1. Januar 1889
2
Vom Traum zum Albtraum
Speisesaal
RMS Etruria
1. Januar 1889
3
Kreuzass
Audrey Rose’ Kabine
RMS Etruria
1. Januar 1889
4
Ein verworrenes Netz
Die Kabine der Prescotts
RMS Etruria
2. Januar 1889
Abbildung
5
Ritter der Schwerter
Speisesaal
RMS Etruria
2. Januar 1889
Abbildung
6
Zersägt
Speisesaal
RMS Etruria
2. Januar 1889
7
Ein sehr brutaler Mord
Audrey Rose’ Kabine
RMS Etruria
2. Januar 1889
Abbildung
8
Namen sind Schall und Rauch
Onkel Jonathans Kabine
RMS Etruria
3. Januar 1889
Abbildung
9
König der Handschellen
Speisesaal
RMS Etruria
3. Januar 1889
10
Herz oder Kopf
Damensalon
RMS Etruria
3. Januar 1889
11
Prinz oder Bettelknabe
Damensalon
RMS Etruria
3. Januar 1889
Abbildung
12
Pakt mit dem Teufel
Bug
RMS Etruria
3. Januar 1889
Abbildung
13
Ass der Stäbe
Übungshalle des Mondscheinkarnevals
RMS Etruria
4. Januar 1889
14
Der Stern
Speisesaal
RMS Etruria
4. Januar 1889
15
Eine ungebührliche Lage
Lord Crenshaws Kabine
RMS Etruria
4. Januar 1889
Abbildung
16
Absinth
Probenbereich der Darsteller
RMS Etruria
4. Januar 1889
17
Was die Karten sagen
Audrey Rose’ Kabine
RMS Etruria
5. Januar 1889
Abbildung
18
Der Narr
Promenadendeck der ersten Klasse
RMS Etruria
5. Januar 1889
19
Eine durchtrennte Verbindung
Promenade
RMS Etruria
5. Januar 1889
20
Eine hervorragende Schlussfolgerung
Tierhalle
RMS Etruria
5. Januar 1889
21
Schwarz wie seine Seele
Promenadendeck
RMS Etruria
5. Januar 1889
22
Kuchen und Masken
Promenadendeck
RMS Etruria
5. Januar 1889
23
Schlussfolgerungen und Betrügereien
Miss Crenshaws Kabine
RMS Etruria
6. Januar 1889
24
Sektion des Arms
Improvisiertes Laboratorium
RMS Etruria
6. Januar 1889
Abbildung
25
Zahnräder und Gerätschaften
Audrey Rose’ Kabine
RMS Etruria
6. Januar 1889
26
Eine hübsch zurechtgemachte Spionin
Mephistos Arbeitskabine
RMS Etruria
6. Januar 1889
27
Netz der Illusionen
Vorratslager des Karnevals
RMS Etruria
6. Januar 1889
Abbildung
28
Aus der Milchkanne entkommen
Speisesaal
RMS Etruria
6. Januar 1889
29
Eine erschreckende Entdeckung
Promenadendeck der dritten Klasse
RMS Etruria
7. Januar 1889
30
Das größte aller Kunststücke
Mephistos Werkstatt
RMS Etruria
7. Januar 1889
31
Ablenkungsmanöver
Bug
RMS Etruria
7. Januar 1889
Abbildung
32
Herzfünf
Musikzimmer
RMS Etruria
7. Januar 1889
33
Motiv
Speisesaal
RMS Etruria
7. Januar 1889
34
Ein spektakulärer Verdächtiger
Promenadendeck der ersten Klasse
RMS Etruria
7. Januar 1889
35
Acht der Schwerter
Audrey Rose’ Kabine
RMS Etruria
7. Januar 1889
36
Mitternächtliches Rendezvous
Promenadendeck der ersten Klasse
RMS Etruria
8. Januar 1889
37
Demaskiert
Promenadendeck der ersten Klasse
RMS Etruria
8. Januar 1889
Abbildung
38
Das große Finale
Kapitänskabine
RMS Etruria
8. Januar 1889
39
Spektakuläres Spektakel
Speisesaal
RMS Etruria
8. Januar 1889
40
Abschied
Krankenstation
RMS Etruria
9. Januar 1889
Epilog
Anmerkung der Autorin
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für alle,
die an die Magie der Träume glauben.
Alles ist möglich.
»Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier!«
William Shakespeare: Der Sturm (1. Akt, 3. Szene)
RMS Etruria
Der Neujahrsnachmittag an Bord der Etruria glich dem Beginn eines Märchens, was der erste Hinweis auf den bereits am Horizont lauernden Albtraum war, der – wie es Unholde zu tun pflegten – nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um zuzuschlagen.
Während unser Passagierschiff darauf vorbereitet wurde, den Hafen zu verlassen, ignorierte ich meine ungute Vorahnung zugunsten der opulenten Fantasiewelt vor uns. Dies war der Beginn eines anderen Jahrs, ein neues Kapitel, eine wunderbare Gelegenheit, die dunklen Ereignisse der Vergangenheit hinter uns zu lassen und in eine strahlende Zukunft voranzuschreiten.
Eine Zukunft, die vielleicht schon bald eine Hochzeit bereithielt … und eine Hochzeitsnacht.
Ich atmete tief durch, um mich zu sammeln, und richtete den Blick auf die Bühne in der Mitte des gewaltigen Speisesaals. Die schweren Samtvorhänge – in einem dunklen, fast schwarzen Tintenblau – funkelten und schimmerten in jedem Lichtstrahl, der sie traf, da sie über und über mit winzigen Kristallen besetzt waren. Luftakrobaten in juwelenbesetzten Kostümen wirbelten an Silberfäden umher wie wunderschöne Spinnen, in deren Netzen ich mich bereits rettungslos verfangen hatte.
Die runden Tische im Saal ähnelten sorgsam platzierten Sternenkonstellationen, und die mondweißen Tischdecken waren mit Blütenblättern in Lila, Cremerosa und Blau bestreut. Zu den vielen modernen Annehmlichkeiten, mit denen sich die Etruria brüsten konnte, zählte auch ein Gewächshaus, und der Duft von Jasmin, Lavendel und anderen Mitternachtsnoten umwehte uns, betörend und zugleich beunruhigend – ganz ähnlich wie die maskierten Akrobaten hoch über uns. Schwerelos schwangen sie von einem Trapez zum nächsten, ließen ohne Furcht los, flogen durch die Luft und griffen mit spielerischer Leichtigkeit nach dem nächsten Halt.
»Die langen Schleppen ihrer Kostüme lassen sie wie Sternschnuppen aussehen, nicht wahr? Ach, so ein glitzerndes Kleid hätte ich auch einmal gern!« Miss Prescott, die Tochter des Chief Magistrate, die mir am Tisch gegenübersaß, seufzte tief. Mit ihrem karamellblonden Haar und den listigen braunen Augen erinnerte sie mich an meine Cousine Liza. Sie stellte ihre Champagnerflöte ab und beugte sich zu mir vor, wobei sie die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen senkte. »Haben Sie schon von der Legende des Mephisto gehört, Miss Wadsworth?«
Ich riss den Blick von der hypnotischen Szene über uns los und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Basiert die heutige Vorstellung darauf?«
»Ich denke, es ist Zeit für eine Geschichte.« Captain Norwood, der stolze Kapitän der Etruria, räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der an unserem Tisch Sitzenden auf sich zu lenken. Dabei handelte es sich um die Prescotts, meinen Onkel Jonathan, meine Anstandsdame Mrs Harvey und den frevlerisch verführerischen Mr Thomas Cresswell, jenen jungen Mann, der mein Herz mit der gleichen Geschicklichkeit für sich gewonnen hatte, wie sie ein Falschspieler bei seinem bevorzugten Kartenspiel an den Tag legte.
Begleitet von meinem Onkel hatten Thomas und ich zwei äußerst strapaziöse Tage an Bord der Etruria verbracht, die uns zunächst von Bukarest nach Liverpool befördert und dann Kurs auf New York genommen hatte. Während der Reise hatten wir allerlei kreative Möglichkeiten ersonnen, um uns versteckte Küsse zu stehlen, und nun blitzte jede dieser heimlichen Begegnungen ungebeten vor meinem inneren Auge auf – meine Hände in seinem dunkelbraunen Haar, seine Lippen, die eine Flammenspur über meine Haut zogen, unsere …
Miss Prescott stieß mich sanft unter dem Tisch an, um meine Aufmerksamkeit wieder auf die Unterhaltung zu lenken.
»… natürlich nur, wenn man der Legende glauben möchte«, erklärte Captain Norwood. »Nach einer Gestalt der deutschen Folklore benannt, ist Mephisto ein Dämon in Diensten des Teufels. Er ist dafür bekannt, die Seelen jener zu stehlen, die bereits korrupt sind, und er steckt voller Magie und Tücke. Darüber hinaus ist er zufälligerweise jedoch auch ein spektakulärer Schausteller. Hier, sehen Sie sich die Tarotkarten an, die er für die Tische angefertigt hat. Jede Karte steht für eine seiner Darstellungen.« Er hielt einige wunderschöne handbemalte Karten hoch. »Ich garantiere Ihnen eine unvergleichliche Woche voller Magie und Geheimnisse«, fuhr er fort. »An jedem Abend wird es eine neue karnevalistische Vorstellung geben, wie man sie noch nie zuvor gesehen hat. Über dieses Schiff wird man sich legendäre Geschichten erzählen, denken Sie an meine Worte. Schon bald wird es auf jedem Passagierschiff ein ähnliches Unterhaltungsprogramm geben. Dies ist der Beginn einer neuen Reiseära.«
Angesichts seines geradezu ehrfürchtigen Tonfalls hob ich eine Braue. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie zu unserer Unterhaltung einen Dämon angeheuert haben, was sich zum letzten Schrei der Schifffahrt entwickeln wird, Captain?«
Thomas verschluckte sich an seinem Wasser, und Miss Prescott warf mir ein spitzbübisches Lächeln zu. »Gibt es auf dem Schiff auch eine Kirche oder Kapelle?«, fragte sie mit großen Unschuldsaugen. »Was sollen wir tun, wenn er uns unsere Seele abschwatzt, Sir?«
Der Kapitän hob eine Schulter und genoss seine Heimlichtuerei. »Abwarten, Sie werden es beide erleben. Lange kann es nicht mehr dauern.« Gerade wollte er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine anderen Zuhörer richten, als Miss Prescott von ihrem Sitz aufsprang, womit sie mich erschreckte und sich einen missbilligenden Blick von ihrem Vater einhandelte.
»Nur ein kleiner Hinweis, bitte?«
Vielleicht spürte ich den Einfluss des Teufels bereits, denn ich konnte einfach nicht widerstehen. »Wäre es nicht schrecklich, wenn mich die Hysterie so übermannt, dass ich von Bord gehen muss? Noch sind wir nicht weit vom Hafen, nicht wahr? Vielleicht könnte ich schwimmen …«
Langsam und anerkennend zwinkerte Miss Prescott mir zu. »In der Tat, Captain. Ich fühle mich schon ein wenig schwach! Könnte dies ein Zauber sein? Glauben Sie, Mephisto steckt dahinter?« Ihre Stimme klang eine Oktave höher. »Ob seine Listen auch aus der Ferne wirksam sind? Ich frage mich, wie viele Menschen er auf einmal unter seine Kontrolle bringen kann.«
Ich musterte sie und beugte mich wie zu einer medizinischen Betrachtung weiter vor. »Sie kommen mir tatsächlich ein bisschen blass vor, Miss Prescott. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Seele immer noch fest mit Ihrem Körper verbunden ist?«
Thomas schnaubte, wagte es aber nicht, diese neue Vorstellung zu unterbrechen. In meinem dunkelblauen Abendkleid aus Seide, den mitternachtsschwarzen Handschuhen, die mir bis zu den Ellbogen reichten, und den funkelnden Juwelen, die auf meinen Schlüsselbeinen lagen, fühlte ich mich fast so strahlend wie die Akrobaten, die über uns dahinflogen.
Miss Prescott legte sich die behandschuhten Finger um die Kehle, und ihre Augen wurden groß. »Wissen Sie, ich fühle mich wirklich seltsam. Irgendwie leichter.« Sie wankte ein wenig und drückte sich beide Hände auf den Bauch. »Vielleicht sollten wir lieber nach Riechsalz schicken, Captain?«
»Das halte ich für unnötig.« Er atmete tief durch und bereute es nun zweifellos, uns beide zusammengesetzt zu haben. »Ich versichere Ihnen, dieser Mephisto ist harmlos. Er ist nur ein Mann, der vorgibt, ein legendärer Bösewicht zu sein, weiter nichts.«
»Aber ich schwöre, dass meine Seele bereits schwächer wird. Kann man es schon sehen? Wirke ich irgendwie … transparenter?« Jetzt waren ihre Augen groß wie Untertassen, und sie ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen und sah sich um. »Ob wir wohl einen Geisterfotografen an Bord haben? Ich habe gehört, dass sie dazu in der Lage sind, solche Dinge auf Film zu bannen. Mein Kleid wird doch nicht etwa unziemlich durchsichtig?«
»Noch nicht.« Ich biss mir auf die Unterlippe und versuchte, das Lächeln sowohl aus meiner Stimme als auch aus meinem Gesicht zu verbannen, besonders weil Mrs Prescott vor Zorn über die Darbietung ihrer Tochter gleich zu platzen schien. »Vielleicht könnten wir Sie wiegen, um zu sehen, ob es einen Unterschied gibt.«
Mein Onkel hielt in seiner Unterhaltung mit Thomas inne und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Bevor er sich jedoch einmischen konnte, kam einer der Schiffsbediensteten herbeigeeilt, um ihm ein Telegramm zu übergeben. Er las es, wobei er die Enden seines hellen Schnurrbarts zwirbelte, und faltete das Papier dann zusammen, ehe er mir einen prüfenden Blick zuwarf.
»Wenn Sie mich entschuldigen würden.« Mein Onkel erhob sich. »Um diese Angelegenheit muss ich mich sofort kümmern.«
Miss Prescotts Augen funkelten. »Da wurde Ihr Onkel wohl zu einer geheimen forensischen Angelegenheit gerufen. Ich habe in den Zeitungen über Ihre Verwicklung in die Ripper-Morde gelesen. Und haben Mr Cresswell und Sie wirklich in Rumänien einen Vampir daran gehindert, den König und die Königin zu töten?«
»Ich … Was?« Ich schüttelte den Kopf. »Es wurde über Thomas und mich berichtet?«
»Allerdings!« Miss Prescott nippte an ihrem Champagner, und ihr Blick folgte meinem Onkel, bis dieser den Saal verließ. »In London tuscheln praktisch alle über Sie und Ihren schneidigen Mr Cresswell.«
Leider konnte ich mich in diesem Moment nicht weiter damit befassen, zu welchem Spektakel sich mein Leben gerade entwickelte. »Verzeihung. Ich brauche ein bisschen … frische Luft.«
Ich erhob mich halb, unsicher, ob ich meinem Onkel folgen sollte, als Mrs Harvey mir die Hand tätschelte. »Es ist sicher alles in Ordnung, meine Liebe.« Sie nickte in Richtung der Bühne. »Gleich geht es los.«
Rauchschwaden wanden sich um die tintenblauen Vorhänge, und ein so starker Geruch erfüllte die Luft, dass einige der Anwesenden zu husten begannen. Meine Nase brannte, was ich aber kaum bemerkte, so schnell hämmerte mein Herz. Ich wusste nicht, ob es am übereilten Abschied meines Onkels lag oder an der Information, dass Thomas und ich unserer forensischen Fähigkeiten wegen im Gespräch waren, oder an der Vorfreude auf die heutige Vorstellung. Vielleicht war es auch alles zusammen.
»Ladies and Gentlemen.« Die tiefe Männerstimme schien von überall gleichzeitig zu kommen, woraufhin sich die Passagiere auf ihren Plätzen eifrig umsahen. Auch ich drehte den Kopf, auf der Suche nach dem Mann, der zu dieser körperlosen Stimme gehören musste. Wahrscheinlich hatte er irgendeinen Mechanismus eingesetzt, um seine Ankündigung im ganzen Saal erschallen zu lassen. »Willkommen zur Vorstellung!«
Ein Summen erhob sich, und die Worte hallten laut im Raum nach. In der darauffolgenden Stille setzte das leise Scheppern von Orchesterbecken ein, das sich zu einem Crescendo steigerte und in einem ohrenbetäubenden Schlag mündete, als die Kellner alle gleichzeitig die Silberglocken von unseren Tellern hoben und ein Festmahl enthüllten, das der Königsfamilie würdig gewesen wäre. Doch niemand schien sich für die mit Pilzrahmsoße beträufelten Rinderfilets oder die daneben aufgehäuften Bratkartoffeln zu interessieren. Wir gierten nicht mehr nach Essen, sondern danach, diese geheimnisvolle Stimme ein weiteres Mal zu hören.
Ich warf Thomas einen Blick zu und lächelte. Er rutschte auf seinem Platz herum, als wären glühende Kohlen darauf verteilt, die ihn versengen würden, wenn er auch nur einen Augenblick still saß.
»Nervös?«, flüsterte ich, während die Luftakrobaten einer nach dem anderen abstiegen.
»Wegen einer Vorstellung, die sich damit rühmt, Herzrhythmusstörungen hervorzurufen?« Er wedelte mit dem schwarz-weiß gestreiften Programmheft in seiner Hand. »Kein bisschen. Ich kann es gar nicht erwarten, dass mein Herz den Geist aufgibt. Das könnte doch etwas Farbe in diesen ansonsten so grauen Sonntagnachmittag bringen, was, Wadsworth?«
Bevor ich antworten konnte, ertönte ein donnerndes Krachen, und in einer Rauchwolke erschien mitten auf der Bühne ein maskierter Mann. Er trug einen Gehrock in der Farbe einer frisch geöffneten Ader und darüber ein gestärktes Hemd und eine tiefschwarze Hose. Scharlachrote Bänder und Silbermünzen zierten seinen Zylinder, und von der Nase aufwärts verschwand sein Gesicht hinter einer polierten Filigranmaske. Als sich alle Blicke im Saal auf ihn richteten und sämtliche dazugehörigen Münder aufklappten, bog sich sein Mund zu einem boshaften Lächeln.
Die Männer sprangen von ihren Plätzen auf, die Frauen ließen ihre Fächer aufschnappen, was klang, als würde ein gewaltiger Vogelschwarm auffliegen. Es war verstörend, mitzuerleben, wie sich dieser Mann einfach mitten unter uns materialisierte, ungerührt von dem Sturm, der um ihn zu toben schien. Gewisperte Bemerkungen, er sei der Erbe des Teufels, drangen an meine Ohren. Satan höchstpersönlich, wie Miss Prescotts Vater betonte. Fast hätte ich mit den Augen gerollt. Ich konnte nur hoffen, dass er als Chief Magistrate ein besseres Urteilsvermögen an den Tag legte. Dies war eindeutig unser Zeremonienmeister.
»Erlauben Sie mir, mich vorzustellen.« Der Maskierte verbeugte sich, und in seinen Augen blitzte der Schalk, als er sich langsam wieder aufrichtete. »Ich bin Mephisto – und ich werde Sie durch die Welt des Fremdartigen und Zauberhaften führen. An jedem Abend wird das Rad des Schicksals über die Art der Vorstellung entscheiden. Allerdings steht es Ihnen frei, nach der Darbietung mit den Schaustellern zu verhandeln, um in den Genuss all unserer Künste zu kommen. Von Feuerschluckern bis zu Löwendompteuren, Wahrsagern und Messerwerfern, Ihr Wunsch ist uns Befehl. Aber ich warne Sie, seien Sie vorsichtig mit derlei mitternächtlichen Pakten, denn es ist nicht ratsam, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.«
Die Passagiere wurden unruhig, vermutlich fragten sie sich, was für Handel sie wohl eingehen und wie tief sie in ihrer Genusssucht fallen würden, hier draußen auf See, weit fort von den wachsamen Augen der Gesellschaft.
»Unsere Kunststücke mögen Ihnen köstlich erscheinen, doch ich versichere Ihnen, sie sind kein Vergnügen«, wisperte er. »Sind Sie tapfer genug, zu überleben? Vielleicht werden Sie bald schon zu jenen zählen, die Herz und Kopf an mein mitternächtliches Spiel verlieren. Entscheiden können das nur Sie allein. Und bis es so weit ist?«
Mephisto schritt über die Bühne, ein eingesperrtes Tier, das auf seine Chance lauerte, um zuzuschlagen. Mein Herz pochte wild, und es kam mir vor, als wären wir alle Beute, fein herausgeputzt, und wenn wir nicht achtgaben, würde uns diese geheimnisvolle Vorstellung mit Haut und Haaren verschlingen.
»Dies ist die erste von sieben Nächten, in denen Sie verzaubert werden.« Der Zeremonienmeister hob beide Arme, und ein Dutzend weißer Tauben flatterte aus seinen Ärmeln zu den Dachbalken empor. Ein paar der Zuschauer stießen überraschte Rufe aus, darunter auch Mrs Harvey und Miss Prescott.
»Und zu Tode erschreckt«, fuhr er fort, und nun klang seine Stimme plötzlich heiser. Von einem Moment auf den anderen verwandelte sich seine Krawatte in eine sich windende Schlange, die sich um seinen Hals wand. Mephisto umklammerte seine Kehle, und unter der Filigranmaske lief sein bronzefarbenes Gesicht dunkelviolett an. Mir stockte der Atem, als er keine Luft mehr bekam und keuchend vornübersackte.
Beinahe wäre ich aufgesprungen, überzeugt davon, dieser Mann würde tatsächlich mit dem Tod ringen, aber ich zwang mich dazu, einfach weiterzuatmen. Nachzudenken. Fakten zu sammeln, wie es sich für eine angehende Wissenschaftlerin gehörte. Dies hier war nur Schau. Mehr nicht. Niemand würde sterben. Mein Atem ging keuchend, was jedoch nichts mit dem Mieder unter meinem Kleid zu tun hatte. Die Darbietung war durch und durch aufregend und entsetzlich. Ich hasste sie fast so sehr, wie ich sie liebte. Und ich genoss sie mehr, als ich zugeben wollte.
»Mein Gott«, murmelte Miss Prescott, als der Zeremonienmeister japsend auf die Knie sank. Seine Augen rollten nach oben, bis wir bloß noch das Weiß darin sahen. Ich hielt die Luft an, unfähig, der sich aufbauenden Spannung in meinen Schultern etwas entgegenzusetzen. Es musste eine Illusion sein. »So helft ihm doch!«, rief Miss Prescott jetzt laut. »Er stirbt!«
»Setz dich hin, Olivia«, flüsterte Mrs Prescott harsch. »Du machst dich nicht nur selbst lächerlich, sondern auch deinen Vater und mich.«
Bevor irgendjemand dem Zeremonienmeister zu Hilfe kommen konnte, riss er sich die Schlange vom Hals und schnappte nach Luft, als wäre er soeben aus dem Meer aufgetaucht, über das wir reisten. Ich sank gegen meine Stuhllehne, und Thomas lachte leise, aber ich konnte den Blick nicht von dem Maskierten auf der Bühne wenden.
Mephisto kam mühsam auf die Füße, leicht taumelnd, dann hob er die Schlange langsam über seinen Kopf, wobei sich das Licht der Kronleuchter in seiner Maske fing und den oberen Teil seines Gesichts in ein zorniges orangerotes Glühen tauchte. Vielleicht war er wütend – er hatte uns auf die Probe gestellt, und wir hatten versagt. Was für elegant gekleidete Ungeheuer wir doch waren! Seelenruhig hatten wir weitergespeist, während er um sein Leben kämpfte, allein zu unserer Unterhaltung.
Er wirbelte im Kreis, einmal, zweimal, dann verschwand das sich schlängelnde Biest in seiner Hand. Ungläubig blinzelnd beugte ich mich vor, als sich der Zeremonienmeister stolz ein weiteres Mal vor seinem Publikum verbeugte, nun, da er die Hände wieder frei hatte. Applaus erhob sich.
»Wie um alles in der Welt …?«, murmelte ich. Nirgends war eine Kiste oder etwas Ähnliches zu sehen, in der er die Schlange hätte verstecken können. Ich konnte bloß hoffen, dass sie nicht gleich bei uns am Tisch auftauchen würde. Thomas würde bestimmt in Ohnmacht fallen.
»Vielleicht …«, rief der Zeremonienmeister und schlug einen Salto über die Bühne, wobei sein Zylinder fest auf seinem Kopf sitzen blieb, ohne dass er festgehalten wurde, »… verlieben Sie sich sogar.«
Mephisto tippte sich an den Hut, der daraufhin über seinen Arm hinabrollte wie ein weiterer Akrobat am Trapez. Ganz im Stil der großen Zauberer hielt Mephisto uns den Zylinder hin, damit wir alle sehen konnten, dass es sich dabei nur um einen ganz gewöhnlichen, wenn auch sehr auffälligen Hut handelte. Nachdem er einmal ganz um die Bühne herumgelaufen war, warf er den Zylinder in die Luft und fing ihn mit einer zackigen Bewegung aus dem Handgelenk wieder auf. Ohne zu blinzeln, sah ich zu, wie er den Arm bis zum Ellbogen in den Hut steckte und einen Strauß tintenblauer Rosen herauszog.
Dabei war es ein ganz normaler Hut, da war ich mir fast sicher.
»Ich warne Sie noch einmal – lassen Sie sich nicht allzu sehr mitreißen.« Mephistos Stimme donnerte so laut durch den Saal, dass ich das Echo in meiner eigenen Brust fühlte. »Unsere Darbietungen mögen zwar todesverachtend sein, doch niemand kann sich ihrem Griff ewig entziehen. Wird dieser Abend jemandem sein Ende bringen? Werden Sie Ihr Herz verlieren? Oder vielleicht«, über die Schulter lächelte er seinem Publikum zu, »den Kopf?«
Das Licht eines Scheinwerfers fiel auf eine primitiv bemalte Harlekin-Puppe – die gerade eben noch nicht da gewesen war. In einer einzigen, fließenden Bewegung drehte der Zeremonienmeister eine Pirouette und schleuderte einen Dolch über die Bühne. Um die eigene Achse wirbelnd zischte die Klinge durch die Luft und sank anschließend mit einem dumpfen Laut in den Hals der Puppe, was das Publikum verstummen ließ. Einen angespannten Moment lang geschah nichts. Alles blieb totenstill. Wir saßen da, kaum atmend, wartend, während der Kopf der Puppe stur weiter an dem Brett lehnte, gegen das man sie gelehnt hatte. Ein weiterer Moment verstrich, dann schnalzte Mephisto tadelnd mit der Zunge.
»Nun, so geht das nicht.« Er stampfte mit den Füßen. »Alle zusammen … machen Sie es mir nach!«
Stampf! Stampf! Stampf!
Die Passagiere gehorchten. Zuerst zögerlich, aber dann erhob sich ein rhythmisch vibrierender Tumult im Speisesaal. Geschirr klirrte, Besteck rutschte über die Tische, aus den Gläsern schwappte Merlot auf die teuren Leinendecken, bis unser Tisch eher dem Schauplatz eines Gewaltverbrechens glich als einer festlich gedeckten Tafel. Ich beschloss, meine wohlerzogene Reserviertheit ein wenig zu lockern, und stampfte mit. Thomas, der leicht skeptisch wirkte, tat es mir nach.
Stampf! Stampf! Stampf!
Der pochende Rhythmus vibrierte durch meinen Körper, bis mein Herz und mein Blut den Takt aufnahmen. Es war animalisch, ungezähmt und so … aufregend. Ich konnte nicht glauben, wie viele Lords und Ladies und hochwohlgeborene Passagiere der ersten Klasse sich von dieser hedonistischen Ausschweifung mitreißen ließen.
Mrs Harvey schlug mit der behandschuhten Faust auf den Tisch, was dem dröhnenden Pochen in meinen Ohren eine neue Inbrunst verlieh, und schon tat Miss Prescott es ihr nach. Einen Moment später fiel der Kopf der Puppe zu Boden und rollte dem Zeremonienmeister vor die polierten Stiefel.
Stampf! Stampf! Stampf!
Offenbar wollte niemand diesen teuflischen Rhythmus wieder aufgeben, nachdem er erst einmal begonnen hatte. Mephisto war der Dirigent dieser verruchten Symphonie, und er stieß die Faust in die Luft, als sich das Stampfen zu einem Fieberwahn steigerte.
»Still!«, brüllte er donnernd über den Lärm hinweg. Und als wäre er ein Puppenspieler, der soeben die Schnüre gekappt hatte, verstummte das Stampfen. Ein paar der Zuschauer in der Menge erhoben sich applaudierend, während eine Gruppe Männer mit Seidenzylindern laut pfiff.
Miss Prescott sprang ebenfalls auf, die Wangen gerötet, die Augen leuchtend, vollkommen ungerührt von den mahnenden Blicken ihrer Eltern. »Bravo!«, rief sie laut und klatschte begeistert. »Bravo, sage ich!«
Nachdenklich sah Mephisto auf den abgetrennten Kopf hinab, als hinge er einer Erinnerung nach, die ihm zusetzte. Einer so schlimmen Erinnerung, dass er ihr niemals entkommen konnte, ganz gleich, wie weit er vor ihr floh. Vermutlich war wie bei seinen meisterlichen Illusionen auch bei ihm nichts so, wie es schien. Zu meiner Verblüffung hob er den Kopf der Puppe auf und trat ihn hoch in die Luft, wo er in einem funkensprühenden Feuerwerk explodierte. Tanzend wie fallende Sterne sanken die Funken herab und brannten aus, ehe sie das schwarz-weiße Schachbrettmuster des Bodens berührten. Stille senkte sich auf uns herab.
»Also frage ich Sie noch einmal, was Sie verlieren werden, bevor die Woche verstrichen ist. Ihr Herz? Ihren Kopf? Vielleicht«, fuhr er fast träge fort, während sich Schatten auf sein Gesicht senkten und die Kronleuchter immer dunkler wurden, bis das Licht schließlich vollständig verlosch, »werden Sie sogar Ihr Leben verlieren. Oder Ihre Seele. An diese magische Show.«
Ich schnappte nach Luft und hob die Hände vor mein Gesicht, konnte sie jedoch kaum sehen. Mein Herz hämmerte noch schneller, während ich mich in der tiefschwarzen Dunkelheit umsah, zugleich fasziniert davon und erschrocken darüber, welche Monster in der Schwärze lauern könnten. Offenbar war ich nicht die Einzige, der es so ging. Aufgeregtes Murmeln erhob sich in der Finsternis. Das Versprechen des Todes war ebenso verlockend wie die Aussicht auf die Liebe, wenn nicht sogar verlockender. Was waren wir doch für morbide Kreaturen! Wir sehnten uns nach Gefahr und Geheimnissen anstelle eines märchenhaften, glücklichen Endes.
»Fürs Erste«, fuhr Mephisto fort, seine Stimme wie ein sanftes Streichen in der Schwärze, »genießen Sie einen Abend voller Zauber, Schalk und Chaos.« Meine Handflächen wurden feucht, und unwillkürlich beugte ich mich vor, sehnsüchtig auf ein weiteres Wort wartend, einen weiteren Hinweis, eine weitere Kostprobe des Surrealen. Als hätte er mein stummes Flehen erhört, sprach Mephisto weiter. »Geehrte Passagiere der Etruria … genießen Sie mit allen Sinnen die größte Show auf dem Meer«, schmeichelte er. »Willkommen zu Mephistos Magischer Mystikshow, oder besser bekannt als … der Mondscheinkarneval!«
Licht flackerte auf, grell und stechend, und ich blinzelte gegen die dunklen Flecken an, die vor meinen Augen tanzten. Da stieß sich Mrs Harvey vom Tisch ab. Ihr Gesicht war weißer als das eines Gespensts. Thomas streckte den Arm aus, um sie zu stützen, doch sie hob zitternd eine Hand.
Ich folgte ihrem Blick und biss mir so fest auf die Zunge, dass ich Kupfer schmeckte. Miss Prescott – die junge Frau, die gerade eben noch so begeistert geklatscht hatte – lag mit dem Gesicht nach unten reglos in einer Blutlache. Und tief in ihrem samtverhüllten Rücken steckte eine Reihe Messer.
Ich starrte sie an, wartete darauf, dass sie atmete oder zuckte. Dass sie den Kopf zurückwarf und lachte, weil sie uns so gründlich hereingelegt hatte. Doch da machte ich mir selbst etwas vor.
Miss Prescott war wirklich und wahrhaftig tot.
Einen Moment lang geschah nichts, abgesehen davon, dass ein schrilles Klingeln in meinen Ohren einsetzte. Vielleicht rief Thomas meinen Namen, aber ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als darauf weiterzuatmen. Ich musste rational und analytisch bleiben, doch meine Gefühle wollten mir einfach nicht gehorchen. Ich studierte die Toten, aber eine gerade ermordete Person vor sich zu haben, war einfach unbegreiflich.
Als ich aufsprang, drehte sich der Raum, und alles wurde sengend heiß. Ich versuchte mir einzureden, das Ganze sei nur ein schrecklicher Traum, aber da stieß Mrs Prescott einen gutturalen Schrei aus, und Hunderte von Augenpaaren richteten sich auf uns. Und ich begriff, dass es real war.
Die Passagiere an den anderen Tischen schnappten nach Luft, auf ihren Mienen las ich allerdings kein Entsetzen, sondern … Entzücken, als sie die junge Frau erblickten, die in ihrem eigenen Blut lag, mit zehn Speisemessern entlang ihrer Wirbelsäule im Rücken. Langsam blinzelnd starrte ich die anderen Passagiere an, die nun zu applaudieren begannen. Mir zog sich der Magen zusammen, als ich begriff: Sie hielten dies für ein weiteres Schauspiel.
Für die meisten im Speisesaal war der »Mord« an Miss Prescott lediglich Teil des Abendprogramms – und was für ein fantastisches Programm es doch war, wie ein Mann am Nebentisch anmerkte. Thomas war ebenfalls aufgesprungen, und sein Blick flog zwischen meiner schluchzenden Anstandsdame und mir hin und her, während er gleichzeitig die nähere Umgebung nach potenziellen Gefahren absuchte. Ich wollte ihm helfen, ich wollte leistungsfähig und nützlich sein, aber ich konnte das Schrillen in meinen Ohren einfach nicht abschütteln, genauso wenig wie den Nebel, der meine Gedanken einhüllte. Sämtliche Bewegungen kamen mir verlangsamt vor, nur mein Herz donnerte wild jagend gegen meine Rippen. Ein warnender Rhythmus, der mich dazu drängte, zu handeln, mich anflehte, zu fliehen.
»Olivia!« Mrs Prescott umklammerte die Leiche ihrer Tochter, und Tränen tropften auf ihr Samtkleid. »Steh auf. Steh auf!«
Blut fleckte das Tischtuch und Mrs Prescotts Korsage, so dunkel wie meine aufgewühlten Emotionen. Miss Prescott war tot. Ich konnte es genauso wenig fassen, wie ich mein Herz dazu zwingen konnte, sich zu verhärten und irgendwie von Nutzen zu sein. Wie war das möglich?
Auf einmal stand Captain Norwood vor uns und brüllte Befehle, die ich durch das unablässige Schrillen in meinem Kopf nicht verstehen konnte. Die Bewegungen um den Tisch herum zwangen mich endlich dazu, den Blick von den Messern und dem Blut abzuwenden. Die Passagiere wurden aus dem Saal geleitet, was der fröhlichen Stimmung jedoch keinen Abbruch tat. Abgesehen von ein paar wenigen Gästen an den Tischen direkt neben uns wirkte niemand sonderlich beunruhigt. Ich starrte auf die grauenhafte Szene vor mir und verstand nicht, wie irgendjemand dies für eine Illusion halten konnte. Da war so viel Blut.
»Wadsworth?« Thomas berührte mich am Ellbogen und legte die Stirn in Falten. Ich starrte ihn an, ohne irgendetwas wirklich wahrzunehmen. Vor mir lag eine einst lebhafte junge Frau, tot. Die Welt ergab keinen Sinn mehr. »So bizarr das jetzt vielleicht klingt, aber betrachte es einfach als eine Gleichung.«
Thomas beugte sich zu mir herab, bis ich seinen Blick endlich erwiderte. Seine Miene wirkte ebenso zerrissen, wie es meine eigene sein musste. Auch für ihn war dies nicht leicht, und wenn es ihm gelang, diese kühle Gefasstheit an den Tag zu legen, dann konnte ich es auch. Also schüttelte ich mein Entsetzen ab, eilte an Mrs Prescotts Seite und nahm ihre Hände sanft in meine. Ich wollte sie sowohl trösten als auch den Tatort schützen. Im Sturm meiner Gefühle klammerte ich mich an eine Tatsache: An Bord dieses Schiffs befand sich ein Mörder, und wir mussten mögliche Indizien rasch eingrenzen. So schrecklich das alles war, wir durften die Leiche nicht bewegen. Jedenfalls noch nicht.
»Kommen Sie«, sagte ich, so sanft ich konnte.
»Olivia!«, heulte Mrs Prescott. »Steh auf!«
»Schau mich an, Ruth, nur mich«, unterbrach Mr Prescott die Schreie seiner Frau. In seiner Stimme lag eine Schärfe, die durch ihre sich immer weiter steigernde Hysterie drang. Sie straffte sich, auch wenn ihre Lippen bebten. »Geh in unsere Kabine und weis Farley an, dir einen warmen Brandy zu bringen. Ich schicke sofort nach Dr. Arden.«
Als ich schon mit ihr gehen wollte, legte sich eine warme Hand auf meine Schulter. Ich spürte Thomas’ tröstlichen Druck, während er mich aus seinen ernsten goldbraunen Augen musterte. »Ich bringe Mrs Prescott und Mrs Harvey auf ihre Zimmer, dann hole ich deinen Onkel.«
Er fragte mich nicht, ob ich damit zurechtkommen würde, wenn ich bei der Leiche blieb. Er vertraute einfach darauf, dass ich es schaffte. Einen weiteren Moment starrte ich ihn nur an, und sein Vertrauen in mich war Balsam für meine blank liegenden Nerven. Meine Angst ebbte ab. Ich nickte einmal, atmete tief durch und richtete meine Aufmerksamkeit dann auf die Geschehnisse am Tisch. Captain Norwood starrte eine Spielkarte an, die an Miss Prescotts Rücken steckte und meiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. Die Karte befand sich genau in der Mitte ihrer Wirbelsäule. Mein Blut wurde kalt. Wer auch immer die Messer geworfen hatte, musste die Karte vorher auf eine der Klingen gespießt haben. Eine potenzielle Warnung. Und ein Indiz.
»Alles muss genau so bleiben, wie es ist, Captain«, sagte ich und verfiel in die Routine meiner monatelangen forensischen Ausbildung, während Thomas die beiden Frauen hinausführte. Mein Onkel wäre stolz auf mich. Wie Anatomieproben hatte ich meine Gefühle eingesammelt und in einer Kiste verstaut, um mich später damit befassen zu können. »Außerdem müssen alle befragt werden, die sich in diesem Raum befunden haben.«
»Das Licht war aus, Miss Wadsworth.« Captain Norwood schluckte schwer, und sein Blick glitt zu der Karte und den Messern in Miss Prescotts Rücken zurück. »Ich bezweifle, dass irgendjemand etwas Brauchbares gesehen hat.«
Am liebsten hätte ich ihm für diese überflüssige Bemerkung einen Klaps gegen den Kopf versetzt. Das Licht war nur kurz aus gewesen – vielleicht hatte irgendjemand kurz davor etwas gesehen.
»Tun Sie mir den Gefallen, Sir.« Ich ließ so viel Autorität wie möglich in meinem Tonfall mitschwingen, und der Kapitän biss die Zähne aufeinander. Es war das eine, wenn ein Mann einen solchen Befehl aussprach; wenn es ein siebzehnjähriges Mädchen tat, war es jedoch etwas ganz anderes. Zugunsten der Toten vor uns schluckte ich meine Gereiztheit hinunter. »Mein Onkel ist ein Experte, was das Untersuchen von Tatorten betrifft«, fügte ich hinzu, da ich die Unentschlossenheit des Kapitäns spürte. »Und das ist es, wozu er Ihnen raten würde.«
Er strich sich übers Gesicht. Eine Tote am ersten Abend des Mondscheinkarnevals ließ für seine Pläne nichts Gutes hoffen. »Nun gut. Ich schicke meine Crew noch heute in sämtliche Kabinen.«
Auf ein Zeichen des Kapitäns hin schwärmten die Mitglieder der Schiffsbesatzung im Saal aus, um die verbliebenen Passagiere der ersten Klasse so ruhig wie nur möglich hinauszuführen. Ein paar der Gäste warfen nervöse Blicke in unsere Richtung, doch die meisten plauderten aufgeregt darüber, wie lebensecht die Vorstellung war. Und wie in aller Welt hatte es der Zeremonienmeister geschafft, die Messer im Rücken so authentisch wirken zu lassen? Captain Norwood sagte nichts, um diese Theorien zu bestätigen oder ihnen zu widersprechen. Mit grimmiger Miene stand er da und wünschte den Passagieren einen schönen Abend.
Während sich der Saal allmählich leerte, lief mir ein ungutes Prickeln über den Rücken. Ich drehte mich um und stellte überrascht fest, dass uns Mephisto von der Bühne aus beobachtete. Hinter der Maske war seine Miene unmöglich zu lesen. Im Gegensatz zu allen anderen musterte er jedoch nicht das tote Mädchen, sondern mich. Sein Blick war schwer, fast greifbar, und ich fragte mich, was er wohl gesehen hatte oder wissen mochte. Ich ging einen Schritt auf ihn zu, fest entschlossen, ihm genau diese Fragen und noch weitere zu stellen, aber da verschmolz er mit den Schatten und war schließlich endgültig verschwunden.
Die Kammer, die man uns für Miss Prescotts Autopsie zugewiesen hatte, erinnerte mich an eine feuchte Höhle.
Wir befanden uns tief in den Eingeweiden der Etruria, und so nah an den Heizkesseln war es unangenehm warm. Das Licht flackerte ein wenig zu sehr, als wartete sogar das Schiff nervös darauf, welche dunklen Geheimnisse hier wohl ans Licht kommen würden. Ich war dankbar für die Kühlkammern an Bord – wir würden die Leiche nicht lange in diesem Raum aufbewahren können, sonst würde sie bereits über Nacht von Fäulnisgasen aufgetrieben werden und Ungeziefer anlocken.
Trotz der Wärme überlief mich eine Gänsehaut, und sosehr ich mich auch bemühte, sämtliche Gedanken an ein anderes, finsteres Labor zu vertreiben, ich konnte mich den Erinnerungen einfach nicht entziehen. Den Erinnerungen an das Surr-zisch, das in einigen Nächten durch meine Albträume geisterte. Die schlimmen Träume waren seltener als noch vor ein paar Wochen, doch von Zeit zu Zeit suchten sie mich heim, schmerzliche Erinnerungen an alles, was ich während des Herbsts des Schreckens verloren hatte.
Ohne auf den zischenden Dampf zu achten, der aus einem offenen Rohr drang, konzentrierte ich mich ganz auf Onkel Jonathan, der die Ärmel hochrollte und begann, Hände und Arme mit Karbolseife abzuschrubben. Nachdem er damit fertig war, trat ich um den Untersuchungstisch herum und verstreute Sägemehl, um Blut und Körperflüssigkeiten aufzusaugen, die vielleicht auf den Boden laufen könnten. Rituale waren ein notwendiger Bestandteil unserer Arbeit. Sie halfen uns dabei, Herz und Verstand zu klären, das sagte zumindest mein Onkel.
»Bevor ich die Messer herausziehe, möchte ich, dass die körperlichen Details notiert werden.« Sein Tonfall war so kühl wie die Metallskalpelle, die ich auf einem improvisierten Tablett zurechtgelegt hatte. »Größe, Gewicht und so weiter. Audrey Rose, ich brauche meine …«
Ich reichte ihm seine Schürze, ehe ich mir meine eigene um die Taille band. Ich hatte mich noch nicht umgezogen, und der Kontrast zwischen meinem feinen Seidenkleid und meiner schlichten Schürze erinnerte mich daran, wie unberechenbar das Leben sein konnte. Miss Prescott war an diesem Morgen sicher nicht mit der Befürchtung aufgewacht, sie könnte mit dem Gesicht nach unten auf unserem Untersuchungstisch landen, mit einer Reihe Messer von ihrem Genick bis fast hinab zu ihrem Steißbein.
Thomas griff nach einem Notizbuch und nickte mir mit entschlossener Miene zu. Wir beide waren in unseren makabren Rollen durchaus versiert, da wir uns zahllose Male und in mehr als einem Land darin geübt hatten. Wo immer wir auch hingingen, der Tod schien uns zu folgen, und wie gierige Pfennigfuchser sammelten wir Fakten und profitierten so in gewisser Weise von dem Verlust. Wir ergänzten uns perfekt: Ich sprach meine wissenschaftlichen Ergebnisse laut aus, und er dokumentierte sie.
Ich kramte in der ledernen Arzttasche meines Onkels herum, bis ich endlich das Maßband fand. Wie es mir beigebracht worden war, maß ich die Tote vom Scheitel bis zu den Zehen, und dank der vertrauten Aufgabe klärten sich meine Gedanken noch weiter. Nun war nicht der richtige Zeitpunkt, um über das nachzudenken, was Miss Prescott vielleicht gern mit ihrem Leben angefangen hätte. Stattdessen sollten wir ihre Leiche nach Hinweisen absuchen. Ich glaubte nicht an Rache, aber es war schwer, sich nicht nach Gerechtigkeit für sie zu sehnen.
»Bei der Verstorbenen handelt es sich um Miss Olivia Prescott. Sie war achtzehn Jahre alt und etwa eins fünfundsechzig groß«, sagte ich und wartete, bis Thomas diese Informationen notiert hatte. Er sah auf, um mir damit das Zeichen zu geben fortzufahren. »Ihr Gewicht würde ich auf etwa hundertzehn Pfund schätzen.«
»Gut.« Mein Onkel reihte die Skalpelle, die Knochensäge und die Scheren auf, die ich für meine Untersuchung als Nächstes brauchen würde. »Todesursache.«
Ich riss den Blick von der Leiche los. »Entschuldigung, aber aus ihrem Rücken ragen beinahe ein Dutzend Messer. Ist die Todesursache da nicht offensichtlich? Ich bin sicher, dass mindestens eines davon ihr Herz oder ihre Lunge durchbohrt oder das Rückgrat durchtrennt hat.«
Er richtete den scharfen Blick seiner blassgrünen Augen auf mich, und ich musste gegen den Drang ankämpfen, mich zu ducken. Ganz eindeutig hatte ich eine wichtige Lektion vergessen. »Als forensische Wissenschaftler können wir nicht einfach Abkürzungen nehmen und andere Möglichkeiten ausschließen. Was habe ich euch darüber beigebracht, dass man nur dem trauen soll, was man nachgewiesen hat?«
Dies war nicht einmal eine sonderlich scharfe Zurechtweisung, trotzdem brannte mein Gesicht vor Scham unter seiner Musterung. »Natürlich hast du recht … Es wäre vermutlich möglich, dass die Klingen vergiftet wurden. Oder dass Miss Prescott auf eine ganz andere Weise ums Leben gekommen ist und die Messer bloß zur Ablenkung dienen sollen. Sie ist sehr schnell und lautlos gestorben.«
»Sehr gut.« Mein Onkel nickte. »Es ist von grundlegender Wichtigkeit, dass wir unsere Emotionen und Theorien zurückhalten, während wir eine Autopsie durchführen. Anderenfalls laufen wir Gefahr, unsere Ergebnisse selbst zu beeinflussen. Oder wir werden so verstört, dass wir letztendlich die Fassung verlieren, so wie deine Tante Amelia.«
Onkel Jonathan schloss die Augen, und ich hatte das bestimmte Gefühl, dass er eigentlich nicht von ihr hatte sprechen wollen.
»Tante Amelia?« Ich zog die Brauen zusammen. »Was hat sie denn so verstört? Geht es Vater gut?«
Darauf folgte ein ungemütlich langes Schweigen, als wüsste mein Onkel nicht, was er sagen sollte. Ich ballte die Hand um das Maßband zur Faust. Wenn er so lange brauchte, um eine Antwort zu formulieren, konnte das nichts Gutes heißen. Endlich warf er Thomas einen verkniffenen Blick zu, als wäre er nicht sicher, ob sein anderer Schützling wirklich hören sollte, was er zu sagen hatte, dann seufzte er.
»Offenbar wird Liza vermisst.«
»Vermisst? Das kann nicht stimmen.« Das Schrillen von vorhin war wieder da. Ich wankte einen Schritt zurück, fort von der Leiche, um nicht auf sie zu fallen, falls ich ohnmächtig werden sollte. »Erst letzte Woche habe ich einen Brief von ihr erhalten.« Ich schloss den Mund und versuchte, mich daran zu erinnern, welches Datum Liza angegeben hatte. Doch ich wusste es nicht mehr. In diesem Brief hatte nichts Ungewöhnliches gestanden. Sie war fröhlich gewesen und hatte sich heimlich mit einem jungen Mann getroffen. An einem harmlosen kleinen Abenteuer war nichts Verwerfliches. »Tante Amelia regt sich sicher zu sehr auf. Bestimmt ist Liza nur …«
Ich hatte nicht bemerkt, wie sich Thomas erhoben hatte, doch er fing auf der anderen Seite des Raums meinen Blick auf. Wenn Liza mit dem jungen Mann durchgebrannt war, von dem sie mir in ihrem letzten Brief geschrieben hatte, dann wäre dies ein vernichtender Schlag für meine Familie und unseren Ruf. Kein Wunder, dass Onkel Jonathan vor Thomas gezögert hatte.
Mein Onkel rieb sich die Schläfen. »Ich fürchte, diese Nachricht kommt von deinem Vater. Amelia ist außer sich vor Kummer und hat ihre Gemächer seit über einer Woche nicht mehr verlassen. Liza ist eines Nachmittags ausgegangen und nicht wieder heimgekehrt. Dein Vater fürchtet, sie könnte tot sein.«
»Tot? Sie kann nicht …« Das Herz rutschte mir in die Hose. Ob es nun an der Seereise oder an diesen Neuigkeiten lag, ich würde mich gleich übergeben müssen. Ohne ein weiteres Wort eilte ich hinaus, da ich die Enttäuschung in den Augen meines Onkels nicht sehen wollte, wenn meine Gefühle schließlich doch aus der Kiste hervorbrachen, in die ich sie gesperrt hatte, und mich überwältigten.
Ich hüllte mich fester in meinen Mantel, während ich auf dem kalten Promenadendeck stand und zusah, wie die Sonne immer weiter in Richtung Horizont sank und die dunklen, wogenden Wellen in die Farbe geronnenen Bluts tauchte. Das beständige Rauschen des Wassers, das gegen den Schiffsbug schlug, klang wie der Ruf einer Sirene, die ihre Opfer einlullte und ihnen versprach, es würde alles gut werden, wenn man einfach sprang und ihr Unterwasserreich betrat.
»In was hast du dich denn nun wieder hineingeritten, Cousine?« Ich seufzte, und meine warme Atemluft mischte sich mit der kalten Meeresgischt. Die einzige Antwort darauf bekam ich von den Wellen, die sich gegen die Schiffswand warfen, bekümmert und ruhelos, und vielleicht sogar verzweifelt in dem Versuch, uns nach England zurückzutreiben. Dorthin, wo ich die Chance haben würde – so gering sie auch sein mochte –, Liza zu finden.
Wie rasch sich Träume doch in Albträume auflösen konnten!
Trotz der Unmöglichkeit, mit der ich mich konfrontiert sah, weigerte ich mich, die Tatsache hinzunehmen, dass ich auf dem Meer gestrandet war, machtlos und unfähig, jenen zu helfen, die ich liebte. Ich konnte nicht fassen, dass Vater mich einfach hatte abreisen lassen, ohne mir zu sagen, dass meine Cousine vermisst wurde. Ich hatte geglaubt, wir hätten seine übervorsichtige Art, durch die er versuchte, mich vor allem abzuschirmen, hinter uns gelassen, nachdem er mir erlaubt hatte, forensische Medizin in Rumänien zu studieren, doch da hatte ich mich eindeutig geirrt. Auch wenn es nicht meine Schuld war, hatte ich schon vorher das Gefühl gehabt, Miss Prescott irgendwie im Stich gelassen zu haben. Und jetzt Liza …
»Ich werde nicht noch einmal versagen«, schwor ich laut. Es gab lediglich eine Grenze, die ich niemals überschreiten würde – Mord. Einem anderen Menschen das Leben zu nehmen – dadurch würde ich genauso schlimm werden wie die Mörder, die ich zu fassen hoffte. Eine grausame Stimme in meinem Kopf wisperte, dass ich sie jedoch nie tatsächlich aufgehalten hatte. Ich hatte nur Hinweise aus Blut und Knochen gesammelt und versucht, sie zusammenzusetzen, bevor noch mehr Leichen der endlosen Aufzählung hinzugefügt wurden.
Um einen Mörder wirklich aufzuhalten, musste man selbst zu einem werden.
Ich musterte die Rettungsboote, die an der Seitenwand des Promenadendecks befestigt waren, und fragte mich, ob ich über genug körperliche Kraft verfügte, um eines davon aus der Verankerung zu lösen und nach England zurückzurudern. Ich biss die Zähne zusammen und spähte aufs Wasser hinaus. Salz und Meeresgischt brannten in meiner Nase, und das Sprühwasser in der eisigen Luft benetzte mein Gesicht und weckte mich aus meinen unsinnigen Visionen.
Hinter mir schwang eine Tür auf und enthüllte eine große, vom Licht in einen goldenen Schein getauchte Gestalt – der Hintergrundlärm der Bediensteten, die nach der grauenvollen Eröffnungsvorstellung aufräumten, betonte nur, wie still mein Besucher blieb. Er stand einfach dort, in Schatten getaucht, sodass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte, doch das unwillkürliche Flattern in meiner Brust verriet mir, dass es Thomas war.
Während er auf die Reling zuging, vor der ich stand, erblickte ich ein Telegramm, das aus seiner Manteltasche ragte. Ich fragte mich, ob es wohl von meinem Vater stammte und ob er jedem auf diesem Schiff eine Nachricht hatte zukommen lassen außer mir. Wenn irgendjemand Liza etwas angetan hatte, dann würde ich ihn töten. Langsam.
Fast lächelte ich bei diesem Gedanken, der mich tatsächlich kein bisschen verstörte.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, meine liebste Wadsworth«, sagte Thomas mit jenem Spott, mit dessen Hilfe er mich von meiner Dunkelheit abzulenken pflegte, »dann würde ich annehmen, dass du gerade deine eigene Flucht planst. Darf ich dir dabei zur Hand gehen?« Stirnrunzelnd sah er an sich herab. »Meinen Gehrock mit dem Drachenpaillettenmuster habe ich leider in London gelassen, und dieser hier ist ein bisschen schlicht. Er schreit nicht gerade ›Karneval-Chic‹.«
»Genau genommen habe ich gerade überlegt, ob ich einen Mord begehen sollte.«
»Hoffentlich nicht an mir.« Er lehnte sich gegen die Reling und sah mich von der Seite an. »Auch wenn ich in diesem Anzug wirklich gut aussehe. Wenn für mich schon die Zeit gekommen ist, dann werde ich wenigstens stilvoll gehen. Bitte achte darauf, mein Gesicht nicht zu verunstalten. Und ich möchte, dass du bei meiner Beerdigung wehklagst und in Ohnmacht fällst.«
Beinahe hätte ich ein entnervtes Stöhnen von mir gegeben. »Angesichts der jüngsten Ereignisse ist das wirklich geschmacklos.« Er seufzte, und ich stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Aber ich würde mich dennoch immer wieder für dich entscheiden, Cresswell, trotz all deiner Fehler.«
»Weil ich so geistreich bin, habe ich recht?« Er sah mich an und lächelte zaghaft. »Ohne meinen Esprit kannst du nicht mehr sein. Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass du deinem Onkel noch nichts von den Ansprüchen erzählt hast, die du auf mich erhebst. Ich dachte, diese Neuigkeit würdest du gern mit anderen teilen.«
Da lag eine Frage in seinem Blick, doch ich sah rasch wieder auf den Ozean hinaus und tat so, als hätte ich es nicht bemerkt. Die Sterne leuchteten in dieser Nacht mit ganzer Kraft, funkelnd und schimmernd über der wogenden See. Was mich an das Bild erinnerte, das Thomas mir letzte Woche geschenkt hatte: eine Orchidee, die das ganze Universum in ihren Blütenblättern barg. Es erstaunte mich, dass sich die Welt einfach immer weiterdrehte, ganz gleich, welche Katastrophen sich ereigneten. Ich fragte mich, wie es Mrs Prescott wohl ging, ob man ihr den Brandy eingeflößt hatte und sie nun irgendwo zwischen Träumen und Albträumen dahintrieb.
Vielleicht sollte ich mich zu ihr gesellen.
Ich spürte, dass Thomas mich musterte, aber ich verspürte nicht länger den Drang, eine Maske aufzusetzen, so wie ich es früher getan hatte. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder, und ich fragte mich, was er wohl hatte sagen wollen. Vielleicht war er es ebenso leid, immer wieder die gleiche Diskussion zu führen. Ich wollte niemandem von unserer geplanten Verlobung erzählen, bevor wir nicht mit meinem Vater gesprochen hatten. Thomas sah darin eine gewisse Zögerlichkeit meinerseits, eine so lächerliche Annahme, dass ich mich weigerte, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wir hatten schlicht und einfach nicht den Luxus gehabt, uns die Zeit nehmen zu können, meinem Vater einen Besuch abzustatten und ihn über unsere Absichten zu informieren, während wir zum Schiff geeilt waren, so gern ich es auch getan hätte. Es gab nichts in mir, das sich nicht danach sehnte, für immer mit ihm zusammen zu sein, und ich hätte geglaubt, nach allem, was wir im letzten Monat zusammen durchgestanden hatten, würde er das wissen.
Einen Moment später legte er mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. Da wir auf dem kalten Deck allein waren, hatten wir nichts zu befürchten. Ich entspannte mich in seiner Umarmung und ließ mich von der Wärme seines Körpers und dem Duft seines Rasierwassers trösten.
»Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut wird, Audrey Rose.«
Ich stieß hörbar die Luft aus. »Das hier ist eine der Gelegenheiten, bei denen eine kleine Lüge schon in Ordnung ist, Thomas. Mir ist durchaus bewusst, wie ernst die Lage ist, aber ich würde gern so tun, als wäre es anders. Wenigstens für ein paar Minuten.«
»Na gut.« Er schien zu überlegen. »Eigentlich wollte ich damit sagen, dass ich dir beistehen werde, was auch geschieht. Am Ende stehst zweifellos du als Heldin der Geschichte da, aber immerhin werde ich neben dir gut aussehen. Und das ist es doch, worauf es wirklich ankommt.«
»Im Ernst?«
Er wich zurück und tat brüskiert. »Du kannst nicht alles haben. Die Heldin sein und gut aussehen? Das hier ist eine der Gelegenheiten, bei denen eine kleine Lüge schon in Ordnung ist, Wadsworth.«
»Hast du kein …« Seine Lippen strichen über meine, und ich vergaß meine Sorge, genau wie er es beabsichtigt hatte. Der Kuss begann zaghaft und süß, eine Ablenkung und ein Versprechen, aber dann wurde er inniger und dringlicher. Ich schlang Thomas die Arme um den Hals, zog ihn noch fester an mich, verlor mich im Rhythmus des Meeres und unseres Kusses. Selbst in der kältesten aller Nächte konnte er ein Feuer in mir entfachen. Ich fürchtete, eines Tages könnte mich das Lodern mit Haut und Haaren verschlingen.
Viel zu früh löste er sich wieder von mir. Bei Gelegenheiten wie dieser glaubte ich, dass er recht hatte – wir sollten unsere Absichten öffentlich machen und sofort heiraten. Dann könnte ich ihn küssen, wann immer ich wollte.
»Soll ich sagen, was ich eigentlich nicht sagen soll?«, fragte er ernst.
Ich holte tief Luft. Wenn er schon zögerte, dann wollte ich ganz sicher nicht hören, was er zu sagen hatte. »Wir haben einander versprochen, uns nicht zu belügen.«
»Also gut, hier sind die Tatsachen.« Wieder musterte er mich, nüchtern, aber zugleich mit einer gewissen Weichheit. »Von hier aus können wir nichts tun, um Liza zu helfen. Sobald wir in Amerika sind, können wir die Rückfahrt nach London arrangieren, doch bis dahin gibt es an Bord dieses Schiffs einen echten Mord aufzuklären. Vielleicht bleibt es ein Einzelfall, aber das glaube ich nicht.«
Gänsehaut überzog meine Arme. Thomas’ Schlussfolgerungen waren praktisch immer richtig. Wenn er glaubte, es könnte weitere Morde geben, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis noch mehr Leichen auftauchten.
»Was sollen wir deiner Meinung nach tun?« Ich rieb mir über die Arme.
»Gut, dass du fragst. Ich denke bereits seit einer ganzen Weile darüber nach.«
»Und?«
»Ich bin dafür, dass wir uns die restliche Woche in deiner Kabine einschließen.« Als ich eine Braue hob, zuckte ein Lächeln um seinen Mund. »Wir trinken, küssen uns und schlemmen, bis wir in New York ankommen.« Er seufzte verträumt. »Du musst zugeben, dass wir dort vor dem Mörder sicher wären. Und glücklich und zufrieden. Was beides verlockender klingt, als Leichen zu inspizieren.«
Ich rollte mit den Augen. »Oder wir bringen diese Autopsie zu Ende und sehen, was wir finden.«
»Nicht ganz so spaßig, aber ein weitaus beherzterer Vorschlag, wie immer, Wadsworth. Allerdings wird auf Bitte des Captains dein Onkel die Autopsie fortführen.« Er atmete tief durch, doch da war ein spitzbübisches Funkeln in seinen Augen. »Mir wurde die Aufgabe übertragen, dich zu Bett zu geleiten. Eine schwere Pflicht, die ich aber, wie ich dir versichern möchte, überaus ernst nehme.«
Ich schüttelte den Kopf. Thomas hatte mir meine schlimmsten Sorgen genommen und mich dazu gebracht, mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren … und irgendwie war es ihm dabei auch noch gelungen, sich einen weiteren Kuss zu stehlen. Einen gewissen Reiz konnte ich seinen Methoden durchaus nicht absprechen, während wir Arm in Arm das Promenadendeck entlangschritten.
Eine Zofe flocht mir das Haar und half mir in mein spitzenbesetztes Baumwollnachthemd, ohne ein Wort zu sagen. Während der Großteil der Passagiere den Mord an Miss Prescott immer noch Teil einer ausgefeilten Vorführung hielt, schienen die Mitglieder der Schiffsmannschaft mit angehaltenem Atem ihre Zungen zu hüten, unsicher, ob sich bald ein weiterer Albtraum ereignen würde.
Sobald die Zofe fort war, stieß ich ein erschöpftes Seufzen aus und sah mich um. Meine Kabine war hübsch eingerichtet und verfügte über einen Marmornachttisch, eine mit Schnitzereien verzierte Frisierkommode, einen kleinen Tisch samt Stühlen und einen Kleiderschrank, der mit seinen opulenten Goldverzierungen sogar Ludwig XIV. gefallen hätte. Allerdings ließen die Industriebolzen und der Stahlrahmen um das Fenster keinen Zweifel daran, wo ich mich befand. Trotz des opulenten Erscheinungsbilds sickerte die Kälte durch die Ritzen herein.
Unser Luxusschiff war nichts weiter als ein schwimmendes Gefängnis.
Ich zog mir dicke Wollsocken an und legte mich aufs Bett, obwohl ich wusste, dass ich bei all den Gedanken, die mir durch den Kopf wirbelten, ganz sicher keinen Schlaf finden würde. Dann nahm ich das Kreuzass zur Hand, das ich an Miss Prescotts Leiche gefunden hatte, und musterte es. In welchem Zusammenhang stand es mit diesem Mord? Ich überdachte einige potenzielle Hinweise, von denen der hervorstechendste mit Zaubertricks zu tun hatte.
Mit Taschenspielertricks hatte ich mich bisher kaum befasst, auch wenn ich in London gesehen hatte, wie Straßenzauberer Spielkarten über ihre Knöchel tanzen ließen. Sie mussten zahllose Stunden üben, um diese Bewegung so fließend wirken zu lassen, und für ein ungeschultes Auge war die Täuschung fehlerlos. Was in gewisser Hinsicht mit den Eigenschaften eines gerissenen Mörders zu vergleichen war.
Tatorte wiesen ihre eigenen Spuren von Taschenspielerei auf. Mörder, die versuchten, gewisse Szenen zu inszenieren, die das Augenscheinliche manipulierten, um ihre wahren Intentionen und ihre Identität zu verschleiern. Mephisto war überaus begabt in der Kunst der Irreführung, etwas, was auf Fakten, nicht auf Fantasie basierte. Er brachte einen dazu, in eine bestimmte Richtung zu sehen, obwohl man genau das Gegenteil tun sollte. Hätte er sich während des Mords an Miss Prescott nicht auf der Bühne befunden, wäre er mein Hauptverdächtiger.
Mit wild pochendem Herzen setzte ich mich auf, als ich endlich verstand, was mich an dem jungen Zeremonienmeister so faszinierte. Ich wollte seine Fähigkeiten erlernen – diesen Teil meines Verstands anzuwenden, während ich mich in die Gedanken eines Verbrechers oder Mörders hineinversetzte, wäre höchst nützlich. Etwas nagte am Rand meiner Überlegungen, eine verschwommene, weit hergeholte Idee, die sich fast unmöglich verwirklichen ließ. Wenn ich Thomas Cresswell in die Irre führen und ihm das Unvorstellbare weismachen könnte – dass sich meine Gefühle für ihn geändert hätten –, dann wüsste ich mit Sicherheit, dass ich zu einer Meisterin dieser Kunst geworden war …
Ich schob diesen Plan beiseite, ließ mich wieder in die Kissen sinken und drehte das Kreuzass auf der Suche nach irgendetwas Signifikantem um. In der Mitte war es durchbohrt und mit getrocknetem Blut befleckt, doch die Rückseite wies ein überaus interessantes Muster auf. Ein Rabe – tintenschwarz – breitete vor einem Silbermond seine Schwingen aus. Dornenranken woben sich kunstvoll mit dicken schwarzen Strichen gemalt um den Rand der Karte. Ober- und unterhalb der Mitte lag eine seltsame Doppelacht auf der Seite, in sich selbst verschlungen.
Ich vermied es, die Stelle zu berühren, die das Messer durchbohrt hatte, weil ich immer noch nicht wahrhaben wollte, dass man Miss Prescott direkt vor mir ermordet hatte. Wenn mein Onkel nur nicht …
Ein leises Klopfen kam von der Tür, die meine Kabine von der meiner Anstandsdame trennte, und riss mich aus meinen Grübeleien. Ich erhob mich, legte die Karte auf meinen Nachttisch und hüllte mich in einen kunstvoll bestickten orchideenrosa Morgenmantel. Dabei stellten sich die Härchen auf meinen Armen auf, allerdings nicht vor Schreck, sondern weil die Moiréseide kühl und glatt wie Wasser über die Stellen meiner Haut glitt, die das Nachthemd nicht verhüllte.
»Herein.«
»Ich bin es bloß, meine Liebe.« Mrs Harvey öffnete die Tür, wobei sie ein kleines Teetablett auf ihrer ausladenden Hüfte balancierte. »Ich dachte, du könntest vielleicht etwas Warmes vertragen. Außerdem habe ich mein Reisetonikum mitgebracht, nur für den Fall, dass du gern etwas noch Wärmeres möchtest.«
Ich lächelte, als mir der listige Deckname wieder einfiel, den sie auf unserer Reise nach Rumänien im vergangenen Monat ersonnen hatte. Ihr gravierter Flachmann stand wackelig ebenfalls auf dem Tablett. Der scharfe Alkoholgeruch war sogar von meinem Standort aus wahrnehmbar, und vermutlich würde er mich tatsächlich gut und gründlich wärmen. Und mir dabei gleich noch ein Loch in den Magen brennen.
»Tee wäre wunderbar, vielen Dank.« Ich wollte mich zu ihr an den kleinen Tisch stellen, doch sie hielt mich mit einem nachdrücklichen Kopfschütteln davon ab. Dann schenkte sie den Tee aus, schob mich zum Bett zurück und drückte mir die dampfende Tasse in die Hand. Sofort erfüllte der Duft von Bergamotte und Rose die Luft und entspannte mich fast augenblicklich. »Danke.«
»Nein, nein, mein Kind.« Sie ließ sich neben mich auf einen Stuhl fallen und nahm einen großzügigen Schluck aus dem Flachmann. »Kein Grund, mir zu danken. Ich brauchte nur selbst ein wenig Gesellschaft. Dann trinkt sich das Reisetonikum leichter.« Ihr Blick schweifte über die Karte auf meinem Nachttisch. »Reichtum.«
»Wie bitte?« Ich fragte mich, wie viel von ihrem Tonikum sie wohl schon getrunken hatte.
»Mein Mann hat sich in seiner Jugend ein wenig mit Kartomantie beschäftigt – mit der Kunst, die Zukunft aus Spielkarten zu lesen. So haben wir uns kennengelernt.« Eine gewisse Wehmut huschte über ihr Gesicht. »Er war miserabel darin, möge seine Seele in Frieden ruhen. Allerdings gab es andere Bereiche, in denen er durchaus talentiert war.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich, um rasch das Thema zu wechseln. Ich wollte nicht herausfinden, an welche Talente sie sich so verträumt erinnerte. »Was für ein Tag!«
»Ich verstehe nicht, wie du und mein Thomas das tun könnt, was ihr da tut, ohne dabei den Verstand zu verlieren«, sagte sie, mit einem Mal zurück in die Gegenwart geholt. »Aber ich bin stolz auf euch beide. Ihr gebt ein gutes Paar ab, weißt du. Bei eurer Ausbildung und auch auf andere Weise. Hat Thomas seine Absichten schon verdeutlicht?«