Stalking Jack the Ripper - Kerri Maniscalco - E-Book
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Stalking Jack the Ripper E-Book

Kerri Maniscalco

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Der New-York-Times-Bestseller Platz 1 – bald endlich auf Deutsch erhältlich! London, im Jahr 1888. Audrey Rose Wadsworth ist die Tochter eines Lords und hat ein Leben voller Reichtum und Privilegien vor sich. Doch zwischen Teeverabredungen und Kleideranproben führt sie ein verbotenes Doppelleben. Entgegen den Wünschen ihres strengen Vaters und den Erwartungen der Gesellschaft schleicht sich Audrey oft in das Labor und den Hörsaal ihres Onkels, um Gerichtsmedizin zu studieren. Dabei arbeitet sie an einer Reihe grausam zugerichteter Leichen und stößt auf Ungereimtheiten. Gemeinsam mit dem attraktiven Thomas Cresswell fängt sie an zu ermitteln – schnell wird klar, dass sie sich auf der Spur des berüchtigten Serienmörders Jack the Ripper befinden. Die Suche nach Antworten führt Audrey zurück in ihr eigenes Umfeld … und zu einem furchtbaren Geheimnis. Das atemberaubend spannende Debüt der Spiegel-Bestsellerautorin Kerri Maniscalco – inspiriert von den Whitechapel-Morden rund um Jack the Ripper! Weitere Bände der Reihe: Stalking Jack the Ripper. Die Spur in den Schatten (Band 1) Hunting Prince Dracula. Die gefährliche Jagd (Band 2)

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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel

Das Zitat am Buchanfang stammen aus William Shakespeare, Macbeth, übersetzt von Dorothea Tieck.

Das Zitat in Kapitel 27 stammt aus John Milton, Das verlorene Paradies, übersetzt von Karl Eitner.

© Kerri Maniscalco 2016

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Stalking Jack the Ripper«, Jimmy Patterson Books, New York 2016

Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Anita Hirtreiter

Illustrationen/Fotos: Wellcome Library, London (Abbildung Eröffnungsschnitt, Illustration Herz und Blase, Foto Tuberkuloide Lepra, Foto menschliche Hand); John Walker (Foto Princess Alice), John M. Clarke, The Brookwood Necropolis Railway (Foto London Nekropolis Railway), William Whiffin, Tower Hamlets Local History Library and Archives (Foto Mitre Square).

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einem Entwurf von Jeff Miller, Faceout Studio / Hachette Book Group, Inc.

Coverabbildung: Carrie Schechter and Shutterstock.com

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Abbildung Eröffnungsschnitt

1 Eröffnungsschnitt

Dr. Jonathan Wadsworths Laboratorium, Highgate

30. August 1888

2 Blutspritzer

Harrow School for Boys, London

31. August 1888

Illustration Herz und Blase

3 Tee und Autopsien

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

31. August 1888

Foto Princess Alice

4 Ein Tanz mit dem Teufel

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

7. September 1888

5 Dunkles und Grässliches

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

8. September 1888

6 Sündenpfuhl

Dr. Jonathan Wadsworths Salon, Highgate

8. September 1888

7 Eine Studie der Geheimnisse

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

10. September 1888

8 Zeigt her eure fast Toten!

Great Western Royal Hotel, Paddington Station

11. September 1888

Foto Tuberkuloide Lepra

9 Botschaft aus dem Grab

Wohnsitz der Thornleys, Reading

11. September 1888

10 Die Mary See

Am Serpentine, Hyde Park

13. September 1888

11 Etwas Finsteres

Schenke Jolly Jack

13. September 1888

12 Familienbande

Empfangszimmer der Familie Wadsworth, Belgrave Square

13. September 1888

13 Entwürfe und blutige Schrauben

Dr. Jonathan Wadsworths Laboratorium, Highgate

13. September 1888

Foto Nachmittagstee

14 Anständige Damen sprechen nicht über Leichen

Speisezimmer der Familie Wadsworth, Belgrave Square

14. September 1888

15 Die größte Schau der Welt

Eingangshalle der Familie Wadsworth, Belgrave Square

25. September 1888

16 Eine Verabredung zum Sterben

Zirkus Barnum & Bailey, Olympia

25. September 1888

17 Das Herz der Bestie

Bethlem Royal Hospital, London

25. September 1888

Foto London Necropolis Railway

18 Necropolis Railway

Thomas Cresswells Wohnung, Piccadilly Street

25. September 1888

19 Lieber Boss

Central News Agency, London

27. September 1888

Foto Mitre Square

20 Doppelmord

Mitre Square, London

30. September 1888

21 Die verdammte Wahrheit

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

30. September 1888

22 Der freche Jack

Speisezimmer der Familie Wadsworth, Belgrave Square

1. Oktober 1888

23 Die Kunst des Heraufbeschwörens

Little Ilford Cemetery, London

8. Oktober 1888

Foto Brief aus der Hölle

24 Aus der Hölle

Dr. Jonathan Wadsworths Bibliothek, Highgate

16. Oktober 1888

25 A Violet from Mother’s Grave

Dr. Jonathan Wadsworths Wohnsitz, Highgate

8. November 1888

26 Black Mary

Miller’s Court, Whitechapel

9. November 1888

27 Ein beachtenswertes Porträt

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

9. November 1888

Foto menschliche Hand

28 Jack the Ripper

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

9. November 1888

29 Schatten und Blut

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

9. November 1888

30 Vom Tod ins Leben

Dr. Jonathan Wadsworths Laboratorium, Highgate

23. November 1888

Anmerkungen der Autorin

Historische Ungenauigkeiten und kreative Freiheiten

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Grandma, die immer für einen guten Krimi zu haben war.

»Es fordert Blut, sagt man. Blut fordert Blut.«

William Shakespeare: Macbeth (3. Akt, 4. Szene)

Fig. 3 zeigt das Spannen der Haut sowie die Methode, wie das Messer für den Eröffnungsschnitt gehalten wird.

J. M. Beattie: Post-Mortem Methods, 1915

1 Eröffnungsschnitt

Dr. Jonathan Wadsworths Laboratorium, Highgate

30. August 1888

Ich legte Daumen und Zeigefinger auf das eisige Fleisch und spannte die Haut über dem Brustbein, wie es mir mein Onkel gezeigt hatte.

Den Eröffnungsschnitt richtig hinzubekommen war unerlässlich.

Ich nahm mir Zeit, als ich das Metall auf die Haut setzte, und achtete darauf, den richtigen Winkel für einen sauberen Schnitt zu finden. Ich fühlte, dass mein Onkel dicht hinter mir stand und jede meiner Bewegungen verfolgte, aber ich konzentrierte mich ganz auf die Klinge in meiner Hand.

Ohne zu zögern, zog ich das Skalpell von der Schulter bis zum Sternum, wobei ich sorgsam darauf achtete, so tief zu schneiden, wie ich konnte. Meine Brauen zuckten nach oben, bevor ich meine Züge wieder zu einer undurchdringlichen Maske formte. Menschenfleisch gab viel leichter nach, als ich erwartet hatte. Im Grunde war es nicht anders, als würde man eine Schweinelende für die Pfanne vorbereiten. Ein Gedanke, der nicht so verstörend war, wie er wohl sein sollte.

Ein widerlich süßlicher Gestank stieg aus dem Schnitt auf. Diese Leiche war offenbar nicht mehr ganz taufrisch. Ich hatte den nicht sonderlich vertrauenserweckenden Verdacht, dass nicht alle unsere Studienobjekte auf legalem Weg oder durch freiwilliges Zurverfügungstellen zu uns gelangten, und nun bereute ich es, das Angebot meines Onkels, mir eine Schutzmaske überzuziehen, nicht angenommen zu haben.

Die Luft wurde zu weißen Wölkchen vor meinen Lippen, doch ich weigerte mich, dem sich in mir aufbauenden Zittern nachzugeben. Ich wich einen Schritt zurück, wobei meine flachen Schuhe leise auf den Sägespänen scharrten, und begutachtete mein Werk.

Aus dem Schnitt war kaum Blut gedrungen. Es war zu dick und zu tot, um noch rot zu fließen, außerdem wirkte es zu fremdartig, um wirklich schockierend zu sein. Wäre der Mann seit weniger als sechsunddreißig Stunden tot, dann wäre sein Blut vielleicht aus der Wunde auf den Tisch gelaufen, zu Boden getropft und im Sägemehl versickert. Ich wischte die Klinge an meiner Schürze ab und hinterließ dabei einen tintenschwarzen Streifen auf dem Stoff.

Es war ein wirklich guter Schnitt geworden.

Ich machte mich bereit für den nächsten, aber da hob mein Onkel die Hand, um mir Einhalt zu gebieten. Ich biss mir auf die Unterlippe und ärgerte mich darüber, dass ich bereits jetzt einen Schritt in der Unterrichtseinheit vergessen hatte.

Der Kleinkrieg, den mein Onkel mit meinem Vater führte – und von dem beide behaupteten, sie würden sich gar nicht mehr daran erinnern, worum es eigentlich ging, obwohl ich es noch ziemlich genau wusste –, ließ ihn ohnehin schon zweifeln, ob er meine Lehre weiter fortführen sollte. Wenn ich mich nun zudem noch als unfähig erweisen sollte, würde das nicht sonderlich hilfreich sein, besonders nicht, wenn ich morgen früh wie erhofft an seiner Vorlesung teilnehmen wollte.

»Einen Moment, Audrey Rose«, sagte er und nahm mir das gebrauchte Skalpell aus der Hand.

Ein scharfer Geruch erfüllte die Luft und mischte sich mit dem Gestank der verwesenden Organe, als mein Onkel eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit entkorkte und etwas davon auf ein Tuch gab. Antiseptika waren in seinem Kellerlaboratorium und beim Umgang mit seinen Skalpellen absolut unabdingbar. Ich hätte nicht vergessen dürfen, meine Klinge damit abzuwischen.

Aber dieser Fehler würde mir nicht noch einmal unterlaufen.

Ich sah mich im Keller um, an dessen Wand sich noch weitere Leichen aneinanderreihten. Ihre blassen Glieder waren wie schneebedeckte Zweige. Wenn ich mich nicht beeilte, würden wir die ganze Nacht hier verbringen, und Vater, der hochwichtige Lord Edmund Wadsworth, würde Scotland Yard auf die Suche schicken, wenn ich nicht bald nach Hause käme.

Angesichts seines Standes würde er vermutlich dafür sorgen, dass eine kleine Privatarmee die Gassen nach mir durchstreifte.

Mein Onkel verkorkte die Flasche mit der Karbolsäure wieder und reichte mir ein weiteres Skalpell, das aussah wie ein langes, schmales Speisemesser. Die Schneide war noch viel schärfer als bei der letzten Klinge. Mit der sterilen Klinge ahmte ich denselben Schnitt nach, wobei ich an der anderen Schulter begann, und zog ihn bis zum Bauch des Verstorbenen hinunter. Knapp oberhalb des Bauchnabels setzte ich ab.

Mein Onkel hatte mich nicht davor gewarnt, wie schwierig es war, bis zum Rippenkasten hinabzuschneiden. Verstohlen warf ich ihm einen Blick zu, doch seine beinahe gierige Konzentration galt ganz dem Leichnam.

Manchmal erschreckte mich die Dunkelheit in seinen Augen mehr als die Toten, die wir aufschlitzten.

»Du musst den Rippenkasten aufbrechen, um an das Herz heranzukommen.«

Ich erkannte, wie schwer es ihm fiel, die Sache nicht einfach selbst in die Hand zu nehmen. Die Leichen leisteten ihm an den meisten Abenden Gesellschaft. Wie faszinierende Lehrbücher. Er genoss es, sie zu zerlegen und die Geheimnisse zwischen den Seiten ihrer Haut und ihrer Knochen zu entdecken. Ehe er sich zu sehr mitreißen ließ und vergaß, dass dies hier eine Unterrichtsstunde war, brach ich rasch den Rippenkasten auf und legte das Herz und die restlichen Eingeweide frei.

Der faulige Gestank traf mich mitten ins Gesicht, und unabsichtlich stolperte ich einen Schritt zurück. Fast hätte ich mir die Hand auf den Mund gepresst. Mein Onkel hatte nur auf die Eröffnung gewartet. Er trat vor, doch bevor er mich beiseiteschieben konnte, steckte ich beide Hände tief in den Körper vor mir und tastete zwischen schwammigen Membranen umher, bis ich fand, wonach ich suchte.

Ich wappnete mich dafür, die Leber zu entfernen, und nahm ein weiteres Skalpell von meinem Onkel entgegen. Ein paar Schnitte, ein bisschen Ziehen, und schon löste sich das Organ.

Mit einem schleimigen Glitschen landete es in der bereitliegenden Schale, und ich widerstand dem Drang, mir die Hände an der Schürze abzuwischen. Es war das eine, wenn die Dienstmädchen meines Onkels ein bisschen Blut herauswaschen mussten, sie jedoch dazu zu zwingen, sich mit der klebrigen Blut-Schleim-Mischung zu befassen, die jetzt meine Finger überzog, war etwas ganz anderes.

Wir konnten es uns nicht leisten, eine weitere Riege von Dienstboten zu verlieren, und mein Onkel konnte es sich nicht leisten, dass noch mehr Gerüchte über ihn in Umlauf gebracht wurden. Einige Leute hielten ihn auch so schon für verrückt.

»Wie lautet deine medizinische Einschätzung, was die Todesursache dieses Mannes betrifft, Nichte?«

Die Leber war in einer schauderhaften Verfassung. Durchzogen von diversen Narben, die wie ausgetrocknete Flüsse und Bäche aussahen. Meine erste Vermutung lautete, dass dieser Mann dem Alkohol nicht abgeneigt gewesen war.

»Er scheint an einer Leberzirrhose gestorben zu sein.« Ich deutete auf die Narben. »Seine Leber hat bereits eine ganze Weile nicht mehr richtig gearbeitet, denke ich.« Ich trat zum Kopf der Leiche und zog ein Augenlid nach oben. »Das Weiß der Augen ist leicht gelblich verfärbt, was meinen Verdacht erhärtet. Vermutlich hat er schon ein paar Jahre vor sich hin gesiecht.«

Ich kehrte zu der Leber zurück und trennte mit einem Querschnitt sorgfältig einen Teil davon ab, um ihn später unter dem Mikroskop untersuchen zu können. Dann spülte ich das Organ ab und legte es in ein Glas, in dem es konserviert werden sollte. Ich würde es beschriften und zu den anderen eingelegten Organen stellen, die an der Wand aufgereiht waren. Es war wichtig, bei jeder Leichenschau sorgfältig Buch zu führen.

Mein Onkel nickte. »Sehr gut. Wirklich sehr gut. Und was ist mit …«

Die Tür des Laboratoriums schlug gegen die Wand und gab den Blick auf die Silhouette eines Mannes frei. Es war unmöglich, genau zu erkennen, wie er aussah oder wie alt er war, da er sich seinen Hut tief in die Stirn gezogen hatte und sein Mantel fast den Boden berührte, aber er war sehr groß. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück und hoffte, mein Onkel würde eine Waffe ziehen, doch der schien von der dunklen Gestalt vor uns völlig unbeeindruckt zu sein.

Ohne meine Anwesenheit auch nur im Mindesten zur Kenntnis zu nehmen, wandte sich der Mann an meinen Onkel. »Es ist alles bereit, Professor.«

Seine Stimme war glatt, vielleicht jung. Ich hob die Brauen, denn ich war neugierig, was mein Onkel und dieser Student, wie ich annahm, wohl vorhatten.

»Jetzt schon?« Mein Onkel sah zu der Uhr an der Wand, dann zu der Leiche auf dem Tisch und schließlich zu mir.

Ich hatte keine Ahnung, wer der unhöfliche junge Mann war oder was da bereit sein sollte, aber ich hatte so das Gefühl, dass es sich zu dieser späten Stunde um nichts Gutes handeln konnte.

Mein Onkel rieb sich das Kinn. Nach einer gefühlten Ewigkeit richtete er seinen berechnenden Blick auf mich. »Kannst du den Leichnam allein schließen?«

Ich straffte die Schultern und hob das Kinn. »Natürlich.«

Es war wirklich absurd, dass mein Onkel zweifelte, ob ich eine so leichte Aufgabe übernehmen konnte, besonders nachdem ich auch ziemlich gut allein in den Eingeweiden des Toten herumgewühlt hatte. Von all meinen Aufgaben wäre dies die leichteste.

»Tante Amelia sagt, dass ich ziemlich gut mit Nadel und Faden umgehen kann«, fügte ich noch hinzu. Nur hatte sie bei diesem Lob über meine Nähkunst sicher nicht an das Schließen von Leichen gedacht. »Jedenfalls habe ich die Stiche den ganzen Sommer über an Schweinekadavern geübt, und ich hatte keine Schwierigkeiten, die Nadel durch die Haut zu bekommen. Das hier ist bestimmt auch nicht anders.«

Der dunkle Fremde lachte leise, ein verflucht angenehmer Laut. Ich behielt meine ausdruckslose Miene bei, auch wenn ich innerlich brodelte. An dieser Aussage war überhaupt nichts Komisches gewesen. Ob nun Haut oder Leinen, darauf kam es nicht an, es zählte allein die handwerkliche Geschicklichkeit.

»Sehr gut.« Mein Onkel zog sich seinen schwarzen Mantel über und holte etwas, das ich nicht richtig erkennen konnte, aus einer Kiste auf seinem Schreibtisch. »Dann darfst du die Leiche zumachen. Denk daran, den Keller hinter dir abzuschließen.«

Ohne einen Blick zurück verschwand der Mann auf der Treppe nach oben, und ich war froh, ihn gehen zu sehen. An der Tür hielt mein Onkel inne. Seine vernarbten Finger trommelten einen nervösen Rhythmus an den Holzrahmen.

»Meine Kutsche bringt dich nach Hause, sobald du fertig bist«, sagte er. »Die anderen Exemplare nehmen wir uns morgen Nachmittag vor.«

»Warte, Onkel!« Eilig umrundete ich den Untersuchungstisch. »Was ist mit der Vorlesung morgen? Du hast gesagt, dass du mir heute Abend deine Entscheidung mitteilst.«

Sein Blick huschte zu der ausgeweideten Leiche auf dem Tisch, dann zu meinem erwartungsvollen Gesicht. Ich sah, wie er überlegte und sich tausend Gründe einfallen ließ, warum ich seine Vorlesung über Gerichtsmedizin nicht besuchen sollte.

Dabei war Schicklichkeit noch die geringste seiner Sorgen. Vater würde ihm jede seiner Gliedmaßen einzeln ausreißen, wenn er jemals von meiner Lehre bei ihm erführe.

Onkel Jonathan seufzte. »Du musst als junger Mann verkleidet kommen. Und wenn du auch nur ein einziges Wort sagst, dann wird es deine erste und letzte Stunde in meinem Vorlesungssaal sein, verstanden?«

Ich nickte triumphierend. »Versprochen. Ich werde so still sein wie die Toten.«

»Ah.« Mein Onkel setzte sich seinen Hut auf und zog ihn tief in die Stirn. »Die Toten sprechen zu jenen, die ihnen zuhören. Sei also noch stiller.«

2 Blutspritzer

Harrow School for Boys, London

31. August 1888

Meinem Onkel zufolge hatte es nicht so viel Blut gegeben, wie bei einem so brutalen Durchtrennen der Kehle zu erwarten gewesen wäre.

Ich konnte seinem Bericht über die grauenhafte Szene, die sich ihm an diesem Morgen geboten hatte, kaum folgen, und meine Notizen waren reichlich konfus, genau wie meine Gedanken.

»Sagen Sie mir, meine Herren«, dozierte Onkel Jonathan und schritt über die tief liegende Tribüne in der Mitte des Auditoriums. Kurz ruhte der Blick seiner blassgrünen Augen auf mir, dann fuhr er fort. »Worauf deuten die Beweise hin, wenn das Blut unter ihrem Körper bereits geronnen war, als man sie fand? Mehr noch, wenn kaum genug Blut vorhanden war, um ein Half Pint zu füllen? Was kann uns das über das Ende unseres Opfers verraten?«

Der Drang, die Antwort einfach herauszurufen, war ein elendes Biest, das aus seinem Käfig ausbrechen wollte, in den ich es zu sperren versprochen hatte. Anstatt diesen Dämon auszutreiben, blieb ich jedoch still sitzen, presste die Lippen aufeinander und hielt den Kopf gesenkt. Ich verbarg meine Verärgerung, indem ich die Mienen meiner Mitstudenten musterte. Innerlich seufzte ich. Die meisten von ihnen waren kreidebleich und schienen drauf und dran zu sein, sich zu übergeben. Wie sollten sie es da überstehen, eine Leiche zu sezieren?

Verstohlen kratzte ich getrocknetes Blut von meinen Nagelbetten und dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, eine Leber in Händen zu halten, und welche neuen Sinneseindrücke die heutige Leichenschau wohl bringen würde.

Ein junger Mann mit dunkelbraunem Haar – mit derselben Sorgfalt frisiert, mit der auch seine tadellose Kleidung gebügelt worden war – hob die Hand pfeilgerade in die Luft. Seine Fingerspitzen waren tintenfleckig, als wäre er zu eifrig damit beschäftigt, mitzuschreiben, um auf solche Kleinigkeiten zu achten. Er war mir schon vorher aufgefallen. Die methodische Art, wie er sich Notizen machte, hatte mich fasziniert. Er schien lernbegierig, fast manisch zu sein – eine Eigenschaft, die mir wider Willen Bewunderung abnötigte.

Mein Onkel nickte ihm zu. Der junge Mann räusperte sich und stand auf. Die Schultern waren selbstbewusst gestrafft, und er wandte sich nicht an meinen Onkel, sondern an die Studenten.

Ich kniff die Augen zusammen. Er war außerdem ziemlich groß. Konnte er der geheimnisvolle Besucher vom vergangenen Abend sein?

»Im Grunde ist es ziemlich offensichtlich, wenn man mich fragt«, erklärte er, wobei er fast gelangweilt klang. »Unser Mörder hat sich entweder mit der Verstorbenen zu Zwecken der Unzucht verabredet, um sie an einen ungestörten Ort zu locken, oder er hat ihr aufgelauert – da sie eindeutig betrunken war – und sie von hinten angegriffen.«

Es war schwer zu sagen, da der Fremde am Vortag kaum etwas gesagt hatte, doch dieser junge Mann klang, als könnte er es gewesen sein. Unwillkürlich beugte ich mich weiter vor, als könnte die Nähe den Funken des Wiedererkennens in meinem Gehirn entfachen.

Onkel Jonathan räusperte sich, um den arroganten Jüngling zum Schweigen zu bringen, und setzte sich an das hölzerne Pult. Ich lächelte. Es hatte eindeutig auch Vorteile, so zu tun, als wäre man ein Junge. Meinen Onkel machte es immer nervös, wenn die Sprache auf Prostituierte kam, aber nun konnte er niemandem einen Vorwurf machen, wenn er so offen vor mir dieses Thema anschnitt.

Er zog eine Schublade auf, nahm seine Brille heraus und rieb sie am Ärmel seines Tweedjacketts sauber, bevor er sie aufsetzte. Dann beugte er sich vor und sagte: »Warum glaubst du, dass das Opfer von hinten angegriffen wurde, Thomas, wenn doch die meisten meiner Kollegen der Meinung sind, dass sie gelegen hat, als der Angriff erfolgte?«

Ich sah zwischen den beiden hin und her, überrascht darüber, dass mein Onkel ihn beim Vornamen genannt hatte. Jetzt war ich mir so gut wie sicher, dass er der spätabendliche Fremde war. Der junge Mann, Thomas, zog die Brauen zusammen.

Goldbraune Augen, die so perfekt in sein markantes Gesicht passten, als hätte Leonardo da Vinci selbst ihn gezeichnet. Wenn nur meine Wimpern auch so betörend wären! Sein Kinn war kantig, was ihm den Anschein unerschütterlicher Entschlossenheit verlieh. Sogar seine Nase war schmal und majestätisch, und seine Miene drückte stets eine gewisse Wachsamkeit aus. Wenn er sich seiner eigenen Intelligenz nicht so nervtötend bewusst gewesen wäre, dann wäre er vermutlich ziemlich anziehend.

»Weil, wie Sie selbst erwähnt haben, Sir, die Kehle von links nach rechts durchtrennt wurde. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Menschen tatsächlich Rechtshänder sind, könnte man aus der nach unten verlaufenden Schnittrichtung, die Sie beschrieben haben, und der statistischen Wahrscheinlichkeit, dass unser Täter in der Tat Rechtshänder war, schließen, dass dieser Angriff am einfachsten ausgeführt werden konnte, wenn der Angreifer hinter dem Opfer stand.«

Thomas packte den Studenten, der neben ihm saß, und zerrte ihn von seinem Platz, um seinen Standpunkt zu demonstrieren. Stuhlbeine kratzten über den Fliesenboden, als der Junge sich zu befreien versuchte, aber Thomas hielt ihn fest wie eine Boa Constrictor ihre Beute.

»Wahrscheinlich hat er den linken Arm um ihre Brust und ihren Oberkörper geschlungen, sie an sich gezogen, ungefähr so.« Er drehte seinen Kommilitonen herum. »Vielleicht hat er ihr irgendetwas ins Ohr geflüstert, damit sie nicht schreit – denn, wie Sie gesagt haben, hat niemand auch nur einen Laut gehört –, dann hat er ihr schnell die Klinge über die Kehle gezogen. Ein Mal, als sie noch aufrecht stand, anschließend ein zweites Mal, als sie zu Boden gefallen ist. Und alles, bevor sie überhaupt begriffen hat, was vor sich geht.«

Nach der Demonstration, wie sich die Tat vermutlich abgespielt hatte, ließ Thomas den Studenten fallen und trat über ihn hinweg, um zu seinem Platz und seinem vorherigen Desinteresse zurückzukehren. »Wenn man die Blutspritzer in Schlachthäusern untersuchen könnte, dann würde man mit ziemlicher Sicherheit ein entgegengesetztes Muster erkennen, da die Tiere dort meistens verkehrt herum aufgehängt werden, ehe man sie tötet.«

»Ha!« Mein Onkel klatschte so laut in die Hände, dass es durch den ganzen Saal schallte.

Ich erschrak über seinen Ausbruch und war erleichtert, dass nicht bloß ich auf meinem Platz zusammengezuckt war. So wie mir war es auch fast allen anderen gegangen. Man konnte nicht abstreiten, dass Morde meinen Onkel über die Maßen begeisterten.

»Warum, so schallen die Unkenrufe, ist das Blut dann nicht über die gesamte obere Hälfte des Zauns gespritzt?«, forderte mein Onkel den Studenten heraus und schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Wenn ihre Halsschlagader durchtrennt wurde, dann müsste das Blut rhythmisch herausgespritzt sein. Man frage nur die medizinischen Koryphäen, die den Tatort untersucht haben.«

Thomas nickte, als hätte er genau diese Frage vorhergesehen. »Das lässt sich ziemlich leicht erklären, nicht wahr? Sie hat ein Halstuch getragen, als sie angegriffen wurde. Dann ist es heruntergefallen. Oder vielleicht hat es ihr der Mörder auch abgerissen, um damit möglicherweise seine Klinge zu säubern. Es könnte sein, dass er unter irgendeiner Neurose leidet.«

Stille hing dick wie der East-End-Nebel im Raum, während das Bild, das Thomas schuf, in unseren Gedanken Gestalt annahm. Mein Onkel hatte mir beigebracht, wie wichtig es war, jegliche Gefühle aus dieser Art von Fällen herauszuhalten, aber es war schwer, von einer Frau zu sprechen, als wäre sie ein Tier im Schlachthaus.

Ganz gleich, wie tief sie gefallen war und wie breit der Graben zwischen ihr und der vornehmen Gesellschaft auch gewesen sein mochte.

Ich schluckte schwer. Thomas hatte eine verstörende Art, sowohl zu erklären, was der Mörder getan hatte und warum, als auch, jegliche Emotionen einfach abzustellen, wenn es ihm passte. So wirkte es jedenfalls. Es dauerte einen Augenblick, bis mein Onkel antwortete, doch als er es tat, grinste er wie ein Wahnsinniger, und seine Augen waren wie zwei glühende Funken in seinem Schädel.

Ungefragt fühlte ich einen Stich der Eifersucht in meinem Bauch. Dabei wusste ich nicht, ob es mich ärgerte, dass mein Onkel so zufrieden aussah und ich nicht dafür verantwortlich war, oder ob ich mich im Grunde selbst gern mit diesem irritierenden jungen Mann unterhalten hätte. Von allen hier versammelten Studenten war er derjenige, der sich am wenigsten von der Brutalität dieses Verbrechens einschüchtern ließ. Angst würde der Familie nicht zu Gerechtigkeit verhelfen – Thomas schien das zu begreifen.

Ich riss mich aus diesen Gedanken und lauschte weiter dem Unterricht.

»Brillante Schlussfolgerungen, Thomas. Auch ich glaube, dass unser Opfer von hinten angegriffen wurde, während es aufrecht stand. Das dafür verwendete Messer war vermutlich zwischen fünfzehn und zwanzig Zentimeter lang.« Mein Onkel hielt inne und verdeutlichte den Studenten mit den Händen seine Schätzung.

Ein ungutes Gefühl überkam mich. Etwa so groß wie das Skalpell, das ich am vergangenen Abend verwendet hatte.

Mein Onkel räusperte sich. »Was den gezackten Schnitt im Unterbauch betrifft, würde ich schätzen, dass die Wunde postmortal zugefügt wurde, am Fundort der Leiche. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass der Mörder von irgendetwas unterbrochen wurde und nicht bekommen hat, was er eigentlich wollte. Allerdings habe ich eine gewisse Ahnung, dass der Täter Linkshänder oder beidhändig sein könnte, basierend auf anderen Beweisen, die ich bisher noch niemandem enthüllt habe.«

Ein junger Mann aus der ersten Reihe hob zitternd die Hand. »Wie meinen Sie das? Was er eigentlich wollte?«

»Beten Sie, dass wir das nicht herausfinden«, gab mein Onkel grimmig zurück. Er zwirbelte das eine Ende seines Schnurrbarts, etwas, was er häufig tat, wenn er in Gedanken war. Ich wusste, was auch immer er jetzt sagen würde, es würde nicht schön sein. Er ließ die Hand sinken und trat hinter sein Pult.

Ohne es zu bemerken, hatte ich den Rand meines eigenen Stuhls so fest umklammert, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Ich löste meinen Griff, wenn auch nur ein wenig.

»Zugunsten dieses Unterrichts werde ich Ihnen meine Theorien verraten.« Ein weiteres Mal blickte sich mein Onkel im Saal um. »Ich glaube, er hatte es auf ihre Organe abgesehen. Die Detective Inspectors teilen meine Ansicht in diesem Punkt jedoch nicht. Ich kann bloß hoffen, dass sie recht behalten.«

Während sich eine Diskussion über die Theorie des Organjägers entwickelte, zeichnete ich die anatomischen Skizzen ab, die er zu Beginn der Stunde hastig an die Tafel geworfen hatte. Damit wollte ich meine Gedanken klären. Sezierte Schweine, Frösche und Ratten und sogar noch Verstörenderes, wie menschliche Gedärme und Herzen, zierten meine Seiten.

Mein Notizbuch war voller Bilder, von der eine Lady wirklich alles andere als fasziniert sein sollte, aber ich konnte meine Neugier trotzdem nicht zügeln.

Ein Schatten fiel über mein Notizbuch, und irgendwie wusste ich, dass es Thomas war, noch bevor er den Mund aufmachte. »Sie sollten den Schatten besser auf die linke Seite der Leiche malen, sonst sieht es eher wie eine Blutlache aus.«

Ich erstarrte und presste die Lippen so fest aufeinander, als wären sie von einem wenig zimperlichen Leichenbestatter zusammengenäht worden. Stumme Flammen loderten unter meiner Haut, und ich verfluchte meinen Körper, weil er auf diese Weise auf einen so lästigen jungen Mann reagierte.

Thomas fuhr damit fort, meine Arbeit zu kritisieren. »Wirklich, Sie sollten dieses alberne Geschmiere da lieber entfernen«, erklärte er. »Das Licht der Straßenlaterne ist von dieser Seite gekommen. Das da ist völlig falsch.«

»Und Sie sollten sich lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«

Ich schloss die Augen und schalt mich selbst. Bisher hatte ich mich so wacker geschlagen. Ich hatte den Mund gehalten und zu niemandem ein Wort gesagt. Ein einziger Fehltritt konnte mich meinen Platz in diesem Unterricht kosten.

Da ich jedoch beschloss, dass man einem bissigen Hund niemals seine Angst zeigen sollte, begegnete ich Thomas’ Blick geradeheraus. Ein leises Lächeln spielte um seine Lippen, und mein Herz trommelte in meiner Brust wie die Hufe eines Kutschpferds, das über den Trafalgar Square trabte. Ich rief mir in Erinnerung, was für ein selbstgerechter Trottel er war, und entschied, dass mein Herz nur aus Nervosität so wild pochte. Lieber hätte ich in Formaldehyd gebadet, als mich wegen eines so nervtötenden Kerls aus der Vorlesung werfen zu lassen.

Auch wenn er durchaus gut aussah.

»Ich weiß Ihre Beobachtungen zwar durchaus zu schätzen«, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus und achtete sorgsam darauf, meine Stimme tiefer klingen zu lassen, »aber ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie mich meinen Studien überlassen könnten.«

Ein Funkeln tanzte in seinem Blick, als hätte er soeben ein überaus interessantes Geheimnis entdeckt, und da wusste ich, dass ich eine Maus war, die sich von einer zu gerissenen Katze hatte fangen lassen.

»Also gut, Mr …?« Die Art, wie er »Mister« sagte, ließ keinen Raum für Zweifel; er wusste, dass ich kein junger Mann war, allerdings war er bereit, aus Gott weiß für einem Grund mitzuspielen.

Bei dieser Demonstration der Gnädigkeit wurde ich ein wenig weicher und senkte meine verstellte Stimme, sodass nur er mich hören konnte. Angesichts unseres geteilten Geheimnisses schlug mein Herz wieder schneller.

»Wadsworth«, flüsterte ich. »Ich heiße Audrey Rose Wadsworth.«

Begreifen blitzte in seinem Gesicht auf, und sein Blick flackerte zu meinem Onkel, der die immer noch hitzige Debatte weiter anstachelte. Thomas hielt mir die Hand hin, und zögerlich schüttelte ich sie, wobei ich hoffte, dass meine Handflächen nicht verrieten, wie nervös ich war.

Vielleicht könnte es ja ganz nett sein, einen Freund zu haben, mit dem ich über die Fälle zu diskutieren vermochte.

»Ich glaube, wir sind uns gestern Abend schon begegnet«, wagte ich mich vor, da ich mich mit einem Mal etwas kühner fühlte. Thomas zog die Brauen zusammen, und mein frisch erblühtes Selbstvertrauen schrumpfte wieder in sich zusammen. »Im Laboratorium meines Onkels.«

Dunkelheit legte sich über seine Züge. »Es tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie da sprechen. Wir unterhalten uns heute zum ersten Mal miteinander.«

»Wir haben uns auch nicht direkt unterhalten …«

»Es freut mich, Sie kennengelernt zu haben, Wadsworth. Ich bin sicher, dass wir in naher Zukunft noch einiges zu besprechen haben. In sehr naher Zukunft sogar, da ich heute Abend eine weitere Lehreinheit bei Ihrem Onkel haben werde. Vielleicht gestatten Sie mir das Vergnügen, ein paar meiner Theorien zu überprüfen?«

Meine Wangen wurden heiß und glühten nun sicher karmesinrot. »Ihre Theorien worüber genau?«

»Über Ihre skandalöse Entscheidung, diese Vorlesung zu besuchen, natürlich.« Er grinste. »Es kommt nicht jeden Tag vor, dass einem ein so merkwürdiges Mädchen begegnet.«

Die freundschaftliche Wärme, die ich für ihn empfunden hatte, gefror wie ein Teich an einem äußerst eisigen Wintertag. Besonders da er sich kein bisschen bewusst zu sein schien, wie aufreizend er sich benahm. Er lächelte vor sich hin, als hätte er keine einzige Sorge auf der Welt.

»Ich finde es fantastisch, wenn ich ein Rätsel löse und sich meine Annahmen als richtig erweisen.«

Irgendwie fand ich die Stärke, mir jede scharfe Antwort zu verbeißen, und lächelte ihn stattdessen zähnebleckend an. Tante Amelia wäre stolz auf diesen Beweis, wie gut ich ihren Benimmunterricht verinnerlicht hatte.

»Ich freue mich schon sehr darauf, mir Ihre brillanten Theorien über meine Lebensentscheidungen anzuhören, Mr …?«

»Gentlemen!«, bellte mein Onkel. »Wenn ich bitten darf, dann bringen Sie Ihre Theorien über den Mord an Miss Mary Ann Nichols bitte zu Papier, und geben Sie den Aufsatz morgen im Unterricht bei mir ab.«

Thomas versetzte mir ein letztes teuflisches Grinsen und wandte sich wieder seinen Notizen zu. Als ich mein Skizzenbuch schloss und meine Siebensachen einsammelte, konnte ich den Gedanken nicht abschütteln, dass er sich ebenfalls als ein äußerst verzwicktes Rätsel entpuppen könnte, das es zu lösen galt.

Illustration von Herz und Blase aus dem Notizbuch von Thomas Graham, ca. 1834

3 Tee und Autopsien

Wohnsitz der Familie Wadsworth, Belgrave Square

31. August 1888

»Wohin willst du so spät noch?«

Vater wartete neben der Standuhr in der Eingangshalle – wobei er denselben enervierenden Ton anschlug wie das grässliche alte Ding – und hielt den Blick auf seine Taschenuhr gesenkt. Lediglich ein paar Jahre trennten meinen Onkel und meinen Vater, und bis vor Kurzem hätte man sie für Zwillinge halten können. An seinem kantigen Kiefer zuckte ein Muskel. Es würden weitere Fragen folgen. Schlimmere Fragen. Plötzlich wollte ich einfach nur wieder zurück die Treppe hinaufrennen.

»I-ich habe Onkel Jonathan versprochen, zum Tee zu ihm zu kommen.« Ich sah zu, wie er tief Luft holte, und fügte rasch hinzu: »Seine Einladung abzulehnen wäre sehr unhöflich.«

Bevor er mir erklären konnte, was er von dieser Sache hielt, schwang die Salontür auf, und mein Bruder kam hereingerauscht wie ein Sonnenstrahl an einem besonders grauen Tag. Mit einem Blick erfasste er die Lage und stürzte sich auf die Gelegenheit.

»Ich muss schon sagen, es ist geradezu verstörend, wie gut gelaunt heute Nachmittag alle sind. Würde mich doch bloß auch mal jemand so richtig finster anschauen. Ah«, er lächelte, als Vater ihn grimmig ansah, »genau das meine ich! Das machst du wirklich fantastisch, Vater.«

»Nathaniel«, warnte ihn mein Vater, und sein mahnender Blick schoss zwischen uns beiden hin und her, »diese Angelegenheit geht dich nichts an!«

»Haben wir mal wieder Angst, das Mädchen aus diesen schützenden vier Wänden zu lassen? Gott behüte, sie könnte sich die Pocken einfangen und daran zugrunde gehen. Ach, Moment mal!« Er legte den Kopf schief. »Das hatten wir ja schon mal, nicht wahr?« Mit einer dramatischen Geste packte er mein Handgelenk und tat, als wollte er meinen Puls fühlen, dann stolperte er zurück. »Grundgütiger, Vater. Sie lebt!«

Vaters blasse Hand zitterte, und er tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, was nie ein gutes Zeichen war. Normalerweise gelang es Nathaniel, Vaters Befürchtungen mit einem gut platzierten Scherz zu zerstreuen. Heute war keiner dieser Tage. Unwillkürlich fielen mir die neuen Falten um Vaters Mund auf, die durch seine fast unablässig besorgte Miene entstanden waren. Wenn er diese nie endende Angst doch bloß loslassen könnte, sein einstmals so schönes Gesicht würde auf einen Schlag zehn Jahre jünger wirken. Außerdem mischten sich in letzter Zeit zunehmend graue Strähnen in seine aschblonden Locken.

»Ich wollte Vater gerade erklären, dass ich auf dem Weg zur Kutsche bin«, sagte ich gespielt fröhlich, als würde mir die explosive Stimmung im Raum gar nicht auffallen. »Ich treffe mich mit Onkel Jonathan.«

Nathaniel klatschte in die behandschuhten Hände, und ein gerissenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Wenn es darum ging, mir bei meinen medizinischen Studien zu helfen, konnte er einfach nicht widerstehen. Hauptsächlich deshalb, weil meine modernen Ansichten – darüber, warum Mädchen ebenso befähigt waren, einen Beruf zu erlernen, wie Jungen – ihn einfach endlos erheiterten.

Mit seiner Streitlust würde er es als Anwalt einmal sehr weit bringen, doch seine wankelmütige Art würde ihn sicher schon bald zu neuen Ufern aufbrechen lassen. Bisher hatte es ihm gefallen, ein paar Monate lang Medizin zu studieren, dann Kunst. Anschließend hatte er einen grauenhaften Versuch an der Geige unternommen – was schlimm für all jene geendet hatte, die das Pech hatten, ihm beim Üben seiner Tonleitern zuhören zu müssen. Und gerade befasste er sich mit Jura.

Allerdings musste er als Erbe unseres Familienvermächtnisses im Grunde überhaupt keinen Beruf erlernen. Es war einfach etwas, womit er sich die Nachmittage vertrieb, neben den Trinkgelagen mit seinen aufgeblasenen Freunden.

»Ah, richtig. Ich erinnere mich daran, dass unser Onkel vor ein paar Tagen etwas über eine Einladung zum Tee gesagt hat. Leider konnte ich sie nicht annehmen, da ich so viel um die Ohren habe.« Nathaniel zupfte seine Handschuhe zurecht und strich sich den Anzug glatt. Danach trat er einen Schritt zurück und grinste. »Dein Kleid ist wirklich außergewöhnlich, wenn man das heutige Wetter und den besonderen Anlass bedenkt. Du bist jetzt siebzehn, nicht wahr? Du siehst blendend aus, Geburtstagskind. Findest du nicht auch, Vater?«

Vater musterte meine Erscheinung kritisch. Wahrscheinlich suchte er nach Anzeichen für eine Lüge, damit er mir verbieten konnte, zu Onkel Jonathan zu fahren, doch er fand keine. Ich hatte mein schlichtestes Kleid bereits in die Kutsche gebracht. Solange er nicht beweisen konnte, dass ich vorhatte, unheilige Taten an den Toten zu begehen und eine Infektion zu riskieren, würde er mich kaum aufhalten können.

Ich trug ein elegantes Nachmittagsteekleid aus Moiré. Es wies denselben Eierschalenton auf wie meine Seidenschuhe, und mein Korsett war so eng geschnürt, dass es mich bei jedem schmerzhaften Atemzug an sein Vorhandensein erinnerte.

Auf einmal war ich dankbar für die roséfarbenen Handschuhe, die bis zu meinen Ellbogen geknöpft wurden. Sie kaschierten auf äußerst modische Art, wie feucht meine Handflächen waren.

Müde strich sich Vater über das Gesicht. »Da du heute Geburtstag hast, kannst du zum Tee hinfahren, solange du danach sofort zurückkommst. Ich will nicht, dass du irgendwo sonst hingehst. Und genauso wenig will ich, dass du dich« – seine Hand flatterte durch die Luft wie ein verletzter Vogel – »mit den Dingen beschäftigst, in die dein Onkel involviert ist. Hast du verstanden?«

Ich nickte erleichtert, aber Vater war noch nicht fertig.

»Sollte deiner Schwester irgendetwas zustoßen«, fuhr er fort und starrte meinen Bruder an, »mache ich dich dafür verantwortlich.«

Vater hielt Nathaniels Blick noch einen Moment stand, dann stürmte er hinaus und ließ uns im Schatten dieses Sturms zurück. Ich sah ihm nach, bis seine breitschultrige Gestalt am Ende des Korridors durch die Tür seines Arbeitszimmers verschwand, die er hinter sich zuschlug. Ich wusste, dass er sich eine Zigarre anzünden und sich bis zum Morgen einschließen würde, während ihn die Gedanken und Erinnerungen an meine Mutter verfolgten, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Ich wandte mich an Nathaniel, der soeben seinen geliebten Silberkamm hervorzog und sich damit durch das Haar fuhr. Keine der goldblonden Strähnen durfte je am falschen Platz sein, sonst würde vermutlich die Welt untergehen. »Ein bisschen warm für Lederhandschuhe, findest du nicht?«

Nathaniel zuckte mit den Schultern. »Ich wollte gerade gehen.«

So gern ich mich mit meinem Bruder unterhalten hätte, ich hatte eine wichtige Verabredung, um die ich mich kümmern musste. Onkel Jonathan hatte zahlreiche Gewohnheiten, und ein Zuspätkommen wurde nicht toleriert, gleichgültig, ob heute mein Geburtstag war oder nicht.

Persönlich war ich der Meinung, dass es den Toten nichts ausmachte, ob sie fünf Minuten früher oder später aufgeschnitten wurden, doch das würde ich niemals laut aussprechen. Ich war dort, um zu lernen, nicht um die Dämonen aufzuschrecken, die manchmal in ihm lauerten.

Als ich es das letzte Mal gewagt hatte, eine seiner Regeln infrage zu stellen, hatte mich mein Onkel einen Monat lang blutige Sägespäne vom Boden auffegen lassen. Ich war nicht versessen darauf, mir diese Strafe noch einmal einzuhandeln. Man bekam das Blut unter den Nägeln kaum wieder ab, schon gar nicht rechtzeitig vor dem Abendessen. Zum Glück war Tante Amelia gerade nicht bei uns zu Besuch gewesen, denn bei diesem Anblick wäre sie glatt in Ohnmacht gefallen.

»Wollen wir morgen zusammen zu Mittag essen?«, fragte ich. »Ich könnte Martha bitten, etwas vorzubereiten, das wir mit in den Hyde Park nehmen können, zum See, wenn du möchtest. Wir könnten sogar um den Serpentine spazieren.«

Nathaniel lächelte ein bisschen traurig. »Vielleicht können wir diesen verspäteten Geburtstagsspaziergang nächste Woche nachholen? Ich würde wirklich gern hören, was Onkel Kadaver und du in diesem Miniaturschreckenshaus so treibt.« In seinen Augen blitzte so etwas wie Sorge auf. »Es gefällt mir nicht, wie viel Blut du dort zu sehen bekommst. Das kann für deine empfindliche weibliche Seele nicht gut sein.«

»Ach? In welchem medizinischen Fachbuch steht denn geschrieben, dass Frauen mit solchen Dingen nicht zurechtkommen? Was genau unterscheidet deine männliche Seele denn von meiner weiblichen?«, neckte ich ihn. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass in mir nichts als Watte und Kätzchen stecken, während du aus Stahl und Dampfmaschinenenteilen bestehst.«

Seine Stimme wurde weicher, als er endlich zum Kern dessen kam, was ihm wirklich zu schaffen machte. »Vater wird toben vor Wut, wenn er herausfindet, was du in Wahrheit treibst. Ich fürchte, seine Auffassung der Realität ist im Augenblick sehr zerbrechlich. Seine Wahnideen werden … besorgniserregend.«

»Wie meinst du das?«

»Ich … ich habe ihn dabei ertappt, wie er seine Messer geschärft und dabei mit sich selbst geredet hat, neulich, frühmorgens, als er dachte, alle würden noch schlafen.« Er rieb sich die Schläfen, und sein Lächeln schwand. »Vielleicht glaubt er, dass er die Krankheitskeime erstechen kann, bevor sie noch einmal in unser Haus kommen.«

Das war allerdings in der Tat besorgniserregend. Als Vater das letzte Mal so gewesen war, hatte ich jedes Mal, wenn ich das Haus verließ, eine Schutzmaske tragen müssen, um mich nirgends anzustecken. Während ich mir gern schmeichelte, über solchen Dingen wie Eitelkeit zu stehen, hatte ich die Blicke dennoch nicht ausstehen können, die man mir damals zugeworfen hatte. Das noch einmal durchstehen zu müssen, wäre die reine Folter.

Ich setzte ein breites Lächeln auf. »Du machst dir zu viele Gedanken.« Dann küsste ich ihn auf die Wange und wandte mich zur Tür. »Wenn du nicht aufpasst, fallen dir noch deine wunderschönen Haare aus«, warf ich in neckendem Tonfall über die Schulter.

Nathaniel lachte. »Ich schreibe es mir hinter die Ohren. Alles Gute zum Geburtstag, Audrey Rose! Ich hoffe, du hast jede Menge Spaß bei dem, was auch immer du vorhast. Aber pass auf dich auf. Du weißt ja, dass unser Onkel manchmal ein bisschen … verrückt ist.«

***

Zwanzig Minuten später stand ich in Onkel Jonathans Kellerlaboratorium und machte mich mit dem Geruch eines Albtraums vertraut.

Totes Fleisch verströmte einen Übelkeit erregenden süßlichen Gestank, und es dauerte immer etwas, bis man sich daran gewöhnt hatte. Frische, unversehrte Leichen rochen ein bisschen nach Suppenhuhn. Leichname, die schon ein paar Tage alt waren, ließen sich nicht ganz so leicht ignorieren, ganz egal, wie viel Erfahrung man damit hatte.

Mary Ann war vor weniger als einem Tag in Whitechapel ermordet worden, doch die Ausdünstungen, die an eine tote Ratte erinnerten, wiesen darauf hin, dass ihre Verletzungen brutal sein mussten. Ich sprach ein stummes Gebet für ihre arme Seele und ihren verstümmelten Körper, ehe ich tiefer in den Raum trat.

Eine Gaslampe an der Decke warf unheimliche Schatten an die mit Brokattapeten bespannten Wände, während sich zwei vertraute Gestalten über einen auf dem Leichentisch liegenden Körper beugten. Dies war der Leichnam unseres Studienobjekts der Vorlesung, und der zusätzliche Besucher im Raum musste mein nervenaufreibender Kommilitone sein. Um das zu schlussfolgern, musste man kein Genie sein.

Aus Erfahrung wusste ich, dass ich meinen Onkel nicht unterbrechen durfte, während er Beweise untersuchte, und ich war besonders dankbar für diese Regel, als er den verstümmelten Hals ein weiteres Mal – und sogar noch detaillierter – für Thomas beschrieb. Irgendetwas an der Frau kam mir vage vertraut vor, und ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, wie ihr Leben wohl gewesen sein musste, bevor sie hier vor uns gelandet war.

Vielleicht gab es Menschen, die sie liebten – einen Ehemann oder Kinder – und die ihren Verlust in ebendiesem Moment betrauerten und sich nicht länger darum scherten, dass sie auf moralisch fragwürdige Art ihren Lebensunterhalt bestritten hatte.

Der Tod hatte keine Vorurteile, was Stand oder Geschlecht betraf. Er kam für Königinnen und Prostituierte gleichermaßen und ließ die Hinterbliebenen häufig trauernd zurück. Was würden wir wohl anders machen, wenn wir wüssten, dass das Ende naht? Aber ich brachte diese Gedanken zum Schweigen, denn ich hatte mich gefährlich nah an eine emotionale Tür gewagt, die ich längst verschlossen hatte.

Ich musste mich ablenken, und glücklicherweise war dies der perfekte Ort dafür. Die Wände des Raumes säumten Mahagoniregale, auf denen sich Hunderte von Probengläsern aneinanderreihten. Sie waren sorgfältig katalogisiert und in alphabetischer Reihenfolge aufgestellt worden – eine Aufgabe, die mir im vergangenen Herbst aufgetragen worden war und die ich erst kürzlich beendet hatte.

Insgesamt hatte ich fast siebenhundert verschiedene Proben gezählt. Eine Sammlung, derer sich jedes Museum hätte rühmen können, von einem Privathaushalt ganz zu schweigen.

Ich strich mit dem Finger über das Glas, das mir am nächsten stand und auf dessen Etikett in meiner Handschrift vermerkt war, dass sich darin der Querschnitt eines Froschs befand. Der gedämpfte Ammoniakgeruch von Formalin überlagerte alles in diesem unterirdischen Bau, sogar die süßliche Verwesung, dennoch war er auf seltsame Weise tröstlich. Vorsichtig griff ich nach dem Glas mit der Leber, die ich gestern entnommen hatte, und stellte sie auf das Regal. Mein erster Beitrag zu dieser Sammlung.

Meine Aufmerksamkeit wandte sich dem zu, was ich für Miss Nichols’ Kleider hielt. Auf dem dunklen Stoff waren Blutflecken schwer zu erkennen, allerdings musste es sie wohl geben, wenn man daran dachte, wie sie angegriffen worden war. Kleine, schlammbedeckte Schnürstiefel verunreinigten den Tisch, auf dem sie standen. Sie waren abgetragen und sprachen von Miss Nichols’ Armut.

Ein Schauer – der nichts mit der makabren Szene zu tun hatte, die sich vor mir entfaltete – kroch mir über den Rücken. Die Temperatur in diesem Teil des Hauses möglichst niedrig zu halten, war unerlässlich, denn andernfalls würden die Untersuchungsobjekte noch schneller verrotten.

Das weniger einengende Musselinkleid, das ich nun trug, hatte der kühlen Luft kaum etwas entgegenzusetzen, aber ich arbeitete trotzdem lieber darin als in meinem feinen Gewand mit dem Korsett, auch wenn ich mir immer wieder die Gänsehaut von den Armen reiben musste.

Mein Blick wanderte über die Wand mir gegenüber, wo medizinische Fachbücher und Werkzeuge bereitlagen, die auf einen Außenstehenden durchaus ein wenig erschreckend wirken konnten. Die gebogene, sensenartige Klinge des Amputationsmessers, die Knochensägen und die eindrucksvollen Spritzen aus Metall und Glas hätten auch in den Gruselroman gepasst, der in unserer Kindheit sowohl Nathaniels als auch mein Lieblingsbuch gewesen war: Frankenstein. Man konnte sie durchaus für Teufelszeug halten, wenn man empfänglich für derlei Aberglauben war … so wie Vater.

Die unheimliche Stille im Raum wurde gebrochen, als mein Onkel die grundlegenden Fakten wie Größe, Geschlecht, Haar- und Augenfarbe laut nannte und damit begann, die Leiche nach Verletzungen abzusuchen, die während des tödlichen Angriffs entstanden sein mussten. Alles Dinge, die ich bereits aus meinen Aufzeichnungen auswendig wusste.

Ich sah zu, wie Thomas mit mechanischer Präzision etwas auf einem Formular notierte. Seine Finger waren sogar noch tintenfleckiger als während der Vorlesung. Eigentlich war es meine Aufgabe, während dieser Prozedur mitzuschreiben. Geduldig wartete ich ab, atmete den Chemiegeruch ein und lauschte den leisen Geräuschen des Fleisches, während es durchtrennt und aufgeklappt wurde, ohne auf das Rumoren der Übelkeit in meinem Bauch zu achten. Ich brauchte jedes Mal ein paar Augenblicke, bis sich meine Nerven beruhigt hatten.

Ein paar Atemzüge später bemerkte mich mein Onkel in der Ecke, in der ich stand, und gab mir mit Gesten zu verstehen, ich solle mir eine Schürze holen und mich zu ihnen gesellen.

Als ich näher an den Kadaver herantrat, war es, als würde sich zwischen meinem Herzen und meinem Kopf eine Tür schließen und alle Gefühle fest auf der anderen Seite einsperren. Wenn ich erst einmal über einer Leiche stand, sah ich die Person nicht mehr, die sie im Leben gewesen sein mochte. Ich sah nur noch die zurückgelassene Hülle, und die Neugier packte mich auf die schlimmste Art und Weise.

Vor mir lag nicht länger eine recht freundlich aussehende brünette Frau, sondern lediglich eine gesichtslose Tote, und damit hatte ich in diesem Sommer reichlich Erfahrungen gesammelt. Einige ihrer Körperteile waren mit Stoffstreifen bedeckt, um ihre Würde zu wahren, doch an ihrem Zustand war nichts Würdevolles mehr.

Ihre Haut war blasser als das feine handbemalte Porzellan, das Mutter von ihrer Großmutter in Indien geerbt hatte, abgesehen von ihrer Kieferpartie, auf der sich dunkle Blutergüsse ausgebreitet hatten. Das harte Leben hatte ihr alle Weichheit genommen, die sie einst vermutlich besessen hatte, und der Tod war nicht sanft gewesen, als er sie in seine erbarmungslose Umarmung geschlossen hatte.

Wenigstens waren ihre Augen nicht mehr offen. Damit endete jeder Anschein von Friedlichkeit jedoch schon. Meinem Onkel zufolge fehlten ihr fünf Zähne, und ihre Zunge war ebenfalls verletzt, was darauf hindeutete, dass sie geschlagen worden war, um sie entweder benommen zu machen oder außer Gefecht zu setzen, bevor der Angreifer ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Dies waren noch die harmloseren Verletzungen.

Mein Blick fiel auf ihren Unterbauch, wo eine große Wunde auf ihrer linken Seite klaffte. Onkel Jonathan hatte bei seiner Vorlesung nicht übertrieben, dieser Schnitt war gezackt und sehr tief. Ein paar kleinere Schnitte verliefen entlang der rechten Seite ihres Torsos, aber meiner Einschätzung nach waren sie nicht einmal annähernd so tief.

Ich begriff, warum mein Onkel glaubte, dies sei das Werk eines Täters, der beide Hände gleichermaßen gut gebrauchen konnte. Der Bluterguss an ihrem Kiefer deutete an, dass jemand ihr Gesicht mit der linken Hand gepackt hatte, doch die Verletzungen auf ihrer linken Körperseite stammten vermutlich von jemandem, der seine rechte Hand benutzt hatte. Es sei denn, dort draußen lauerte mehr als ein Schlächter …

Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich wieder auf ihren Oberkörper. Die Messerwunden an ihrem Hals sprachen von einem äußerst erbarmungslosen Angriff. In meinem neuen, emotional abgeschotteten Zustand fiel es mir erstaunlich leicht, sie zu betrachten, dennoch fragte ich mich kurz, ob Tante Amelia dies wohl für ein weiteres Anzeichen meiner mangelhaften Sittlichkeit halten würde.

»Mädchen sollten sich mit Spitzenbordüren beschäftigen, nicht mit moralischer Verkommenheit«, würde sie sagen.

Ich träumte von dem Tag, an dem Mädchen Spitze tragen, sich die Lippen rot anmalen und zugleich einem Beruf nachgehen konnten – oder in einem Jutesack und ohne Schminke herumlaufen konnten, wenn ihnen das lieber war –, ohne dass dies als »ungeziemend« galt.

Auf einmal trat mein Onkel einen Schritt zurück und nieste. Gedanken an durch die Luft übertragbare Krankheiten fluteten meinen Verstand. Ich nahm mir einen Moment, um mich zu sammeln. Vaters Ängste würden nicht zu meinen eigenen Ängsten werden und mich nicht von dem abhalten, was ich zu tun hatte.

Onkel Jonathan schnippte mit den Fingern und deutete auf eines von vier Skalpellen, die auf einem Metalltablett bereitlagen. Ich griff danach und reichte es ihm, dann nahm ich ihm jedes gebrauchte Werkzeug wieder ab und legte es in ein Alkoholbad. Als die Zeit für die Organentnahme gekommen war, hatte ich die dafür gebrauchten Tabletts und Gläser bereitgestellt, bevor Onkel Jonathan es mir auftragen konnte.

Ich kannte meine Aufgaben gut.

Er gab ein anerkennendes Brummen von sich und wog dann nacheinander die Nieren. »Die linke Niere wiegt ungefähr 137 Gramm.«

Thomas schrieb die Information auf und lauschte anschließend rasch Onkel Jonathans nächsten Worten.

Er war schweigend in seine Arbeit vertieft und schenkte mir nicht mehr Beachtung als einem Möbelstück, das man erst dann bemerkte, wenn man es brauchte. »Die rechte ist ein wenig leichter, etwa 119 Gramm.«

Onkel Jonathan entnahm von jedem Organ eine kleine Probe, die er für die weitere Untersuchung in Petrischalen legte. Nach dieser Routine verfuhr er auch bei dem Herzen, der Leber, den Därmen und dem Gehirn. Nach und nach wurde seine reinweiße Schürze immer blutiger, aber nach jeder Organentnahme wusch er sich methodisch die Hände, um zu vermeiden, dass mögliche Beweismittel kontaminiert wurden.

Es gab keinen Beweis dafür, dass solche Kontaminationen überhaupt entstehen konnten, doch Onkel Jonathan hatte seine eigenen Theorien zu diesem Thema. »Zum Teufel mit den Konventionen!«, bellte er immer. »Ich weiß, was ich weiß.«

Der äußeren Erscheinung nach trennte ihn in diesem Augenblick nicht viel von einem Schlachter, und ich schätzte, dass auch verstorbene Menschen im Grunde nichts anderes waren als ein totes Tier, nur dass es nicht für den Verzehr, sondern aus wissenschaftlichen Gründen zerlegt wurde.

Wenn man die obersten Schichten entfernte, sah alles gleich aus.

Fast hätte ich über meine absurden Gedanken gelacht. Zweimal im Jahr kamen Tante Amelia und meine Cousine Liza bei uns zu Besuch. Dabei versuchten sie jedes Mal, mich mit anderen Mädchen in meinem Alter in Kontakt zu bringen, indem sie verschwenderische Teegesellschaften gaben. Tante Amelia hoffte, dass ich mich danach aus eigenem Antrieb weiter mit ihnen treffen würde, doch ich hatte dem ein Ende gesetzt. Die Mädchen beim Tee verstanden mich einfach nicht, was genau der Grund war, warum ich während der vergangenen Monate sämtliche Einladungen ausgeschlagen hatte. Ich verabscheute das Mitgefühl, das ich in ihren Blicken las, und ich konnte mir nicht einmal vorstellen, ihnen von meinen nachmittäglichen Beschäftigungen zu erzählen.

Einige von ihnen fanden es bereits unanständig, wenn man sein Buttermesser in die Schale mit dem Lemon Curd tauchte. Wie entsetzt wären sie wohl, wenn sie herausfänden, dass ich mein Messer regelmäßig in blutiges Gewebe tauchte?

Etwas Kühles und Nasses sickerte durch meine Schuhsohlen. Ich hatte die Blutlache, in der ich stand, nicht bemerkt. Daher holte ich schnell einen Sack voller Sägemehl und streute es auf den Boden, bis es aussah wie hellbeiger Schnee. Bevor ich später nach Hause ging, musste ich meine Schuhe loswerden. Ich musste meine Zofe wirklich nicht noch mehr verschrecken, als ich es ohnehin schon tat, wenn ich abends nach getaner Arbeit blutbespritzt nach Hause kam.

Onkel Jonathan schnippte mit den Fingern, und ich konzentrierte mich wieder auf meine Aufgabe.

Nachdem ich die Knochensäge, mit der mein Onkel immer den Schädel öffnete, desinfiziert und zurück auf das Regal gelegt hatte, war die Autopsie vollendet. Onkel Jonathan nähte den Körper wieder zusammen wie ein talentierter Schneider, der sich mit Fleisch statt mit Stoffen befasste. Ich sah zu, wie der Y-Schnitt, mit dem er begonnen hatte, seine scharlachrote Farbe verlor und zu einer schwarzen Naht wurde.

Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Thomas in fieberhafter Eile die Leiche in ihrem letzten Zustand skizzierte. Sein Stift hielt inne, dann huschte er wieder blitzschnell über das Papier. Zähneknirschend musste ich zugeben, dass seine Zeichnung wirklich gut war. Die Details, die er darin einfing, würden uns bei den Ermittlungen helfen, nachdem der Körper wieder in die Leichenhalle zurückgebracht worden war.

»Hast du die Verstorbene erkannt, Audrey Rose?«

Mein Blick huschte zu Onkel Jonathan. Er war gerade dabei, die Schürze auszuziehen, und ließ mich dabei nicht aus den Augen. Ich biss mir auf die Unterlippe und musterte das verunstaltete Gesicht der Toten. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, aber ich wusste nach wie vor nicht, woher. Langsam schüttelte ich den Kopf und gab mich geschlagen.

»Sie hat in eurem Haushalt gearbeitet. Allerdings nicht lange.«

Schuld senkte ihre Klauen in mich – ich erkannte die arme Frau immer noch nicht. Was war ich doch für ein verkommenes Wesen, dass ich nicht einmal Notiz von den Menschen in meinem eigenen Elternhaus nahm! Mary Ann hatte etwas Besseres von mir verdient. Genau wie der Rest der Welt. Ich fühlte mich schrecklich.

Mein Onkel wandte sich dem Waschbecken zu. »Damals warst du krank.«

Thomas’ Kopf ruckte hoch, und er suchte mich nach irgendwelchen Anzeichen einer bestehenden Krankheit ab. Als ob ihn das kümmern würde! Wahrscheinlich machte er sich Sorgen, dass er selbst irgendwie durch mich in Gefahr geraten sein könnte. Mein Gesicht brannte, und ich machte mich schnell an den neuen Probegläsern zu schaffen.

»Was habt ihr beide aus unserer kleinen Übungseinheit heute gelernt?«, unterbrach Onkel Jonathan meine Gedanken, während er sich Hände und Unterarme mit einem Stück Karbolseife einrieb. »Irgendwelche interessanten Theorien?«

Ich stürzte mich auf die Gelegenheit, meine Gedanken laut auszusprechen, nun, da wir nicht von seinen Studenten umgeben waren. Ein kleiner Teil von mir freute sich auch darauf, mit meinen Theorien vor Thomas zu brillieren. Ich wollte ihm zeigen, dass er nicht der Einzige mit einem scharfen Verstand war.

»Wer auch immer diesen Mord begangen hat, er muss über einige Erfahrung im medizinischen Bereich verfügen«, sagte ich. »Vielleicht ist er sogar ein Student der Gerichtsmedizin. Oder zumindest jemand, der chirurgisch geschult ist.«

Mein Onkel nickte. »Gut. Sprich weiter.«

Ermutigt durch diese Zustimmung schritt ich im Kreis um die Tote herum. »Sie wurde vielleicht im Gesicht gepackt, dann wurde ihr ein Schlag versetzt, der ihr das Bewusstsein geraubt hat.« Ich dachte an die Schnitte und die verletzten Körperstellen. »Außerdem wurde sie vielleicht an einen anderen Ort gebracht. Unser Mörder wollte seinen operativen Eingriff vornehmen, ohne dabei gestört zu werden.«

Das Bild, wie unsere ehemalige Angestellte erst geschlagen und dann in irgendeinen vergessenen Keller oder an einen feuchten, schattigen Ort gezerrt worden war, rief ein Gefühl auf meiner Haut hervor, als würden Friedhofswürmer darauf herumkriechen. Obwohl ich mich nicht an sie erinnerte, bewirkte der bloße Gedanke, sie habe in meinem Elternhaus gelebt und gearbeitet, dass ich mich in gewisser Weise für sie verantwortlich fühlte. Ich wollte ihr jetzt im Tod helfen, auch wenn ich sie zu Lebzeiten jämmerlich im Stich gelassen hatte. Womöglich hätte sie nicht sterben müssen und würde noch immer für uns tätig sein, wenn ich mutig genug gewesen wäre, mich gegen Vaters chronisches Verlangen, alle paar Wochen das Personal auszutauschen, zu wehren.

Ich ballte die Hände an meinen Seiten zu Fäusten. Ich weigerte mich schlicht und einfach, hinzunehmen, dass eine Frau so grausam behandelt wurde. Daher würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um den Fall von Miss Nichols aufzuklären. Für sie und alle anderen von der Gesellschaft ignorierten Mädchen und Frauen, die keine Stimme besaßen.

Mutter hätte dasselbe getan.

Kein anderer Gedanke hatte mehr in meinem Kopf Platz, abgesehen von der entsetzlichen Realität, mit der wir es zu tun hatten. »Er muss ihr die Kehle an einem Ort durchgeschnitten haben, an dem eine große Blutlache nicht weiter auffällt. Vielleicht hat er sie zu einem Schlachthof gebracht und es dort getan.«

Thomas, der neben der Leiche stand, schnaubte. Ich fuhr zu ihm herum und starrte ihn zornig an, dann löste ich die Schnüre meiner Schürze mit so viel Boshaftigkeit, wie ich in diese Handlung nur legen konnte, und warf sie in einen Wäschekorb. Ich wusste, dass mein Gesicht schon wieder rot leuchten musste, doch ich hoffte, dass er den Grund dafür falsch einschätzte.

»Was ist daran so lustig, Mr …?«

Er fasste sich und straffte die Schultern. »Mr Thomas Cresswell, zu Ihren Diensten, Miss Wadsworth.« Er vollführte eine spöttische kleine Verbeugung in meine Richtung, dann richtete er sich wieder zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf und lächelte. »Ich finde es amüsant, weil dies einen wirklich beträchtlichen Arbeitsaufwand für unseren Mörder bedeuten würde. Sie zum Schlachthof zu bringen, nachdem er sich schon die Mühe gemacht hat, sie bewusstlos zu schlagen.« Er schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Kommt mir unnötig vor.«

»Verzeihung, aber Sie wissen nicht …«

Thomas schloss das Notizbuch, in das er seine Skizzen gezeichnet hatte, und umrundete die Leiche, wobei er mir rüde ins Wort fiel. »Besonders, wenn er ihr die Kehle auch problemlos am Fluss aufschneiden konnte. Das Wasser hätte sämtliche Beweise fortgewaschen, ohne dass er sich noch weiter die Hände hätte schmutzig machen müssen. Ganz zu schweigen von« – er deutete auf die verdreckten Schuhe – »dem Schlamm an ihren Sohlen.«

Ich rümpfte die Nase, als läge etwas noch Schlimmeres als der Gestank von verrottendem Fleisch in der Luft. Ich fand es unerträglich, dass mir die Verbindung zwischen den schmutzigen Schuhen und dem schlammigen Flussufer entgangen war. Noch unerträglicher war nur, dass es Thomas nicht entgangen war.

»Es hat seit fast einer Woche nicht geregnet«, fuhr er fort. »Und es gibt eine ganze Reihe dunkler Ecken entlang der Themse, unter denen die Lederschürze die freie Auswahl hatte.«

»Sie selbst haben gerade eingeworfen, dass es lächerlich ist, anzunehmen, er hätte sie in einem Schlachthof umgebracht«, gab ich zurück und kniff die Augen zusammen. »Trotzdem nennen Sie ihn die Lederschürze?«

»Das war eine Anspielung. Haben Sie heute Nachmittag denn die Zeitung nicht gelesen?« Thomas musterte mich, als wäre auch ich nichts weiter als ein Versuchsobjekt, das er vermutlich gern sezieren würde. »Die perfekten Seidenschuhe auszusuchen ist doch sicher nicht wichtiger, als einen blutrünstigen Mörder zu finden. Und dennoch … schauen Sie sich nur diese Dinger an Ihren Füßen an, ganz blutig und verschmutzt. Ist Ihr Interesse an der Wissenschaft bloß der Versuch, einen Ehemann zu finden? Sollte ich vielleicht meinen Mantel holen?«

Ich sah ihn mit finsterer Miene an.

Er schenkte mir ein verwegenes Lächeln. »Ihr Onkel hat sicher nichts dagegen, seine Ermittlungen zu unterbrechen, um für uns die Anstandsdame zu spielen«, sagte er und wandte sich dann an Onkel Jonathan. »Nicht wahr, Dr. Wadsworth? Ich muss zugeben, dass Ihre Nichte ziemlich hübsch ist.«

Ich blickte einen Moment auf meine Füße. In meiner Hast, das Haus zu verlassen, hatte ich vergessen, weniger empfindliche Schuhe mitzunehmen. Nicht, dass mit diesen hier irgendetwas nicht in Ordnung war. Wenn ich beschloss, sie zu einer Obduktion zu tragen, dann war das allein meine Entscheidung.

Vielleicht würde ich sie von nun an einfach immer anziehen, nur um ihn zu ärgern.

»Sie wissen eine ganze Menge darüber, wie dieser Mörder denkt«, gab ich honigsüß zurück. »Vielleicht sollten wir Sie fragen, wo Sie am vergangenen Abend waren, Mr Cresswell.«

Er hob eine dunkle Braue und sah mich nachdenklich an. Ich schluckte schwer, hielt jedoch seinem Blick stand. Schließlich nickte er, als hätte er soeben sein Urteil über mich gefällt.

Ende der Leseprobe