Hunting Prince Dracula - Kerri Maniscalco - E-Book
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Kerri Maniscalco

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Nachdem Audrey Rose ihren ersten Fall gelöst hat, hat sie keine andere Wahl, als aus London zu fliehen. Zusammen mit dem arroganten, aber charmanten Thomas Cresswell reist sie nach Rumänien, um dort eine der besten Schulen für Gerichtsmedizin in Europa zu besuchen. Doch in den düsteren Hallen der Schule geschehen grausame Morde, und die Leichen werden ohne einen Tropfen Blut im Körper aufgefunden. Schnell stellt sich die Frage: Ist es ein Nachahmungstäter oder ist Vlad, der Pfähler, der berühmte Graf Dracula, wieder auferstanden? Audreys Ermittlungen lassen ihre schlimmsten Ängste wahr werden.


Weitere Bände der Reihe:

Stalking Jack the Ripper. Die Spur in den Schatten (Band 1)
Hunting Prince Dracula. Die gefährliche Jagd (Band 2)

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Das Zitat am Textbeginn nach der Widmung stammt aus William Shakespeare, Hamlet, übersetzt von Wilhelm Schlegel.

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel

© Kerri Maniscalco 2017

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Hunting Prince Dracula«, Jimmy Patterson Books, New York 2017 Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Anita Hirtreiter

Illustrationen/Fotos (die Seitenangaben beziehen sich auf die Print-Ausgabe): Wellcome Library, London (S. 10, 38, 198, 230, 266, 294, 346, 392, 424), Sebastian Nicolae/Shutterstock (S. 50), public domain (S. 162, 476)

Karte: Tim Paul

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einem Entwurf von Jeff Miller, Faceout Studio / Hachette Book Group, Inc.

Coverabbildung: Carrie Schechter and Shutterstock.com

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Karte

Abbildung

1 Geister der Vergangenheit

Orientexpress, Königreich Rumänien

1. Dezember 1888

2 Unsterbliche Liebe

Orientexpress, Königreich Rumänien

1. Dezember 1888

3 Eine Bestie in Seide und Spitze

Orientexpress, Königreich Rumänien

1. Dezember 1888

Abbildung

4 Etwas Böses

Orientexpress, Königreich Rumänien

1. Dezember 1888

Abbildung

5 Eine Lektion über strigoi

In der Nähe von Brașov, Transsilvanien

1. Dezember 1888

6 So einladend wie eine verrottende Leiche

Akademie für forensische Medizin und Wissenschaft, Institutului Naţional de Criminalistică şi Medicină Legală, Castelul Bran

1. Dezember 1888

7 Volkssagen

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

2. Dezember 1888

8 Ein Schurke mit dem Gesicht eines Helden

Speisesaal, Sală de mese, Castelul Bran

2. Dezember 1888

9 Kronstadt

Weg durch den Wald, Potecă, Braşov

2. Dezember 1888

10 Sehr merkwürdig

Auf der Dorfstraße, Străzile din sat, Braşov

2. Dezember 1888

11 Etwas Finsteres

Anastasias Zimmer, Camera Anastasiei, Castelul Bran

2. Dezember 1888

12 Mitternächtliche Begegnungen

Thomas’ Gemächer, Camera lui Thomas, Castelul Bran

3. Dezember 1888

13 In flagranti ertappt

Leichenaufbewahrungsraum, Depozit de cadavre, Castelul Bran

3. Dezember 1888

14 Pflichtversammlung

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

3. Dezember 1888

Abbildung

15 Voievod trăgător în ţeapă

Folklorevorlesung, Curs de folclor, Castelul Bran

3. Dezember 1888

16 Unsterblicher Graf

Folklorevorlesung, Curs de folclor, Castelul Bran

3. Dezember 1888

Brief

17 Verschneite Vigil

Auf der Rasenfläche vor dem Schloss, Peluza din faţă, Castelul Bran

3. Dezember 1888

Abbildung

18 Wie man Blut stiehlt

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

4. Dezember 1888

19 Eine sehr merkwürdige Entdeckung

Unbekanntes Wohnhaus, Locuinţă necunoscută, Braşov

4. Dezember 1888

20 Eine schlechte Entscheidung

Dienstbotenkorridor, Coridorul servitorilor, Castelul Bran

5. Dezember 1888

Abbildung

21 Alte Wunden reißen auf

Leichenhalle, Morgă, Castelul Bran

5. Dezember 1888

22 Federlose Flügel

Geheimgang, Pasaj secret, Castelul Bran

5. Dezember 1888

23 Liliac Vampir (Vampirfledermaus)

Geheimgang, Pasaj secret, Castelul Bran

5. Dezember 1888

Abbildung

24 Seltsame Illustrationen

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

5. Dezember 1888

Brief

25 Garten aus Asche

Ummauerter Innenhof, Curte ingrădită, Castelul Bran

13. Dezember 1888

Abbildung

26 Ein wirklich faszinierender Fall

Sektionssaal, Cameră de disecţie, Castelul Bran

13. Dezember 1888

27 Schwarze Lederschwingen

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

14. Dezember 1888

28 Leichenräuber

Korridore, Coridoare, Castelul Bran

14. Dezember 1888

Brief

29 Ein kurzer Blick auf eine schwarze Schleife

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

14. Dezember 1888

30 Ein genauerer Blick

Bibliothek, Biblioteca, Castelul Bran

14. Dezember 1888

Abbildung

31 Ergebnisse einer Autopsie

Percys Autopsiesaal, Amfiteatrul de chirurgie al lui Percy, Castelul Bran

15. Dezember 1888

32 Tränke und Gifte

Folklorevorlesung, Curs de folclor, Castelul Bran

17. Dezember 1888

Brief

33 Schimmliges Höllenloch

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

17. Dezember 1888

34 Nächtliches Missgeschick

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

17. Dezember 1888

Abbildung

35 Blutleer

Percys Autopsiesaal, Amfiteatrul de chirurgie al lui Percy, Castelul Bran

21. Dezember 1888

36 Das Haus Basarab

Eingangshalle, Foaier, Castelul Bran

22. Dezember 1888

37 Ein Raum voller Verdächtiger

Speisesaal, Sală de mese, Castelul Bran

22. Dezember 1888

38 Die Jagd beginnt

Turmzimmer, Camere din turn, Castelul Bran

22. Dezember 1888

Abbildung

39 Lycosa singoriensis

Geheimgang, Pasaj secret, Castelul Bran

22. Dezember 1888

40 Informationsflut

Geheimtunnel, Tunele secrete, Castelul Bran

22. Dezember 1888

41 Knochenweiß

Krypta, Criptă, Castelul Bran

22. Dezember 1888

42 Blutrot

Baum des Todes, Copacul morţii, Castelul Bran

22. Dezember 1888

43 Auf der Jagd nach Graf Dracula

Krypta, Criptă, Castelul Bran

22. Dezember 1888

Abbildung

44 Societas Draconistarum

Krypta, Criptă, Castelul Bran

22. Dezember 1888

45 Schwäne und Wölfe

Cel Rău – Residenz der Cresswells, Bukarest

24. Dezember 1888

Brief

Epilog – Aufregende Aussichten

Cel Rău – Residenz der Cresswells, Bukarest

26. Dezember 1888

Ausspracheanleitung

Anmerkungen der Autorin

Historische Ungenauigkeiten und kreative Freiheiten

Ein paar wissenschaftliche Fakten:

Die Familiennamen der Drăculeşti und Dăneşti:

Transsilvanien:

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Mom und Dad, weil ihr mir beigebracht habt, dass zwischen zwei Buchdeckeln unzählige Abenteuer auf uns warten.

Und für meine Schwester, für all die geheimnisvollen Länder, durch die wir zusammen reisen, ob in der Wirklichkeit oder in unserer Fantasie.

»O stolzer Tod,

Welch Fest geht vor in deiner ew’gen Zelle,

Daß du auf einen Schlag so viele Fürsten

So blutig trafst?«

William Shakespeare: Hamlet (5. Akt, 2. Szene)

Blick auf Bukarest, 1890

1 Geister der Vergangenheit

Orientexpress, Königreich Rumänien

1. Dezember 1888

Knirschend bahnte sich der Zug seinen Weg über die vereisten Schienen, auf die schneegekrönten Gipfel der Karpaten zu, die wie Reißzähne vor uns aufragten. Wir hatten Bukarest hinter uns gelassen, und der Farbton des Gebirges, dem wir uns näherten, ließ mich an verblassende Blutergüsse denken.

Es schneite in dicken, schweren Flocken, und die Berge wirkten kalt wie totes Fleisch. Ein reizender Gedanke an einem so dräuenden Morgen.

Ein Knie stieß gegen die geschnitzte Holzvertäfelung meines privaten Abteils. Schon wieder. Ich schloss die Augen und betete, mein Reisegefährte möge einfach wieder einschlafen. Wenn er mit seinen langen Gliedern so weiterzappelte, würde mein immer dünner werdender Geduldsfaden schon sehr bald reißen. Ich lehnte den Kopf gegen die gepolsterte Stütze meines Sitzes und konzentrierte mich auf den weichen Samt, um mich davon abzuhalten, besagtem Knie einen Stich mit meiner Hutnadel zu versetzen.

Als hätte er meine wachsende Gereiztheit gespürt, regte sich Mr Thomas Cresswell und begann, mit seinem behandschuhten Finger auf das Fensterbrett unseres Abteils zu trommeln. Das genau genommen mein Abteil war.

Thomas hatte sein eigenes, was ihn jedoch nicht davon abhielt, jede Stunde des Tages in meiner Gesellschaft zu verbringen, nur für den Fall, dass ein Serienmörder in den Zug stieg, um ein Massaker anzurichten.

Jedenfalls war das die lächerliche Geschichte, die er unserer Anstandsdame Mrs Harvey auftischte. Sie war eine liebenswürdige silberhaarige Frau, die auf Thomas aufpasste, wenn er sich in seiner Wohnung in der Piccadilly Street aufhielt, und im Augenblick machte sie ihr viertes Schläfchen an diesem Tag. Eine echte Leistung, wenn man bedachte, dass die Sonne gerade erst aufgegangen war.

In Paris war Vater krank geworden, weshalb er sein Vertrauen und meine Tugend sowohl in ihre als auch in Thomas’ Hände gelegt hatte. Was nur allzu deutlich zeigte, wie viel er von Thomas hielt und wie überzeugend, unschuldig und charmant mein Freund sein konnte, wenn die Situation oder die Stimmung danach verlangten. Auf einmal wurden meine Hände in den Handschuhen ganz warm und feucht.

Um diese Anwandlung zu verscheuchen, ließ ich den Blick von Thomas’ dunkelbraunem Haar und seinem akkuraten Cutaway zu seinem abgelegten Zylinder und der rumänischen Zeitung wandern. Mittlerweile hatte ich genug Rumänisch gelernt, um ungefähr zu verstehen, was darin stand. Die Schlagzeile lautete: Ist der unsterbliche Graf zurückgekehrt? In der Nähe von Braşov – genau dem Dorf, zu dem wir unterwegs waren – hatte man eine Leiche mit einem Pflock durchs Herz gefunden, und nun verbreitete sich der abergläubische Gedanke, Vlad Dracula, der vor Jahrhunderten verstorbene Graf, sei noch am Leben. Und auf der Jagd.

Was nichts als Unfug war, um Angst zu schüren und Zeitungen zu verkaufen. So etwas wie ein unsterbliches Wesen gab es nicht. Die wahren Ungeheuer waren Menschen aus Fleisch und Blut, und diese konnten durchaus zu Fall gebracht werden. Letztendlich hatte sogar Jack the Ripper ebenso geblutet wie jeder andere. Obwohl die Zeitungen nach wie vor behaupteten, er würde weiterhin die nebligen Straßen Londons durchstreifen. In einigen stand sogar, er sei nach Amerika gegangen.

Wenn es doch bloß so wäre!

Ein nur allzu vertrauter Stich durchfuhr mich und raubte mir den Atem. Es war jedes Mal dasselbe, wenn ich an den Ripper-Fall dachte und sich die Erinnerungen in mir regten. Wann immer ich in den Spiegel blickte, sah ich dieselben grünen Augen und karmesinroten Lippen wie zuvor. Sowohl das indische Erbe meiner Mutter als auch die englische Adelslinie meines Vaters zeigten sich in meinen Wangenknochen. Rein äußerlich war ich ein lebensprühendes siebzehnjähriges Mädchen. Daran hatte sich nichts geändert.

Und doch war meine Seele schwer verwundet. Es war mir ein Rätsel, wie ich so heil und gelassen wirken konnte, während in mir ein Sturm tobte.

Mein Onkel hatte die Veränderung bemerkt, die Leichtsinnsfehler, die mir in letzter Zeit in seinem forensischen Labor unterlaufen waren. Die Karbolsäure, die ich beim Reinigen der Klingen vergessen hatte. Die Gewebeproben, die ich nicht entnommen hatte. Ein kleiner gezackter Riss, den ich in dem eiskalten Fleisch hinterlassen hatte, was vollkommen im Widerspruch zu meiner üblichen Präzision im Umgang mit den Leichen auf seinem Untersuchungstisch stand. Er hatte nichts dazu gesagt, aber ich wusste, dass er enttäuscht war. Eigentlich sollte mein Herz im Angesicht des Todes hart bleiben.

Vielleicht war ich doch nicht für ein Leben in der Gerichtsmedizin bestimmt.

Tap. Tap-tap-tap. Tap.

Ich biss die Zähne zusammen, während Thomas den Rhythmus der stampfenden Maschinen mitklopfte. Wie Mrs Harvey bei diesem Tumult schlafen konnte, war wirklich unglaublich. Immerhin hatte Thomas mich erfolgreich aus diesem tiefen Brunnen der Emotionen herausgeholt. Gefühle, die zu still und zu dunkel waren. Abgestanden und verdorben wie Sumpfwasser. Rotäugige Kreaturen lauerten in den Tiefen. Ein Bild, das wunderbar zu unserem Zielort passte.

Schon bald würden wir in Bukarest aussteigen und den Rest des Weges zum Schloss per Kutsche hinter uns bringen. Castelul Bran war der Sitz der Akademie für forensische Medizin und Wissenschaft oder des Institutului Naţional de Criminalistică şi Medicină Legală, wie es auf Rumänisch hieß. Mrs Harvey würde eine oder zwei Nächte in Braşov bleiben, ehe sie nach London zurückreiste. Fast sehnte ich mich danach, sie zu begleiten, obwohl ich das vor Thomas niemals zugeben würde.

An der Abteildecke schwang ein Kronleuchter hin und her, und das Klingeln der Kristalle untermalte Thomas’ Klopfen mit einer weiteren Klangschicht. Ich verbannte diese nicht enden wollende Melodie aus meinen Gedanken und betrachtete die im Dampf verschwimmende Welt vor dem Fenster. Vorbeirauschende Bäume. Blattlose, in schimmerndes Weiß gehüllte Zweige, die sich in der mitternachtsblauen Lackierung unseres Luxuszugs spiegelten. Die ersten Wagen fuhren in eine Kurve und schnitten durch die Winterlandschaft.

Ich beugte mich weiter vor und erkannte, dass die Zweige nicht schneebedeckt, sondern eisüberkrustet waren. Das erste Licht der zwischen den Wolken hervorblitzenden Morgensonne fing sich darin und ließ sie orangerot auflodern. Es war so friedlich, dass ich beinahe vergessen konnte … Wölfe! Ich sprang auf, und Thomas zuckte auf seinem Platz zusammen. Mrs Harvey schnarchte so laut, dass es fast nach einem Knurren klang. Ich blinzelte, und schon waren die Wölfe verschwunden. Da war nichts als die im Fahrtwind peitschenden Äste.

Was ich für aufblitzende Reißzähne gehalten hatte, waren nur verschneite Zweige. Ich ließ den angehaltenen Atem entströmen. Die ganze Nacht hindurch hatte ich ein Phantomheulen gehört, und nun sah ich bereits bei Tageslicht Dinge, die nicht da waren.

»Ich … gehe mir ein bisschen die Beine vertreten.«

Thomas hob seine dunklen Brauen. Vermutlich wunderte er sich über meine eklatante Missachtung höflicher Umgangsformen – aber wie ich ihn kannte, war er vermutlich eher beeindruckt. Er beugte sich vor, doch bevor er mir anbieten konnte, mich zu begleiten oder unsere Anstandsdame zu wecken, war ich auch schon bei der Tür und zog sie auf.

»Ich muss kurz allein sein.«

Thomas sah mich einen Augenblick zu lange an, ehe er antwortete. »Versuch, mich nicht zu sehr zu vermissen, Wadsworth«, sagte er und lehnte sich dann wieder zurück. Einen flüchtigen Moment wirkte er enttäuscht. Doch gleich darauf hatte er sich wieder im Griff und setzte eine verspielte Miene auf. Die Heiterkeit erreichte seine Augen jedoch nicht ganz. »Vielleicht geht das ja gar nicht, aber ich für meinen Teil vermisse mich jedenfalls immer schrecklich, wenn ich schlafe.«

»Wie bitte, mein Lieber?«, murmelte Mrs Harvey und blinzelte hinter ihren Brillengläsern hervor.

»Ich sagte, vielleicht zählen wir lieber Schafe.«

»Bin ich schon wieder eingeschlafen?«

Ich nutzte die Ablenkung, schloss die Tür hinter mir und ballte die Fäuste um meine Röcke. Ich wollte nicht, dass Thomas meinen Gesichtsausdruck las, da ich meine Züge in seiner Gegenwart noch nicht ausreichend unter Kontrolle hatte.

Also schritt ich den schmalen Gang in Richtung Speisewagen entlang, wobei ich die grandiose Ausstattung kaum zur Kenntnis nahm. Ohne Anstandsdame konnte ich nicht lange fortbleiben, doch ich hatte eine Pause gebraucht. Auch wenn ich tatsächlich bloß vor meinen eigenen Gedanken und Sorgen floh.

Letzte Woche hatte ich meine Cousine Liza in unserem Haus die Treppe heraufkommen sehen. Durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, nur dass Liza bereits Wochen zuvor auf ihren Landsitz zurückgekehrt war. Einige Tage danach war sogar etwas noch Beunruhigenderes passiert, als ich überzeugt gewesen war, eine der Leichen im Laboratorium meines Onkels hätte mir den Kopf zugedreht und den vorwurfsvollen, starren Blick auf mein Skalpell gerichtet, während ihr Maden aus dem Mund quollen. Ein Blinzeln, und schon war alles wieder so gewesen, wie es sein sollte.

Ich hatte mehrere medizinische Fachbücher mit auf die Reise genommen, bisher aber keine Möglichkeit gehabt, über meine Symptome zu recherchieren, da Thomas mich offen unter Beobachtung hielt. Seiner Meinung nach musste ich mich meiner Trauer stellen, doch ich war noch nicht bereit, diese Wunde wieder aufzureißen. Irgendwann vielleicht.

Ein paar Abteile weiter glitt eine Tür auf, was mich in die Gegenwart zurückholte. Ein außergewöhnlich gut frisierter junger Mann trat aus dem Abteil und schritt rasch den Gang hinunter. Sein dunkelgrauer Anzug war teuer gewesen, was an der Weise offensichtlich wurde, wie sich der Stoff um seine breiten Schultern schmiegte. Als er einen Silberkamm aus seiner Anzugtasche holte, hätte ich beinahe aufgeschluchzt. Etwas in mir zog sich so schmerzhaft zusammen, dass meine Knie fast einknickten.

Das konnte nicht sein. Er war vor Wochen bei diesem schrecklichen Unfall gestorben. Mein Verstand sagte mir, dass es unmöglich er sein konnte, der da mit seinem perfekt frisierten Haar und der dazu passenden Kleidung vor mir herging, trotzdem weigerte sich mein Herz zuzuhören.

Ich packte meine cremeweißen Röcke und rannte los. Die Art, wie er sich bewegte, hätte ich überall erkannt. Die Wissenschaft konnte die Macht der Liebe oder Hoffnung nicht erklären. Dafür gab es keine Formeln oder Ableitungen, ganz gleich, was Thomas über Wissenschaft und Menschlichkeit behauptete.

Der Mann tippte sich an den Hut, als er an einigen Passagieren vorbeikam, die sich gerade zum Tee hingesetzt hatten. Während ich ihm hinterhereilte, nahm ich nur am Rande wahr, dass sie mich mit offenem Mund anstarrten. Mein Zylinder war verrutscht und saß leicht schief.

Der Mann näherte sich dem Zigarrenraum und blieb kurz stehen, um die schwere Tür zwischen den Waggons zu öffnen. Rauch waberte aus dem Abteil dahinter, gemischt mit einem eisigen Luftstoß. Der Geruch war so beißend, dass mein Magen rebellierte. Ich streckte den Arm aus und zog den Mann zu mir herum, drauf und dran, ihm schluchzend um den Hals zu fallen. Die Geschehnisse des vergangenen Monats waren lediglich ein Albtraum gewesen. Mein Bru…

»Domnişoară?«

Tränen stachen mir in den Augen. Die Frisur und die Kleider gehörten nicht zu demjenigen, an den ich gedacht hatte. Ich wischte mir die erste Träne fort, die mir über die Wange lief, ohne darauf zu achten, ob ich dabei den Kohlstrich verwischte, den ich mir neuerdings um die Augen malte.

Er hob einen Spazierstock mit einem Schlangenkopf und wechselte ihn von einer Hand in die andere. Ein Kamm war nirgends zu sehen. Allmählich verlor ich die Verbindung zur Realität. Ich wich langsam zurück, wobei das leise Geplauder aus dem Waggon hinter uns in mein Bewusstsein drang. Das Klirren der Teetassen, die verschiedenen Akzente der Weltreisenden – all das schwoll nach und nach zu einem Crescendo in meiner Brust an. Die Panik machte mir das Atmen schwerer als das Korsett, das meine Rippen einschnürte.

Ich keuchte und versuchte, genug Luft zu bekommen, um meine flatternden Nerven zu beruhigen. Das Klirren und Lachen wurde zu einem schrillen Kreischen, von dem ich mir fast wünschte, es könnte das Wummern meines rasenden Pulses ersticken. Mir wurde schlecht.

»Ist alles in Ordnung, domnişoară? Sie scheinen …«

Ich lachte, und es kümmerte mich nicht, dass er erschrocken über meinen plötzlichen Ausbruch vor mir zurückwich. Oh, wenn es tatsächlich so etwas wie eine höhere Macht gab, dann machte sie sich gerade über mich lustig. Endlich begriff ich, dass domnişoară einfach »Miss« bedeuten musste. Dieser Mann war nicht einmal Engländer. Er sprach rumänisch. Und sein Haar war nicht goldblond, sondern hellbraun.

»Scuze«, murmelte ich. Dann zwang ich mich dazu, mein hysterisches Lachen einzustellen, und neigte knapp den Kopf. »Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.«

Bevor ich mich noch mehr blamieren konnte, nickte ich ihm zu und kehrte eilig zu meinem Abteil zurück. Ich hielt den Kopf gesenkt und ignorierte das Getuschel und Gekicher um mich herum, auch wenn ich es trotzdem hörte.

Ehe ich Thomas gegenübertrat, musste ich mich ein wenig sammeln. Ich hatte sein ständig besorgtes Stirnrunzeln bemerkt, die Sorgfalt, mit der er mich neckte oder ärgerte, und ich wusste genau, was er da tat. Nach allem, was meine Familie hatte durchstehen müssen, hätte mich jeder andere Gentleman wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe behandelt. Oder wie eine Puppe, die bereits zerbrochen und daher nutzlos war. Thomas war jedoch nicht wie andere junge Männer.

Viel zu früh stand ich wieder vor meinem eigenen Abteil und straffte die Schultern. Es war an der Zeit, die kühle Miene einer Wissenschaftlerin aufzusetzen. Meine Tränen waren getrocknet, und mein Herz glich einer geballten Faust in meiner Brust. Ich atmete tief ein und aus. Jack the Ripper würde niemals zurückkehren. Das war eine unumstößliche Tatsache.

In diesem Zug lauerten keine Serienmörder. Noch eine Tatsache.

Der Herbst des Schreckens hatte im vergangenen Monat ein Ende gefunden.

Und sehr wahrscheinlich jagten auch keine Wölfe hinter dem Orientexpress her.

Wenn ich nicht aufpasste, würde ich als Nächstes auch noch daran glauben, dass Dracula zurückgekehrt war.

Ich gestattete mir einen weiteren tiefen Atemzug, bevor ich die Abteiltür öffnete und alle Gedanken an unsterbliche Grafen aus meinem Kopf verbannte.

2 Unsterbliche Liebe

Orientexpress, Königreich Rumänien

1. Dezember 1888

Thomas hielt den Blick stur auf das Fenster gerichtet, und seine lederumhüllten Finger trommelten dabei immer noch diesen nervtötenden Rhythmus. Tap. Tap-tap-tap. Tap.

Wie erwartet waren Mrs Harvey die Augen wieder zugefallen, und ihr sanftes Schnarchen deutete an, dass sie in der kurzen Zeit meiner Abwesenheit wieder fest eingeschlafen war. Ich starrte meinen Reisegefährten an, doch entweder bemerkte er es nicht, oder – was wahrscheinlicher war – er tat nur so, als würde es ihm nicht auffallen, während ich mich wieder auf dem Sitz ihm gegenüber niederließ. Sein Profil war makellos. Linien und Winkel, sorgfältig ausgerichtet auf die winterliche Welt dort draußen. Ich wusste, dass er meinen Blick auf sich spürte, seine Mundwinkel zeigten für seine vorgetäuschte Gedankenverlorenheit ein wenig zu spitzbübisch nach oben.

»Musst du mit diesem verdammten Getrommel weitermachen, Thomas?«, fragte ich. »Das macht mich noch genauso verrückt wie die weniger vom Glück begünstigten Charaktere aus Poes Gedichten. Außerdem beschert es der armen Mrs Harvey sicher Albträume.«

Er wandte sich mir zu, und seine braunen Augen wirkten einen Moment lang gedankenverloren. Genau dieser Blick – warm und einladend wie ein Sonnenfleck an einem kühlen Herbsttag – bedeutete für gewöhnlich Ärger. Ich konnte förmlich sehen, wie er in Gedanken sein Repertoire an Dreistigkeiten durchging, während sich ein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Ein Lächeln, das Gedanken wachrief, die Tante Amelia ganz und gar ungehörig gefunden hätte. Und aus seinem Blick, der auf meinem Mund ruhte, schloss ich, dass er das genau wusste. Dieser Schuft!

»Poe? Dann willst du mir also das Herz herausschneiden und unter dein Bett legen, Wadsworth? Ich muss zugeben, ich könnte mir bessere Möglichkeiten vorstellen, um in dein Schlafzimmer zu gelangen.«

»Du hältst dich wohl für unwiderstehlich.«

»Gib’s zu. Unser Kuss war ziemlich aufregend.« Er beugte sich vor, bis mir sein schönes Gesicht entschieden zu nah war. So viel also zu unserer Anstandsdame. Mein Herz schlug schneller, als ich die goldenen Funken in seinen Iriden erkannte. Wie winzige Sonnen, die mich mit ihren verlockenden Strahlen anzogen. »Sag mir, dass du nicht gern noch einen hättest.«

Kurz huschte mein Blick über seine hoffnungsvolle Miene. Die Wahrheit war, dass ich mich trotz all der finsteren Dinge, die im vergangenen Monat geschehen waren, tatsächlich nach einer weiteren romantischen Begegnung mit ihm sehnte. Obwohl ich das Gefühl hatte, dadurch irgendwie meine Trauer zu verraten.

»Unser erster und letzter Kuss«, rief ich ihm in Erinnerung. »Daran war nur das Adrenalin schuld, das nach unserer fast tödlichen Begegnung mit diesen Grobianen immer noch durch meine Adern gerauscht ist. Es lag eindeutig nicht an deiner Überzeugungskraft.«

Ein gerissenes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. »Wenn ich uns in noch so eine gefährliche Lage bringe, könnte ich dich dann vielleicht wieder verführen?«

»Weißt du, wenn du einfach den Mund hältst, bist du mir lieber.«

»Ach komm schon« – Thomas lehnte sich zurück und atmete tief durch –, »du magst mich doch so oder so.«

Ich tat mein Bestes, um mir ein Lächeln zu verbeißen. Ich hätte wissen müssen, dass dieser Wüstling irgendeinen Weg finden würde, unsere Unterhaltung einem unpassenden Thema zuzuwenden. Tatsächlich überraschte es mich, dass es so lange gedauert hatte. Von London nach Paris waren wir in der Gesellschaft meines Vaters gereist, der uns persönlich bis zu den Türen des eindrucksvollen Orientexpress hatte bringen wollen, und die ganze Zeit über war Thomas der perfekte Gentleman gewesen. Ich hatte ihn kaum wiedererkannt, während er bei Tee und Scones voller Aufmerksamkeit mit Vater geplaudert hatte.

Wären da nicht dieser mutwillige Zug um seinen Mund und die vertraute Neigung seines störrischen Kinns gewesen, wenn Vater gerade nicht hinsah, dann hätte ich ihn für einen Doppelgänger gehalten. Dieser Thomas Cresswell konnte unmöglich derselbe nervenaufreibend intelligente junge Mann sein, der mir im vergangenen Herbst zu sehr ans Herz gewachsen war.

Ich schob mir eine lose Strähne meines rabenschwarzen Haars hinters Ohr und blickte wieder aus dem Fenster.

»Bedeutet dein Schweigen, dass du tatsächlich über einen weiteren Kuss nachdenkst?«

»Kannst du dir meine Antwort denn nicht herleiten, Cresswell?« Mit herausfordernd erhobener Braue sah ich ihn an, bis er mit den Schultern zuckte und wieder damit begann, auf das Fensterbrett zu trommeln.

Es war Thomas gewesen, der meinen Vater, den Ehrfurcht gebietenden Lord Edmund Wadsworth, dazu gebracht hatte, mir zu gestatten, mit ihm zusammen die Akademie für forensische Medizin und Wissenschaft in Rumänien zu besuchen. Was im Grunde zu schön war, um wahr zu sein. Und das, obwohl ich in diesem Moment in einem Zug auf dem Weg zu besagter Universität saß.

Meine letzte Woche in London war ganz mit Kleideranproben und Kofferpacken ausgefüllt gewesen. Wodurch Thomas und Vater offenbar entschieden zu viel Zeit geblieben war, um einander besser kennenzulernen. Als Vater mir schließlich in Paris verkündete, dass er mich aufgrund seiner Krankheit ganz der Obhut von Thomas und Mrs Harvey überlassen würde, verschluckte ich mich fast an meiner Suppe, während mir Thomas über seinen Löffel hinweg zuzwinkerte.

Nachts tat ich so gut wie kein Auge zu, denn die Grübeleien über die aufkeimende Freundschaft zwischen meinem enervierenden Freund und meinem sonst so strengen Vater raubten mir den Schlaf. Ich hatte es kaum erwarten können, das grauenvoll stille Haus in London zu verlassen, in dem zu viele Geister meiner jüngsten Vergangenheit lebten, was Thomas ganz genau gewusst hatte.

»Träumst du gerade von einem neuen Skalpell, oder willst du mich mit diesem Blick nur aus der Fassung bringen?«, fragte Thomas und riss mich damit aus meinen düsteren Gedanken. Seine Lippen zuckten angesichts des finsteren Blicks, den ich ihm zuwarf, doch er war klug genug, kein ausgewachsenes Grinsen daraus werden zu lassen. »Ah. Dann handelt es sich also um ein moralisches Dilemma. Mein Lieblingsthema.«

Ich bemerkte, wie er meinen Gesichtsausdruck musterte, den ich zu verbissen zu kontrollieren versuchte, die Satinhandschuhe, an denen ich herumzupfte, und die steife Haltung, mit der ich auf meinem Platz saß und die nichts mit dem Korsett zu tun hatte, das meine Rippen einschnürte, oder mit der alten Dame, die den Großteil meiner Sitzbank einnahm. Er hielt meinem Blick stand, ehrlich und voller Mitgefühl. Ich las Versprechungen und Wünsche darin, und die Intensität seiner Gefühle ließ mich erschauern.

»Bist du nervös wegen des Studiums? Du wirst sie alle bezaubern, Wadsworth.«

Es war eine Erleichterung, dass er meine wahren Gefühle immerhin gelegentlich noch falsch interpretierte. Sollte er doch glauben, dass ich nur vor Nervosität zitterte, nicht wegen seines Interesses an mir. Thomas hatte mir seine Liebe gestanden, aber wie bei so vielen Dingen in letzter Zeit war ich mir nicht mehr sicher, ob dies echt war. Vielleicht hatte er auch bloß Mitleid mit mir, nach allem, was geschehen war.

Ich strich über die Knöpfe an meinen Handschuhen. »Nein. Eigentlich nicht.«

Er hob eine Braue, schwieg jedoch. Ich richtete den Blick wieder auf das Fenster und die schonungslose Welt dort draußen. Ich wollte mich noch ein wenig länger darin verlieren.

Den Unterlagen zufolge, die ich in Vaters gewaltiger Bibliothek gefunden hatte, war die Akademie in einem reichlich makaber klingenden Schloss inmitten der eiskalten Gebirgskette der Karpaten untergebracht. Es war ein langer Weg zurück nach Hause oder zurück in die Zivilisation, falls sich meine Kommilitonen als nicht besonders freundlich und aufgeschlossen erweisen sollten. Ich würde die einzige Frau unter Männern sein, was mir mit Sicherheit als Schwäche ausgelegt werden würde – und was, wenn Thomas unserer Freundschaft nach unserer Ankunft dort den Rücken kehrte?

Vielleicht würde er schließlich doch noch erkennen, wie bizarr es für eine junge Dame war, Leichen aufzuschneiden und lieber Organe zu entnehmen, als neue Schuhe anzuprobieren. Als wir beide noch Lehrlinge im Laboratorium meines Onkels gewesen waren, hatte das nie eine Rolle gespielt, aber was, wenn die Studenten der prestigereichen Akademie mich für etwas ganz anderes als einfach nur fortschrittlich hielten?

Die Toten aufzuschneiden war schon für Männer kaum ein angemessener Zeitvertreib, von einem Mädchen aus Adelskreisen ganz zu schweigen. Wenn Thomas mich ohne einen Freund an der Universität allein ließ, dann würde ich in einem so tiefen Abgrund versinken, dass ich befürchtete, nie wieder daraus auftauchen zu können.

Das anständige Mädchen in mir gab es bloß ungern zu, aber seine Annäherungsversuche waren es, die mich auf einem Meer aus widerstreitenden Gefühlen an der Oberfläche hielten. Leidenschaft und Ärger waren Feuer, und Feuer war lebendig, es knisterte vor Kraft. Feuer atmete. Trauer war wie Treibsand. Je mehr man sich dagegen wehrte, desto tiefer wurde man hinabgezogen. Lieber brannte ich, als lebendig begraben zu sein. Allein die Vorstellung, mich in eine kompromittierende Situation mit Thomas zu begeben, reichte aus, um meine Wangen heiß werden zu lassen.

»Audrey Rose«, setzte Thomas an und zupfte an den Aufschlägen seines Cutaways herum. Dann fuhr er sich durch das dunkle Haar, was meinem normalerweise so überheblichen Freund überhaupt nicht ähnlichsah. Mrs Harvey regte sich, wachte jedoch nicht auf, obwohl ich in diesem Moment durchaus nichts dagegen gehabt hätte.

»Ja?« Ich richtete mich sogar noch gerader auf und ließ mein Korsett zu einer Rüstung werden. Thomas nannte mich so gut wie nie beim Vornamen, es sei denn, etwas Furchtbares stand mir bevor. Während einer Autopsie vor ein paar Monaten hatten wir uns einen geistigen Wettstreit geliefert – bei dem ich den Sieg davongetragen zu haben glaubte, auch wenn ich mir in diesem Punkt nicht mehr ganz sicher war –, woraufhin ich ihm gestattet hatte, mich bei meinem Nachnamen zu nennen. Ein Privileg, das er mir ebenfalls gewährte. Gelegentlich bereute ich dies jedoch, wenn er mich in aller Öffentlichkeit Wadsworth nannte. »Was ist los?«

Ich sah zu, während er ein paarmal tief Luft holte, und mein Blick wanderte über seine elegante Erscheinung. Für unsere Ankunft hatte er sich sehr fein gekleidet. Der mitternachtsblaue Anzug war maßgeschneidert und lud dazu ein, kurz innezuhalten und sowohl den Anzug als auch den Mann darin zu bewundern. Wieder zupfte ich an meinen Handschuhknöpfen, ertappte mich dann allerdings dabei und ließ es bleiben.

»Da gibt es etwas, was ich dir sagen wollte.« Er rutschte auf seinem Platz herum. »Ich … halte es nur für fair, wenn ich dir dies noch vor unserer Ankunft enthülle.«

Sein Knie stieß wieder gegen die Holzvertäfelung, und er zögerte. Vielleicht hatte er längst begriffen, dass ihm seine Beziehung zu mir an der Universität hinderlich sein könnte. Ich wappnete mich für den Schnitt, der die Verbindung zu meiner geistigen Gesundheit endgültig durchtrennen würde. Ich würde ihn nicht bitten, bei mir zu bleiben und mein Freund zu sein, obwohl es mir sehr zusetzen würde, wenn er ging. Ich konzentrierte mich auf meine Atemzüge, zählte die Sekunden dazwischen.

Großmutter behauptete, der Satz Bekannt für ihre Sturheit sollte auf allen Grabsteinen der Wadsworth stehen, und ich konnte ihr da nicht widersprechen. Ich hob das Kinn. Das Stampfen der Maschinen zählte nun den immer schneller werdenden Rhythmus meiner Herzschläge ab, die das Adrenalin durch meinen Körper jagten. Ich schluckte mehrmals. Wenn er nicht bald mit der Sprache herausrückte, würde ich mich noch übergeben müssen, und das wäre es dann mit seinem schönen Anzug.

»Wadsworth, ich bin sicher, du … vielleicht sollte ich …« Er schüttelte den Kopf, dann lachte er. »Ich bin dir wirklich völlig verfallen. Als Nächstes fange ich noch an, Sonette vorzutragen und dir zu huldigen.« Anschließend verschwand die Verletzlichkeit so abrupt aus seinem Gesicht, als hätte er sich selbst von einem Abgrund zurückgezogen. Er räusperte sich und fuhr mit viel leiserer Stimme fort. »Wofür das hier wohl kaum der richtige Augenblick wäre, weil meine Neuigkeiten eher … nun ja, es könnte dich vielleicht etwas … überraschen.«

Ich zog die Brauen zusammen, denn ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. Entweder würde er mir gleich seine ewige Freundschaft versichern oder mich endgültig fallen lassen. Unwillkürlich umklammerte ich die Armstütze meines Sitzes, und in den Satinhandschuhen wurden meine Hände feucht.

Er beugte sich vor, wappnete sich. »Meine Mutter entstammt einer F…«

Etwas Schweres krachte mit solch einer Wucht gegen die Tür unseres Abteils, dass fast das dicke Holz splitterte. Jedenfalls hörte es sich so an – unsere Tür war geschlossen, um das Klirren und Scheppern des nahen Speisewagens auszusperren. Mrs Harvey, Gott schütze sie, schlief einfach weiter.

Ich wagte nicht zu atmen und wartete darauf, ob noch weitere Geräusche folgen würden. Als es still blieb, beugte ich mich langsam vor, wobei ich Thomas’ unausgesprochenes Geständnis völlig vergaß, und mein Herz hämmerte doppelt so schnell wie sonst. Ich stellte mir vor, wie sich die von den Toten Auferstandenen gegen unsere Tür warfen, weil sie unser Blut trinken wollten, und … nein! Ich zwang mich dazu, einen klaren Gedanken zu fassen. Vampire gab es nicht.

Vielleicht war es einfach nur ein Mann gewesen, der ein paar Gläser zu viel gehoben hatte und gegen die Tür gestolpert war. Oder vielleicht hatte sich ein Dessert- oder Teewagen losgerissen. Möglicherweise war es sogar eine junge Frau gewesen, die bei dem Schlingern des Zugs das Gleichgewicht verloren hatte.

Ich ließ die angehaltene Luft entströmen und lehnte mich zurück. Ich musste aufhören, überall Mörder zu sehen, die durch die Nacht streiften. Allmählich wurde es zu einer Art Besessenheit, dass ich jeden Schatten, der schließlich nichts anderes war als die Abwesenheit von Licht, in einen blutrünstigen Dämon verwandelte. Ich war eben die Tochter meines Vaters.

Wieder krachte etwas gegen die Wand unseres Abteils, gefolgt von einem gedämpften Schrei. Dann nichts mehr. Ich bekam eine Gänsehaut. Mrs Harveys Schnarchen ließ die unheilvolle Atmosphäre noch bedrohlicher wirken.

»Was im Namen der Königin war das?«, flüsterte ich und verfluchte mich dafür, dass ich meine Skalpelle in einem meiner Koffer untergebracht hatte und deshalb nicht jederzeit an sie herankam.

Thomas hob einen Finger an die Lippen, dann deutete er auf die Tür. Er wartete darauf, dass sich wieder etwas regte. Schweigend saßen wir da, während die Sekunden in quälender Stille verstrichen. Jedes Ticken der Uhr fühlte sich an, als würde es einen ganzen Monat abzählen. Ich konnte es kaum noch ertragen.

Mein Herz wollte mir aus der Brust springen, und die Stille war schlimmer als alles andere, und die Zeit schien einfach nicht zu vergehen. Wir saßen da, den Blick auf die Tür gerichtet. Wartend. Ich schloss die Augen, betete darum, dass ich nicht schon wieder in wachem Zustand einen Albtraum erlebte.

Ein Schrei zerriss die Luft, und mir wurde kalt bis ins Mark.

Thomas, der jeden Gedanken an angemessene Umgangsformen vergaß, streckte die Arme nach mir aus und ergriff meine Hand, obwohl sich Mrs Harvey endlich regte. Als ich Thomas’ festen Griff spürte, wusste ich, dass dies nicht nur meiner Einbildung entsprang. Etwas sehr Dunkles und sehr Reales war mit uns in diesem Zug.

3 Eine Bestie in Seide und Spitze

Orientexpress, Königreich Rumänien

1. Dezember 1888

Ich sprang auf und sah aus dem Fenster, und auch Thomas ließ den Blick über die Landschaft vor dem Zug schweifen. Das Licht der frühen Morgensonne tauchte die Welt in einen messingfarbenen Schein, durchbrochen von Unheil verkündendem Grau, Grün und Schwarz.

»Du bleibst hier bei Mrs Harvey«, befahl Thomas, und ich fuhr zu ihm herum. Wenn er glaubte, dass ich mich einfach zurücklehnen würde, während er seine Nachforschungen anstellte, dann war seine Wahrnehmung der Realität sogar noch schlechter als meine.

»Seit wann hältst du mich für unfähig?« Ich beugte mich an ihm vorbei und zog mit aller Kraft an der Abteiltür. Das verdammte Ding wollte jedoch einfach nicht nachgeben. Ich schlüpfte aus meinen flachen Reiseschuhen und wappnete mich. Wenn es sein musste, dann würde ich das Ding einfach aus den Angeln reißen. Ich würde keine Minute länger in diesem schönen Käfig eingesperrt bleiben, ganz gleich, was uns dort draußen erwartete.

Ich versuchte es noch einmal, doch ich bekam die Tür einfach nicht auf. Es war wie bei allem im Leben: Je mehr man sich wehrte, desto schwerer wurde es. Auf einmal kam mir die Luft zu dick zum Atmen vor. Ich zog noch fester, aber meine zu glatten Finger rutschten von dem sogar noch glatteren Goldüberzug ab. Der Atem stockte mir in der Brust, fing sich in den steifen Gräten meines Korsetts.

Der hitzige Wunsch, mir das Ding einfach herunterzureißen, packte mich. Zum Teufel mit den Regeln der vornehmen Gesellschaft! Ich musste hier raus. Sofort. Im nächsten Moment war Thomas neben mir.

»Ich halte dich … nicht für … unfähig«, brachte er heraus, während er mir mit der Tür half. Seine Lederhandschuhe boten ihm etwas mehr Halt an der glatten Oberfläche. »Aber ich will hier der Held sein, nur dieses eine Mal. Lass mich doch wenigstens so tun als ob. Immer … rettest … du … mich. Bei drei ziehen wir zusammen, einverstanden? Eins, zwei, drei.«

Endlich gelang es uns mit vereinten Kräften, die Tür aufzuziehen, und ich warf mich in den Gang hinaus, ohne darauf zu achten, was für einen Anblick ich bieten musste. Eine Gruppe Passagiere starrte mich an und wich langsam vor mir zurück. Dass es tatsächlich so schlimm war, hatte ich zwar nicht gedacht, aber darüber konnte ich mir auch noch später Sorgen machen. Atmen war jetzt viel wichtiger. Hoffentlich fuhr niemand aus der Londoner Gesellschaft in diesem Waggon mit und erkannte mich. Ich beugte mich nach vorn und wünschte, ich hätte mich für ein korsettfreies Kleid entschieden, während ich versuchte, genug Luft in meine unkooperativen Lungen zu saugen. Ein Flüstern drang an meine Ohren. Es klang rumänisch. »Teapa.«

»Ţepeş.«

Noch einmal schnappte ich nach Luft, dann richtete ich mich auf und zuckte zurück, als ich sah, was genau die anderen Passagiere da mit bleichen Gesichtern anstarrten.

Dort in dem schmalen Gang neben unserer Tür lag eine zusammengesunkene Gestalt. Ich hätte den Mann einfach für betrunken gehalten, wäre da nicht das Blut gewesen, das aus einer klaffenden Wunde in seiner Brust rann und den Perserteppich befleckte.

Der Pflock, der aus seinem Herzen ragte, schrie geradezu »Mord«.

»Bei allen Heiligen«, murmelte jemand und wandte sich ab. »Es ist der Pfähler. Die Geschichten sind wahr!«

»Der Woiwode der Walachei.«

»Der Fürst der Finsternis.«

Eine Faust ballte sich in meiner Brust zusammen. Der Woiwode der Walachei … der Graf der Walachei. Der Name rollte durch meinen Kopf, bis er gegen das Wissen aus meinem Geschichtsunterricht stieß und sich daraufhin in den Bereich vorarbeitete, in dem meine Angst residierte. Vlad Ţepeş. Vlad der Pfähler.

Einige nannten ihn auch Dracula. Den Sohn des Drachen.

So viele Namen für den mittelalterlichen Grafen, der mehr Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet hatte, als ich mir vorstellen wollte. Seine liebste Tötungsmethode hatte ihm seinen Beinamen eingetragen. Ţepeş. Pfähler.

Außerhalb des rumänischen Königreichs galt er als eine teuflische Kreatur, unsterblich und blutdurstig. Allerdings glaubte ich meinem kümmerlichen Wissen entnehmen zu können, dass er in seinem Heimatland ganz anders betrachtet wurde. Vlad war ein Volksheld, der für seine Landsleute gekämpft und getan hatte, was eben nötig war, um seine Feinde zu besiegen. Etwas, was auch die Könige und Königinnen anderer Länder getan hatten. Wer eine Bestie war und wer nicht, lag im Auge des Betrachters, und niemand wollte etwas davon hören, dass der Held einer Geschichte in Wahrheit der Schurke war.

»Es ist der unsterbliche Graf!«

»Vlad Ţepeş lebt.«

Ist der unsterbliche Graf zurückgekehrt? Die Zeitungsüberschrift blitzte vor meinem inneren Auge auf. Das konnte nicht wahr sein, nicht schon wieder. Ich war nicht bereit dafür, so bald nach dem Ripper-Fall erneut vor einem Mordopfer zu stehen. Es war etwas ganz anderes, wenn man im Laboratorium eine Leiche sezierte. Steril. Weniger emotional. Ein Opfer dort vor sich zu sehen, wo das Verbrechen begangen worden war, machte es zu menschlich. Zu echt. Früher einmal hatte ich genau das gewollt. Jetzt wollte ich nur noch vergessen.

»Das ist ein Albtraum. Sag mir, dass das bloß ein grässlicher Albtraum ist, Cresswell.«

Für den Bruchteil eines Augenblicks sah Thomas aus, als wollte er mich in die Arme nehmen und meine Ängste fortwischen. Dann kam jedoch allmählich seine kalte Entschlossenheit zum Vorschein, wie eine Echse, die den Berghang hinabkroch. »Du hast der Angst in ihr hässliches Haupt geblickt und sie das Fürchten gelehrt. Du schaffst das, Wadsworth. Wir schaffen das. Diese Tatsache ist unumstößlicher als jeder Traum oder Albtraum. Ich habe versprochen, dich niemals zu belügen, und ich habe vor, mein Wort zu halten.«

Ich konnte den Blick einfach nicht von dem immer größer werdenden Blutfleck abwenden. »Die Welt ist brutal«, sagte ich.

Ohne sich daran zu stören, dass wir von aufmerksamen Mitreisenden umgeben waren, strich mir Thomas eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er wirkte nachdenklich. »Die Welt ist weder gut noch böse. Sie ist einfach. Wir können sie betrachten, wie auch immer wir wollen.«

»Ist ein Arzt an Bord?«, rief eine dunkelhaarige junge Frau, etwa in meinem Alter, auf Rumänisch. Das reichte, um mich aus meiner Verzweiflung zu reißen. »Der Mann braucht Hilfe! Holt Hilfe!«

Ich brachte es nicht über mich, ihr zu erklären, dass für diesen Mann jede Hilfe zu spät kam.

Ein Passagier mit zerzaustem Haar drückte sich die Hände an die Schläfen und schüttelte den Kopf, als könnte er die Leiche allein durch die Kraft seiner Verweigerung verschwinden lassen. »Das … das … muss eine Illusion sein.«

Mrs Harvey steckte den Kopf in den Gang hinaus, und die Augen hinter der Brille wurden groß. »Oh!«, stieß sie hervor, woraufhin Thomas an ihre Seite eilte und sie unter leisem, beruhigendem Gemurmel zurück in das Abteil und zu ihrem Platz führte.

Wäre ich nicht so fassungslos gewesen, dann hätte vermutlich auch ich geschrien. Leider war dies nicht das erste Mal, dass ich vor einem Toten stand, nur wenige Minuten nach dem Mord. Ich versuchte, nicht an die Leiche zu denken, die wir in einer Londoner Gasse gefunden hatten, genauso wenig wie an die tobenden Schuldgefühle, die nach wie vor in mir wüteten. Meine verdammte Neugier war der Grund gewesen, warum jener Mann hatte sterben müssen. Ich war eine Bestie in Seide und Spitze.

Und doch … Ich konnte nicht verhindern, dass sich unter meiner Haut ein Kribbeln regte, während ich den Toten und den abscheulichen Pflock anstarrte. Die Wissenschaft gab mir einen Lebenszweck. Etwas anderes als meine eigenen wahnsinnigen Gedanken, worin ich mich verlieren konnte.

Ich atmete ein paarmal tief durch, um mich angesichts des Grauens vor mir zu erden. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um meinen Blick von meinen Gefühlen trüben zu lassen. Auch wenn ein Teil von mir um den Niedergemetzelten weinen wollte, ebenso wie um all jene, die ihn heute Nacht vermissen würden. Ich fragte mich, in wessen Gesellschaft er gereist war … und wohin.

Dann riss ich mich entschlossen von diesen Überlegungen los. Konzentrier dich. Ich wusste, dass dies nicht das Werk eines übernatürlichen Geschöpfs war. Vlad Dracula war vor Hunderten von Jahren gestorben.

Der Passagier mit dem zerzausten Haar murmelte irgendetwas über den Maschinenraum vor sich hin und eilte davon, vermutlich, um zu veranlassen, dass der Zug gestoppt wurde. Ich sah ihm nach, während er sich durch die immer noch schreckensstarre Menge schob.

»Mrs Harvey ist in Ohnmacht gefallen«, sagte Thomas und trat mit einem ermutigenden Lächeln aus dem Abteil. »Ich habe Riechsalz dabei, aber ich halte es für das Beste, sie einfach in Frieden zu lassen, bis das hier …«

Ich sah, wie er schluckte. Daraufhin schlug ich jede Schicklichkeit in den Wind – vermutlich waren ohnehin alle so sehr mit der Leiche beschäftigt, dass sich niemand um meinen Mangel an Anstand scheren würde – und drückte kurz seine Hand, bevor ich ihn rasch wieder losließ. Worte waren überflüssig. Ganz gleich, wie viel Tod und Zerstörung man schon mit angesehen hatte, leicht war es nie. Trotzdem hatte er recht. Wir würden es durchstehen. Das hatten wir bereits mehrmals getan.

Ohne auf das Chaos zu achten, das sich allmählich um mich herum erhob, härtete ich mich gegen das grauenhafte Bild ab und löste mich von meinen Gefühlen. Was mir mein Onkel über das Verhalten an einem Tatort beigebracht hatte, war mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen – ich musste nicht mehr denken, bloß noch handeln. Dies war ein menschlicher Körper, der untersucht werden musste, nichts weiter. Die Türen in meinem Kopf, die zu Blut, Gewalt und dem tragischen Verlust eines Lebens führten, schlugen zu. Der Rest der Welt, meine Ängste und meine Schuldgefühle verblassten.

Die Wissenschaft war der Altar, vor dem ich kniete, und sie segnete mich mit Trost.

»Denk dran …« Thomas sah den Gang rauf und runter und versuchte, die Leiche vor den Blicken der anderen Passagiere abzuschirmen. »Es ist nur eine Gleichung, die gelöst werden muss, Wadsworth. Nichts weiter.«

Ich nickte, dann nahm ich umsichtig meinen Zylinder ab und schob meine cremeweißen Röcke zurück. Meine schwarz-goldenen Spitzenmanschetten strichen über den Mantel des Verstorbenen, und der feine Stoff stand in einem entsetzlichen Kontrast zu dem rauen Holz des Pflocks, der ihm aus der Brust ragte. Ich versuchte, mich von dem Blutspritzer an seinem gestärkten Kragen nicht ablenken zu lassen. Während ich nach einem Puls tastete, von dem ich wusste, dass ich ihn nicht finden würde, blickte ich zu Thomas auf und stellte fest, dass sein sonst so voller Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst war.

»Was ist los?«

Thomas öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder, als eine Frau den Kopf aus dem Nachbarabteil steckte und hochmütig das Kinn reckte. »Ich verlange zu erfahren, was hier … Oh-oh! O mein Gott!«

Sie starrte auf den zusammengesunkenen Mann am Boden und keuchte, als bekäme nun auch sie unter dem Korsett keine Luft mehr. Ein neben ihr stehender Gentleman fing sie auf, als sie einfach umkippte.

»Alles in Ordnung, Ma’am?«, fragte er mit amerikanischem Akzent und tätschelte ihr vorsichtig die Wange. »Ma’am?«

Ein wütendes Zischen erhob sich, als der Zug eine Dampfwolke ausstieß und scharf bremste. Ich schwankte erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Die Kronleuchter im Gang über uns klirrten und klimperten wild schaukelnd. Ein Klang, der meinen Puls trotz unserer plötzlich stillstehenden Umgebung in die Höhe trieb.

Thomas kniete sich neben mich, den Blick auf den kürzlich Verschiedenen gerichtet, während er mich mit einer Hand stützte und flüsterte: »Pass auf, Wadsworth. Wer auch immer das getan hat, befindet sich sehr wahrscheinlich mit uns in diesem Gang und lässt uns nicht aus den Augen.«

Eine Schlange, eine geflügelte Schlange und ein Drache, 17. Jahrhundert

4 Etwas Böses

Orientexpress, Königreich Rumänien

1. Dezember 1888

Genau dieser Gedanke war mir auch schon gekommen. Wir befanden uns an Bord eines bis gerade eben noch fahrenden Zugs. Wenn der Mörder nicht zwischen den Waggons abgesprungen und in den Wald geflüchtet war, dann musste er noch hier sein. Lauernd. Vielleicht genoss er sogar das Schauspiel.

Ich stand auf und sah mich um, musterte die Gesichter und prägte mir jedes davon ein. Es waren alte und junge darunter, einige unscheinbar, andere auffällig. Männliche und weibliche. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf eine bestimmte Person – auf einen dunkelhaarigen Mann, der etwa in meinem Alter war. Er trat von einem Bein auf das andere, zog am Kragen seines Jacketts, und sein Blick flackerte zwischen der Leiche und den Umstehenden hin und her.

Er schien drauf und dran zu sein, ebenfalls in Ohnmacht zu fallen. Vielleicht waren es Schuld und Angst, die ihn so nervös machten? Dann hielt er lange genug inne, um meinen Blick zu erwidern, mich geradezu zu durchbohren. Da war etwas in seinen tränenglänzenden Augen, etwas Gehetztes, das meinen Puls schon wieder jagen ließ. Vielleicht kannte er das Opfer zu meinen Füßen.

Ein greller Schrecken durchfuhr mich, als der Schaffner plötzlich einen schrillen Pfiff ausstieß, um die Passagiere zurück in ihre Abteile zu schicken. In der Sekunde, in der ich die Augen schloss, um mich wieder zu fassen, verschwand der nervöse junge Mann einfach. Ich starrte auf die Stelle, an der er gerade eben noch gestanden hatte, und wandte mich schließlich ab. Thomas drehte sich zur Seite, und sein Arm strich leicht über meinen.

Wir standen vor dem Toten, beide schweigend in unsere Gedanken vertieft, während wir die Szene in uns aufnahmen. Ich hielt den Blick auf das Opfer gesenkt. Mein Magen rebellierte.

»Er muss bereits tot gewesen sein, als wir endlich die Abteiltür aufbekommen haben«, kommentierte Thomas. »Kein Arzt der Welt könnte sein Herz wieder zusammenflicken.«

Ich wusste, dass Thomas recht hatte, trotzdem war mir, als ob die Augenlider des Toten zuckten. Ich holte tief Luft, um meinen Kopf frei zu bekommen. Wieder dachte ich an den Zeitungsartikel. »Das Mordopfer in Braşov wurde ebenfalls gepfählt«, sagte ich. »Unwahrscheinlich, dass diese Verbrechen nichts miteinander zu tun haben. Vielleicht war der Mörder aus Braşov unterwegs in eine andere Stadt, konnte dieser Gelegenheit aber einfach nicht widerstehen.«

Doch warum hatte gerade dieser Mann sterben müssen? War er schon als Opfer auserwählt worden, bevor er in den Zug stieg?

Aufmerksam blickte sich Thomas um, seine Miene wirkte berechnend und entschlossen.

Nun, da sich der Gang allmählich leerte, konnte ich den Toten nach Hinweisen absuchen. Ich flehte meinen eigenen Verstand an, mir nur zu zeigen, was wir wirklich vor uns hatten, anstatt mir eine weitere Fantasie über einen Toten zu schicken, der wieder zum Leben erwachte. Seiner äußeren Erscheinung nach konnte das Opfer kaum älter als zwanzig gewesen sein. Was für ein sinnloser Tod. Der Mann war gut gekleidet, trug einen makellosen Anzug und polierte Schuhe. Sein hellbraunes Haar war ordentlich zur Seite gekämmt und gekonnt mit Pomade frisiert.

Neben ihm lag ein Spazierstock mit einem juwelenbesetzten Schlangenkopf, dessen Augen blicklos die noch verbliebenen Passagiere anstarrten, die wiederum seinen ehemaligen Besitzer begafften. Der Spazierstock war auffällig. Und ich erkannte ihn. Mein Herz schlug schwer, als ich den Blick schließlich zum Gesicht des Mannes hob. Ich wankte, stieß gegen die Wand und versuchte, tief und ruhig zu atmen. Bei all dem Chaos war es mir bisher nicht aufgefallen, doch dies war der Mann, den ich vorhin fälschlicherweise für jemand anderen gehalten hatte. Seither konnten kaum zehn, höchstens zwanzig Minuten vergangen sein.

Wie war es möglich, dass er gerade eben noch lebendig und auf dem Weg in den Zigarrenraum gewesen war und nun tot vor meinem Abteil lag? Etwas an ihm erinnerte mich so sehr an …

Ich schloss die Augen, doch die Bilder, die hinter meinen Lidern lauerten, waren noch schlimmer. Also konzentrierte ich mich stattdessen auf die Stichwunde und das nach und nach erkaltende und gerinnende Blut.

»Wadsworth? Was ist los?«

Ich drückte mir eine Hand auf den Bauch, schindete Zeit. »Der Tod ist nie leicht, aber irgendwie ist es … noch viel schrecklicher, wenn ein so junger Mensch stirbt.«

»Es ist nicht nur der Tod, vor dem man sich fürchten muss. Mord ist noch schlimmer.« Thomas musterte mein Gesicht, dann sah er auf den Toten hinab, und seine Züge wurden weicher. »Audrey Rose …«

Rasch wandte ich mich ab, ehe er in Worte fassen konnte, was mir so zusetzte. »Sieh zu, welche Schlussfolgerungen du ziehen kannst, Cresswell. Ich brauche einen Moment für mich.« Aber ich ahnte, dass er mich weiterhin ansah und seine nächsten Worte mit äußerster Vorsicht wählte, und versuchte daher, mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen.

»Geht es dir gut?«

Wir wussten beide, dass er mich das nicht nur wegen des Toten zu meinen Füßen fragte. Ich fürchtete, jeden Moment in die bodenlosen Tiefen meiner Emotionen hinabgeschleudert zu werden. Ich musste die Bilder, die mich Tag und Nacht heimsuchten, unbedingt in den Griff bekommen.

Ich wandte mich ihm zu, sorgsam darauf bedacht, sowohl meine Stimme als auch meine Miene ruhig zu halten. »Natürlich. Ich muss mich bloß etwas sammeln.«

»Audrey Rose.« Er sprach leise. »Du musst nicht …«

»Es ist alles in Ordnung, Thomas. Ich brauchte nur ein wenig Ruhe.«

Er schürzte die Lippen, kam meinem Wunsch, nicht weiter darauf herumzureiten, jedoch nach.

Wieder beugte ich mich hinab, untersuchte die Wunde und ignorierte die verblüffende Ähnlichkeit dieses Mannes mit meinem Bruder. Ich musste mein Gleichgewicht wiederfinden. Diese Tür in meinem Kopf zuschlagen und verriegeln, bis ich meine Untersuchung beendet hatte. Dann konnte ich mich in meinem Abteil einschließen und weinen.

Irgendjemand schnappte hörbar nach Luft, als ich das Hemd des Toten ein Stück weit aufknöpfte, um den Pflock besser in Augenschein nehmen zu können. Pietätlosigkeit war eindeutig verachtungswürdiger als die Missachtung potenzieller Hinweise. Was mich jedoch nicht in angemessener Weise beschämte. Dieser junge Mann hatte etwas Besseres verdient. Ich ignorierte die Leute, die immer noch im Gang standen, und tat so, als befände ich mich ganz allein im Laboratorium meines Onkels, umgeben von Gläsern mit Gewebeproben, die den Geruch von Formaldehyd verströmten. In meiner Vorstellung blinzelten mir die konservierten Tiere mit ihren milchigen toten Augen zu und beurteilten jede meiner Bewegungen.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Konzentrier dich!

Aus der Nähe betrachtet war die Brustwunde des Opfers sogar noch grässlicher. Das Holz war splittrig und erinnerte mich an dornige Brombeerranken. Um den Pflock herum war das Blut bereits getrocknet und fast schwarz. Darüber hinaus fielen mir zwei dunkelrote Blutrinnsale an seinem Mund auf. Nicht sonderlich überraschend. Eine solche Verletzung musste massive innere Blutungen zur Folge haben.

Wenn sein Herz durchbohrt worden war, dann war er vermutlich in seiner eigenen Lebenskraft ertrunken. Eine besonders grauenvolle Art zu sterben.

Ein scharfer Geruch, der nichts mit dem metallischen Aroma des Bluts zu tun hatte, umgab das Opfer. Ich beugte mich vor und versuchte, diesem unangenehmen Odeur auf die Spur zu kommen, während Thomas weiterhin die verbliebenen Passagiere um uns herum musterte. Das Wissen, dass er genauso gut darin war, lebendige Menschen zu lesen, wie ich es bei den Toten konnte, ermutigte mich.

Mein Blick fiel wieder auf die Lippen des Opfers. An einem Mundwinkel blitzte irgendetwas hervor. Bei meiner Liebe zu England, ich hoffte, dass ich mir dies nicht nur einbildete. Beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren und wäre auf den Toten gefallen, als ich mich noch weiter vorbeugte. Da steckte irgendetwas in seinem Mund, offenbar etwas ziemlich Großes und Weißliches. Irgendwie organisch, wurzelähnlich. Wenn ich doch bloß …

»Ladies and Gentlemen!« Der Schaffner hatte beide Hände wie einen Trichter vor den Mund gehoben und rief vom anderen Ende des Gangs herüber. Dem Akzent nach war er Franzose. Was keine große Überraschung war, da der Zug seine Reise in Paris begonnen hatte. »Bitte gehen Sie wieder in Ihre Abteile. Die Männer der königlichen Garde müssen gewährleisten, dass dieser Bereich nicht kontaminiert wird.«

Er warf dem Uniformierten neben sich einen nervösen Blick zu, der seinerseits die Menschenmenge finster musterte, bis schließlich nach und nach alle in ihre Privatabteile zurückkehrten. Wie Schatten, die in die Dunkelheit zurücksanken.

Der Uniformierte schien etwa Mitte zwanzig zu sein. Sein Haar war schwärzer als eine sternenlose Nacht und wirkte wie lackiert. Seine Gesichtszüge waren scharf, nichts als Winkel und Kanten. Obwohl sich seine ausdruckslose Miene nicht veränderte, wirkte er einschüchternd. Er war wie ein gespannter Bogen, bereit, einen tödlichen Pfeil abzuschießen. Ich registrierte harte Muskeln, die sich unter seiner Kleidung abzeichneten, und Schwielen an seinen – schockierend unbedeckten – Händen, als er nun eine davon hob und uns mit einer Geste zu verstehen gab, dass wir verschwinden sollten. Er war eine Waffe, geschmiedet von diesem Königreich und bereit, auf jede vermeintliche Bedrohung losgelassen zu werden.

Thomas beugte sich so weit vor, dass sein Atem über meinen Hals strich. »Offenbar kein Mann vieler Worte. Vielleicht liegt es an der Größe seines … Schwerts, dass er so einschüchternd wirkt.«

»Thomas!«, zischte ich, schockiert über diese Anzüglichkeit.

Er deutete auf die überdimensionierte Waffe, die an der Hüfte des Mannes hing, und mit einem Mal wirkte er amüsiert. Ach so. Meine Wangen glühten, als er tadelnd mit der Zunge schnalzte. »Ich bin hier nicht derjenige mit der schmutzigen Fantasie. Wie skandalös von dir, Wadsworth. Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Der Uniformierte richtete seinen strengen Blick auf Thomas, und für den Bruchteil einer Sekunde weiteten sich seine Augen, ehe seine Miene wieder ausdruckslos wurde.

Ich sah zwischen den beiden Männern hin und her, während sie einander maßen. Zwei Alphawölfe, die sich umkreisten und um die Vorherrschaft in einem neuen Rudel rangen.

Schließlich neigte der Uniformierte leicht den Kopf. Seine Stimme klang tief und dröhnend, wie der Motor einer Dampfmaschine. »Bitte kehren Sie in Ihr Abteil zurück, alteţă.«

Thomas erstarrte. Da ich erst kürzlich damit begonnen hatte, die rumänische Sprache zu studieren, kannte ich dieses Wort nicht und hatte keine Ahnung, ob es einfach »Sir« hieß oder »Sie arroganter Mistkerl«.

Was auch immer es sein mochte, mein Freund verharrte nicht lange in seiner Schreckstarre. Er verschränkte die Arme vor der Brust, als der Uniformierte vortrat. »Ich würde vorschlagen, dass wir lieber hierbleiben und die Leiche untersuchen. Wir sind ziemlich gut darin, den Toten ihre Geheimnisse zu entlocken. Wollen Sie mal sehen?«

Der Blick des Uniformierten glitt träge über mich hinweg, zweifellos in der Annahme, dass eine Frau in einem hübschen Kleid das genaue Gegenteil von nützlich für ihn war. Jedenfalls in allen Aspekten der Wissenschaft und der Detektivarbeit. »Das ist nicht nötig. Sie können gehen.«

Thomas richtete sich zu seiner vollen, eindrücklichen Größe auf und sah auf den jungen Mann hinab. Auch ihm war die Missachtung meiner Person durch den Uniformierten nicht entgangen. Wenn Thomas diese Haltung einnahm, machte er jedes Mal eine herablassende Bemerkung. Ich riskierte eine unangemessene Geste und griff nach seiner Hand. Der Uniformierte verzog leicht den Mund, was mich aber nicht kümmerte.

Wir waren nicht mehr in London, umgeben von Leuten, die uns helfen konnten, falls Thomas mit seiner üblichen Art den Falschen gegen uns aufbrachte. In irgendeiner muffigen rumänischen Gefängniszelle zu landen war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. Schließlich hatte ich mit eigenen Augen gesehen, wie düster es in Bedlam zuging – einer grauenhaften Irrenanstalt in London, deren Name zu einem Synonym für Chaos geworden war –, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, was uns hier erwarten würde. Ich wollte die Toten studieren und keine Liste diverser Rattenarten in irgendeinem gottverlassenen unterirdischen Kerker aufstellen. In dem es sicher auch von Spinnen wimmelte. Bei diesem Gedanken lief mir ein Schauer über den Rücken. Lieber stellte ich mich allen meinen Geistern auf einmal, als mit einer Horde Spinnen in irgendeinem engen, dunklen Ort festzusitzen.

»Komm, Cresswell, wir gehen.«

Die jungen Männer maßen sich noch einen weiteren Moment, ein stummer Machtkampf, der sich nur in ihrer Haltung zeigte. Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt, so lächerlich benahmen sie sich. Ich hatte das männliche Bedürfnis danach, sich ein Stück Land abzustecken und eine Burg darauf zu errichten, um über sein eigenes Reich zu regieren, noch nie verstanden. Dieses ganze Gehabe um jeden Zoll Boden musste doch ermüdend sein.

Endlich gab Thomas nach. »Na gut.« Er sah den Uniformierten argwöhnisch an. »Wie heißen Sie?«

Der Angesprochene schenkte ihm ein grausames Lächeln. »Dăneşti.«

»Ah. Dăneşti. Das erklärt einiges, nicht wahr?«

Thomas machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in seinem eigenen Abteil, womit er mich nicht nur mit meinen Grübeleien über die Leiche vor meiner Tür allein ließ, sondern auch mit der Frage, was es mit dieser seltsamen Stimmung auf sich hatte, die uns gefangen hielt, seitdem wir uns in Rumänien befanden. Wer war dieser bedrohliche junge Mann, und warum hatte sein Name eine solche Wirkung auf Thomas? Zwei weitere Männer der königlichen Garde traten neben Dăneşti, der eindeutig den Oberbefehl hatte. Er bellte einige Anweisungen und deutete mit einer knappen, präzisen Geste auf den Toten.

Was wohl mein Stichwort war, ebenfalls zu gehen. Ich schloss meine Abteiltür hinter mir und blieb abrupt stehen. Mrs Harvey lag ausgestreckt auf einer der Sitzbänke, ihre Brust hob und senkte sich regelmäßig, und sie schien tief und fest zu schlafen. Das war es jedoch nicht, was mich so aus der Fassung gebracht hatte. Auf meinem Platz lag ein zusammengeknülltes Blatt Papier. Ich mochte zwar ab und zu Dinge sehen, die es nicht gab, aber ich war mir dennoch sicher, dass dieses Papier vor dem Leichenfund vor meiner Tür noch nicht dort gelegen hatte.

Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Ich sah mich im Abteil um, doch abgesehen von meiner schlafenden Anstandsdame war niemand hier. Ich weigerte mich, meiner Angst noch mehr Raum zu geben, marschierte zu dem Papier hinüber und faltete es auseinander. Darauf war das Bild eines Drachen zu sehen, dessen Schwanz sich um seinen Hals ringelte. Der Bogen seines Rückgrats formte ein Kreuz, das ich fast für Schuppen gehalten hätte.

Vielleicht hatte Thomas den Drachen gezeichnet. Was mir jedoch sicher aufgefallen wäre. Oder?