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Das großartige Finale der gefeierten Reihe von Kerri Maniscalco USA, 1893: Die berühmte Weltausstellung in Chicago wird durch Berichte von ungeklärten Morden und vermissten Personen getrübt. Audrey Rose und Thomas beginnen mit Ermittlungen, nur um festzustellen, dass sie es dieses Mal mit einem Serienmörder zu tun haben, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen haben. Ihn zu identifizieren ist eine Sache, ihn zu fassen – und lebend aus dem berüchtigten »Murder Hotel« des H.H. Holmes herauszukommen – eine andere. Werden Audrey Rose und Thomas ihr Happy End bekommen, oder wird ihr bisher abgründigster Widersacher ihrem gemeinsamen Glück ein Ende setzen? Bände der Reihe: Stalking Jack the Ripper. Die Spur in den Schatten (Band 1) Hunting Prince Dracula. Die gefährliche Jagd (Band 2) Escaping from Houdini. Mord auf dem Atlantik (Band 3) Capturing the Devil. Der Teufel von Chicago (Band 4)
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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel
© Kerri Maniscalco 2019
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Capturing the Devil«, Jimmy Patterson Books, New York 2019
Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Anita Hirtreiter
Illustrationen/Fotos: Wellcome Collection (Kapitel 7, 10, 22, 23, 36, 37), Shutterstock (Kapitel 1, 2, 11, 29, 42, 51), Public Domain (Kapitel 17, 30, 45, Epilog), Alamy (Kapitel 18)
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Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einem Entwurf von Faceout Studio, Jeff Miller und Derek Thornton / Hachette Book Group, Inc.
Coverabbildung: Carrie Schechter and Shutterstock.com
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat 1
Zitat 2
Zitat 3
Erster Teil
New York City 1889
Abbildung
1
Der Tod kommt schnell
West Washington Market
Meatpacking District, New York City
21. Januar 1889
Abbildung
2
Einer Prinzessin würdig
Dogwood Lane Boutique
Garment District, New York City
21. Januar 1889
3
Zimmer 31
East River Hotel
Lower East Side, New York City
21. Januar 1889
4
Old Shakespeare
East River Hotel
Lower East Side, New York City
21. Januar 1889
5
Ruhelose Vergangenheit
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
21. Januar 1889
Brief
6
Eine brutale Entdeckung
Thomas’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
21. Januar 1889
Abbildung
7
Straße des Elends
Großmamas Salon
Fifth Avenue, New York City
21. Januar 1889
8
Baron of Somerset
Großmamas Salon
Fifth Avenue, New York City
22. Januar 1889
9
Eine verzweifelte Bitte
Großmamas Empfangshalle
Fifth Avenue, New York City
22. Januar 1889
Abbildung
10
Leichenlieferung
Großmamas Hausflur
Fifth Avenue, New York City
22. Januar 1889
Abbildung
11
Totenkopf und Rosen
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
22. Januar 1889
12
Eine Geburtstagsüberraschung
Großmamas Salon
Fifth Avenue, New York City
23. Januar 1889
13
Das Chaos wird entfesselt
Großmamas Esszimmer
Fifth Avenue, New York City
23. Januar 1889
14
Wie man einem Cresswell den Hof macht
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
5. Februar 1889
15
Etwas, das du geben kannst
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
5. Februar 1889
16
Ineinander verschlungene Arme und Beine
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
5. Februar 1889
Abbildung
17
Immer noch auf freiem Fuß
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
6. Februar 1889
Abbildung
18
Mein Schwur an dich
St. Paul’s Chapel
Broadway, New York City
6. Februar 1889
19
Zu tausend Scherben zerschlagen
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
6. Februar 1889
20
Ungünstige Umstände
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
6. Februar 1889
21
Eine unmögliche Situation
Audrey Rose’ Zimmer
Fifth Avenue, New York City
6. Februar 1889
Abbildung
22
Ankunft einer Königin
Großmamas Esszimmer
Fifth Avenue, New York City
7. Februar 1889
Abbildung
23
Namen sind Schall und Rauch
Großmamas privates Wohnzimmer
Fifth Avenue, New York City
7. Februar 1889
24
Eine Studie der Kontraste
Großmamas Empfangshalle
Fifth Avenue, New York City
7. Februar 1889
25
Vivisektion und andere Gräueltaten
Großmamas Studierzimmer
Fifth Avenue, New York City
7. Februar 1889
26
Der Duke of Portland
Großmamas Eingangshalle
Fifth Avenue, New York City
8. Februar 1889
27
Eine schnelle Abreise
Großmamas Salon
Fifth Avenue, New York City
8. Februar 1889
28
Die Genossen des Satans
Großmamas Salon
Fifth Avenue, New York City
8. Februar 1889
Zweiter Teil
Chicago 1889
Zitat
Abbildung
29
Die zweite Stadt
Great Central Depot
Chicago, Illinois
10. Februar 1889
Abbildung
30
Erleuchtung
Court of Honor
World’s Columbian Exposition
10. Februar 1889
31
Das Herrschaftsgebiet des Teufels
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
10. Februar 1889
32
Ein Dorn im Auge
The Devil’s Den
Chicago, Illinois
10. Februar 1889
33
Diese teuflische Jagd
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
11. Februar 1889
34
Gottlose Seelen
Great Central Depot
Chicago, Illinois
12. Februar 1889
35
Dunkle Kreaturen
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
12. Februar 1889
Abbildung
36
Krähenschwarm
South Side
Chicago, Illinois
13. Februar 1889
Abbildung
37
Rastersystem
South Side
Chicago, Illinois
14. Februar 1889
38
Du gehörst mir
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
14. Februar 1889
39
Ein seltsames Verschwinden
1220 Wrightwood Avenue
Chicago, Illinois
15. Februar 1889
40
Vom Traum zum Albtraum
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
15. Februar 1889
41
Gegen die Natur
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
15. Februar 1889
Abbildung
42
Rote Flecken auf der Weißen Stadt
World’s Columbian Exposition
Chicago, Illinois
16. Februar 1889
43
Kalt wie Eis
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
16. Februar 1889
44
Ein Racheengel
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
16. Februar 1889
Abbildung
45
Noch böser als er
Großmamas Anwesen
Chicago, Illinois
16. Februar 1889
46
Gefangenschaft: erste Nacht
Mordschloss
Chicago, Illinois
16. Februar 1889
46
Gefangenschaft: zweite Nacht
Mordschloss
Chicago, Illinois
17. Februar 1889
48
Gefangenschaft: dritte Nacht
Mordschloss
Chicago, Illinois
18. Februar 1889
49
Gefangenschaft: vierte Nacht
Mordschloss
Chicago, Illinois
19. Februar 1889
50
Aus Blut und Knochen
Mordschloss
Chicago, Illinois
19. Februar 1889
Abbildung
51
Satan erscheint
Mordschloss
Chicago, Illinois
19. Februar 1889
52
Himmel oder Hölle
Mordschloss
Chicago, Illinois
19. Februar 1889
53
Ergreifung des Teufels
Mordschloss
Chicago, Illinois
19. Februar 1889
Abbildung
Epilog
Verbrechen des Jahrhunderts
Thomas’ Familienhaus
Bukarest, Rumänien
Ein Jahr später
Zitat
Einladung
Über das Leben, über den Tod hinaus: Meine Liebe zu dir ist ewiglich
Landsitz der Cresswells
Isle of Wight, England
Ein Jahr später
Anmerkung der Autorin
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Liebe*r Leser*in, über das Leben, über den Tod hinaus; meine Liebe zu dir ist ewiglich.
»Gehab dich wohl, mein Brutus, für und für!
Sehn wir uns wieder, lächeln wir gewiß;
Wo nicht, ist wahrlich wohlgetan dies Scheiden.«
William Shakespeare: Julius Caesar (5. Akt, 1. Szene)
»Nun gute Nacht! So süß ist Trennungswehe,
Ich rief wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe.«
William Shakespeare: Romeo und Julia (2. Akt, 2. Szene)
»Unsre Spiele sind nun zu Ende. Diese unsre Schauspieler, wie ich euch vorhin sagte, sind alle Geister, und zerflossen wieder in Luft, in dünne Luft, und so wie diese wesenlose Luftgesichte, so sollen die mit Wolken bekränzte Thürme, die stattlichen Paläste, die feyrlichen Tempel, und diese grosse Erdkugel selbst, und alles was sie in sich faßt, zerschmelzen, und gleich diesem verschwundnen unwesentlichen Schauspiel nicht die mindeste Spur zurücklassen. Wir sind solcher Zeug, woraus Träume gemacht werden, und unser kleines Leben endet sich in einen Schlaf.«
William Shakespeare: Der Sturm (4. Akt, 4. Szene)
New York City, ca. 1889
Ein Schwall kalter Luft hieß mich willkommen, als ich die Tür der Droschke öffnete und auf die Straße stolperte. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem erhobenen Beil. Dunstiges Licht schimmerte wie frisches Blut auf der Schneide und rief mir unweigerlich die jüngst vergangenen Ereignisse in Erinnerung. Manch einer würde von Albträumen sprechen. Etwas, das sich fast wie Hunger anfühlte, erwachte tief in mir, aber ich schluckte dieses Gefühl schnell hinunter.
»Miss Wadsworth?« Der Bedienstete bot mir seinen Arm, während sein Blick zwischen den Menschen in dreckbespritzten Kleidern umherschoss, die sich die West Street hinabdrängelten.
Ich blinzelte. Beinahe hätte ich vergessen, wo ich mich befand und in wessen Begleitung. Obwohl ich nun schon fast zwei Wochen in New York war, erschien es mir immer noch nicht real.
Der Bedienstete leckte sich über die rissigen Lippen und wirkte gehetzt, als er sagte: »Ihr Onkel hat darum gebeten, Sie beide direkt zum …«
»Das bleibt unser kleines Geheimnis, Rhodes.«
Ohne jede weitere Erklärung nahm ich meinen Gehstock und ging los. Ich starrte in trübe schwarze Augen, bis das Blatt schließlich heruntersauste und mit einem holzsplitternden Krachen das Rückenmark am Hals durchtrennte. Der Scharfrichter – ein Mann Anfang zwanzig mit sandfarbenem Haar – zog das Beil mit einem Ruck wieder heraus und wischte die Schneide an seiner blutbefleckten Schürze ab.
Einen kurzen Augenblick erinnerte er mich mit seinen hochgekrempelten Ärmeln und den Schweißperlen auf der Stirn an Onkel Jonathan, wenn er eine Leiche aufgeschnitten hatte. Der Mann legte seine Waffe beiseite, riss den Körper der Ziege nach hinten und trennte den Kopf dabei säuberlich von den Schultern.
Ich ging näher heran und wunderte mich, dass der Kopf des Tieres nicht vom Hackblock herunterrollte, wie ich erwartet hatte. Stattdessen kippte er einfach zur Seite, den Blick starr zum winterlichen Himmel gerichtet. Falls man an ein Leben nach dem Tod glauben wollte, dann befand sich das Tier jetzt hoffentlich an einem besseren Ort. Weit weg von hier.
Meine Aufmerksamkeit wanderte über den Kadaver der Ziege. Sie war bereits woanders getötet und gehäutet worden, ihr nacktes Fleisch eine Karte aus Weiß und Rot, wo sich Fett und Bindegewebe kreuzten und mit zartem Fleisch verbanden. Ich kämpfte den wachsenden Drang nieder, die Namen aller Muskeln und Sehnen aufzusagen.
Schon seit Wochen hatte ich keine Leiche mehr begutachtet.
»Wie appetitlich.« Meine Cousine Liza hatte endlich aufgeholt, hakte sich bei mir unter und zog mich beiseite, als ein Mann einen vollen Jutesack über den Bürgersteig zu einem jungen Lehrling warf. Jetzt, wo ich genauer hinsah, bemerkte ich eine feine Schicht von Sägemehl rings um die Füße des Schlächters. Das war eine gute Methode, um das Blut aufsaugen und wegfegen zu können, eine, die ich dank der Zeit im Labor meines Onkels und der gerichtsmedizinischen Lehranstalt in Rumänien, die ich für kurze Zeit besucht hatte, gut kannte. Mein Onkel war nicht der einzige Wadsworth, dem es Freude bereitete, Tote aufzuschneiden.
Der Schlächter unterbrach das Zerhacken der Ziege lange genug, um lüstern nach uns zu schielen. Ohne Skrupel ließ er seinen Blick über unsere Körper wandern und stieß einen leisen, anerkennenden Pfiff aus. »Ein Korsett kann ich schneller aufbrechen als Knochen.« Er hielt sein Messer hoch und starrte auf meine Brust. »Wie wäre es mit einer kleinen Demonstration, mein Edeltäubchen? Sag nur ein Wort, und ich zeige dir, was ich noch alles mit so einer schönen Figur anstellen kann.«
Liza neben mir erstarrte. Die Leute nannten Frauen mit fragwürdiger Moral oft »Edeltaube«. Doch wenn er dachte, dass ich rot werden und das Weite suchen würde, hatte er sich gewaltig geschnitten.
»Ich befürchte, mein Herr, dass mich das nicht sonderlich beeindruckt.« Beiläufig zog ich ein Skalpell aus meiner Handgelenktasche und genoss das vertraute Gefühl in der Hand. »Wissen Sie, auch ich zerlege tote Körper. Aber ich gebe mich nicht mit Tieren ab. Ich schlachte Menschen. Was halten Sie von einer kleinen Demonstration?«
Irgendetwas musste er in meinem Gesicht gesehen haben, das ihn beunruhigte, denn er machte einen Schritt zurück und hob seine schwieligen Hände. »Schon gut, ich will keinen Ärger. Ich habe doch nur Spaß gemacht.«
»Genau wie ich.« Ich schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln, das ihn erbleichen ließ, während ich die Klinge hin und her wendete. »Ein Jammer, dass Ihnen nicht mehr nach Spielen zumute ist. Obwohl mich das nicht überrascht. Männer wie Sie schneiden oft höchst vollmundig auf, um ihre … Unzulänglichkeiten wettzumachen.«
Liza klappte der Mund auf, dann drehte sie mich rasch in eine andere Richtung. Als unsere Kutsche schließlich ohne uns davonrumpelte, seufzte sie. »Erklär mir bitte, liebste Cousine, wieso wir aus diesem warmen, bequemen Hansom ausgestiegen sind, um …« – sie deutete mit ihrem Parasol auf die Reihe von Metzgerblöcken, an denen jeweils andere Teile von Tieren in braunes Papier eingewickelt wurden – »durch das hier zu laufen. Der Gestank ist einfach nur scheußlich. Und die Gesellschaft ist noch übler. Noch nie in meinem ganzen Leben hat jemand so schändlich mit mir geredet.«
Meine Skepsis gegenüber Letzterem behielt ich für mich. Wir hatten über eine Woche auf einem Ozeandampfer verbracht, auf dem eine für ihre Ausschweifungen berüchtigte Schaustellertruppe herumgetollt war. Fünf Minuten nachdem wir dem Zeremonienmeister vorgestellt worden waren, hatte es keinen Zweifel mehr daran gegeben, was für ein teuflischer junger Mann er war. Auf mehr als nur eine Art.
»Ich wollte das Schlachterviertel eben mit eigenen Augen sehen«, log ich. »Vielleicht inspiriert uns das zu einer Idee für den perfekten Hauptgang. Was hältst du von Ziegenbraten?«
»Meinst du, nachdem wir ihrer Enthauptung beigewohnt haben oder davor?«, fragte sie und sah aus, als müsste sie sich jeden Augenblick übergeben. »Du weißt schon, wozu es Kochbücher gibt, oder? Inspiration ohne die Schweißarbeit. Oder ein Blutbad. Ich wette, du vermisst es, vom Tod umgeben zu sein.«
»Mach dich nicht lächerlich! Wie kommst du nur auf so etwas?«
»Sieh dich um, Audrey Rose. Von allen Bezirken in dieser Stadt wolltest du ausgerechnet hier spazieren gehen.«
Ich riss meinen Blick von einem gerupften Huhn los, das sich in wenigen Sekunden zur zerlegten Ziege gesellen würde. Mit distanzierter Miene ließ ich die Umgebung auf mich wirken. Von vielen der Holzblöcke vor den Geschäften troff das Blut und bespritzte den Boden.
Den vielfarbigen Flecken nach zu urteilen wurde die Straße noch nicht mal sauber gemacht, nachdem den ganzen Tag dort Tiere zerhackt worden waren. Purpurrote und schwarze Adern zogen sich durch die Spalten des Kopfsteinpflasters – Nebenflüsse alter Tode, die von neuen überdeckt wurden. Der Geruch von Kupfer, gemischt mit Fäkalien, stach mir in den Augen und ließ mein Herz höherschlagen.
In dieser Straße konnte man den Tod mit Händen greifen – der Traum eines Mörders.
Liza wich einem Eimer mit von Frost überzogenen Schlachtabfällen aus. Ihr warmer Atem in der kalten Luft sah aus wie der Dampf, der einem kochenden Teekessel entwich. Ich konnte nicht sagen, ob sie die Menge an Gedärmen oder ihr fast gefrorener Zustand mehr anwiderten. Zugleich wunderte ich mich über die Dunkelheit, die in mir aufwallte – jener verborgene Teil, der sich nicht einmal das kleinste bisschen ekelte. Vielleicht brauchte ich ja einfach dringend eine neue Freizeitbeschäftigung.
Oder vielleicht wurde ich tatsächlich langsam süchtig nach Blut.
»Es ist mein Ernst: Lass mich nach einer anderen Droschke rufen. Bei diesem Wetter solltest du überhaupt nicht draußen sein. Du weißt, was Onkel Jonathan über die Kälte gesagt hat. Und sieh doch nur« – Liza deutete auf unsere Füße –, »unsere Schuhe saugen den Schnee auf wie Brotstücke in einer Brühe. Wir holen uns noch den Tod hier draußen.«
Ich blickte nicht zu meinen Füßen hinab. Seit dem Tag, an dem ich ein Messer ins Bein bekommen hatte, konnte ich meine hübschen Lieblingsschuhe nicht mehr tragen. Nun bestand mein Schuhwerk aus steifem, biederem Leder ohne grazilen Absatz. Liza hatte durchaus recht; die eisige Feuchte hatte den Weg durch die Nähte gefunden, die Strümpfe getränkt und sorgte jetzt dafür, dass der beinahe konstante dumpfe Schmerz in meinen Knochen immer stärker wurde.
»Stehen bleiben! Dieb!« Ein Schutzmann blies irgendwo in der Nähe in seine Trillerpfeife, und mehrere Leute brachen aus der Menge aus und stoben auseinander wie durch die Gassen huschende Ratten. Liza und ich wichen an den Straßenrand aus, um nicht ungewollt Opfer fliehender Taschendiebe und Kleinganoven zu werden.
»Ein Spanferkel ist immer gut und dürfte für alle reichen«, erklärte Liza. »Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen.«
»Das ist ja genau das Problem!«
Ich drückte mich enger an die Wand, als ein junger Kerl vorbeirannte, die eine Hand an seiner Zeitungsjungenmütze, in der anderen etwas, das wie eine gestohlene Taschenuhr aussah. Ein Polizist verfolgte ihn, blies in seine Trillerpfeife und wich den Händlern aus.
»Ich kann einfach nicht aufhören, die ganze Zeit darüber nachzudenken. Thomas’ Geburtstag ist in zwei Tagen«, erinnerte ich sie, als hätte ich das in der vergangenen Woche nicht schon hundertmal getan. Das Pfeifen des Schutzmanns und die Rufe entfernten sich, und wir setzten unsere langsame Prozession durch die Reihen der Fleischhacker fort. »Das ist meine erste Abendgesellschaft, und alles soll perfekt sein.«
Mr Thomas Cresswell – mein unausstehlicher und zugleich ausgesprochen charmanter Partner bei der Aufklärung von Verbrechen – und ich waren um das Thema des Umwerbens und einer Heirat herumgetänzelt. Ich hatte eingewilligt, seinen Antrag anzunehmen, wenn er zuerst meinen Vater fragte, und hatte nicht damit gerechnet, dass sich alles so schnell entwickeln würde. Zwar kannten wir einander erst wenige Monate – fünf inzwischen –, doch es fühlte sich richtig an.
Die meisten jungen Frauen meines Stands heirateten erst im Alter von ungefähr einundzwanzig Jahren, aber meine Seele kam mir älter vor, besonders nach den Ereignissen auf der RMS Etruria. Mit meinem Einverständnis schickte Thomas einen Brief an meinen Vater und bat um eine Audienz, um seine Absichten erklären zu dürfen. Mittlerweile war mein Vater zusammen mit Tante Amelia auf dem Weg von London nach New York, und der Zeitpunkt, an dem wir eine offizielle Brautwerbung beginnen würden, gefolgt von einer Verlobung, rückte schnell heran.
Noch vor kurzer Zeit hätte mich bei dem Gedanken, mich an jemand anderen zu binden, das Gefühl überkommen, von unsichtbaren Gittern eingesperrt zu werden, doch jetzt hegte ich die völlig unvernünftige Furcht, irgendetwas könnte mich davon abhalten, Thomas zu heiraten. Er war mir bereits einmal fast genommen worden, und eher würde ich töten, als so etwas noch einmal zuzulassen.
»Außerdem« – ich zog den Brief des Spitzenkochs aus Paris aus meinem Täschchen und wedelte damit vor Lizas Nase herum – »hat Monsieur Escoffier ziemlich großen Wert darauf gelegt, dass nur das allerbeste Fleisch besorgt wird. Und Onkel Jonathan ist nicht derjenige, der sich mit einem steifen Bein abplagen muss«, fügte ich hinzu und stützte mich etwas mehr auf meinen Gehstock. »Das darf ich übernehmen.«
Liza sah aus, als wollte sie mir widersprechen, hielt sich stattdessen aber ein parfümiertes Taschentuch unter die Nase und hob den Blick zu der mechanischen Vorrichtung über uns. Ein Förderband mit Haken daran rauschte an uns vorbei, eine Dauerschleife aus klackenden Rädern und klirrendem Metall. Das Geräusch verstärkte den Lärm der Straße noch, während die Metzger frische Haxen daran hängten. Gedankenverloren sah Liza den abgetrennten Gliedmaßen hinterher, wie sie baumelnd in die Gebäude fuhren, wo sie zweifelsohne noch weiter zerlegt werden würden.
Vermutlich suchte sie nach einem weiteren Grund, warum ich im Haus bleiben und mich ausruhen sollte, aber ich hatte mich mittlerweile beileibe genug ausgeruht. Niemand musste mir sagen, was ich konnte und was nicht mehr so einfach für mich war. Das merkte ich selbst.
Auch wenn es stimmte, dass ich Thomas’ achtzehnten Geburtstag zu etwas Besonderem machen wollte, war das nicht der einzige Grund hinter meiner Besessenheit. Onkel Jonathan hatte mir nicht erlaubt, das Haus meiner Großmutter für längere Zeit zu verlassen, aus Angst, der Zustand meines gebrochenen Beins könnte sich verschlechtern, und ich wurde schier verrückt dabei, untätig herumzusitzen und mich zu langweilen. Für Thomas ein Fest auszurichten war etwas, das ich genauso für mich wie für ihn tat.
Dennoch war ich dankbar, meine Cousine bei mir zu haben. Thomas und sie hatten mir abwechselnd aus meinen Lieblingsbüchern vorgelesen und für mich Klavier gespielt. Sie hatten sogar einige Theaterstücke aufgeführt, zu meinem Vergnügen und Entsetzen gleichermaßen. Während meine Cousine die Stimme einer Nachtigall besaß, war Thomas’ Gesang scheußlich. Eine rollige Katze konnte eine Note besser halten als er. Wenigstens lieferte er damit den Beweis, dass er nicht alles konnte, was mich unendlich freute. Ohne die beiden und meine Romane wäre alles noch viel schlimmer gewesen. Wenn ich zwischen den Seiten eines Buchs auf Abenteuerreise ging, war ich nicht so bedrückt wegen dem, was ich draußen verpasste.
»Das Küchenpersonal deiner Großmutter ist sehr wohl in der Lage, den Anweisungen von Mr Ritz entsprechend einzukaufen. War er nicht derjenige, der Mr Escoffier vorgeschlagen hat? Dieser Art von Szenen sollte man nicht ausgesetzt sein, bevor man zur Kleideranprobe schreitet.« Liza nickte in Richtung einer Ziege, deren Augen gerade herausgehebelt und in eine Schale gelegt wurden, während ihr Bauch aufgeschlitzt wurde, um an die Organe zu kommen. »Egal, wie sehr du an so makabre Dinge gewöhnt bist.«
»Der Tod gehört zum Leben dazu.« Ich deutete mit dem Kinn auf das frische Fleisch. »Bestes Beispiel: Ohne den Tod dieser Ziege würden wir hungern.«
Liza zog die Nase kraus. »Oder wir könnten uns alle daran gewöhnen, bloß noch Pflanzen zu essen.«
»Der Gedanke mag sehr kühn sein, aber auch die Pflanzen müssten für dein Überleben sterben.« Ich ignorierte den schmerzhaften Stich im Bein, als eine besonders eisige Windböe über den Hudson River fegte und uns frontal rammte. Der graue Himmel blähte sich auf und verhieß neuen Schnee. Es kam mir so vor, als würde es seit Wochen nur schneien. Sosehr es mich verdross, musste ich mir eingestehen, dass Onkel Jonathan recht hatte: Ich würde für die Konsequenzen meiner Umtriebigkeit heute Abend bezahlen. »Jedenfalls ist die Anprobe erst in zwanzig Minuten, was uns mehr als genug Zeit lässt, um …«
Ein Mann in einem dunkelbraunen Cutaway und passender Melone sprang beiseite, als sich ein Eimer mit Abfällen von einem Fenster über ihm auf die Straße ergoss, und entging um Haaresbreite einem unwillkommenen Bad. Dabei stieß er heftig gegen mich, und mein Gehstock fiel zu Boden, zusammen mit einer Art Arzttasche, die mit mir vertrauten Utensilien gefüllt war. Ohne sich um seine Tasche zu kümmern, packte er mich fest am Arm, um mich davor zu bewahren, auf unsere Besitztümer zu fallen und mich womöglich an etwas Scharfem aufzuspießen.
Während ich versuchte, meine Balance wiederzufinden, beäugte ich eine recht große Knochensäge, die aus seiner Tasche ragte. Daneben lag eine Art Bauzeichnung. Vielleicht war er ein Arzt, der seine eigene Praxis bauen wollte. Nachdem er sich versichert hatte, dass die Gefahr meines Sturzes gebannt war, ließ er mich los und griff schnell nach seiner Tasche. Er stopfte die medizinischen Utensilien wieder hinein und rollte die Zeichnung auf.
»Bitte untertänigst um Verzeihung, Miss! M-mein Name ist Henry. Ich wollte wirklich nicht … Ich sollte besser aufpassen, wohin ich trete. Mir schwirren nur heute unzählige Dinge im Kopf herum.«
»Ja. Das sollten Sie.« Liza hob meinen Gehstock auf und bedachte den Mann mit einem finsteren Blick, auf den Tante Amelia stolz gewesen wäre. »Wenn Sie uns entschuldigen wollen, wir müssen weiter.«
Der Mann richtete seine Aufmerksamkeit auf meine Cousine und klappte den Mund zu, obwohl ich nicht genau sagen konnte, ob es an ihrer Schönheit oder ihrem Zorn lag.
Sie musterte ihn unverhohlen, während er sich zu sammeln schien. »Nun, Mr Henry«, sagte sie, hakte sich bei mir unter und warf hochmütig den Kopf samt karamellfarbenem Haar in den Nacken, »wir sind spät dran für einen sehr wichtigen Termin.«
»Es war gewiss nicht meine Absicht …«
Liza wartete nicht auf seine Erklärung, sondern führte uns durch das Labyrinth aus Fleischern und Verkäufern, die hellen graugrünen Röcke und den Parasol in der einen Hand, mich an der anderen. Wir bewegten uns in einer Geschwindigkeit, die für mich viel zu schwer zu bewältigen war, bis ich mich schließlich aus ihrem Griff befreien und sie von der West Street lenken konnte.
»Was im Namen der Königin war das denn?«, fragte ich und deutete in Richtung des Mannes, vor dem wir praktisch geflohen waren. »Er hat mich nicht mit Absicht angerempelt, wie du sicher weißt. Und ich glaube, er war sehr angetan von dir. Wenn du nicht so unhöflich gewesen wärst, hätten wir ihn zu unserer Gesellschaft einladen können. Hast du nicht erst gestern gesagt, du hättest gern jemanden, dem du ein bisschen schöne Augen machen kannst?«
»Ja. Habe ich.«
»Aber? Er war höflich, etwas tollpatschig vielleicht, aber harmlos, und er kam mir freundlich vor. Und unansehnlich war er auch nicht. Hast du nichts übrig für dunkelhaarige Männer?«
Liza verdrehte die Augen. »Also schön. Wenn du es unbedingt wissen willst, Henry klingt so ähnlich wie Harry, und ich habe erst einmal genug von Männern, deren Name mit einem H beginnt.«
»Das ist doch absurd.«
»Genauso wie im Januar in einem hellen Kleid durch ein Fleischerviertel zu laufen, aber hörst du, wie ich mich beschwere, liebste Cousine?«
Ich zog die Augenbrauen hoch.
»Na gut, ich kann nicht anders!«, rief sie aus. »Du weißt, wie nervös es mich macht, Mutter wiederzusehen, vor allem, nachdem ich ausgerissen bin und beim Karneval angeheuert habe – ganz kurz.«
Die Erwähnung des Mondscheinkarnevals ließ uns beide in Schweigen verfallen, während wir an all die Magie, all das Unheil und das Durcheinander dachten, das er in gerade einmal neun Tagen an Bord der RMS Etruria in unser Leben gebracht hatte. In dieser Hinsicht hatte der Karneval die Versprechungen auf seinem Werbeplakat erfüllt. Aber trotz aller Scherereien, für die er gesorgt hatte, würde ich für immer dankbar für Mephisto und die Lektion sein, die er mich gelehrt hatte, ob nun absichtlich oder nicht. Am Ende dieser verfluchten Reise hatten sich alle Zweifel, die ich an einer Heirat mit Thomas hatte, in Luft aufgelöst wie bei einem Magier, der eine raffinierte Illusion erschuf.
Gewissheit war ermutigend.
Liza schlang den Mantel enger um sich und deutete mit dem Kopf auf die nächste Straße. »Wir sollten schnell weiter zur Dogwood Lane Boutique«, sagte sie. »Keine Schneiderin, die bei Worth et Bobergh gearbeitet hat, wartet gern. Du willst doch nicht, dass sie ihre Laune an deinem armen Kleid auslässt, oder?«
Ich drehte den Kopf und hoffte, noch einen Blick auf die Metzgergasse zu erhaschen, aber wir hatten die blutbespritzte Straße bereits hinter uns gelassen. Ich holte tief Luft und atmete langsam aus. Dabei fragte ich mich, ob die Langeweile und die Feier für Thomas die einzigen Gründe für meine Faszination für das blutrünstigste Viertel New Yorks waren. Es war eine ganze Weile verstrichen, seit wir an einem Mordfall gearbeitet hatten. Zwei glückliche Wochen ohne Tod und Zerstörung, ohne dass ich Zeugin des Schlimmsten geworden war, was die Welt zu bieten hatte.
Allein das hätte Grund zur Freude sein sollen. Trotzdem machte mir dieses seltsame Gefühl in der Bauchgegend Sorgen.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich es für einen Stich der Enttäuschung halten.
Perlenstickerei und Spitze an Kleidern
Liza nahm meinen Gehstock und lehnte ihn an die mit bourbonischen Lilien bemusterte Tapete des Schneiderateliers, die strahlenden Augen voller romantischer Tagträume. Ich hingegen sah vermutlich aus, als würde ich bald in Ohnmacht fallen. Im kleineren Ankleidezimmer abseits des Hauptateliers herrschte erstickende Hitze. Ein großes Feuer brannte gefährlich nahe an den Ständern mit Kleidern aus Chiffon, Seide und Flor. Vielleicht schmorte ich aber auch wegen der schweren Schichten des extravaganten Kleids vor mich hin, das ich gerade anprobierte. Es wäre auf Thomas’ Geburtstag ein regelrechter Blickfang, solange ich es nicht durch übermäßiges Schwitzen ruinierte. Dekorativer Tand stand auf dem marmornen Kaminsims verteilt, einladend und anheimelnd, wie der größte Teil des Dekors. Eine junge Frau brachte kochend heißen Tee und stellte ihn zusammen mit Scones, Marmelade und Sahne auf einen Beistelltisch. Zwei Champagnerflöten auf einem Silbertablett gesellten sich umgehend zu den Leckereien für uns. Himbeeren schwebten an die Oberfläche und färbten das Getränk fröhlich rosa. Ich schaffte es, den Großteil meines Gewichts auf das unverletzte Bein zu verlagern, auch wenn das ein wenig anstrengend war, weil ich mich darauf konzentrieren musste, dabei nicht zu taumeln.
»Halt endlich still!«, befahl Liza etwas außer Atem und schüttelte die Lagen meiner Röcke auf, so gut sie konnte. Das Kleid hatte eine schöne rote Farbe, und die Röcke waren aus bauschigem Tüll mit einer Deckschicht aus Perlen, die am Korsett ansetzte und wie ein glitzernder Wasserfall aus Kristallen an beiden Seiten herabfiel. Liza zog die Riemchen an meinem Korsett noch etwas enger und bedeckte sie dann mit der rosafarbenen Spitze, die mich an die Blütenblätter einer Pfingstrose erinnerte. »So, jetzt brauchst du nur noch deine Handschuhe.«
Sie reichte sie mir, und ich zog sie langsam bis über die Ellbogen. Ihre Farbe war derart sahnig, dass ich einen Löffel hineintauchen und kosten wollte. Ich stand mit dem Rücken zu einem riesigen Spiegel und kämpfte gegen den Drang, mich umzudrehen und das Ergebnis zu betrachten. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, schüttelte Liza den Kopf.
»Noch nicht. Du musst erst noch die Schuhe anziehen.« Sie eilte ins Nachbarzimmer. »Mademoiselle Philippe, sind die Schläppchen fertig?«
»Oui, Mademoiselle.« Die Schneiderin reichte meiner Cousine eine hübsche petrolfarbene Schachtel mit Seidenschleife und eilte sofort wieder ins Atelier, um ihre Angestellten anzutreiben, andere Kleider mit mehr Perlen oder Tüll zu versehen.
»Da wären wir.« Liza trat mit einem teuflischen Grinsen vor mich. »Dann zeig mir mal deine Füße.«
»Lieber nicht …«
Ich hätte mit ihr diskutiert – meine Schuhe waren in letzter Zeit eher zweckmäßig und klobig als nach meinem Geschmack –, aber als Liza den Deckel anhob und meine neuen Schuhe hochhielt, traten mir Tränen in die Augen. Wenn das überhaupt möglich war, waren sie noch bezaubernder als das Kleid. Es waren flache Schuhe aus Seide, bestickt mit Rosen und verziert mit Edelsteinen. Ihr zartes Rosé war so exquisit, dass ich es kaum erwarten konnte, sie zu tragen. Als ich sie berührte, merkte ich, dass es gar keine Seide war, sondern ein butterweiches Leder, so sanft, dass man praktisch darauf schlafen konnte. Liza stützte mich, während ich hineinschlüpfte. Auch sie bekam feuchte Augen, als ich schwankte und mich noch stärker an ihrer Schulter festhielt.
Ich konnte nicht anders, als zu lachen. »Alles in Ordnung? So schlimm können die Schuhe doch gar nicht sein!«
»Du weißt, dass ich das nicht meine …« Liza schniefte und tätschelte mir den Rücken. »Ich freue mich nur so, dich wieder lachen zu sehen. Ich weiß, wie sehr du deine Lieblingsschuhe vermisst hast.«
Es laut zu hören ließ es so albern erscheinen: den Verlust aufgeputzter Schuhe zu betrauern. Aber ich liebte sie nun mal und hatte geglaubt, ich hätte immer die Wahl, zu tragen, wonach mir der Sinn stand. Ich hob die Röcke, damit ich mein glänzendes Schuhwerk bewundern konnte.
»Du hast den Entwurf ganz wunderbar hinbekommen. Ich wüsste kein einziges Detail, das ich ändern wollen würde.«
»Um ehrlich zu sein« – Liza tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen –, »war das die Idee von Thomas.«
Ich sah scharf auf. »Wie bitte?«
»Er meinte, wenn du fortan keine Schuhe mit Absätzen mehr tragen kannst, gäbe es doch keinen Grund, warum er nicht welche anfertigen lassen sollte, die genauso hübsch sind. Oder sogar noch hübscher.«
Ich starrte sie an, ohne zu blinzeln, als wäre ich begriffsstutzig.
Sie grinste. »Er hat sie selbst entworfen. Er hat sogar noch zusätzliche Polsterung an der Sohle anbringen lassen, um deine Beschwerden zu verringern. Ihm ist aufgefallen, dass du oft das Gesicht verziehst, wenn du aufstehst. Die hier sind nicht nur wunderschön, sondern auch dafür gedacht, deine Schmerzen zu lindern.«
Jetzt blinzelte ich mehrmals und suchte vergebens nach einer angemessenen Antwort, ohne dabei meine hübschen neuen Röcke mit Tränenflecken zu verunglimpfen. Für jemanden ohne Verletzung mochte das bloß eine Kleinigkeit sein, aber für mich war es die Rettung.
»Sie sind so unpraktisch«, sagte ich und besah meine Füße. »Sie werden dreckig werden, und dann sind sie gänzlich ruiniert …«
»Also, was das betrifft …« Thomas kam mit einem Stapel Schuhschachteln im Arm um die Ecke. Er blieb lange genug stehen, um seinen Blick langsam an mir herunterwandern zu lassen. Meine Wangen fingen an zu glühen, und ich tastete unmerklich das Korsett ab, um zu prüfen, ob kleine Dampfwölkchen aufstiegen. Danach trafen sich schließlich unsere Blicke, und er grinste zufrieden. »Ich habe noch ein paar als Reserve machen lassen.«
»Oh … was für eine freudige Überraschung! Woher wusstest du nur, dass wir hier sind?«, rief Liza.
Ich verdrehte die Augen. Meine Cousine konnte fast genauso unterirdisch schauspielern wie Thomas singen. Sie küsste mich auf die Wangen und strahlte Thomas an. Die zwei steckten unter einer Decke und hatten das hier ausgeheckt. Ich hätte sie beide drücken können.
»Ich bin gleich zurück«, sagte Liza. »Ich habe da ein hübsches kleines Abendkleid gesehen, nach dem ich mich erkundigen muss.«
Thomas nickte nur, als sie an ihm vorüberging und sofort ein lautstarkes Gespräch mit der Schneiderin im nächsten Zimmer anfing. »Du siehst atemberaubend aus, Audrey Rose. Hier.« Er stellte die Schachteln auf der Sitzgruppe ab und ergriff meine Hand. Dann drehte er mich um, bis ich in den Spiegel schauen konnte. »Du bist ein Traumbild. Wie fühlst du dich?«
Ich wollte nicht eingebildet klingen, aber als ich mich zum ersten Mal dort stehen sah, in einem Kleid, das einer Prinzessin würdig war, mit Schuhen, entworfen von einem stattlichen und verflucht charmanten Prinzen, hatte ich das Gefühl, den Seiten eines Märchenbuchs entsprungen zu sein. Und dieses Mal war es nicht die Sorte Märchen, in der ich die Rolle der hilflosen Magd spielte. Dieses Märchen handelte von Triumph und Opferbereitschaft. Von Erlösung und Liebe.
»Ich wusste nicht, dass du so ein talentierter Schuster bist, Cresswell.«
Er strich mir nachdenklich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich bin gern bestrebt, meine Fähigkeiten zu erweitern, vor allem, wenn das Resultat ist, dass du …«
»… vor Freude strahlst?«, schlug ich vor.
»Ich hätte eher ›aussiehst, als wolltest du meine Tugendhaftigkeit an Ort und Stelle vernichten‹ gesagt, aber ich schätze, dein Vorschlag ist auch nicht übel.«
Thomas drückte seine Lippen auf meinen Mund. Eigentlich hatte es wohl ein keuscher, freundlicher Kuss werden sollen. Ganz bestimmt hatte er nicht erwartet, dass ich ihn an mich ziehen und den Kuss intensiv erwidern würde. Und ich bezweifelte sehr stark, dass er geplant hatte, mich auf die Arme zu nehmen, die bauschigen Röcke um uns, mich zum Sofa zu tragen und mit Rücksicht auf mein Bein auf seinen Schoß zu setzen. Seine Einschätzung war demnach doch die wahrhaftigere gewesen.
Ich fuhr ihm durch die weichen Locken und gestattete mir ein paar Augenblicke ungetrübter Glückseligkeit. In Momenten wie diesem, wenn ich in seinen Armen lag, vor allen Mördern und Leichen sicher, fand ich Ruhe und Frieden. Er sah mir in die Augen, als würde ich ihm dieselbe Zuflucht bieten, und küsste mich ein weiteres Mal. Als mir wieder einfiel, wo wir uns befanden und dass jederzeit jemand hereinkommen und uns in dieser ungehörigen Situation finden konnte, zwang ich mich, langsam nach hinten zu weichen. Ich legte ihm den Kopf an die Brust und genoss den festen Herzschlag, der im Gleichklang mit meinem pochte.
»Du hast bald Geburtstag, und trotzdem bist du derjenige hier, der mich mit Geschenken überrascht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es eigentlich andersherum sein müsste.«
»Ach? Ich dachte, das Geburtstagskind hat das Recht, sich auszusuchen, wie alles sein soll. Vielleicht willst du ja gleich über mich herfallen, weil ich so unwiderstehlich bin.«
Und so bescheiden. »Danke für die Schuhe, Thomas.« Ich sah den Schachtelstapel an, der inzwischen gefährlich nah am Rand des Sofas schwankte. Thomas fing meinen Blick auf und schob den Stapel wieder auf sicheren Boden. »Für alle. Das war wirklich lieb von dir. Wenn auch vollkommen unnötig.«
»Was dich glücklich macht, ist nie unnötig für mich.« Er hob mein Kinn und küsste mich auf die Nasenspitze. »Wir werden neue Wege finden, wie wir gemeinsam durch die Welt navigieren, Wadsworth. Wenn du keine Absätze mehr tragen kannst, dann entwerfen wir eben flache Schuhe, die dir gefallen. Und wenn auch das nicht mehr funktioniert, dann werde ich einen Rollstuhl anfertigen und nach deinen Wünschen mit Juwelen besetzen lassen. Was auch immer auf der Welt du brauchst, wir werden es passend machen. Und wenn du etwas lieber allein tun möchtest, dann werde ich immer beiseitetreten. Außerdem verspreche ich dir, meine Meinung meistens für mich zu behalten.«
»Meistens?«
Er dachte kurz nach. »Es sei denn, es ist höchst unangemessen. Dann werde ich es dir genüsslich mitteilen.«
Unwillkürlich begann mein Herz zu flattern, und ich wusste, wenn ich dieser Situation nicht schleunigst die Explosivität nahm, dann würde ich ihn jeden Moment zu Boden ringen, und man würde uns nie wieder in diese Boutique lassen. »Achtzehn.« Ich seufzte dramatisch. »Du bist praktisch uralt. Tatsächlich« – ich schnüffelte an ihm und versuchte, mir ein Grinsen zu verbeißen – »glaube ich, dass ich schon die Graberde an dir riechen kann. Widerlich.«
»Du kleines Biest.« Er knabberte an meinem Hals, was mir einen wunderbaren Gänsehautschauer über den Rücken jagte. »Tatsächlich bin ich hier, um dich auf die Bitte deines Onkels hin mit ins Elendsviertel zu nehmen.«
Woraufhin unser warmer Moment ein abruptes Ende fand. Ich musterte seine ernste Miene. Er war in jene kühle Rolle des Wissenschaftlers geschlüpft, die er immer überstreifte, bevor wir eine Leiche untersuchten. Erst jetzt fiel mir seine dunkle Kleidung auf. Der schwarze Mantel und die dazu passenden Lederhandschuhe, die aus seiner Tasche hervorschauten, waren perfekt dafür geeignet, um einen Mordschauplatz zu untersuchen. Mein trügerisches Herz pochte wieder schneller.
»Hat es einen Mord gegeben?«
An seinem Kiefer zuckte ein Muskel, als er nickte.
»Warst du schon am Tatort?«, fragte ich und setzte eine sorgsam neutrale Miene auf.
Er musterte mich sorgfältig, ehe er antwortete. »Ja. Dein Onkel hat mich gerufen, kurz nachdem Liza und du heute Morgen das Haus verlassen habt. Da hatte ich schon geplant, dich hier zu überraschen, aber Liza hat mich gebeten, euch mindestens eine Stunde Vorsprung zu lassen. Also habe ich beschlossen, zuerst zu deinem Onkel zu gehen.«
»Verstehe.«
»Dabei habe ich mich eigentlich nicht sonderlich klar ausgedrückt. Dein Onkel hätte mir beinahe den Kopf abgerissen, als er gesehen hat, dass ich dich nicht mitgebracht habe, und er hat mich sofort wieder losgeschickt.« Er stand auf und streckte mir die Hand hin. »Wollen wir versuchen, einen weiteren grausamen Mord aufzuklären, meine Liebste?«
Eigentlich hätte ich bei diesen Worten keinen aufgeregten Schauer verspüren sollen, doch ich konnte das subtile Prickeln, das mich durchlief, einfach nicht unterdrücken. Als wären meine Adern durch ein Netz feiner elektrischer Leitungen ersetzt worden. Ich sehnte mich fast genauso danach, einen weiteren Mord aufzuklären, wie nach Thomas’ Küssen. Und von denen konnte ich gar nicht genug bekommen.
Ich nahm meinen Gehstock von ihm entgegen und wollte gerade meinen Mantel holen, als Liza mit ernster Miene wieder hereinkam.
»O nein, wenn du glaubst, dass ich dich in diesem Kleid hier rumspazieren lasse, um irgendeinen blutgetränkten Tatort zu untersuchen …« Sie schloss die Augen, als wäre allein die Vorstellung einfach zu viel für sie.
Dann wandte sie sich an Thomas und deutete auf die Tür. Eine Generalin, die ihre aufsässige Truppe kommandierte. »Sie kommt in fünf Minuten in den Hauptraum. Es sei denn, du möchtest, dass sie in alten Lumpen oder in Unterröcken bei deiner Feier auftaucht.«
Thomas öffnete den Mund, wahrscheinlich, um eine ungehörige Bemerkung über meine Unterröcke zu machen, schloss ihn dann jedoch wieder, als ein warnender Ausdruck in Lizas Augen aufblitzte.
»Keine Diskussion. Und jetzt ab mit dir!«
Während Liza und ich Zuflucht im Schneideratelier gesucht hatten, war der Winter dazu übergegangen, in den Straßen Amok zu laufen. Der Himmel, der bereits vorher mit Niederschlag gedroht hatte, entfesselte nun einen tobenden Sturm. Schneeregen platschte auf das Dach unserer Kutsche und hüllte uns in einen Kokon aus eisiger Kälte. Der Wind fuhr heulend durch die Gassen und zwang Passanten dazu, den Kragen hochzuschlagen und, so rasch, wie sie es wagten, die vereisten Gehwege entlangzueilen.
Obwohl ich neue Strümpfe gekauft hatte und eines der wärmeren Paar Schuhe trug, die Thomas für mich hatte anfertigen lassen, begannen meine Zähne aufeinanderzuschlagen. Ich biss sie fest zusammen und versuchte, das Zittern durch reine Sturheit zu unterdrücken.
Was unmöglich war. Schon begannen meine Zähne wieder auf höchst peinliche Art und Weise zu klappern. Thomas musterte mich von der gegenüberliegenden Sitzbank aus, dann legte er prüfend eine Hand an den erwärmten Ziegelstein zu meinen Füßen. Seine Miene wurde grimmig.
»Der muss über dem Feuer neu erhitzt werden«, erklärte er und machte sich daran, seinen Mantel aufzuknöpfen.
Ich sah, dass auch er zitterte, und streckte schnell den Arm aus, um ihn aufzuhalten. »Was ist damit, dass Körperwärme die effektivste Methode ist, Erfrierungen vorzubeugen? Wenn du den Mantel ausziehst, dann wirst du zu Eis erstarren, bevor du mir irgendwie von Nutzen bist.«
Er sah auf, und sofort verflog der Ernst aus seiner Miene. Ich glaubte, Sterne in seinen goldbraunen Augen tanzen zu sehen. »Was denkst du denn, was ich vorhabe?«
»Dir den Mantel ausziehen und ihn um meine Füße wickeln?«
Er schüttelte den Kopf, und in seinem Blick funkelte der Schalk. »Eigentlich wollte ich mich nackt ausziehen und dich auch gleich dazu überreden. So teilt man Körperwärme am besten. Ich habe den Fahrer dafür bezahlt, dass er, wenn nötig, noch ein paarmal um den Block fährt. Vielleicht können wir uns ins Haus deiner Großmutter zurückschleichen, anstatt uns schon wieder an einem Tatort herumzutreiben. Da sie auf Reisen und das Haus daher leer ist, könnte ich bestimmt sehr schnell dafür sorgen, dass dir wieder warm wird.«
Er ließ den Blick über mich wandern, was sich noch glühend heißer anfühlte, als es eine simple Berührung je könnte. Dieser Blick versprach das, was unsere monatelange Flirterei angedeutet hatte. Und es war ihm durchaus ernst damit, dass er all meine Bedürfnisse befriedigen würde. Trotz der stetig sinkenden Temperatur in der Kutsche hätte ich mir am liebsten etwas Luft zugefächelt. Er sah mir wieder in die Augen, und seine Mundwinkel zuckten nach oben.
»Oder vielleicht wärst du ja auch diejenige, die mich aufwärmt. Mir würde beides gefallen, wirklich. Damenwahl.«
Meine Wangen wurden heiß. »Schuft.«
»Ich liebe es, wenn du mir süße Worte ins Ohr flüsterst.« Damit stand er auf und ließ sich neben mich auf die Kutschenbank sinken. Er schlug den Mantel auf einer Seite auf, legte mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. Mir fiel auf, dass jeder Anflug von Verspieltheit in seinem Gesicht schneller dahinschmolz als Schnee in der Sonne, als er wieder aus dem überfrosteten Fenster hinaussah. Was auch immer er zuvor zu Gesicht bekommen hatte, musste schrecklich gewesen sein. Deshalb hatte er keine Details preisgegeben, und deshalb flirtete er auch so unverhohlen mit mir. Er wollte mich ablenken, was für das Opfer nie etwas Gutes verhieß. Wir rumpelten am Catherine Slip vorbei und bogen in die Water Street ein. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«
Ich vergrub die Nase in meinem Mantelkragen und atmete die von meinem Körper erwärmte Luft ein. Die Häuser waren keine leuchtend hellen Kalksteingebäude mehr, sondern von Schmutz und Schlick verdreckte Backsteinbauten. Die Kopfsteinpflasterstraße verwandelte sich in einen schlammigen Weg, der teilweise gefroren war und in mehr als einer Hinsicht tückisch wirkte. Ich sah Gruppen von ausgezehrten Kindern, die sich zwischen den Gebäuden zusammendrängten. Es war ein schlimmer Morgen, um sich draußen aufzuhalten.
Thomas, dem keine Kleinigkeit entging, drückte mich noch enger an sich. »Das sind größtenteils Kinder aus Italien. Entweder sind sie von ihren Familien ausgerissen, oder sie wurden hinausgeworfen, um ihr eigenes Geld zu verdienen.«
Ich hatte einen Kloß im Hals. »Sie sind noch so jung. Wie in aller Welt sollen sie denn an Lohn kommen?«
Thomas wurde ganz still. Zu still für einen jungen Mann, der nur zu gern Informationen über jedes erdenkliche Thema zum Besten gab. Ich bemerkte, dass er auch nicht mit den Fingern seinen üblichen nie endenden Rhythmus trommelte. Wieder richtete ich den Blick aus dem Fenster, und plötzlich wusste ich, was er einfach nicht aussprechen konnte. Diesen Jungen – diesen Kindern – würde keine andere Wahl bleiben, als sich einem Leben als Kriminelle zuzuwenden. Sie würden kämpfen, stehlen und noch Schlimmeres tun, um zu überleben. Und einige von ihnen würden es trotzdem nicht schaffen.
Es war ein Schicksal, das ich nicht mal meinem elendsten Feind wünschen würde, von einem Kind ganz zu schweigen. Auch wenn Thomas mir einmal erklärt hatte, dass die Welt weder gut noch grausam war, konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass sie so vielen gegenüber ungerecht war. Blicklos starrte ich vor mich hin, während wir vorbeifuhren. Ich fühlte mich hilflos.
Keiner von uns sagte ein weiteres Wort, bis wir unser neues Ziel erreicht hatten. Als unsere Kutsche holpernd zum Stehen kam, liefen mir aus einem ganz neuen Grund Gänsehautschauer über den Rücken. Wenn das Fleischerviertel der Traum eines Mörders war, dann stellte dieses Gebäude den Thronsaal des Teufels dar. Von außen wirkte es noch rauer als die Männer und Frauen, die sich dagegenlehnten, und mindestens doppelt so verderbt. Was für ein Gegensatz zum Schneideratelier, das so voller leichtherziger Wärme und Dekadenz gewesen war!
Reporter in schwarzen Mänteln drehten ihre Runden vor der Eingangstür. Sie erinnerten mich an Geier, die über ihrer nächsten Mahlzeit kreisten. Ich warf Thomas einen Blick zu und erkannte den gleichen düsteren Ausdruck in seinen Augen. Offenbar war Mord die neueste Form der Unterhaltung. Jack the Ripper hatte eine Sensationsgier geweckt, die fast ebenso beängstigend war wie die Verbrechen, in denen wir ermittelten.
»Willkommen im East River Hotel«, sagte Thomas leise. »Wir müssen zu Zimmer 31.«
*
Von innen wirkte das Hotel, als wäre es ausschließlich für Ungeziefer bewohnbar. Und wahrscheinlich würden sich sogar die Kakerlaken und Mäuse bald eine besser riechende Unterkunft suchen. Jeder, der auch nur einen einzigen Cent für ein Zimmer hier nahm, sollte auf direktem Weg ins Gefängnis geschickt werden. Ratten huschten unter den Treppen umher und krabbelten in die Wände, ohne Eile und ohne sich von unserer Gegenwart stören zu lassen.
Überall lag ihr Kot herum. Vorsichtig betrat ich die Eingangshalle und versuchte, nicht an die Krankheitserreger zu denken, die an meinem durch den Dreck schleifenden Rocksaum kleben blieben. Vaters Phobie vor ansteckenden Krankheiten war zu einer schwer abzulegenden Angewohnheit geworden. Es war so dunkel hier drin, dass ich das wahre Ausmaß der Verwahrlosung nicht erkennen konnte, auch wenn ich nicht wusste, ob dies nun ein Segen oder ein Unglück war. Die einzige Beleuchtung kam von dem schwachen Tageslicht, das zwischen den Schlitzen im verrottenden Holz im oberen Stockwerk hereinfiel.
Der gräuliche Putz bröckelte von den Wänden, entweder von allein oder weil er der Wut der Gäste zum Opfer gefallen war. Es war schwer zu sagen, ob jemand gegen die Wand geschlagen hatte oder von jemand anderem dagegengerammt worden war. Vielleicht waren beide Szenarien zutreffend. Tapetenstreifen hingen halb abgerissen herab, klammerten sich jedoch stur weiter fest. Die Tapete wirkte so düster wie die gesamte Einrichtung. So dunkel wie die Taten, die wir gleich untersuchen würden.
Ich beging den grässlichen Fehler, wieder nach unten zu sehen, und entdeckte Tropfen getrockneten Bluts. Wenn unser Opfer nicht hier angegriffen worden war, dann musste unser Mörder das Gebäude auf diesem Weg verlassen haben. Unwillkürlich zog sich mein Magen zusammen. Vielleicht war ich doch nicht so erpicht darauf, einen weiteren Todesfall zu untersuchen, wie ich vorhin noch geglaubt hatte. Vielleicht waren ein paar Wochen ohne Sorgen und Zerstörung nicht mal annähernd genug, um sich zu erholen.
Eine dicke Schicht aus Staub und Spinnweben hatte sich in den Ecken gesammelt und verstärkte das ungute Kribbeln noch, das mir über den Rücken lief. Mülleimer hatten Fliegenschwärme und anderes Ungeziefer angelockt, das ich mir lieber nicht zu genau ansehen wollte. Es war ein grauenhafter Ort zum Leben und ein sogar noch schlimmerer Ort zum Sterben.
»Wo lang?«, fragte ich und wandte mich halb meinem Partner zu.
Thomas deutete auf den hinteren Teil des Gebäudes, einen schmalen Korridor entlang. Zu beiden Seiten schienen mehr Zimmer abzugehen, als ich auf einem einzigen Stockwerk für möglich gehalten hätte. Ich hob die Brauen, überrascht, dass es beim Haupteingang offenbar keinen Empfangstresen gab. Merkwürdig für ein Hotel.
Während wir ein paar Schritte weitergingen, fiel mir auch auf, dass die Zimmernummern bei Zwanzig begannen. Ich runzelte die Stirn. »Ist das gar nicht der Haupteingang?«
»Es gibt noch eine Treppe hinter dieser Tür da, die nach unten führt«, sagte Thomas. »Die Leiche befindet sich im letzten Zimmer rechts. Pass auf, wohin du trittst.«
Es war ein merkwürdiger Grundriss, der sich bestens dafür eignete, einen Mörder zu verstecken oder ihm dabei zu helfen, möglichen Zeugen ungesehen zu entkommen. Bevor ich den Korridor betrat, wagte ich einen Blick nach oben, wobei ich Leute entdeckte, die auf uns herabstarrten. Ihre Mienen waren ebenso trostlos wie unsere Umgebung.
Eine Mutter wiegte ein Kind auf der Hüfte, während uns mehrere Jungen und Mädchen mit leeren Augen zusahen. Ich fragte mich, wie oft sie schon miterlebt hatten, dass die Polizei ihr geliehenes Zuhause betrat und eine weitere Leiche hinaustrug wie den Müll vom Vortag.
Ich dachte an meine vorherige Sorge wegen Thomas’ Geburtstagsfest, und Scham überkam mich. Während ich mir wegen Desserts und französischen Delikatessen Gedanken gemacht und den Verlust meiner feinen Schühchen betrauert hatte, kämpften Menschen ein paar Blocks weiter ums nackte Überleben. Ich schluckte gegen meinen Widerwillen an und dachte an die Person, die hier ermordet worden war. Die Welt musste besser werden. Und wenn sie nicht besser werden konnte, dann mussten wir, ihre Bewohner, sie eben besser machen.
Ich sammelte meine Entschlossenheit zusammen und schritt langsam den Korridor entlang, wobei ich meinen Gehstock benutzte, um die knarrenden Dielenbretter zu testen, ehe ich darauf trat, damit ich nicht einfach durchbrach. Vor dem Zimmer stand ein Polizist, und sehr zu meiner Überraschung nickte er uns zu, als Thomas und ich uns näherten. In seinem Blick lag weder Hohn noch Spott. Er betrachtete mich und meine Röcke nicht als unwillkommen, was meinen ersten Eindruck des New York City Police Department positiv stimmte. Zumindest fürs Erste.
»Der Doktor wartet schon auf Sie beide.« Er schob die Tür auf und wich zurück. »Aber Vorsicht. Könnte ein bisschen überfüllt da drin sein.«
»Danke, Sir.« Es gelang mir zwar, das Zimmer zu betreten, aber viel Platz gab es tatsächlich nicht. Thomas trat hinter mir ein, und ich hielt gerade lange genug inne, um mich flüchtig umzusehen. Der Raum war ziemlich karg – ein Bett, ein Nachttisch, eine abgewetzte, blutdurchtränkte Tagesdecke. Tatsächlich war die Bettwäsche nicht das Einzige, was voller Blut war.
Mein Onkel stand über dem schmalen Bettrahmen und deutete auf das Opfer. Mein Puls verlangsamte sich. Für den Bruchteil einer Sekunde kam es mir vor, als wäre ich an den Tatort des Mordes an Miss Mary Jane Kelly versetzt worden. Dies war das letzte Verbrechen des Rippers gewesen und das brutalste. Ich musste gar nicht näher treten, um zu begreifen, dass die Frau praktisch ausgeschlachtet worden war. Sie war vom Hals abwärts vollständig entkleidet, und ihr Körper wies mehrere Stichwunden auf.
Ich fühlte mehr, als ich sah, wie Thomas um mich herumtrat, und wandte mich ihm zu. Dieser Mistkerl hüpfte fast auf der Stelle, und seine Augen leuchteten geradezu!
»Wir haben hier eine Leiche«, flüsterte ich scharf. Es war unglaublich, dass er einfach weitermachen konnte, als befänden wir uns auf einem Nachmittagsspaziergang am Fluss entlang.
Thomas wich zurück, eine Hand auf die Brust gedrückt Sein Blick wanderte von mir zu der Leiche, und seine Augen wurden groß. »Ach, wirklich? Und ich dachte, wir würden auf einen Winterball gehen. Wie dumm, dass ich meinen guten Anzug trage!«
»Sehr witzig.«
»Du sagst doch immer, du magst Männer mit einem großen …«
»Stopp.« Ich hob die Hand. »Ich flehe dich an. Mein Onkel ist hier.«
»Gehirn«, vollendete er den Satz trotzdem und grinste, als mein Gesicht heiß wurde. »Es verblüfft mich immer wieder, welche Richtung dein schmutziger Verstand manchmal einschlägt, Wadsworth. Wir befinden uns an einem Tatort. Ein bisschen Anstand, bitte.«
Ich knirschte mit den Zähnen. »Warum bist du so respektlos?«
»Wenn du es unbedingt wissen willst …«
»Da seid ihr ja!« Mein Onkel sah aus wie ein Mann am Rande eines Wutanfalls. Ich wusste nie, ob der Tod für ihn nun Balsam oder ein Ärgernis war. »Räumen Sie das Zimmer!« Die Polizisten im Raum hielten inne und starrten meinen Onkel an, als hätte er den Verstand verloren. Er wandte sich einem Mann im Anzug zu und hob die Brauen. »Inspector Byrnes? Ich brauche ein paar Augenblicke allein mit meinen Lehrlingen, um den Tatort zu untersuchen. Bitte weisen Sie Ihre Männer an, im Flur zu warten. Halb Manhattan ist schon hier hindurchmarschiert. Wenn der Tatort noch weiter beeinträchtigt wird, können wir Ihnen nicht mehr von sonderlichem Nutzen sein.«
Inspector Byrnes sah von dem Opfer auf und musterte erst meinen Onkel, dann Thomas und mich. Falls er, ein amerikanischer Inspektor, verärgert darüber war, von einem Engländer von seinem eigenen Tatort vertrieben zu werden, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Na gut, Jungs. Geben wir Dr. Wadsworth ein bisschen Zeit. Geht und fragt die Nachbarn, ob sie irgendwas gesehen oder gehört haben. Der Hausmeister behauptet, einen Mann bemerkt zu haben – holt euch eine Beschreibung.« Er blickte meinen Onkel an. »Wie lang liegt sie schon hier?«
Onkel Jonathan zwirbelte die Enden seines blonden Schnurrbarts, während der Blick seiner blassgrünen Augen auf jene emotionslose Art, die er Thomas und mir beigebracht hatte, über die Leiche wanderte. »Höchstens einen halben Tag. Vielleicht kürzer.«
Inspector Byrnes nickte, als würde dies seine Vermutungen bestätigen.
»Die Zeugen sagen, dass sie dieses Zimmer letzte Nacht zwischen halb elf und elf Uhr gemietet hat.«
Wieder musterte mein Onkel die Tote, und sein Blick schien direkt durch sie hindurchzugehen und jenen ruhigen Ort zu erreichen, an dem man mögliche Hinweise entdecken konnte. In London hielt man ihn für herzlos. Die Leute verstanden nicht, dass er sein Herz verhärten musste, um ihnen den Schmerz zu ersparen, nie zu erfahren, was mit ihren Liebsten geschehen war.
»Nach der Autopsie wissen wir mehr«, sagte er und deutete auf seine Arzttasche. »Aber einer ersten Einschätzung zufolge – basierend auf der Ausprägung der Leichenstarre – nehme ich an, dass sie zwischen fünf und sechs Uhr gestorben ist. Auch wenn ich diese Annahme möglicherweise korrigieren muss, sobald wir weitere wissenschaftliche Fakten gesammelt haben.«
Inspector Byrnes hielt in der Tür inne, und sein Gesichtsausdruck gab nichts preis. »Sie haben die Ripper-Morde untersucht.« Es war keine Frage, sondern das Feststellen einer Tatsache.
Mein Onkel zögerte nur einen Moment, bevor er nickte. »Wenn das hier das Werk dieses kranken Bastards ist …«
Inspector Byrnes schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nicht zulassen, dass sich diese Nachricht verbreitet. Ich will keine Panik und keine Aufstände in dieser Stadt. Ich habe es schon mal gesagt, und ich sage es noch einmal – das hier ist nicht London. Wir werden die Sache nicht so verpfuschen wie Scotland Yard. Wir werden einen Verdächtigen – oder den verfluchten Jack the Ripper höchstpersönlich – in sechsunddreißig Stunden oder weniger eingebuchtet haben. Das hier ist New York City. Mit kranken Killern machen wir hier kurzen Prozess.«
»Natürlich, Inspector Byrnes.«
Der Blick meines Onkels huschte zu mir. Er hatte mich nie direkt nach den Ereignissen des vergangenen Novembers gefragt, aber er wusste so gut wie ich, dass Jack the Ripper nicht für diesen Mord verantwortlich sein konnte. Wir wussten etwas, das weder Inspector Byrnes noch sonst irgendjemand ahnte.
Jack the Ripper, die Geißel Londons und der ganzen Welt, war tot.
»Beschreib den Tatort, Audrey Rose.« Onkel Jonathan drückte Thomas ein Notizbuch in die Hand. »Schreib alles auf und fertige auch eine Skizze an, Thomas. Die Inspectors haben die Leiche fotografieren lassen, aber ich will jedes Detail, jeden Fleck auf Papier haben.« Bei jedem weiteren Wort tippte er noch etwas nachdrücklicher auf das Buch. »Wir werden nicht für eine weitere Massenhysterie verantwortlich sein. Habt ihr das verstanden?«
»Ja, Professor.« Thomas tat, was ihm aufgetragen worden war.
Ich rollte die Schultern nach hinten und ließ diese vertraute kühle Ruhe über mich sinken, während ich die Leiche betrachtete und mich davon frei machte, sie mir lebend und wohlauf vorzustellen. Was von dieser Frau noch übrig war, stellte ein Rätsel dar, das gelöst werden musste. Später, nachdem ihr Mörder gefasst war, würde ich mich vielleicht an ihre Menschlichkeit erinnern.
»Das Opfer ist eine Frau von etwa fünfundfünfzig bis sechzig Jahren.« Ich sah mich am Tatort um, und das Blut, das alles überzog, als wäre ein makabrer Regen gefallen, machte mir nun nichts mehr aus. Ein kleiner Holzkübel lag umgekippt auf dem Boden neben meinen Füßen. Dem starken Geruch von Hopfen und Malz nach zu schließen, war Bier darin gewesen. Eine weitere rasche Musterung des Raums legte nahe, dass sie vielleicht schon recht viel getrunken hatte – Alkohol verdünnte das Blut, sodass es nur schwer gerann. Was das Ausmaß des Blutbads erklärte.
»Möglicherweise war sie zu betrunken, um ihren Angreifer abzuwehren.« Ich deutete auf den umgekippten Kübel.
Onkel Jonathan schien – trotz der schauderhaften Szenerie, die uns umgab, sehr zufrieden mit meiner Beobachtung zu sein, und er forderte mich gestisch auf fortzufahren.
Ich beugte mich über die Leiche und ignorierte das Pochen meines Herzens. Sie hatte so schwere Verletzungen davongetragen, dass sie bereits einen üblen Geruch verströmte. Obwohl die Kälte durch die Fensterritzen hereindrang, traf mich der Fäulnisgestank hinten in der Kehle. Rasch schluckte ich gegen die aufsteigende Galle an. Gegend diesen faulig süßlichen Geruch konnte man sich nicht wappnen, und ebenso wenig konnte man ihn vergessen. Der Gestank der menschlichen Verwesung verfolgte mich beinahe genauso wie die Opfer, die wir untersuchten.
»Blutergüsse am Hals weisen auf Strangulation hin.« Ich griff nach dem Kleidungsstück, das ihr Gesicht verhüllte, hielt dann jedoch inne und sah Thomas an. »Bist du mit diesem Teil der Skizze fertig?«
»Fast.« Er wandte sich wieder seinem Notizbuch zu, hielt es hoch und drehte es etwas, um die Szene vor uns mit seiner Zeichnung zu vergleichen. Nachdem er korrigiert hatte, wie der Stoff über sie fiel, sah er auf. »In Ordnung.«
Ohne zu zögern, zog ich den Stoff von ihrem Gesicht, der sich als Kleid erwies, und schob die Augenlider hoch, um nach dem Beweis zu suchen, dass Strangulation tatsächlich die Todesursache war.
»Petechiale Blutungen sind vorhanden. Unser Opfer wurde erwürgt, bevor weitere …« Ich hielt inne, als mein Onkel sie vorsichtig auf die Seite rollte. Mein Blick verfing sich an zwei X, die man ihr in die Pobacken geritzt hatte. Kurz war ich abgelenkt von meinen Beobachtungen. Rasch holte ich Luft. »Bevor weitere schändliche Taten an ihr verübt wurden.«
»Ausgezeichnet.« Mein Onkel beugte sich vor und untersuchte die Leiche nach denselben Hinweisen, dann legte er sie sorgfältig wieder auf den Rücken, genau so, wie sie gefunden worden war. »Was schließt du aus dem Kleid, das über ihr Gesicht gebreitet wurde?«