Kingdom of the Wicked – Die Göttin der Rache - Kerri Maniscalco - E-Book
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Kingdom of the Wicked – Die Göttin der Rache E-Book

Kerri Maniscalco

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Beschreibung

Eine Liebe, mächtiger als das Schicksal ... das atemberaubende Finale der »Kingdom of the Wicked«-Trilogie!

Noch immer ist die junge Hexe Emilia in der Hölle, und muss sich nun den Geistern ihrer Vergangenheit stellen: Sie hat herausgefunden, dass ihre eigene Schwester offenbar ganz und gar nicht die Person ist, für die sie sie gehalten hat. Inmitten von Hexen, Dämonen und Gestaltwandlern muss Emilia schnell mit der neuen Situation zurechtkommen, bevor sie in den Intrigen der Sieben Kreise untergeht. Gleichzeitig sehnt sie sich danach, endlich Wrath, den verführerischen Fürsten des Zorns, ganz für sich zu erobern, mit Herz und Seele. Doch kann der rätselhafte Dämon ihr geben, was sie sich wünscht?

***»Kingdom of the Wicked: Die Göttin der Rache« ist der dritte Band der »Kingdom of the Wicked«-Reihe***

Band 1: Kingdom of the Wicked – Der Fürst des Zorns
Band 2: Kingdom of the Wicked – Die Königin der Hölle
Band 3: Kingdom of the Wicked – Die Göttin der Rache

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Das Zitat nach der Karte stammt aus Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Askanischer Verlag, Berlin 1916.

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel und Julian Müller

© Kerri Maniscalco 2022

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Kingdom of the Feared«, Little, Brown Books for Young Readers, New York 2022

Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Catherine Beck

Karte: Virginia Allyn

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München, Andrea Barth nach einem Entwurf von Hachette Book Group, Inc., 2022

Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock und AdobeStock

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Zitat 1

Zitat 2

Vor zwanzig Jahren

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vertraue auf dein Herz, liebste*r Leser*in. Es wird dich stets führen, wohin du gehen musst.

»Doch schon bewegte Willen und Verlangen

Mir, wie ein gleichbewegtes Rad, die Liebe

Die kreisen macht die Sonne wie die Sterne.«

Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie (Das Paradies)

Einstmals hielt man die Prophezeiung der Gefürchteten, der Feared, für einen Mythos, eine Geschichte über göttliche Vergeltung, die im Laufe der Jahrhunderte weitergegeben worden war. Eine Geschichte, die als Warnung diente vor dem Chaos und der Zerstörung, die Tod und Wut bringen konnten, wenn man sie entfesselte. Eine Geschichte, über die zwei Feinde gründlich hätten nachdenken sollen, bevor sie einander in rasendem Hass verfluchten. In jener schicksalhaften Nacht vermischten sich zwei mächtige Zauber und machten es beiden Seiten unmöglich, die ganze Wahrheit aufzudecken – oder sich auch nur daran zu erinnern. Die Flüche hatten sogar noch größere Auswirkungen, die niemand hätte vorhersehen können. Viele Jahre lang warteten sowohl Dämonen als auch Hexen gespannt auf den Tag, an dem endlich alles enthüllt werden würde. Wenn jene mitternächtliche Stunde kommt, ist es angeraten, sein Heim mit Beifuß und Nektar zu rüsten und um die Gnade der Göttin zu beten.

Aus dem geheimen Grimoire der di Carlos

Vor zwanzig Jahren

Die Ältesten der Hexenzirkel waren sich kaum in irgendetwas einig, abgesehen von zwei Bündnissen, die sie als ihre höchsten Gesetze erachteten: Der Teufel durfte niemals heraufbeschworen werden. Und niemals, unter keinen Umständen, wurden schwarze Spiegel in der Kristallomantie verwendet.

Als eine der besten Seherinnen der Insel glaubte Sofia Santorini daran, dass Regeln manchmal gebrochen werden mussten, besonders, da ihre jüngsten Visionen ihr immer wieder die beunruhigendsten Geschichten ins Ohr wisperten. Dieses unablässige Gemurmel über die gefährliche Prophezeiung, die mit ihrem Fluch in Verbindung stand, hatte Sofia letztendlich dazu bewogen, das erste Buch der Zaubersprüche zu stehlen: das einzige Grimoire, in dem stand, wie man mithilfe von dunkler Magie wahrsagte. Es war durchaus möglich, dass das Schicksal des gesamten Zirkels von ihren Taten abhing, ob sie nun verboten waren oder nicht.

Bei seiner letzten Zusammenkunft hatte der Rat schon nicht mehr ganz so unerbittlich geklungen. Es war nicht nötig gewesen. Sofia hatte die Veränderung der Magie gespürt, so wie Vögel den Wandel der Jahreszeiten spürten und auf die darin liegende Warnung lauschten, davonzufliegen, um zu überleben. Ein gewaltiger Sturm braute sich am Horizont zusammen. Sie hatte keine Flügel, doch selbst wenn, wäre sie niemals ohne ihre Familie geflohen.

Zwei Regeln zu brechen, um möglicherweise Dutzende Hexen zu retten, kam ihr nur richtig vor. Jede Information, die sie über den Fluch gewinnen konnte, bevor die Malvagi oder die Gefürchteten Rache nehmen würden, konnte ihrem Zirkel von Nutzen sein. Was die Ältesten sicherlich verstehen würden.

Sofia legte den schwarzen Spiegel auf den Boden des Todestempels neben das metallbeschlagene Zauberbuch, dann raffte sie ihre Röcke zusammen und kniete davor nieder. Ein Schauer überlief sie, der jedoch nichts mit der Kälte zu tun hatte, die von den Steinen durch den dünnen Musselinstoff ihres Kleids drang. Sie starrte in den verbotenen Spiegel, dessen tintenschwarze Oberfläche sie an das stille Wasser eines Sees erinnerte, in dem sie einmal Frischwasserkiesel für ihre Rituale gesammelt hatte.

Auf diese Oberfläche fiel jedoch kein tröstliches Mondlicht, das ihren Pfad segnete. Tatsächlich schien der Spiegel vielmehr alles Licht zu schlucken, das ihn berührte. Darunter, in seinen unbenannten Tiefen, mochte wer weiß was für ein Dämon lauern, bereit zuzuschlagen.

Sie atmete aus und ließ ihre Furcht mitsamt der Luft hinausströmen. Es war Zeit, das zu tun, weshalb sie hergekommen war, und dann würde sie nach Hause zu ihrer Familie gehen. Sie zog den schlanken Dolch aus der Tasche in ihren Röcken, hielt sich die Spitze an die Fingerkuppe und drückte zu, bis ein Blutstropfen hervorquoll. Rot wie die Augen des Teufels.

Sofia erhob sich und trat an den Altar in der Raummitte. Man praktizierte keine Magie im Tempel einer Göttin, ohne ihr erst Tribut zu zollen.

Zu beiden Seiten des Altars knisterte das Feuer in den Opferschalen, das sie zuvor entzündet hatte. Rauchfäden kringelten sich durch die Luft, als wollten sie Sofia dazu verlocken, die Unterwelt zu betreten. Sie hätte schwören können, dass sie jemand beobachtete, aus den Schatten heraus, abwartend und gespannt, ob sie mutig genug wäre, jene verbotene Grenze zu überschreiten. Sie ließ den Blick durch den stillen Raum schweifen und auf den beiden Menschenschädeln ruhen, die sie aus dem Kloster gestohlen hatte. Dunkle Tage verlangten nach sogar noch dunkleren Mitteln. Sie würde jetzt nicht zaudern.

Sie hielt ihren blutenden Finger über die erste der beiden Opferschalen und sah zu, wie die Blutstropfen in der Hitze der Flammen erst zischelten und dann verdampften. Rasch trat Sofia auf die andere Seite des Altars und wiederholte die Geste mit der zweiten Schale.

Zufrieden damit, dass sie der Göttin genug geopfert hatte, um ihren Schutz zu gewinnen, drehte sie sich wieder zu den Schädeln um und hob sie hoch, ohne auf die blutigen Fingerabdrücke zu achten, die sie auf den Knochen hinterließ. Sie kniete sich ein weiteres Mal hin und stellte die Schädel am nördlichsten und am südlichsten Punkt des Spiegels auf. Dann öffnete sie das Zauberbuch und begann zu skandieren.

Ein paar angespannte Momente lang blieb der Spiegel, wie er war. Dann begann sich Rauch unter der Oberfläche zu kräuseln. Erst langsam, dann immer schneller, wie die Höllenwinde, die, wie sie gehört hatte, durch einige der Höllenkreise heulten und jene armen Seelen verwirrten, die das Unglück hatten, sich dort zu befinden.

»Göttin, beschütze mich.«

Sofia beugte sich tiefer über den Spiegel, begierig darauf, so viel über ihre Feinde zu erfahren, wie sie nur konnte. Jede Information konnte sich als kostbar erweisen, besonders nun, da all ihre Erinnerungen mit jedem verstreichenden Vollmond mehr von dem Fluch verschlungen wurden. Während sie in den Spiegel starrte, öffnete sich ein Fenster zur Unterwelt darin und gewährte ihr den ersten Blick auf das Reich der Dämonen.

»Zeig mir, wie man unseren Fluch brechen kann.«

Der Spiegel pulsierte, als hätte die Magie ihre Bitte zur Kenntnis genommen und eingewilligt, ihr diesen Wunsch zu gewähren. Anstelle des Rauchs flackerten seltsame Bilder über das dunkle Glas, und rasch begriff Sofia, dass ihr durch diese Reihe starrer Bilder eine Geschichte gezeigt wurde. Leise atmete sie auf. Bisher ähnelte dies hier, trotz der verbotenen Magie, die sie gebraucht hatte, ihren sonstigen Visionen.

Die Magie befeuerte die Bilder, bis sie den Spiegel verließen und um sie herumwirbelten, als befände sie sich direkt dort, in jenem Moment, in dem es passiert war. Sie sah einen dunklen Thronsaal, einen zornigen Dämon.

Immer wieder tauchten vertraute Szenen auf, doch irgendwie schien die Magie nicht richtig zu funktionieren. Gewisse Bilder passten nicht zu den Geschichten, die Sofia über die Prophezeiung kannte. Sie sah zu, wie eine Hexe, bei der es sich um die Erste Hexe handeln musste, den Dämon verfluchte. Ihre Wut und ihr Hass waren so mächtig, dass Sofia sie praktisch durch ihre Illusion fühlen konnte.

Als Nächstes sah sie einen merkwürdigen Brunnen voller Kristalle – Erinnerungssteine. Tausende davon. Erneut wechselte die Szenerie abrupt. Dieses Mal sah sie ein kleines Haus über dem Meer. Eine junge Hexe – eine Hexe, die sie nur zu gut kannte – hielt einen Erinnerungsstein in der einen und einen Dolch in der anderen Hand. Auch die Erste Hexe war dort und schien der Hexe den Stein gereicht zu haben, der alles in sich aufnehmen würde, was die Hexe zu vergessen wünschte. Die Bilder verblassten, die Magie war verbraucht.

»Warte!«, rief Sofia.

In dem verzweifelten Wunsch, mehr zu erfahren, packte sie den Schädel, der am Südpunkt stand, und wisperte einen Zauber, der ihn zerbersten ließ und die Knochenscherben über die dunkle Oberfläche fegte, in der Hoffnung, dass der Spiegel sie nutzen würde, um ihr weitere Bilder zu zeigen. Und so geschah es auch. Nur war es wieder nicht das, was sie erwartet hatte. Sofia sah ihre Insel, dann flackerten unvertraute Städte und Zeiten auf, wurden stärker und verdrängten schließlich alles andere. Es musste ein falsches Bild sein.

Doch … wenn dies stimmte, dann war alles, was die Ältesten der Hexenzirkel ihnen erzählt hatten, eine Lüge gewesen. Auch, woher sie kamen.

Es war so grotesk, dass es auf keinen Fall stimmen konnte. Entschlossen, dieses Geheimnis zu ergründen, griff sie nach dem letzten Schädel. Bei diesem waren Rubine in die Augenhöhlen eingelassen worden, ein zusätzliches Geschenk an die Göttin, die über den Tod herrschte. Sofia zerbrach den Schädel und wurde sofort in eine andere Zeit geschleudert, in der dieselbe junge Hexe gerade dabei zu sein schien … Eine Hand legte sich unsanft auf Sofias Schulter und riss sie aus ihrer Vision.

Mit wild klopfendem Herzen blinzelte Sofia, bis sie wieder den Todestempel vor sich sah. Voller Angst davor, was – oder wer – sie aus ihrer Vision gerissen hatte, packte sie ihren Dolch und sprang auf die Füße. Ihr Blick fiel auf die Gestalt, die sie unterbrochen hatte. Sie schlug die Kapuze ihres Mantels zurück und enthüllte ihr ein vertrautes, strenges Gesicht. Erleichtert ließ Sofia Schultern und Klinge sinken. Für den Bruchteil eines erschreckenden Augenblicks hatte sie geglaubt, sie hätte einen Feind heraufbeschworen. »Der Göttin sei Dank, du bist es. Ich habe etwas Unglaubliches erfahren, über unseren Fluch und über unsere Stadt. Ich weiß, wer die Tochter der Ersten Hexe ist, jedenfalls vermute ich es. Du wirst es nicht glauben.«

Sofia war noch immer zu erfüllt von der dunklen Magie, zu erschüttert über die Wahrheit, die sie gerade erfahren hatte, um das gefährliche Funkeln zu bemerken, das in den Blick der anderen Hexe getreten war. »Du auch nicht.«

»Was soll das heißen …«

Mit einem Ruck aus dem Handgelenk und einem harschen Fluch schleuderte die Hexe einen Zauber, der Sofia nach hinten warf. Mit dem Kopf krachte sie gegen den Altar, sah grelle Sterne vor sich aufblitzen und konnte sich einen Moment lang nicht rühren. Bevor sie wieder zu sich kam und ihrerseits einen Schutzzauber wirken konnte, zerbarst Sofias Verstand genau wie der Spiegel, auf den die andere Hexe nun trat und damit die Wahrheit vernichtete, die noch immer über die dunkle Oberfläche tanzte.

Sofia öffnete den Mund, um zu schreien, musste jedoch feststellen, dass sie nicht mehr in der Lage war, einen klaren Satz zu formulieren. Kurz darauf konnte sie nichts mehr sehen außer jener bizarren Bilder, die der Spiegel ihr gezeigt hatte.

Falls sie gerade um Hilfe hatte rufen wollen, wusste sie nicht mehr, warum.

Ohne wirklich etwas zu erkennen, starrte sie die andere Hexe an, die das erste Zauberbuch an sich nahm und langsam durch den Tempel davonging, ohne einen Blick zurück auf ihre Freundin. Die ganze Zeit über wiederholte Sofia leise einen Satz, einen Spruch, einen Segen, ein Flehen.

Oder vielleicht war es auch der Schlüssel zu allem …

»Wie oben, so auch unten.«

Eins

Auf einmal entflammten Kerzen im Schlafgemach von Fürst Wrath.

Obwohl ich mir alle Mühe gab, den Dämon nicht anzulächeln, bogen sich meine verräterischen Lippen wie von selbst nach oben. Der Prinz, dem dies auch von seinem Standort draußen auf dem Balkon nicht entgangen war, richtete den Blick auf meinen Mund, wo er einen Herzschlag länger als nötig verweilte.

Das Lodern in seinen Augen ließ eine ganz andere Art Wärme über mich fließen, und im selben Moment flackerte im Kamin ein Feuer auf, die Flammen zischten und knisterten wie verrückt.

Es war ein willkommenes Gefühl. Besonders nach der Kälte, die zuvor hereingefegt war und sich in meinen Knochen eingenistet hatte. Meine Schwester im Dreimondspiegel zu sehen, hatte etwas Lebenswichtiges in mir zerbrochen.

Etwas, worüber ich im Augenblick jedoch nicht näher nachdenken wollte.

Während ich hier neben Wraths Bett stand, die abgestreifte Tunika zu meinen Füßen, wusste ich, dass es nicht die Sünde war, die ihm seinen Namen gegeben hatte, die das Feuer in seinem Kamin hatte auflodern lassen. Es war kein Zorn, sondern Verlangen, das er zu zügeln versuchte. Die Leidenschaft, die ich in ihm entfacht hatte, als ich ihn wählte – obwohl ich genau wusste, wer er war. Trotzdem hatte ich eingewilligt, seine sündige Königin zu werden. Da er mir meine Seele bereits gestohlen hatte, bot ich ihm nun meinen Körper an. Ohne Spielchen oder magische Bande, die uns zusammenbringen wollten. Ohne einen Gedanken an Vittoria und den Schmerz, der mein Herz jedes Mal zusammenkrampfte, wenn ich an den Verrat meiner Zwillingsschwester dachte.

Selbst jetzt brannten allein beim Gedanken an sie ungeweinte Tränen in meinen Augen, und rasch versuchte ich, meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Wrath würde meinen Schmerz spüren, und diese Unterhaltung wollte ich nicht führen. Diese Sorge konnte warten, bis ich meiner Zwillingsschwester morgen auf den geheimnisvollen Wandelinseln begegnet war und mir angehört hatte, was sie mir sagen wollte.

Bis dahin wollte ich keine weitere Sekunde damit verbringen, mich zu fragen, warum sie ihren Tod vorgetäuscht hatte. Oder wie sie mir so schrecklich hatte wehtun können. Für eine so lange Zeit. Ich hatte Vittoria bereits Monate voller Tränen und Wut gegeben, während ich meinem Weg gefolgt war, um sie zu rächen.

Heute Nacht wollte ich nur Wrath. Samael. Den König der Dämonen. Den gefürchtetsten unter den sieben unsterblichen Prinzen der Hölle. Fürst des Kriegs und der Teufel persönlich. Verführung und fleischgewordene Sünde. Ein Albtraum für die einen, für mich in diesem Moment jedoch ein Traum. Und wenn dieser verfluchte Dämon nicht augenblicklich mit mir ins Bett ging, würde ich selbst die Hölle losbrechen lassen.

»Wollt Ihr die ganze Nacht da draußen stehen bleiben, Euer Majestät?« Ich hob eine Braue, doch Wraths einzige Antwort bestand in einem leichten Verengen seiner Goldaugen. Was für ein stures, misstrauisches Geschöpf. Nur er brachte es fertig, sich zu fragen, warum ich halb nackt neben seinem Bett stand, anstatt einfach seinen niederen sinnlichen Trieben zu gehorchen, wie ich es wollte. »Wenn du noch weitere Beweise für meine Entscheidung brauchst …«

»Emilia.«

Da war etwas in der Art, wie er meinen Namen sagte. Ich wappnete mich für eine Enttäuschung. Sein Ton deutete an, dass wir reden mussten, aber reden war so ungefähr das Schlimmste, was ich mir in diesem Moment vorstellen konnte. Reden würde zu Tränen führen, und dann würde ich mich dem stellen müssen, wie tief es mich getroffen hatte, Vittoria zu sehen. Viel lieber wollte ich mich einfach in Wraths süchtig machenden Küssen verlieren.

»Bitte nicht«, sagte ich leise. »Mir geht es gut. Wirklich.«

Der Dämon wirkte besorgt und ganz und gar nicht überzeugt. Er selbst hatte mir einmal gesagt, dass man etwas wollen, aber niemals brauchen sollte, allerdings empfand ich in diesem Moment sowohl das eine als auch das andere, und es war mir egal, ob das ein Zeichen von Schwäche war. Ich betete darum, dass er mich nicht allein in meine eigenen Gemächer zurückschicken würde. Einsamkeit würde ich nicht ertragen können. Ich brauchte Trost, Verbundenheit. Etwas Frieden, den in diesem Augenblick nur er mir geben konnte.

Die hauchzarten Vorhänge, die seinen Balkon vom Schlafzimmer trennten, wehten in der Winterbrise und schienen ihn dazu verlocken zu wollen, sich zu seiner halb nackten Königin zu gesellen. Es war, als ob dieses Reich selbst wollte, dass wir endlich vereint waren. Das sanfte Licht der Kerzen und die mitternachtsblauen Stoffe des Schlafzimmers strahlten eine stille Sinnlichkeit aus. Es war ein Raum, der wie für leises Wispern gemacht zu sein schien: für zärtliche, ehrfürchtige Worte, geflüstert nah am Mund des anderen. Für das leise Murmeln von Kleidern, die über nackte Haut strichen.

Zwei Dinge, die ich sofort mit diesem Prinzen erleben wollte.

Seiner eigenen Aussage zufolge glaubte Wrath mehr an Taten als an Worte, was ich nicht vergessen und weshalb ich dies hier getan hatte. Reglos blieb er auf dem Balkon stehen und sah mir zu, während ich mich vorbeugte und meine Stiefel abstreifte. Ich wusste nicht, ob er meine Gefühle wegen Vittoria aufgefangen und falsch gedeutet hatte, oder ob er immer noch nicht glaubte, dass ich den nächsten Schritt auf dem Weg unserer Eheschließung gehen wollte.

Dass wir miteinander schliefen, war eine von zwei finalen Handlungen, durch die wir zu Mann und Frau werden würden. Natürlich konnten wir auch miteinander intim sein, ohne dadurch verheiratet zu werden, aber ich wollte unsere Verbindung besiegeln.

Wenn man bedachte, wie wir einander zum ersten Mal begegnet waren – wie ich ihn in Palermo beschworen und versehentlich für alle Ewigkeit an mich gebunden hatte –, und dass wir beide geschworen hatten, einander zu hassen und ganz sicher nicht zu küssen, war durchaus verständlich, warum er zögerte.

Vor ein paar Monaten hatte ich selbst nicht geglaubt, dass etwas wie diese Nacht passieren könnte. Das war, bevor ich mir eingestanden hatte, dass mehr hinter unserer Geschichte steckte. Dass ich so hell für ihn brannte wie die rosagoldenen Feuerblumen, die ich von meinen Fingerspitzen erblühen lassen konnte. Noch etwas, das ich eigentlich für unmöglich gehalten hätte, und ein weiteres Rätsel, das ich ergründen musste, zusammen mit der Wahrheit darüber, wer ich wirklich war. Doch das konnte warten. Das Einzige, woran ich jetzt denken wollte, war, wie ich meinen Dämonenkönig für mich beanspruchen konnte.

Schneeflocken schwebten um ihn herum zu Boden, legten sich federleicht auf sein dunkles Haar und seine breiten Schultern, was er jedoch nicht einmal zu bemerken schien. Die rauen Elemente dieses Winterreichs schienen ihm nie etwas auszumachen, was vielleicht daran lag, dass er selbst eine Naturgewalt war, mit der man rechnen musste.

Ich hielt seinen intensiven Blick, während ich mir die enge Hose über die Hüfte streifte, sie auszog und auf die Tunika fallen ließ. Als Wrath begriff, dass ich keine Unterwäsche trug, stockte ihm sichtlich der Atem. Er ballte die Hände zu Fäusten, und seine Knöchel wurden weiß vor Anstrengung. Nicht gerade die Reaktion, auf die ich gehofft hatte.

Stirnrunzelnd spielte ich noch einmal durch, was wir gerade zueinander gesagt hatten, wobei ich jedes Wort bedachte. Nachdem er mich hereingelegt und zu einem Bluthandel provoziert hatte – um nach meinem Betreten der Unterwelt dafür zu sorgen, dass keiner seiner Brüder die Situation ausnutzen würde –, hatte ich ihn gefragt, ob er mich immer noch als die Seine betrachtete.

Nun, während er nach wie vor stockstarr dort draußen stand und keine Anstalten machte, mir in sein sehr warmes und einladendes Schlafgemach zu folgen, begann ich mir Sorgen zu machen, ich könnte ihn falsch verstanden haben. Er hatte nur geantwortet, dass er keine Zeit bräuchte, um noch einmal darüber nachzudenken. Was streng genommen allerdings nicht bedeutete, dass er mich als die Seine betrachtete.

»Hast du deine Meinung geändert?«, fragte ich.

Wrath musterte mich, seine Miene wirkte verschlossen. »Du wählst mich aus freiem Willen. In dem Wissen, wer ich bin. Zu was ich fähig bin.«

Es waren keine Fragen, aber ich nickte trotzdem. »Ja.«

»Und diese Entscheidung hat nichts mit deiner Schwester zu tun?«

Sorgsam behielt er mich im Blick, und ich wusste, dass er versuchte, auch noch die leiseste meiner Gefühlsregungen aufzufangen. Wrath würde mich nicht mit in sein Bett nehmen, wenn er glaubte, dass mich irgendetwas anderes als mein eigenes Verlangen dorthin trieb. Seit wir einander zum ersten Mal begegnet waren, hatte ich ihm kaum einmal die reine Wahrheit gezeigt, doch ich zeigte sie ihm jetzt. Wenn wir darauf hoffen wollten, jemals einen gemeinsamen Weg zu gehen, dann mussten die Spielchen zwischen uns enden.

»Ich wollte dich in jener Nacht von Gluttonys Fest. Und davor … weißt du noch, als du mich mit deiner Magie wieder nüchtern gemacht hast, während wir eingeübt haben, wie man mit seiner Sünde, der Völlerei, am besten fertig wird? Auch da wollte ich, dass du mich nimmst. Das war beides lange bevor ich Vittoria gesehen habe.« Ich zwang mich, seinen Blick zu halten, um ihm zu beweisen, wie ernst es mir war. »Außerdem habe ich heute Abend begriffen, dass du immer für mich da warst. Bei allem. Deine Methoden waren moralisch betrachtet vielleicht nicht immer einwandfrei, aber mit allem, was du getan hast, wolltest du mir helfen. Ich will dich, und das hat nichts mit irgendjemand anderem zu tun.«

Nach einer langen Pause, während der ich mich schon für eine Zurückweisung wappnete, trat er endlich von seinem Balkon ins Schlafzimmer und schloss langsam die Distanz zwischen uns. Sein Blick wanderte von meinen Augen zu meinem Mund, dann tiefer und über meinen Körper.

Eine gänsehauterregende Wildheit lag in seinen Zügen, während er mich in Gedanken Zoll für Zoll verschlang. Schließlich ließ er den Blick auf jener pochenden Stelle zwischen meinen Schenkeln ruhen, und mit einem Mal verzehrte ich mich geradezu nach ihm. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Brust, was mir bestätigte, dass er meine Lust spürte.

Ich hoffte inständig, er würde zulassen, dass die wilde Bestie in ihm in dieser Nacht zum Vorschein kam. Ich wollte alles erleben, jedes sündige, abweichende Detail, das er sich je erträumt hatte.

Sein Lächeln war ein lustvolles Versprechen, und es verriet mir, dass er mehr als bereit war, mir genau das zu geben.

Obwohl noch die Kälte des Schneesturms an ihm haftete, war mir alles andere als kalt, als er zu mir kam. Sein flammender Blick und die Art, wie er stumm jede Kurve meines Körpers betrachtete, so als würde er sich ausmalen, was er alles damit anstellen würde … fast wäre ich an Ort und Stelle dahingeschmolzen.

»Verrate mir jeden dunklen Wunsch, Emilia« – er hob mein Kinn an – »jede Fantasie, die du wahr werden lassen willst.« Sanft strich er über jene Stelle an meiner Kehle, unter der mein Puls pochte, dann küsste er mich. Es war kaum mehr als ein zartes Streifen seiner Lippen, das mich atemlos und sehnsüchtig zurückließ. Er trat einen Schritt zurück und strich mit beiden Händen über meinen Körper. »Und ich verspreche dir, dass ich dir jede erfüllen werde.«

Ich ließ den Blick über seine erlesenen Kleider schweifen, unter denen sich harte Muskeln verbargen. »Da hätte ich schon ein paar Ideen.«

Die Art, wie er mich ansah, verriet mir, dass auch er die eine oder andere interessante Idee dazu hatte.

In anderen Dingen mochten wir zwar unterschiedlicher Ansicht sein, doch in diesem Punkt waren wir uns glücklicherweise vollkommen einig. Ich zog ihn für einen weiteren Kuss an mich, wollte diesen Moment für alle Ewigkeit festhalten. Schon bald wurde die erst zarte Liebkosung wilder, und keiner von uns wollte noch langsam oder vorsichtig sein. Wut und Leidenschaft trieben uns an, und ich sehnte mich danach, dass unsere erste Vereinigung genauso explosiv wurde wie unser Temperament.

Wenn Wrath beabsichtige, mir jeden dunklen Wunsch, den ich je gehegt hatte, zu erfüllen, war er hoffentlich zu so einigem bereit. Ich biss ihn in die Unterlippe, und mit einem zufriedenen tiefen Brummen tat er es mir nach.

Dann nahm er wieder meinen Mund in Besitz, ein kriegerischer Akt des Kriegsfürsten, und er machte keine Gefangenen. In seinem Kuss lag Besitzanspruch, und ich zahlte es ihm mit gleicher Münze heim. Er gehörte mir. Jeder Zoll seiner sündigen Seele, jedes Pochen seines Herzens gehörte mir.

Ich spürte seine Hände auf meinem Körper, und eine honigsüße Wärme erblühte tief in meinem Bauch und breitete sich mit jedem Streicheln seiner rauen Finger weiter aus. Und ausgerechnet jetzt war er immer noch vollständig angezogen …

Ich zerrte ihm die Anzugjacke herunter und zog am Saum seines Hemds, bevor ich es einfach aufriss. Ich musste ihn sehen, ihn fühlen, Haut an Haut.

Er unterbrach den Kuss, und seine Mundwinkel hoben sich amüsiert. »So langweilig Tugenden auch normalerweise sein mögen, Geduld ist eine, die sich gerade jetzt vielleicht lohnen könnte.«

»In diesem Fall hatte ich eigentlich gehofft, dass du eher auf die Sünden setzt. Wenn ich mich richtig erinnere, hast du mich einmal gefragt, ob ich gern sehen würde, wie sündig du wirklich sein kannst.« Ich ließ den Blick über ihn wandern und verbarg mein Lächeln, als es in seinen Augen aufblitzte. »Ist das schon alles?«

»Soll das eine Herausforderung sein?«

Ich hob eine Schulter, wobei ich genau wusste, was ich tat, und genoss die Reaktion, die es bei ihm hervorrief. Der Beule in seiner Hose nach zu schließen, schien es ihm nichts auszumachen. Verdrehter Dämon. »Und wenn ja, was würdest du dann tun?«

»Ins Bett mit Euch, Mylady.«

Seine Stimme klang sanft, aber sein Befehl hatte nichts Sanftmütiges. Demonstrativ wich ich zurück, bis ich das Bett erreicht hatte und mich dagegenlehnte. Meine Finger sanken in die ebenholzschwarze Tagesdecke, die geschmackvoll über eine Ecke drapiert war. Einmal hatte ich mir ausgemalt, wie sich das Fell auf meiner nackten Haut wohl anfühlte.

Gleich würde ich es herausfinden.

Wrath ruckte mit dem Kinn, was besagte, dass er mich auf dem Bett haben wollte, nicht nur dagegengelehnt. Mit erwartungsvoll klopfendem Herzen setzte ich mich auf die Matratze und rutschte bis in die Mitte des gewaltigen Betts, wobei ich ein wohliges Seufzen unterdrücken musste, als das weiche Fell den kühlen Seidenlaken wich. Es fühlte sich noch besser an, als ich es mir vorgestellt hatte. Luxus und Dekadenz gemischt mit etwas Wildem und Ungezähmtem.

Ganz so wie der Herr dieses Hauses der Sünde selbst.

Wrath knöpfte seine Hose auf, wobei er meinen Blick festhielt. Eine Herausforderung, um zu sehen, ob ich wirklich bereit für das war, was nun kommen würde. Seine Hose fiel zu Boden und enthüllte ihn. Hart, einschüchternd und verlockend. Bereit, mich in Besitz zu nehmen.

Ich biss mir auf die Unterlippe, fast überwältigt von meiner Lust, während ich seinen Anblick in mich aufsog. Göttin im Himmel, er war atemberaubend. Langsam ließ ich den Blick von seiner stolzen Erregung über den Rest des Körpers wandern. Über ein Meter achtzig reine Muskeln und bronzefarbene Haut, die vor Lebenskraft zu schimmern schien. Er war eine Studie maskuliner Macht, gepaart mit rauer Schönheit.

Er trat vor, und ich sah von der metallisch glänzenden Schlange an seinem Arm zu der Tätowierung an seinem linken Oberschenkel – ein nach unten weisender Dolch mit rosenverzierter Klinge.

Das geometrische Muster am Griff konnte ich nicht richtig erkennen, und als Wrath den Griff seiner tätowierten Hand um seine Männlichkeit schloss und langsam auf und ab strich, verließ mich ohnehin jeder bewusste Gedanke. Der Dämon versetzte mir einen selbstzufriedenen Blick, als wüsste er genau, was er mit seiner verführerischen, aufreizenden Geste anrichtete. Göttin, verfluche ihn. Ich wollte meine Hand statt seiner dort haben. Noch besser, ich wollte ihn mit meinem …

Ein brutaler Knall zerriss die Luft wie die Peitsche eines wütenden Gotts, und Wraths Schlafgemach verschwand – zusammen mit dem Dämon, dem es gehörte. Stattdessen befand ich mich in einem leeren, kalten und lichtlosen Raum.

Es war ein so drastischer Schnitt, dass ich erst nicht begriff, dass es wirklich geschehen war. Ich blinzelte schnell, um meine Augen an die plötzliche Finsternis zu gewöhnen. Schatten huschten in diesem, wie ich spürte, kleinen Raum umher und schienen sich wie im Rausch umeinanderzuwinden.

Als ich die beißend kalte Luft wahrnahm, überlief eine Gänsehaut meine Arme.

Das hier musste eine weitere bizarre Illusion sein. Davon hatte ich schon so einige erlebt, wenn auch keine andere so lebensecht gewesen war wie diese hier. Sie schienen immer dann auf den Plan zu treten, wenn Wrath und ich uns in romantischer Hinsicht näherkamen, also war das vermutlich auch dieses Mal die Ursache. Ich verfluchte den unpassenden Zeitpunkt dieser ungewollten Unterbrechung und die Tatsache, dass eine fremde Vergangenheit mich aus meiner herrlichen Gegenwart gerissen hatte.

Als ich mir jedoch die Schläfen reiben wollte, musste ich feststellen, dass ich meine Hände nicht bewegen konnte. Ruckartig sah ich nach oben und erkannte, dass sich ein paar Handschellen fest um meine Handgelenke geschlungen hatte. Ich zog daran, aber sie waren hoch über mir an der Decke festgeschraubt. Bei jeder Bewegung klirrten die Ketten, was weiter an meiner rasch nachlassenden Nervenstärke zerrte. Bei Blut und Knochen. Ich senkte den Blick wieder. In dieser Vision war ich ebenso nackt wie in meiner derzeitigen Realität. Na, wunderbar. Ich hatte einen Traum verlassen, um mich in einem typischen Albtraum wiederzufinden.

Ich seufzte tief, und mein Atem bildete kleine weiße Wolken in der Luft, dann erstarrte ich. Wie merkwürdig. Im Gegensatz zu den anderen Illusionen schien ich in dieser hier eine aktive Rolle einnehmen zu können. Es war nicht, als wäre ich in eine Erinnerung getreten oder würde die Vergangenheit aus einer fremden Perspektive betrachten. Meine Augen wurden schmal.

Wenn dies hier weder eine Illusion noch eine Erinnerung war …

»Was bei allen sieben Höllen ist hier los?« Das unverwechselbare Kratzen von Stiefeln über Stein jagte meinen Puls in die Höhe, und mit einem Mal packte mich die Angst. »Wrath?«

Irgendwo in meiner Nähe wurde ein Streichholz angerissen, und dem Zischeln folgte der Geruch nach Schwefel. Eine kleine Flamme flackerte am anderen Ende des Raums auf, eine Kerze, doch derjenige, der sie entzündet hatte, schien auf magische Weise verschwunden zu sein. Wieder ruckte ich an meinen Ketten, zog so stark daran, wie ich konnte, aber sie gaben keinen Zoll nach. Wenn ich mir nicht die Hände abreißen wollte, würde ich wohl erst entkommen, wenn mich mein Entführer freiließ.

Um meine wachsende Panik zurückzudrängen, spähte ich ins Halbdunkel und versuchte, einen Hinweis auf meinen Aufenthaltsort oder meinen Entführer zu erhaschen. Ich befand mich in einer Steinkammer und war in einer Art Alkoven angekettet.

Mitten im Hauptraum stand ein Altar, der aus dem gleichen hellen Stein gemeißelt zu sein schien, aus dem auch die Wände und die Decke bestanden. Stroh und getrocknete Kräuter bedeckten den Boden. Fast wie in dem Kloster zu Hause, wo meine Freundin Claudia die Toten hergerichtet hatte, aber nicht ganz.

Der Gedanke an diese Kammer brachte Erinnerungen an die unsichtbaren Söldnerspione zurück, die mich einmal dort heimgesucht hatten. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit ich den Umbra zuletzt begegnet war, und ich musste einen Schauer niederringen. Wenn ich nie wieder einen dieser grässlichen Dämonen zu Gesicht bekam, würde ich ein gutes, glückliches Leben geführt haben.

»Wer du auch bist, zeig dich.«

Ich zerrte an meinen Ketten, das Echo des metallischen Klirrens war die einzige Antwort, die ich bekam, obwohl ich hätte schwören können, dass ich in meiner Nähe jemanden leise atmen hörte. Ich sah zwar keine fremden Atemwolken, was aber nicht zwingend bedeutete, dass ich allein war. Wrath würde mir einen solchen Streich niemals spielen, besonders nicht, wenn man bedachte, was wir gerade hatten tun wollen. Ein skurriles dämonisches Vorspiel war dies also nicht.

Ich gab mich prahlerischer, als ich mich fühlte. »Du hast also Angst, mit mir zu sprechen, obwohl ich gefesselt bin?«

»Ich habe keine Angst«, kam eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit. Ich hörte einen Akzent heraus.

Mir stockte der Atem. Ich kannte diese Stimme, konnte sie aber nicht zuordnen. Anir – Wraths menschlicher Stellvertreter – war es nicht, und auch keiner seiner prinzlichen Dämonenbrüder. Dieser Akzent stammte von meiner Insel in der Welt der Sterblichen. Da war ich mir sicher.

»Wenn du keine Angst hast, dann hast du auch keinen Grund, dich vor mir zu verstecken.«

»Ich warte auf weitere Anweisungen.«

»Von wem?« Stille breitete sich ungemütlich zwischen uns aus. Es war schwer, Autorität vorzutäuschen, wenn man nackt und in Ketten gelegt war und es mit einem unsichtbaren Entführer zu tun hatte, aber ich versuchte es trotzdem. »Wer auch immer dein Herr ist, er wird wahrscheinlich bald hier sein. Kein Grund für Geheimnistuerei.«

»Meinetwegen musst du dir keine Sorgen machen.«

Eine Phrase, die vermutlich jeder Verbrecher und Mörder zu seinem Opfer sagte, kurz bevor er ihm die Kehle durchschnitt. Ich schluckte schwer. Ich musste ihn am Reden halten und herausfinden, wer er war. Und wie ich inzwischen wusste, war es äußerst effektiv, jemanden wütend zu machen, wenn man ihm gegen seinen Willen eine Reaktion entlocken wollte. Wrath und ich hatten diese Taktik im Laufe der vergangenen Monate aneinander ausprobiert, und in diesem Moment hätte ich ihn für diese Ausbildung küssen können.

»Hat dir dein Herr befohlen, im Schatten zu bleiben?«

»Nein.«

»Hmm. Verstehe.«

»Was?«

»Du bist also einfach nur ein Perverser, der es genießt, seine Opfer zu beobachten, während du weißt, dass sie dich wiederum nicht sehen können. Fasst du dich gerade selbst an? Stellst du dir vor, wie sich meine Haut anfühlt, während du über deine eigene streichelst? Warum kommst du nicht näher?« Damit ich dir so fest in die Eier treten kann, dass du sie ausspuckst. Vor mir erschien ein Mann mit wutverzerrtem Gesicht. Eindeutig kein Dämon, was aber wenig tröstlich war. Scharf schnappte ich nach Luft. »Domenico Nucci.«

Der junge Mann, der mit seiner Familie Arancini in Palermo verkaufte, starrte mich mit loderndem Blick an. Tödlich scharfe Krallen schossen aus seinen Fingerspitzen und zogen sich dann wieder zurück, wodurch ich daran erinnert wurde, dass er ebenso wenig ein Mensch war wie ich. Fast hätte ich vergessen, dass der Mann, von dem ich geglaubt hatte, er würde meiner Schwester heimlich den Hof machen, ein Gestaltwandler war. Genauer gesagt ein Werwolf. Bestenfalls temperamentvolle Kreaturen, und nach dem, was ich von seinem Vater wusste, hatte ich soeben einen Werwolf provoziert, bei dem die Verwandlungen gerade erst eingesetzt hatten. Ich hatte keine Ahnung, wie gut er seinen Wolf im Griff hatte, schätzte aber, dass es nicht besonders gut war.

Domenicos Augen – die normalerweise einen warmen Braunton aufwiesen – glühten in einem unirdischen blassen Violett und nahmen mich eindeutig ins Visier, was meinen Verdacht bestätigte. Er war drauf und dran, sich zu verwandeln.

Ich hielt den Atem an und wartete auf einen tödlichen Angriff. Mit zusammengebissenen Zähnen schien er gegen den Drang anzukämpfen, näher zu kommen, und die Wut strahlte in Wellen von ihm ab, als wäre er eine zornige Sonne. Der Wolf atmete ein paarmal tief durch, rollte mit den Schultern und durchbrach damit die wachsende Anspannung. Auf einen Wink seiner halb zu einer Klaue geformten Hand hin lösten sich ein paar der Schatten aus dem sich windenden Knäuel und schlossen sich um meinen Körper zu einer Art Morgenmantel zusammen.

»Wo sind wir?«, fragte ich, ohne auf das seltsame Kleidungsstück zu achten, das sich auf meine Haut legte. Oder auf die Tatsache, dass der Werwolf es mit kaum mehr als einem geflüsterten Wort heraufbeschworen hatte.

»Im Schattenreich.«

Stumm verarbeitete ich diese Information. Während wir aufgewachsen waren, hatte uns Nonna Maria von den Gestaltwandlern erzählt, und von ein paar anderen magischen Kreaturen. Den Geschichten meiner Großmutter zufolge führten die Werwölfe im Geisterreich – was er vermutlich mit Schattenreich meinte – Krieg gegen die Dämonen.

Ich hatte mir das Geisterreich immer vorgestellt wie eine Welt, in der Gespenster durch Wände gingen, ätherisch und beklemmend, wie sie in Schauerromanen immer dargestellt wurden. Das hier war etwas ganz anderes als in meiner Vorstellung. Domenico war durch und durch körperlich, und ich fühlte eindeutig das Gewicht der eiskalten Handschellen, die in meine Haut schnitten.

Außerdem spürte ich noch etwas, das vorher nicht da gewesen war: das leise Sirren der Magie in dem Metall. Dies hier waren keine gewöhnlichen Fesseln, sie waren verzaubert, um meine eigenen Kräfte in Schach zu halten.

Unauffällig versuchte ich, in die Quelle meiner Magie zu tauchen, doch genau wie ich erwartet hatte, stieß ich gegen eine Mauer, die mich daran hinderte, das Feuer heraufzubeschwören.

Ich hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, wer Domenico seine Befehle erteilte, und ich wollte nicht, dass meine Magie bei dieser Begegnung gebunden war. Ich sah meinen Entführer an. Noch nie hatte ich gehört, dass Wölfe irgendjemanden mit in die Geisterwelt nahmen, und bis jetzt hätte ich nicht gedacht, dass das überhaupt möglich war, besonders nicht, wenn es sich um einen noch so jungen Werwolf handelte. Domenico musste sehr mächtig sein. Ein zukünftiges Alphamännchen.

»Befindet sich mein physischer Körper immer noch in den Sieben Kreisen?«, fragte ich.

Domenico sah mich an, und sein Blick verlor etwas von dem Leuchten der Wandler. »Ja.«

Ich wusste zwar nicht, wie das möglich war, doch die Miene des Wolfs verriet mir, dass er keine weiteren Fragen beantworten würde. Da mir bewusst war, wie gefährlich er sein würde, wenn er sich vollständig in einen Wolf verwandelte, ließ ich das Thema fallen. Die Information, die ich wirklich wollte, hatte er mir ohnehin schon gegeben.

Mein Körper befand sich noch in Wraths Schlafgemach, und der Dämon suchte zweifellos in diesem Moment nach einem Weg, um mich zurückzuholen. Wenn ich nicht auf eigene Faust entkommen konnte, dann musste ich einfach nur abwarten, bis er kam, um meine Seele zu retten und seine Macht über meine Entführer hereinbrechen zu lassen. Jeder, der dumm genug war, seine zukünftige Braut in seinem eigenen Königshaus anzugreifen, würde seine namensgebende Sünde zu spüren bekommen. Fast hätte ich gelächelt bei der Vorstellung des Blutbads, mit dem er der Gerechtigkeit Gültigkeit verleihen würde, aber ich fing mich gerade noch rechtzeitig.

»Es ist eiskalt hier.«

»Nicht für mich.«

Ich wollte mir über die Arme reiben und die Wärme in meinen Nichtkörper zurückzwingen, aber in Ketten ging das nicht. Domenico behielt mich im Blick, und ein bedrohliches Glühen trat in seine Augen. Eine falsche Bewegung, und seine Reißzähne würden sich um meine Kehle schließen, gleichgültig, wie seine Befehle lauteten. Er war viel unberechenbarer als bei unserer ersten Begegnung, was wahrscheinlich an den Verwandlungen lag. Ich hatte gehört, dass junge Wölfe manchmal Jahre brauchten, um wirklich erwachsen zu werden.

Da ich sein stummes Starren jedoch nicht länger ertrug, räusperte ich mich. »Als ich dich nach dem ›Mord‹ an Vittoria im Kloster gesehen habe, dachte ich, du würdest für sie beten. Später habe ich herausgefunden, dass du dort warst, weil du dich zum ersten Mal verwandelt hattest. Hattest du vorher wirklich keine Ahnung, was du bist?«

An seinem Kiefer zuckte ein Muskel. »Weißt du denn, was du bist, Emilia?«

Mir war nicht entgangen, dass er ›was‹ und nicht ›wer‹ gesagt hatte. In diesem Punkt hatte ich so meine Vermutungen, aber das musste er ja nicht wissen.

»Ich weiß, dass ich deine Gefangene bin. Ich weiß, dass Wrath dich jagen und fangen und dir Arme und Beine einzeln ausreißen wird, wenn mir etwas zustößt.« Ich lächelte. Ein böses, grausames Verziehen der Lippen. Der Wolf schien zu begreifen, dass er mich vielleicht in Ketten gelegt und meine Magie gefesselt hatte, dass er aber durchaus nicht das einzige Raubtier im Raum war. »Es gibt kein Reich, in dem du dich verstecken kannst, er findet dich. Das heißt, wenn ich dich nicht zuerst finde. Von uns beiden ist er der Gnädigere. Denk daran.«

»Aber, aber, Schwester.«

Auch wenn ich sie fast erwartet hatte, zog sich mein Herz beim Klang der Stimme meiner Schwester schmerzhaft zusammen. Mein Blick schoss zur anderen Seite der Kammer, und ich erkannte sie sofort.

Vittoria glitt durch den kleinen Raum wie ein Geist der Vergangenheit. Sie trug ein langes weißes Kleid, das in einer Phantombrise hinter ihr herwehte. Ihre Gegenwart hatte etwas Traumähnliches, aber sie war genauso echt wie Domenico und ich. Sorgfältig betrachtete ich sie, suchte nach einer Verletzung, obwohl ich wusste, dass sie es war, die den Werwolf befehligte, nicht andersherum.

Tränen brannten in meinen Augen, während sich die Wahrheit in meinen Verstand senkte. Meine Schwester war wirklich hier. Lebendig. Es war schwer zu glauben, dass ich erst vor ein, zwei Stunden erfahren hatte, dass sie nicht tot war. Trotz ihres Betrugs wollte ich sie in die Arme schließen und nie wieder gehen lassen.

Dies hier war ein von der Göttin gesegnetes Wunder.

»Vittoria.«

Es war kaum mehr als ein Wispern, doch beim Klang meiner Stimme erschien ein vertrautes spitzbübisches Lächeln auf ihrem Gesicht. Wären da nicht die Ketten gewesen, wäre ich auf die Knie gesunken. Sie im Dreimondspiegel zu sehen war etwas ganz anderes gewesen, als sie nun hier vor mir zu haben. Es war überwältigend. Mir fehlten die Worte, während meine Schwester langsam näher kam und mich neugierig betrachtete.

»Dann lassen wir dich mal frei und sehen, was für Tricks du gelernt hast.« Ihre Lavendelaugen funkelten und riefen mir in Erinnerung, dass sie sich vollkommen verändert hatte. Dies war nicht das Mädchen mit den braunen Augen, die meinen eigenen so ähnlich waren. Die junge Frau, die so gern ihre eigenen Tränke gemischt und Parfums hergestellt hatte. Diese Fremde war jemand ganz anderes. Die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. »Die Göttin weiß, dass ich dir selbst auch ein bisschen etwas zu zeigen habe. Wandler?«

Mit übernatürlicher Geschwindigkeit war Domenico bei mir, packte mich an den Haaren und riss meinen Kopf zur Seite. Er drückte die Nase an meinen Hals und sog tief meinen Geruch ein, vermutlich, um ihn sich einzuprägen, falls ich einen Fluchtversuch unternehmen sollte. Ich zuckte vor dem plötzlichen Schmerz zurück, schaffte es aber, jeden Schreckenslaut zu unterdrücken.

Er knurrte, und als er den Mund nah an mein Ohr brachte, klang es ganz und gar unmenschlich. »Wenn du irgendetwas versuchst, dann reiße ich dir mehr heraus als nur dein menschliches Herz, Schattenhexe.«

»Aus, Welpe.« Vittoria schnalzte mit der Zunge. »Sei nicht so grob. Noch nicht.«

Bevor ich den Stich verarbeiten konnte, den mir diese Bemerkung versetzte, oder mich fragen konnte, wie grob es denn noch werden sollten, stieß mich Domenico von sich, und mit einem nachlässigen Wink seiner Hand klickten die Handschellen und sprangen auf. Klirrend landeten meine Fesseln auf dem Boden. Ein unheilvoller Laut, wie das Zischen eines Henkersbeils, das auf den Verurteilten niedersauste.

Dies war er nun, der Moment, vor dem ich mich gefürchtet hatte, und ich fühlte mich vollkommen unvorbereitet.

Mit klopfendem Herzen drehte ich dem zornigen Werwolf den Rücken zu und stellte mich meiner untoten Zwillingsschwester. Als sich unsere Blicke trafen, stählte ich mich.

Monatelang hatte mich Vittoria glauben lassen, sie sei tot. Brutal ermordet. Sie hatte zugelassen, dass ich ihre herzlose Leiche gefunden hatte, zerbrochen und blutüberströmt in dieser Grabkammer. Es hatte meine ganze Welt zum Einsturz gebracht und mein Selbst auf der grundlegendsten Ebene zerstört. Vittorias Verrat war eine Wunde, die nie richtig heilen würde. Auf meinem Herzen und auf meiner Seele würden die Narben immer bleiben.

Obwohl sie nun lebendig und gesund vor mir stand, gab es keine Hoffnung darauf, dass wir zu dem Davor zurückkehren konnten. Zu viel war zwischen uns passiert, um es einfach vergessen und weitermachen zu können, als wäre nichts geschehen, und darum trauerte ich mehr als um alles andere. Ganz gleich, wie sehr ich mir wünschte, es wäre anders, wir hatten uns beide unwiederbringlich verändert. Ich wusste einfach nicht, ob die Teile unseres Lebens noch zusammenpassten.

Um über den wachsenden Schmerz in meiner Brust hinwegzukommen, dachte ich an meinen Verlobten. Daran, wie meine Schwester mir auch diese Nacht kaputtgemacht hatte. Anstelle der Trauer konzentrierte ich mich auf die Wut, den Zorn, der mich durch meine persönliche Hölle geführt hatte. Und alle Gefühle außer einem verschwanden.

Wenn ich in der Lage gewesen wäre, neben der grell lodernden Wut auch so etwas wie Sorge zu empfinden, hätte mich das triumphierende Lächeln meiner Schwester vielleicht beunruhigt. Doch wie die Dinge standen, würde sie gleich herausfinden, dass sie nicht die Einzige war, die anderen Angst einflößen konnte. Es war Zeit, dass Vittoria lernte, mich zu fürchten.

Ich tauchte tief ein in meine Quelle der Magie, erleichtert, den gewaltigen Brunnen der Macht zu spüren, die unter meiner Haut knisterte. Wenn meine Schwester sehen wollte, was ich zu bieten hatte, würde ich es ihr nur zu gern zeigen.

»Du hast fünf Minuten, um dich zu erklären.« Als ich sprach, war meine Stimme kälter als die Luft um uns herum. Kälter als der sündigste Kreis der Hölle. Mir war, als würden selbst die Schatten einen Moment innehalten, bevor sie ins Nichts davonhuschten, um sich vor der gewaltigen Konfrontation zu verstecken, die sie kommen fühlten.

»Sonst?«, fragte Vittoria.

Mein Lächeln war ein wunderschöner Albtraum. Zum ersten Mal erschien ein Stirnrunzeln auf Vittorias Gesicht, als hätte sie soeben einen fatalen Fehler in ihrem Plan entdeckt. Ungeheuer konnten zwar erschaffen, aber niemals gezähmt werden.

»Sonst, liebste Schwester, wirst du die Hexe kennenlernen, zu der ich deinetwegen werden musste.«

Zwei

»Hüte deine Zunge, bevor ich sie dir herausreiße.« Domenico trat vor. Seine Klauen schossen hervor, und er knurrte leise angesichts der Bedrohung, die ich darstellte, doch Vittoria hob die Hand, und er erstarrte. Ich war zu wütend, um darüber zu staunen, wie rasch er sich auf diesen schlichten, unausgesprochenen Befehl hin zurückzog.

»Bist du denn nicht mächtiger geworden? Und … verwegener?«, fragte Vittoria und hob eine Braue. »Endlich bist du aus dem sicheren kleinen Loch herausgekrochen, in dem du dich versteckt hast, und lebst ein Leben, das der Feder eines Barden würdig ist. Singt man etwa Balladen über langweilige Hexen, die ihre Zeit bereitwillig in einer überhitzten Küche vertun und sich nach einem genauso langweiligen Mönch wie Antonio verzehren? Ich könnte mir vorstellen, dass eine großartige Romanze mit dem König der Dämonen ein bisschen interessanter ist. Besonders im Schlafzimmer. Bei der Großen Göttin im Himmel, Emilia. Der Tod deines früheren Lebens ist etwas, für das du mir danken solltest. Antonio, das Mare & Vitigno – du und ich, wir waren immer zu Größerem bestimmt.«

»Langweilig?« Ärger peitschte durch mich hindurch. »Ich habe mein Leben und unsere Küche geliebt. Tut mir leid, wenn das, was mir Freude gemacht hat, oder wen ich anziehend gefunden habe, dich so angewidert hat. Und seit wann hast du etwas gegen das Mare & Vitigno? Du hast unsere Familie und unser gemeinsames Kochen genauso geliebt. Oder hast du uns vergessen? Auf deiner Jagd nach … hinter was auch immer du her bist. Wie konntest du uns das antun? Wie konntest du mir das antun?«

Bei der letzten Frage brach meine Stimme, und ich versuchte mich zu sammeln. Vittoria musterte mich. »Ich habe es für uns getan. Es sieht vielleicht nicht so aus, aber ich schwöre, es war alles für dich und mich. Der Fluch …«

Sie verstummte, wollte offensichtlich etwas sagen, konnte es aber nicht.

»Oh, ja, der Fluch.« Ich wedelte durch die Luft, als wäre der Fluch eine lästige Fliege. »Dieser verdammte, dämliche Fluch, über den niemand sprechen kann. Ich habe genug von dieser launischen Magie und allen, die etwas damit zu tun haben! Warum hast du deinen Tod vorgetäuscht? Wie hätte mir das helfen sollen?«

Ihre nächsten Worte schien sie sorgfältig zu wählen. »Sogar der explosivste Sprengstoff braucht einen Funken, um ihn zu entzünden.«

Rätselhaft wie immer, wenn der Fluch am Werk war. »Wofür brauchst du so viel Feuer?«

Ihr Blick wurde hart, ihre Augen waren zwei glitzernde Juwelen des Hasses. Einen Moment lang verwandelte sich der Lavendelton ihrer Iris in tiefes Rubinrot. »Um unsere Feinde brennen zu sehen. Um zurückzufordern, was unser Geburtsrecht ist. Und um die letzten Ketten, die uns binden, ein für alle Mal zu sprengen.«

»Und unsere Familie? Sind sie deine Feinde? Haben sie es verdient, dich in dieser Gruft zu beerdigen? Zu glauben, dass du bei unseren Ahnen verrottest?«

»Ja. Auch wenn ich sehr bezweifle, dass sie wirklich glauben, ich würde verrotten. Diese kleine Lüge haben sie vermutlich nur an dich verfüttert, an ihre Favoritin. Oder sollte ich lieber sagen, an die Meistgefürchtete?« Vittorias Eingeständnis fiel zwischen uns, schwer durch die Last der Wahrheit, an die sie glaubte. »Und sie sind nicht die Einzigen, die lernen werden, uns zu fürchten. Eines habe ich von unserer lieben Familie gelernt. Behalte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher.«

Ich sah die Fremde an, die das Gesicht meiner Schwester trug. Da war eine Härte in ihr, eine Dunkelheit, wo früher helles Licht gestrahlt hatte. Meine Schwester war verspielt gewesen, lustig. Sie hatte sich gern Freunde gemacht und stundenlang getanzt. Etwas, das ich an ihr immer bewundert hatte und gern selbst gewesen wäre. Es war schwer, diese harsche Version von ihr mit den Erinnerungen an meine Schwester in Einklang zu bringen.

»Was, wenn ich nicht gefürchtet werden will?«, fragte ich.

Vittorias Lächeln war ein rasches Aufblitzen von Zähnen, rasiermesserscharf und bedrohlich. »Ein Vogel ohne Flügel ist immer noch ein Vogel, meine Schwester.«

»Hast du mal mit Fürst Envy gesprochen?« Ich seufzte. »Ich schwöre, jetzt klingst du genau wie er, wenn er zu viel mit einem Wahrheitszauber belegten Dämonenbeerenwein getrunken hat.«

»Envy?« Nun wirkte ihr Blick nach innen gekehrt, als würde sie sich an etwas erinnern. »Ich habe seinen Schoßhundvampir geritten, nur um zu sehen, wie seine Lieblingssünde in seinen Augen auflodert, als er uns erwischt hat. Vampire geben großartige Liebhaber ab, immerhin sind sie Kreaturen der Nacht und so weiter. Sie beherrschen es meisterhaft, Lust mit ein bisschen beißendem Schmerz zu mischen. Wenn du mit deinem Dämon fertig gespielt hast, solltest du dem Königshof der Vampire mal einen Besuch abstatten und ein, zwei von ihnen Probe reiten. Ich war neulich bei ihrem Prinzen und wurde ganz und gar nicht enttäuscht. Was sie mit diesen Reißzähnen anstellen können …«

Domenico knurrte, und meine Schwester schenkte ihm einen begütigenden Blick. Er hatte eindeutig nicht gewusst, dass seine – was auch immer meine Schwester ihm bedeutete – mit einigen seiner Todfeinde verkehrte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass es einen Königshof der Vampire überhaupt gab, und im Moment gehörte dies auch nicht zu meinen Hauptsorgen. Solange es sich nicht zu einem Problem entwickelte, hatte ich jetzt wirklich drängendere Fragen.

»Ich …« Ich wollte mich von der Vorstellung meiner Zwillingsschwester mit diesem ganz bestimmten Vampir befreien. Ich hatte einmal das Pech gehabt, ihm zu begegnen. Alexei war furchteinflößend gewesen – nur leider nicht auf die Art, wie eine verbotene, dunkle Fantasie furchteinflößend war. Er hatte den Eindruck gemacht, als würde er anderen aus reinem Vergnügen das Herz herausreißen und aussaugen. »Warum bist du jetzt hier? Ich dachte, wir wollten uns morgen auf den Wandelinseln treffen.«

Vittoria hob eine Schulter und wich meinem Blick auf einmal aus. »Ich wollte dir die Nachricht persönlich überbringen, falls du den Schädel nicht bekommen hast.«

Ich glaubte ihr kein Wort, wollte sie aber auch nicht einer offensichtlichen Lüge beschuldigen. Meine Schwester hatte noch mehr Geheimnisse, und wahrscheinlich hatten sie irgendetwas mit dem Schattenreich zu tun. Immerhin befanden wir uns gerade hier. Vielleicht war es nur ein Test gewesen, um zu sehen, ob Domenico mich ohne Schwierigkeiten hierherbringen konnte. Was bedeutete, dass unsere Zeit vermutlich begrenzt war, und ich brauchte Antworten. »Wie konntest du uns allen vorgaukeln, dass dir jemand das Herz herausgerissen hat?«

»Gar nicht.«

»Ich habe das Blut gesehen. Das Loch in deiner Brust. Es muss irgendein Zauber oder eine Art Illusion gewesen sein, es sei denn, du brauchst kein Herz mehr zum Leben. Steh hier nicht herum und lüg mir ins Gesicht. In den letzten Monaten hast du mich schon genug belogen. Ich habe die Wahrheit verdient, Vittoria.«

Plötzlich wurde es noch kälter. Eiskristalle krochen die Wände empor, knisternd wie gefrorene Flammen, während sie sich rasend schnell ausbreiteten. Die Kerze flackerte in der plötzlichen Brise und erlosch. Wir blieben in Dunkelheit zurück. Ein dünner Rauchfaden kräuselte sich durch die Luft, und der Geruch nach Schwefel durchdrang die Kälte. Ein von einem zornigen Höllengott gesandtes Zeichen. Einem Höllengott, den ich nur zu gut kannte.

Domenico trat vor, schloss die Hand um den Oberarm meiner Schwester und zog sie zu sich. »Zeit zu gehen. Er hat die Schattenwächter durchbrochen.«

Mein Herz hämmerte. Ich wusste genau, wer er war. Wrath war gekommen, um meine Seele zu holen. Er hatte die Mauern des Schattenreichs überwunden, und seine Sünde war mächtig genug, um den Boden hier in Ankündigung seines Nahens erbeben zu lassen. Ich konnte seine Wut körperlich spüren, und sie hatte hier in diesem Reich merkwürdige Auswirkungen auf mich. Auf einmal dachte ich nicht mehr an den Verrat meiner Schwester und empfand auch keinen Schmerz mehr. Hitze kroch über mich, wie gerade noch die Kälte ihre Zähne in mich gesenkt hatte. Wraths Sünde schenkte mir ein Gefühl von Lebendigkeit, ich vibrierte vor Leben. Ich wollte jede Zivilisiertheit abschütteln und zu einer Naturgewalt werden, angetrieben von meinen Urinstinkten.

Vittorias Mundwinkel hoben sich zu einem halben Lächeln. »Denk dran, Schwester: Du kannst die Wurst auch genießen, ohne gleich das ganze Schwein zu kaufen. Das ist die einzige Warnung, die ich dir mit auf den Weg geben kann.«

»Warum sollte ich auf dich hören?«

»Ich bin von deinem Blut.« Domenico zog sie durch die Kammer, und auf einen Wink seiner Hand hin öffnete sich ein glitzerndes Portal vor ihnen. Vittoria hielt inne und blickte zu mir zurück. »Es gibt Bande, die nie wieder gelöst werden können, Emilia. Und es gibt Entscheidungen, deren Auswirkungen dem Tod selbst gleichkommen. Hör auf jemanden, der nur allzu genau weiß, wie das ist.«

Ein Schauer rieselte mir bei dem ersten Teil ihrer Warnung den Rücken hinab. Wrath selbst hatte mir in der Nacht, in der ich herausgefunden hatte, warum er mich mit seinem königlichen Symbol gezeichnet hatte, fast dasselbe gesagt.

Geistesabwesend strich ich über das unsichtbare S auf meinem Hals, und die Magie verursachte ein leichtes, angenehmes Prickeln, das meinen Nichtkörper überlief.

»Was soll das heißen?«, wollte ich wissen. »Keine Spielchen mehr, Vittoria.«

»Wenn du ihn wählst, gibst du damit einen Teil deiner selbst auf.« Eine Antwort, die nur noch mehr Fragen aufwarf. »Wir sehen uns morgen. Sei pünktlich.«

»Warte! Warum müssen wir uns ausgerechnet auf den Wandelinseln treffen? Warum sagst du mir nicht einfach hier, was du zu sagen hast?«

»Du wirst abwarten und es herausfinden müssen.«

Vittoria warf mir eine Kusshand zu, dann trat sie dicht gefolgt von dem Werwolf durch das Portal. Anscheinend wusste Domenico, der selbst ein Alpha war, genau, dass etwas noch Bedrohlicheres sein Territorium betreten hatte. Rückzug war die klügere Entscheidung. Oder vielleicht schluckte er seinen eigenen Stolz auch nur herunter, um meine Schwester zu retten. Ich war nicht sicher, was ich nach dieser Begegnung empfand. In mir kämpften einfach zu viele Gefühle um die Oberhand, doch ich war dankbar, dass sie einen treuen Verbündeten an ihrer Seite hatte. Sie brauchte einen.

»Emilia.«

Einen Moment später trat Wrath in die Kammer. Sein Körper sirrte, eine Drohung, die Krieg verhieß. Eine Schlacht, die er unseren Feinden brachte. Er starrte das sich schließende Portal an, dann ließ er rasch den Blick über mich schweifen, scharf wie die Klinge in seiner Faust und nicht weniger furchteinflößend für jene, die mir etwas antun wollten.

Ich sah an mir hinab und erkannte, dass mich mein Schattenmantel bei Wraths Ankunft im Stich gelassen hatte. Wieder einmal stand ich nackt, aber durchaus nicht eingeschüchtert vor ihm.

»Haben sie dir etwas angetan?« Knappe Worte, so als wollte er seine Energie für den Kampf sparen. Domenico mochte zwar entkommen sein, aber Wrath würde ihn jagen. Der kalte, erbarmungslose Ausdruck auf seinem Gesicht verhieß nichts als Schmerz und Folter.

Ich schüttelte den Kopf, traute mich aber nicht, diese halbe Lüge auszusprechen. Nicht alle Verletzungen waren körperlich. »Es war meine Schwester. Sie wollte sichergehen, dass ich ihre Botschaft wegen morgen erhalten habe. Wo sind die Wandelinseln?«

»Ein kurzes Stück vor dem Festland.« Methodisch suchte er mit Blicken jeden Winkel der Kammer ab, bevor er schließlich bei den Handschellen innehielt. Einen Moment später war seine Klinge verschwunden, und er stand vor mir und hob meine Handgelenke sanft vor sein Gesicht. Rote Flecken, die sich in hässliche Blutergüsse verwandeln würden, ließen seine Wut unfasslicherweise noch höher emporschießen, und nun lag ein tödliches Versprechen in seiner Stimme, das die Luft um uns so eisig werden ließ, dass mir die Zähne klapperten. »Wenn dich irgendjemand noch einmal in Ketten legt, werde ich jeden Albtraum wahr werden lassen, den die Sterblichen je über mich hatten, und noch mehr.«

Eis schoss die Wände weiter empor und überzog die Decke, während die Temperatur ins Bodenlose fiel. Risse bildeten sich im Felsen, und Steinbrocken stürzten krachend zu Boden. Wenn er sich nicht in den Griff bekam, würden wir bald beide vom Eis eingeschlossen oder unter Felsen begraben werden.

»Was, wenn ich dich bitte, mich in Ketten zu legen?«

Der harsche Ausdruck auf seinem Gesicht wich der Verblüffung, während er auf mich herabblinzelte. Das hatte er nicht erwartet. Gut so. Dann würden wir vielleicht doch noch aus diesem Reich entkommen, bevor wir uns in Eisstatuen verwandelten. Ich löste mich aus seinem sanften Griff und schlang ihm die Arme um die Taille, lauschte seinem Herzschlag, der unter meiner Umarmung schneller wurde. Fast sofort wurde mir wärmer.

»Es hätte auch gereicht, wenn du einfach ›Ich liebe dich, und es freut mich, dass dir nichts passiert ist‹ gesagt hättest.«

Darauf folgte Schweigen, und ich konnte praktisch spüren, wie Wrath darum kämpfte, wieder die Kontrolle über sich zu erlangen. Nur sein eiserner Wille konnte die gewaltige Macht zügeln, die in ihm darum kämpfte, auszubrechen und anzugreifen. Ich konnte mir das Ausmaß seiner Disziplin nicht einmal vorstellen, die absolute Kontrolle, die er über seine Sünde haben musste, um seinen Zorn in die Knie zu zwingen. Die Luft wurde noch etwas wärmer, die tödliche Kälte verging jedoch nicht ganz.

Er drückte mich ein wenig an sich, wie um sich selbst zu trösten und zu versichern, dass ich heil und in Sicherheit war. »Deine Feinde zu foltern und ihnen die Eingeweide herauszureißen wäre eine Tat der Liebe.«

»Niemand kann bestreiten, dass du ein Dämon der Tat bist.« Ich schnaubte und löste mich von ihm, um sehen zu können, wie anstelle der eisigen Wut ein belustigtes Funkeln in seine Augen trat. Trotzdem lag weiterhin etwas Gehetztes in seiner Miene, das nicht so schnell verschwand. »Bitte bring mich nach Hause. Es war ein langer Abend. Ich brauche ein warmes Bad und eine ganze Flasche Dämonenbeerenwein.«

Außerdem, ungeachtet dessen, was gerade passiert war und was Vittoria mir gesagt hatte, wollte ich meinen König noch immer auf sehr körperliche Weise für mich beanspruchen. Das würde mich mehr besänftigen als alles andere. Meinen Körper, meinen Geist und meine verfluchte Seele.

***

Wrath zauberte uns zurück in sein Schlafzimmer und vereinte unsere Seelen wieder mit unseren Körpern. Blinzelnd sah ich mich in dem eisüberzogenen Raum um. Die Decke, die Wände, der Kamin – alles außer dem Bett – waren gefroren. Das Eis war so dick, dass es einen bläulichen Schimmer angenommen hatte. Ich hatte das Schattenreich schon für schlimm gehalten, aber das hier war extrem.

Vorsichtig richtete ich mich auf dem Bett auf und hob fragend eine Braue. Wrath fuhr sich durch das Haar, woraufhin mir seine Fingerknöchel und die Schnitte darauf ins Auge fielen, die ich bisher nicht bemerkt hatte.

»Musstest du gegen die Wölfe kämpfen?«, fragte ich und winkte ihn zu mir. »Lass mich das sehen, bitte.« Widerstrebend tat er es und hielt mir seine verletzte Hand hin. »Warum heilen die Wunden nicht?«

»Ich habe die Faust durch die Grenze zwischen den Reichen geschlagen.«