Essay etc. - Helge-Wolfgang Michel - E-Book

Essay etc. E-Book

Helge-Wolfgang Michel

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Beschreibung

In seiner zweiten Publikation, die aus drei Teilen besteht, geht Helge-Wolfgang Michel zuerst in einem Essay interdisziplinär der Frage nach, wie die Bedeutungsfindung beim visuellen Lesen literarischer Texte zustande kommen könnte. Es wird bei einem Erklärungsversuch bleiben, der natur- sowie literatur-, aber auch kognitionswissenschaftlich auslotet, was wir dazu wissen und wo uns die Erkenntniszugänglichkeit Grenzen setzt. Dem Essay folgt ein Austausch über die Erkenntnistheorie und die Ontologie in Form einer Korrespondenz mit einem guten, intellektuellen Freund, bei der die Schreiber entschlossen sowie fundiert ihre Meinungen vertreten und darstellen. Mit einer literaturlinguistischen Analyse über das bei einem Schriftsteller gefundene, singuläre Sprachphänomen, die paradigmatische Explikation, als Technik und dessen Verwendung beschließt dieser Band seine thematisch ansprechende Zusammenstellung.

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Omnia recipiuntur secundum recipientem
‚Alles wird aufgenommen gemäß dem Aufnehmenden‘
(aus dem Mittelalter *, wohl aus Zeiten der Scholastik **)
Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu
‚Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in der Wahrnehmung gewesen wäre‘
(Thomas von Aquin ***)
Inhaltsverzeichnis

Der Rezipient eines literarischen Textes und die Sinnes- / Neurophysiologie – Der visuelle Leser und sein reales Pendant

Einleitung

Die Rolle des visuellen Lesers in der Literaturwissenschaft

1. 1. Die Grundlagen

1.2. Der russische Formalismus, der Strukturalismus, die Semiotik und textimmanente Theorien

Die Sinnes- und Neurophysiologie

2. 1. Die Grundlagen

2.2. Die subjektive Sinnesphysiologie und die Psychophysik

2.3. Die subjektive Sinnesphysiologie und die Wahrnehmungspsychologie

Die Empirisierung der Literaturwissenschaft

Der radikale Konstruktivismus

Die empirische Literaturwissenschaft

Methodenproblematik

Ergebnisteil

Anmerkungen

Verwendete Literatur, Quellen etc. (Siglen)

Abbildungsdaten

Hinweis

Danksagung

Korrespondenz zwischen Professor Dr. Ewald Rumpf und Helge-Wolfgang Michel als Austausch über den erkenntnistheoretischen Idealismus sowie Realismus, den ontologischen Realismus und den kognitionstheoretischen Konstruktivismus

Paradigmatische Explikation – eine literaturlinguistische Analyse

EINLEITUNG

Zu Beginn meiner Arbeit gebe ich meine ersten gedanklichen Überlegungen zu dem gewählten Thema wieder.

In der Literaturwissenschaft und der -theorie hat mich stets die Rolle des Lesers als Rezipienten von Texten interessiert und angesprochen. Daher stelle ich mir als Humanbiologe die Frage, ob Interpretationen und Deutungen von literarischen Werken unter zur Hilfenahme der Sinnes- und Neurophysiologie erklärt werden können. Nach der Einleitung werde ich die Literarizität sowie noch eine Auswahl von Literaturtheorien streifen, die mehr und auch weniger die Rolle des Lesers als Gegenstand ihrer Ansätze thematisieren, um dann zu sehen, ob die Biologie und angrenzende Disziplinen eine Antwort zu der Bedeutungsfindung beim visuellen Lesen literarischer Texte ermöglichen können. Gegen Ende werde ich noch empirische Literaturtheorien sowie den Exkurs zu einer Kognitionswissenschaft etwas eingehender vorstellen. Natürlich weiß ich, dass die beschränkende Auswahl auf die vorgestellten Ansätze der Literaturwissenschaft nicht repräsentativ ist, sondern nach meinem Dafürhalten zu meinem gewählten Thema passt.

Bereits Aristoteles definierte 355 vor Christus in seiner Poetik die Rezeption als menschliches mit Freude besetztes Interesse neben dem der Herstellung mit dem zentralen Terminus mimêsis, der Nachahmung. In den zeitlich danach liegenden Theorien wurden meist der Autor und dann das Werk als Gegenstand behandelt. Erst sehr viel später wird auch wieder dem Leser durch seine Interaktion mit dem literarischen Text eine entscheidende Rolle eingeräumt. So finden sich literarisch künstlerische Elemente als Angebote für den Rezipienten wie beispielsweise die Verfremdung, die im russischen Formalismus nicht nur von Viktor Borisovič Šklovskij 1916 als Verfahren gewertet wurde, um das in Routine automatisierte Leben wieder mit besonderen Impulsen zu beleben. „Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der „Verfremdung“ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, … Das Leben eines dichterischen (künstlerischen) Werks führt vom Sehen zum Wiedererkennen, von der Poesie zur Prosa, …“.1

Auch in der Rezeptionsästhetik und hier bei Wolfgang Iser wird ein Modell eines Kommunikationsprozesses zwischen dem Text und dem Rezipienten entwickelt, welches die Phänomenologie von Edmund Husserl,2 dass die reale Welt nur auf das in unserem Bewusstsein Erscheinende beschränkt wird, und die Thesen von Roman Ingarden3 aufgreift wie die, dass eine „dargestellte Gegenständlichkeit im rezipierenden Bewußtsein ‚konkret‘ werden kann, mittels derer das rezipierende Bewußtsein den intentionalen Gegenstand (‚als vorgegebene metaphysische Qualitäten‘ – siehe Seite → bei Rainer Warning / der Verfasser) konkretisieren kann.“4 Auch nimmt er Ingardens Begriff der Unbestimmtheit als Tor der metaphysischen Qualitäten auf und entwickelt diesen nach Rainer Warning zum wichtigsten Umschaltelement zwischen literarischen Werk und Rezipienten. „Die ästhetische Erfahrung verdankt sich nicht mehr einer von den metaphysischen Qualitäten ausgelösten Ursprungsemotion, sondern den Leerstellen, die es dem Leser erlauben, die Fremderfahrung der Texte an die eigene Erfahrungsgeschichte anzuschließen.“5

Das Werk mit dem Text wird als Produkt der künstlerischen Autorenleistung mit der ästhetischen Auseinandersetzung des Lesers, der Konkretisation des Geschriebenen, verstanden. Weder der Text alleine noch die isolierte Leseleistung ergeben das Werk, sondern „der Text gelangt folglich erst durch die Konstitutionsleistung eines ihn rezipierenden Bewußtseins zu seiner Gegebenheit, so dass sich das Werk zu seinem eigentlichen Charakter als Prozeß nur im Lesevorgang zu entfalten vermag.“6

Das Werk ist nicht real, sondern virtuell. Der literarische Text ist fiktional, wird erst beim Lesen aktualisiert und erzielt damit einen Effekt. Das unterscheide diesen vom Faktum und demnach Texten, „die einen Gegenstand vorstellen oder mitteilbar machen, der eine vom Text unabhängige Existenz besitzt.“7 Als eines der Beispiele werden auch Gesetze als rechtsnormative Texte und ihre Verbindlichkeit angeführt.

Zusammenfassend ist an dieser Stelle zu berücksichtigen, dass bei dieser Theorie, die Bezug auf die Phänomenologie nimmt, dem Werk eine textimmanente und damit direkt die inhärente Bedeutung eingeräumt wird. Der Ansatz verbleibt in der Tradition, dem Text einen Wesenscharakter zu verleihen und nicht dem Rezipienten die Bedeutungshoheit zuzuordnen.

Neben diesen beiden Ansätzen werden weitere Theorien vorgestellt werden, die sich wiederum auch durch die Zuschreibung der Bedeutung durch den Rezipienten oder eine dem Text beinhaltende unterscheiden.

Einen sehr guten Übergang in dieser Einleitung zur Naturwissenschaft bildet die Erwähnung des Positivismus. „Und mit Beobachtungen müssen wir beginnen, um zu Gesetzen zu gelangen.“8 Dieser Satz stammt von einem Literaturwissenschaftler, Wilhelm Scherer, der einen positivistischen Ansatz zu Ende des vorletzten Jahrhunderts vertrat. Er entwickelte auch die These, dass Werk und Leben des Dichters eine Einheit bilden, die sich aus den 3 Elementen, dem Ererbten, dem Erlernten und dem Erlebten zusammensetzen. Dieser die Induktion verwendende Ansatz wurde nicht nur in seiner Zeit divers diskutiert.

Aus der Sinnes- und Neurophysiologie ist belegt, dass Umweltreize Reaktionen auslösen können. Diese Reiz-Reaktions-Beziehungen sind möglich, da der menschliche Organismus mit seiner Umwelt durch reizaufnehmende Sinnesorgane, der zentralnervösen Informationsverarbeitung und ein daraus erfolgendes Verhalten vorwiegend aber nicht nur aus der Bewegung dienenden Erfolgsorganen in Wechselbeziehungen steht. Bereiche der Sinneszellen, der Sensor, der Sinnesorgane, wobei ich mich in den folgenden Kapiteln auf die Photorezeptoren der Augen beschränken werde,9 transduzieren Reize in Rezeptor-/Generatorpotentiale und transformieren entweder selbst oder sorgen durch Freisetzung von Transmitter zur Bildung von Aktionspotentialen als Nervenimpulsfolgen, die über afferente Nerven zum Zentralnervensystem (ZNS) geleitet werden. Auf mehreren aufeinanderfolgenden Ebenen werden diese Aktionspotentiale als Impulsfolgen in Neuronenverbänden mit exzitatorischen, stimulierend anregenden, und inhibitorischen, hemmenden, Synapsen in vielfältiger Weise verändert. Diese zentralnervösen Vorgänge werden unter den allgemeinen Begriffen der Verarbeitung und Integration sensorischer Information zusammengefasst. Bis zu diesem Punkt wird von objektiver Sinnesphysiologie gesprochen.

Der Teil, der sich der „reinen Sinnesempfindung“10 anschließt, als Summe der Sinneseindrücke „kommt in der Regel eine Deutung, ein Bezug auf Erfahrenes und Gelerntes, und dies wird Wahrnehmung genannt“,11 und die darauf spezialisierte Wissenschaft bezeichnet man als subjektive Sinnesphysiologie.

Mein Anliegen stellt in einen interdisziplinären Bezug den Versuch dar, zu untersuchen und im Idealfall zu verifizieren, ob die Leserrolle der Bedeutungsfindung durch Erkenntnisse der Sinnes- und Neurophysiologie sowie angrenzender Wissenschaftsgebiete zugänglich machend zu enträtseln ist. Mein erkenntnis- und wissenstheoretisches Modell beruht auf der Annahme, dass Universalgelehrte in verschiedenen Zeitepochen durch Beobachtung bedeutende Phänomene nicht nur gesehen, sondern diese erklärend formuliert haben. Dies gelang in vielen Fällen ohne die Möglichkeit einer reproduzierbaren Messung oder Datenerhebung aufgrund des technologischen Entwicklungsstands, der zu ihrer Zeit erreicht war. Nachfolgende, denen diese Techniken dann zur Verfügung standen, waren in der Lage diese Theorien zu bestätigen, zu erweitern oder zu verwerfen.

So begleiten Sie mich auf diese kleine Reise, vielleicht gelingt es, „eine erstaunliche Erfahrung: Wir blicken auf schwarze Zeichen auf weißem Grund – und halluzinieren regelrecht“,12 zu ergründen.

Darüber hinaus gehend ist es aber auch der Wunsch oder die Suche nach „allgemein menschlicher Gültigkeit … einem ›homerischen‹ Zug, …“13 der nach meinem Dafürhalten nicht in der Naturwissenschaft isoliert, sondern nur mit der Literatur zu finden sein wird. Die Erdung der einen mit der anderen kann ein zufriedenstellendes System ergeben. Daher fasst der in einem anderen Kontext formulierte Gedanke, mein suchendes Bedürfnis sehr gut beschreibend zusammen: „Eine Weltanschauung, der jede Ahnung vom Metaphysischen fehlt, ein geistiges System, in dem es keinen Platz für die Kategorie des Transzendentalen gibt, bleibt mir Entscheidendes schuldig. Ich werde sie nie als mein Credo akzeptieren können.“14

Helge-Wolfgang Michel

1 Viktor Borisovič Šklovskij (1916) in Jurij Striedter (1994), Seite 15. Auch Terry Eagleton (1994) weist auf die Wahrnehmung bei den russischen Formalisten hin, S. 23.

2 Edmund Husserl (1893-1917), Hua X (1969).

3 Roman Ingarden (1968) in Rainer Warning (1979).

4 Rainer Warning (1979), S. 11.

5 a. a. O., S. 31.

6 Wolfgang Iser (1972) in Rainer Warning (1979), Seite 253.

7 a. a. O., S. 231.

8 Wilhelm Scherer (1866) in Konrad Burdach et al. (1893), S. 170.

9 Den dioptrischen Apparat des Auges als optisches System, welcher für eine fokussierte Abbildung sorgt und aus der Hornhaut, dem Kammerwasser, der Linse sowie dem Glaskörper besteht und die in der Orbita gelegene Augenmuskulatur, die auch die permanente Ausrichtung auf die fixierten Objekte der Wahrnehmung in der Fovea centralis ermöglicht, lasse ich hier unberücksichtigt und werde diese im Kapitel 2.1 ausführlicher behandeln. vgl. Ulf Eysel (1993) in Robert F. Schmidt (1993), (Sigle: NS), Seiten 263 ff.

10 Josef Dudel in Robert F. Schmidt (1985), (Sigle: GS), Seite 6.

11 a. a. O., S. 6.

12 Melanie Raabe (2018), S. 1.

13 Klaus Mann (1989), S. 404.

14 a. a. O., Seite 378.

1.1. Die Definition für literarische Texte / Literarizität

Bevor ich beginnen kann, die für den Leser als Rezipienten bedeutenden Elemente verschiedener Literaturtheorien zu beschreiben, werde ich meine und weitere Definitionen für literarische Texte voranstellen.

Meiner Ansicht nach gut und treffend beschrieben, zielen sie „auf eine Reihe von Einstellungen der Menschen gegenüber Texten. … jede beliebige Art von Text, den jemand aus irgendeinem Grund besonders schätzt.“15 Weiter „in Literatur eine angesehene Schreibweise zu sehen … Alles kann Literatur sein, und alles, was als unwandelbar und unbestreitbar als Literatur angesehen wird … kann eines Tages keine Literatur mehr sein.

… Aber es bedeutet, daß der sogenannte ›literarische Kanon‹, die nicht in Frage gestellte ›große Tradition‹ der ›Nationalliteratur‹, als Konstrukt erkannt werden muß, das von bestimmten Leuten aus bestimmten Gründen einer bestimmten Zeit gebildet wurde. Ein literarisches Werk oder eine Tradition, die unabhängig davon, was irgendjemand darüber gesagt hat oder sagen wird, an sich wertvoll ist, gibt es nicht. ›Wert‹ ist ein transitiver Begriff: er bezeichnet immer das, was von bestimmten Leuten in spezifischen Situationen nach gewissen Kriterien und im Lichte bestimmter Absichten hoch bewertet wird.“16

Dies schließt auch nicht aus und hier werde ich mich wieder einer treffenden Formulierung aus dem letzten Jahrhundert bedienen können: „Daß es gelegentlich einem bedeutenden Dichter gelingt, tiefe und gleichzeitig einfache menschliche Erlebnisse in hochwertigen Formen derart festzuhalten, dass er auf Individuen in sehr verschiedenen Zeiten zu wirken vermag, lehrt allerdings die Geschichte des Menschengeschlechtes.“17

Hier sei beispielsweise nur an die Tragödien wie die Orestie von Aischylos sowie die Antigone und der Ödipus von Sophokles erinnert. Aristoteles gab uns schon vor über 2350 Jahren im 6. Kapitel seiner Poetik eine für mich nach wie vor treffende Definition und weiter auch mit dem Begriff der Katharsis (kátharsis) eine Erklärung, was als Begründung für diese andauernde Aktualität dienen könnte. „Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“18 Auch bei Roman Jacobson „ist die Annahme, daß sich nur approximativ sagen läßt, was die Poetizität, Ästhetizität oder, traditionell, die Schönheit eines Textes ausmacht, und zwar nur über den Weg einer Untersuchung, wie … und mit welchen Folgen (etwa der Katharsis und vielleicht eines Erkenntnisgewinns) – sich eine poetische Erfahrung einstellt. Darüber hinaus ist sie ein ineffabile, und wer sie nicht erspürt, der wird sie nicht erjagen.“19 Nur vollständigkeitshalber sei noch erwähnt, dass der Katharsis-Begriff insbesondere in der Psychologie divers diskutiert wird.

Aber auch das im Althochdeutschen überlieferte Hildebrandlied20 (Hildebrandlied-Codex, Blatt 1r und Blatt 76v)21 spricht mit dem Dilemma des für den handelnden Hildebrand nicht auflösbaren Konflikts, ausgelöst durch die ehrverletzende Zurückweisung seines Geschenks, der Beleidigung und der Bezichtigung der Lüge durch seinen Sohn Hadubrand, ein nach meinem Dafürhalten – dies ist eine von mir dem literarischen Text gegebene Zuschreibung – menschliches Bedürfnis und besonderes Interesse der Empathie an. Auch hier kann Aristoteles uns im 14. Kapitel seiner Poetik wieder mit einer Erklärung dienen: „Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Näheverhältnissen ereignet (z. B.: ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn oder ein Sohn gegen die Mutter; der eine tötet den anderen oder er beabsichtigt, ihn zu töten, oder er tut ihm etwas anderes derartiges an) - nach diesen Fällen muß man Ausschau halten.“22 Auf einen Satz treffend gebracht: „Literatur ist, was uns schmerzlich berührt, …“.23

Daher besitzen die in den beiden vorhergehenden Absätzen aufgeführten Beispiele auch heute noch eine Aktualität, wie sie von Levin Ludwig Schücking, zwei Seiten vorher angeführt, bereits beschrieben wurde. Meiner Einschätzung müssen für die Hochwertung und Kanonisierung von Literatur neben der Möglichkeit des identitätsstiftenden oder identifikatorischen Lesens, die Empathie auslöst, auch die des ästhetischen, also der Qualität der Form als künstlerisches Ausdrucksmittel, sowie der Handlungsorientierung gegeben sein.24

Ein erster Beleg und Hinweis auf Literarizität in der deutschen Sprache findet sich erst im Mittelhochdeutschen: „ist von Gottfried [von Straßburg, der zwischen 1210 und 1220 verstarb – der Verfasser] ein ästhetisches Ideal formuliert: Sprachlicher Ausdruck und Inhalt müssen einander entsprechen: das sint diu wort, daz ist der sin: / diu zwei diu harpfent under in / ir maere in vremedem prîse (‚Das eine ist der Ausdruck, und das andere ist der gedankliche Gehalt. Beide gestalten ihren Erzählgegenstand mit fremdartiger Pracht.‘ V. 4707ff.; Übersetzung im Anschluss an Krohn 1984). … Es existieren also normierte Stilvorstellungen von einer Dichtersprache, …“.25

Literarisch seien Texte formuliert Wolfgang Iser 1974, die weder Gegenstände der Lebenswelt und eine vom Text unabhängige Existenz besitzen noch Forderungen beziehungsweise anders zielbestimmt oder rechtsnormativer Art wie Gesetze sind. Die literarischen Texte seien daher Fiktionen, da sie eine Form ohne Realität darstellen. Mit Realität ist hier Schaffung von Sachverhalten oder eine exakte Gegenstandsentsprechung, wie im ersten Satz des Absatzes aufgeführt, gemeint. Fiktionalität als Indikator des Literarischen im Gegensatz zum Referentiellen, welches einen Bezug auf den außerhalb des Textes liegenden Bereiches nimmt, wird auch bei Herbert Grabes (1977) zur Differenzierung im Rahmen einer ontologischen Valenz herangezogen. Allerdings muss das Fiktive strukturbestimmend sein, um den Text als literarisch bezeichnen zu können.

Den Begriff der Fiktion, der sich auch bei Johann Wolfgang von Goethe (1811-14) in seiner Autobiografie bereits im Titel „Dichtung und Wahrheit“ findet, zieht sich weit durch die Literaturgeschichte. Louis Begley gibt 2006 in den Heidelberger Poetikvorlesungen dazu sehr detailreich Ansätze wie diese Fiktion nicht nur in seinen Werken realisiert wird. Es werden Geschichten aus anderen Lebensbereichen in erfundene Kontexte verwoben, schwach vorhandene Erinnerungen an Geschehen werden neu belebt und mit anderen Elementen kombiniert sowie in andere Orte der Erde versetzt. Eigenschaften verschiedener Personen des realen Lebens werden neu zusammengesetzt. Natürlich gehört auch die reine Erfindung als „novellistische Selbstentzündung“26 zum Repertoire des Fiktiven. Diese Fiktion komme nicht direkt aus dem stattgefundenen Leben des Autors, aber nur jemand, mit dieser Vita könne „die Romane mit genau dieser Vielfalt von Material ausstatten oder diese Personen erfinden …“.27 Er spricht weiter davon, dass er „… Material aus dem »Trödelladen der Seele« verwendet habe.“28 So fährt Louis Begley fort: „Bei solchen Anlässen ist man froh, Schriftsteller zu sein, weil man in dieser Eigenschaft Ereignisse aus dem wirklichen Leben aufnehmen und zu einer anderen, aber authentisch literarischen Wirklichkeit umformen kann“29 und „… ein Werk meiner Phantasie, die für umgewandelte reale Fakten einen fiktionalen Kontext erfunden hat.“30

Den russischen Formalisten galt nach Jurij Striedter (1994) übereinstimmend die Literatur als Wortkunst und es wurde gerade zu Beginn darauf geachtet, allen nicht literarischen Einflussgrößen wie beispielsweise der Politik oder auch der Theologie eine Wirkung abzusprechen.31 Aber auch wird die generationenübergreifende Bedeutung literarischer Werke thematisiert und mit einer mehrschichtigen und verschieden verstehbaren Deutung, die in der Struktur des Werks angelegt sei, erklärt. Viktor Šklovskij (1929) sähe dies durch die Mehrschichtigkeit in einem Fall der Bilder und Symbole und in einem zweiten durch die Perspektiven.32 Jurij Nikolaevič Tynjanov definiert die Literatur als „eine Sprachkonstruktion, die eben als Konstruktion empfunden wird, d. h. daß die Literatur eine dynamische Sprachkonstruktion ist.“33

Bei Siegfried J. Schmidt, dem Vertreter der empirischen Literaturwissenschaft, finden wir 1982 für literarisch als ein literarisches Handeln, wenn es Handlungen mit Texten darstellt, die der Einzelne als literarisch einschätzt.

Ein Text ist nach meinem Dafürhalten nicht per se literarisch, sondern dies ist eine Zuschreibung. Das lässt sich auch beispielsweise sehr gut in der von Ludgera Vogt (1992) beschriebenen Neubewertung und Aufnahme des Trivialautors Johannes Mario Simmel durch die Literaturkritik seit 1987 in den Olymp der hohen Literatur erkennen.34 Zwar wird die Literaturkritik meist durch Literaturwissenschaftler, häufig promoviert, repräsentiert, agiert aber im Gegensatz zu der Literaturwissenschaft nicht reproduzierbar nach wissenschaftlichen Kriterien.

Damit liegen jetzt Begriffe von Literatur bzw. Literarizität vor, doch bevor ich fortfahren kann, auf die Rolle des Lesers als Rezipient von literarischen Werken einzugehen, werde ich noch zwei zeitgenössischen Schriftstellern das Schlusswort zu diesem Kapitel einräumen.

„Wer den Kern der Geschichte im Verhältnis zwischen Werk und Autor sucht, der irrt: Man sollte ihn nicht im Verhältnis zwischen dem Text und seinem Verfasser suchen, sondern in dem zwischen Text und Leser. … Das heißt: Der Raum, den der gute Leser sich bei der Lektüre erschließt, ist nicht der zwischen Text und Autor, sondern der zwischen dem Text und ihm selbst.“35

„Der Prüfstein gelungener Dichtung ist ihre Fähigkeit, den Leser am Kragen zu packen und bis zum Ende nicht mehr loszulassen. … Gefällt Ihnen die Geschichte, die Sie lesen, dann vertrauen Sie ihr. Kümmern Sie sich nicht um den Autor.“36

15 Terry Eagleton (1994), Seite 10.

16 a. a. O., S. 12 f.

17 Levin Ludwig Schücking (1963), S. 94.

18 Aristoteles in Manfred Fuhrmann (1982), Seite 5.

19 Elmar Holenstein et al. (1979), S. 206.

20 Horst Dieter Schlosser (1989), S. 264 ff.

21 Rosemarie Lühr (1982), S. 16.

22 Aristoteles a. a. O., Seiten 11 f.

23 Bodo Kirchhoff (2019) in seiner Dankesrede zur Verleihung der Goethe-Plakette in Frankfurt am Main, S. 5.

24 vgl. Renate von Heydebrand und Simone Winko (1994), S. 109.

25 Werner Besch et al. (2007), Seite 185.

26 Louis Begley (2008), S. 21.

27 a. a. O., Seite 25.

28 a. a. O., S. 37.

29 a. a. O., S. 38.

30 a. a. O., S. 47.

31 Jurij Striedter (1994), S. LIV und LXXVI.

32 a. a. O., S. XXXV.

33 Jurij Nikolaevič Tynjanov (1924) in Jurij Striedter (1994), S. 407 f.

34 Ludgera Vogt (1992), Seiten 13 ff.

35 Amos Oz (2004), S. 51 ff. Als guter Leser definiert Amos Oz den Rezipienten, der nicht das Biographische (wie “Klatsch” über den Autor) suche, sondern sich mit seiner ganzen Person auf die Geschichte einlasse.

36 Louis Begley (2008), S. 91 f.

1.2. Der russische Formalismus, der Strukturalismus, die Semiotik und textimmanente Theorien

Der bereits in der Einleitung erwähnte russische Formalismus wendet sich wieder dem Text des literarischen Werks zu und untersucht sprachliche Elemente, die bei Viktor Šklovskij das poetische vom prosaischen trennen.37 So schreibt er in dem ersten Teil seiner Autobiografie: „Der Opojaz38 war ein Forschungsinstitut ohne Mittel, ohne Kader, ohne Hilfsarbeiter, freilich auch ohne den Kampf nach dem Motto: »Das hast du gesagt, das habe ich gesagt.« Wir arbeiteten zusammen, gaben unsere Entdeckungen einander weiter. Wir waren der Meinung, die poetische Sprache unterscheide sich von der Prosasprache dadurch, daß sie eine andere Funktion hat und daß ihr Hauptmerkmal eine Einstellung auf das Mittel des Ausdrucks ist.“39

Im zweiten Teil seiner Autobiografie definiert er weiter: „Im Grunde genommen ist die formale Methode einfach. Sie ist eine Rückkehr zur handwerklichen Meisterschaft. Das Bemerkenswerteste an ihr ist, daß sie den ideologischen Inhalt der Kunst nicht leugnet, sondern den sogenannten Inhalt als eines der Phänomene der Form ansieht.“40

Das bereits erwähnte Verfremdungsverfahren diene als künstlerisches Mittel, um das automatisierte Wiedererkennen zu durchbrechen und wieder ein Sehen durch verlängertes Wahrnehmen zu ermöglichen. Auch die Verwendung einer dichterischen (poetischen) Sprache als Konstruktionssprache führe zu einer erschwerten und verlängerten Erfassung, einer lautlichen Verfremdung, um nicht das sofortige Verstehen zu erreichen, sondern das Verweilen sowie dem intensiveren Auseinandersetzen mit dem Gegenstand und damit das Verhindern eines automatisierten Prozesses. Dadurch werden andere Stufen der Rezeption erreicht, die ein flüchtiges Wiedererkennen erschweren, und der Ökonomisierung der Wahrnehmungskräfte, die bei einer prosaischen Sprache wirken würde, gegensteuern. Aber auch das literarische Kunstwerk könne nur in der Abweichung gegenüber den geltenden Konventionen als Kunst wahrgenommen werden. Jurij Striedter spricht hier von der kunstimmanenten Funktion der Verfremdung. Es geht noch darüber hinaus, die Interpretation des Neugestaltens von Genres und die Veränderung der tradierten Stile diene dem Durchbrechen des automatisierten Erkennens des Rezipienten, also wird hier ebenfalls das Verfremdungselement als Verfahren zur evolutionären Weiterentwicklung der Gattungsform und damit der Literatur angenommen.41