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Lucy Meier: Arm, krank und unglücklich, wird durch ein erschreckendes Ereignis aus ihrem festgefahrenen Leben gerissen und in ein Abenteuer gestürzt, das ihre gesamte Weltanschauung ins Wanken bringt. Durch einen Unfall wird ihr Energiefeld so weit erhöht, dass sich ihre Gedanken und Gefühle sofort auf die Realität auswirken. Sie werden Wirklichkeit! Fortan muss sie lernen, sich zu kontrollieren, um nicht versehentlich Dinge zu erschaffen, die sie nicht will. Als sie zu allem Überfluss auch noch vom Militär gejagt wird, scheint diese Aufgabe jedoch fast unmöglich. Glücklicherweise ist da aber noch Nikolas Key, ihr seltsamer Begleiter, der ihr alles über das Gesetz der Anziehung beibringt. Das einzige Gesetz, das sie kennen muss, um mit ihren Fähigkeiten umgehen zu können. Doch Nikolas birgt ein unglaubliches Geheimnis und es scheint, als wolle er dasselbe von ihr wie das Militär. Den außerweltlichen Splitter, der in ihrem Körper steckt - die unbekannte Quelle ihrer Kraft.
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Seitenzahl: 348
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Nicht die Welt, sondern sich selbst zu verstehen und Akzeptanz, Liebe und Verständnis entgegenzubringen, ist das Ende allen Leids. Die Welt sollte nicht anders sein, als sie ist. Aber sie wird sich ändern, wenn wir es tun.
Das Land der Götter
Eine vergrößerte Ansicht der Land- und Stadtkarte findest du auf der Webseite: www.euphoria-lane.de
Vorwort
1 Ein fast normaler Tag
2 Pechvogel
3 Schicksal
4 Ein neues Leben
5 Lucy
6 Gewalt
7 Gedanken
8 Zeitbombe
9 Das Gesetz der Anziehung
10 Wirklichkeit
11 Das Leben spüren
12 Der innere Kampf
13 Gefangen
14 Verbündeter
15 Entfacht
16 Nichts ist unmöglich
17 Falle
18 Nikolas
19 Angst
20 Am Ende
21 Vergangenheit
22 Erinnerung
23 Wut
24 Verrat
25 Eine letzte Lektion
26 Die Wandlung
27 Nicht vorbei
28 Zu Hause
Liebe Leserin, lieber Leser,
mit diesem Buch (und den darauf folgenden Bänden) hältst du eine Geschichte in den Händen, die sich mit Themen der Bewusstseinsentwicklung befasst – hauptsächlich mit dem Thema »Gesetz der Anziehung« und der Frage, wie wir mit unserem Sein Einfluss auf unser Leben nehmen können. »Euphoria« ist ein Abenteuer, das wichtige Erkenntnisse dazu vermittelt und sich darüber hinaus mit der Frage beschäftigt, wer wir sind. In der Geschichte waren wir alle einmal Götter, die sich ihrer Macht und ihres Einflusses auf die Realität vollkommen bewusst waren. Und so ist die Entwicklung, welche die Protagonisten in »Euphoria« durchlaufen, eine Erinnerung an ihr wahres Potential.
Doch auch die Frage, was Realität ist, spielt hier eine große Rolle. Mittlerweile weiß sogar die Wissenschaft, dass das Bewusstsein Einfluss auf die Realität hat und stellt die Vermutung auf, dass es sich bei der Realität um nichts weiter als ein Hologramm handelt. In »Euphoria« tritt die Hauptprotagonistin Lucy eine Reise der Bewusstwerdung vom Opfer zum Schöpfer ihrer Realität an. Und mit ihr gemeinsam können auch wir viele wichtige Dinge über uns und unser Leben bzw. die Realität erkennen und lernen.
Doch natürlich handelt es sich hierbei um eine fiktive Geschichte, die nichts Anderes will, als zum Nachdenken über die eigene Wirklichkeit anzuregen. Sie erhebt nicht den Anspruch auf die absolute Wahrheit und sagt nichts über das Existieren von übersinnlichen Phänomenen, anderen Welten, fremden Wesen oder der Kontrolle und den Machthabern unserer Welt aus – obgleich sie all dies auch nicht verneint. Sie will nur das Hinterfragen der Wirklichkeit bewirken und vermittelt auf spannende Art die Anwendung und Umsetzung des Gesetzes der Anziehung im Alltag durch das Spiel der Götter – Euphoria. Die Erkenntnisse zum Spiel der Götter findest du noch einmal in Sachbuchform in den Büchern »Euphoria – Das Spiel 1 & 2« und in »Euphoria – Die Power-Spiele« und »Euphoria – Programmiere dich um«. Die Geschichte zu diesem Spiel, deren 1. Band du hiermit in den Händen hältst, ist eine Erkenntnisreise, in der du das Spiel der Götter und seine Wirkungsweise für dich selbst entdecken und erleben kannst. Was damit alles möglich ist, musst du für dich selbst herausfinden und mit deiner eigenen Wirklichkeit verknüpfen. Denn das Spiel der Götter ist hier die Substanz aller Ereignisse – einschließlich der übersinnlichen Themen – und es wird auch an all diesen Ereignissen erklärt und beleuchtet, was jedoch nicht bedeutet, dass ein Aufheben der physikalischen Gesetze durch das Spiel der Götter möglich ist – so wie es in der Geschichte geschieht. Auch kann das Spiel keine Heilversprechen geben. Es dient lediglich dazu, alles, was du über die Realität zu wissen glaubst, zu hinterfragen und dich zu deinem eigenen Bewusst-sein zu führen, das alle Antworten bereits kennt. Die Geschichte will dich dazu animieren, das Spiel der Götter für dich selbst auszuprobieren, denn schon beim Lesen findet automatisch ein Nachahmeffekt statt, wenn Lucy beispielsweise durch das Spiel lernt, die Kontrolle über ihre Gefühle und Gedanken zurückzuerlangen.
Über Geschichten und Märchen können wir viel über uns selbst lernen. Denn durch das emotionale Erleben der Ereignisse und das Mitfühlen mit den Protagonisten, reflektieren wir, wir hinterfragen, spiegeln, lernen, finden Antworten oder neue Fragen und wir entwickeln uns. Wir treten die Reise mit den Protagonisten gemeinsam an und lernen – durch unsere Empathie mit ihnen – dieselben Dinge, die auch sie lernen. Geschichten können uns verändern, weil wir sie miterleben. Und das ist auch der Sinn und Zweck dieser Romane. Tauche einfach in die Geschichte ein und schaue, was mit dir geschieht, welche Fragen sich dir stellen oder welche Antworten in dir selbst aufkommen. Jeder erlebt die Geschichte anders.
Wenn du dich auf diese Geschichte einlässt, wirst du ein turbulentes Abenteuer erleben und mit den Protagonisten wachsen, lachen und weinen, Glück erleben und Schmerz, jedoch wirst du auch große Erkenntnisse erfahren und die Welt und dein Leben danach mit anderen Augen betrachten.
»Euphoria« ist Teil einer noch viel größeren Geschichte. Bedenke, dass es zu Euphoria noch die Nebenromane »Götterkinder« und «Marin« gibt. Und es gibt noch die »One«-Reihe, die sich mit dem Thema der Polarität und der Erleuchtung befasst. In der Fortsetzung »DiVine« verbinden sich die beiden Reihen »One« und »Euphoria« zu einer Einheit. Am Ende des Buches findest du eine Auflistung aller Bücher dieser großen Geschichte.
Ich stelle dir dieses und auch alle anderen Bücher so gut wie kostenlos zur Verfügung, da ich nur noch auf Spendenbasis arbeite. Du bezahlst also nur die Druck- und Dienstleistungskosten des Verlags und der Shops. Wenn dir die Bücher gefallen und helfen, würde ich mich deshalb sehr über eine Spende als Dankeschön freuen. Mit diesen Spenden verwirklichen wir immer neue Projekte – zum Beispiel das kleine Lumenia, das wir kostenlos für alle aufbauen wollen. Auch kann ich durch deine Unterstützung an neuen Büchern arbeiten und weitere hilfreiche Inhalte erschaffen, die dir und anderen auf dem spirituellen Weg helfen. Du findest mich in der Euphoria-Lane: www.euphoria-lane.de
Nun wünsche ich dir viel Spaß bei deinem »Euphoria«-Abenteuer!
Es war Sommer. Schon wieder. Und dieses Mal war er auch noch viel zu früh gekommen. Ärgerlich wischte sich Lucy den Schweiß von der Stirn. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er dieses Jahr auch ausfallen oder sich zumindest verspäten können. Wie im letzten Jahr, als der Winter gar kein Ende hatte nehmen wollen. Aber so hatte ihre persönliche Hölle in diesem Jahr schon früh begonnen.
»Mistdinger!«, schimpfte sie leise und klopfte sich die Pollen von der Sporthose. Sie flogen wie riesige Schneeflocken über den Sportplatz. Langsam, bedrohlich und unaufhaltsam. Zum hundertsten Mal bereute sie es, dass sie an diesem Tag gekommen war. Sie war ohnehin fast nie wirklich in der Lage, an irgendetwas in diesem Sportverein teilzunehmen. Wie hatte sie sich nur einbilden können, gerade heute, beim Sportfest ...
Wieder kitzelte es ihr in der Nase und sofort schossen ihr Tränen in die Augen. Dann nieste sie. Vier Mal hintereinander. Warum war sie heute Morgen überhaupt aufgestanden?
Erschöpft und schwindelig setzte sie sich wieder auf den Tribünenplatz und wühlte ein Taschentuch aus ihrer Potasche. Der Hundert-Meter-Lauf war vorbei und die Sportler stellten sich bereits in zwei Reihen vor den Sandkästen für den Weitsprung auf. Lucy versuchte an dem Mann mit dem riesigen Schaumstoffhut vorbeizuschauen, um ihrer Freundin beim Springen zusehen zu können. Sie beugte sich ein wenig vor und lugte über seine Schulter. Dann stieß ihr plötzlich etwas Spitzes in die Rippen. Lucy wandte sich um und blickte in das verärgerte Gesicht des kleinen, blonden Mädchens, das neben ihr saß.
»Ich seh nix!«, schimpfte sie, wobei sie ihre Augenbrauen zusammenzog und den kleinen Mund anschließend zu einer schmalen Linie spitzte.
Lucy lehnte sich resignierend wieder zurück und starrte missbilligend den karierten Hut an. Am liebsten hätte sie diesem Typen das alberne Ding vom Kopf gefegt. Er hatte sie nicht einmal eines Blickes gewürdigt, als sie ihn angesprochen hatte. Nur ein verächtliches »Aach!« war aus seinem mit Pommes Frites gefüllten Mund gekommen. Und bei der abwertenden Handbewegung hatte er fast sein Bier ausgekippt. Wenn sie wenigstens Platz gehabt hätte, um ein wenig zur Seite zu rücken. Aber sie war regelrecht eingekesselt. Seufzend stellte sie ihre Tasche zwischen die Füße, stützte sich mit den Händen von der Bank ab, versuchte ihren schwachen Kreislauf und das leichte Schwindelgefühl, das damit verbunden war, zu ignorieren und stand schließlich wieder auf. Normalerweise hätte es ihr wahrscheinlich gar nichts ausgemacht stundenlang zu stehen. Normalerweise. Aber sie war eben nicht normal. Ein normaler, gesunder Mensch konnte ohne Anstrengung aufstehen und musste dabei nicht befürchten umzukippen, weil es viel zu heiß war und die Pollen ihm die Nasenschleimhäute zuschwellen ließen, so dass er nicht atmen konnte und sich vor Erschöpfung schließlich doch wieder hinsetzen musste. Aber das hatte den Affen mit dem Riesenhut ja nicht interessiert. Glücklicherweise saß hinter ihr niemand, dem sie jetzt die Sicht versperrte. Sie saß ganz hinten, in der letzten Reihe. Wie immer. Nicht etwa, weil es ihr gefallen hätte, oder weil es schon zur Gewohnheit geworden war, dass sie über Riesenköpfe oder -hüte hinwegsehen musste. Nein, sie war einfach mit einem Pech gestraft, das ihr lediglich den allerletzten kinderpopodünnen Streifen darbot, der auf der Tribünenbank noch zu finden war. Weil sie auf wundersame Weise jedes Mal zu spät kam, wenn solche Veranstaltungen stattfanden. Egal, wie früh sie losfuhr. Anscheinend passierten die unmöglichsten und verrücktesten Vorfälle immer genau dann, wenn sie unterwegs war. Als warteten sie nur darauf ihr das Leben schwer zu machen. Heute waren es ein paar Jugendliche gewesen, die es offenbar lustig gefunden hatten in der S-Bahn die Notbremse zu ziehen, die Tür aufzutreten und dann lachend davonzulaufen. Als die Bahn dann endlich weitergefahren war – nachdem der Fahrer ausgiebig die Tür inspiziert und wieder geschlossen hatte – und sie an ihrer Haltestelle hatte aussteigen wollen, hatte eine ältere Dame sie, gerade sie (waren da nicht noch ungefähr 100 andere Leute in der Bahn, die mindestens genauso nett und hilfsbereit aussahen wie Lucy?) darum gebeten, sie zum Ärztehaus zu begleiten. Lucy hatte sie angesehen, als sei sie von der Spezialeinheit Haltet-Lucy-um-jeden-Preis-auf geschickt worden. Aber natürlich war sie so nett. Das war sie immer. Viel zu nett.
Miriam stand jetzt bereits bei den Tischen mit den Getränken und hielt sich eine Wasserflasche an den Mund. Ihr Sprung war also schon vorbei.
»Toll«, murmelte Lucy und biss vor Wut die Zähne zusammen. Dann blickte sie grimmig auf den Typen hinunter, der ihr ganz offensichtlich den Tag vermiesen wollte. Wenn das überhaupt noch möglich war. Ärger kochte in ihr hoch und ein erschreckend starkes Gefühl von Frust und Traurigkeit, das nur zum Teil etwas mit ihm und dem dämlichen Hut zu tun hatte. Sie hob wieder den Blick und beobachtete frustriert die anderen Sportler. Wie sie vollkommen unbeschwert ihrem Hobby nachgehen und Sport treiben konnten, die volle Kontrolle über ihre Körper hatten und Leistungen erbrachten, von denen sie nur träumen konnte. Sie wollte auch da unten sein. Ihre Freundin dort anfeuern, wo sie sie hören konnte. Ihr gratulieren, weil sie sich womöglich schon wieder selbst übertroffen hatte. Und sie wollte auch selbst springen. Und angefeuert werden. Sie wollte laufen und werfen und ... einfach dabei sein. Leben! Und Spaß haben! Es genießen einen Körper zu haben, der normal und vernünftig funktionierte. Aber das würde niemals so sein. Und dass sie sich von Miriam hatte überreden lassen, sich mit ihr in diesem Sportverein anzumelden, würde an dieser Tatsache auch nie etwas ändern.
Wieder kitzelte es in ihrer Nase. Sie kramte fluchend ihr Taschentuch heraus und nieste hinein. Fünf Mal. Am liebsten hätte sie sich ihre verflixten Allergien und Krankheiten in diesem Moment aus dem Körper geprügelt. Sie hinderten sie am Leben. Sie hinderten sie daran, Spaß zu haben und Dinge zu tun, die sie mochte. Ihr Frust und ihre Wut steigerten sich ins Unermessliche. Sie hasste ihre Krankheiten! Sie hasste sie wie die Pest. Und sie hasste sich selbst dafür, dass sie diese Krankheiten hatte. Warum konnte sie nicht einfach normal sein? So wie Miri.
Den Tränen nahe tupfte sie sich ihre rote Nase trocken und steckte das Taschentuch wieder weg. Dann legte sie resignierend den Kopf in den Nacken und blickte seufzend in den azurblauen, wolkenlosen Himmel. Warum?, dachte sie. Warum war ihr Leben nur so schwer, während das ihrer Freundin so unbeschwert und leicht war? So fröhlich und erfüllt. Was machte sie falsch? Sie war doch kein schlechter Mensch. Wofür wurde sie so hart bestraft? Eine Träne rollte ihr über die Wange und versank in ihrem Mundwinkel. Sie wischte sich den salzigen Geschmack von den Lippen und wollte gerade noch einmal ihr Taschentuch aus der Hosentasche ziehen, als sie etwas am Himmel bemerkte. Es sah aus wie eine kleine Scherbe, die das Sonnenlicht reflektierte und dabei funkelte wie ein Stern. Lucy zwinkerte ein paar Mal und kniff die Augen ein wenig zusammen, um es besser erkennen zu können, als plötzlich die Zuschauer anfingen laut zu jubeln und zu klatschen. Unbeteiligt wandte sie sich um und sah wie Mark Vrender Anlauf nahm und zum Sprung ansetzte. Miri stand daneben und klatschte aufgeregt mit. Lucy huschte ein kurzes Lächeln über die Lippen. Er war Miriams großer Schwarm. Und – nebenbei bemerkt – der beste Sportler von allen, was wohl die große Aufregung der Zuschauer erklärte. Als er ein weiteres Mal den Vereins-Rekord gebrochen hatte, blickte Lucy wieder über die Bäume und stellte überrascht fest, dass das Funkeln näher gekommen war. Zumindest vermutete sie das. Es war jetzt viel deutlicher und heller. Und obwohl es immer noch winzig klein war, entdeckte sie jetzt verschiedene Farben darin. Mal rot, dann blau und einen Moment später grün und violett. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie nun, dass auch ihr Platznachbar auf das Funkeln aufmerksam geworden war, seine Begleiterin anstupste und in den Himmel zeigte.
»Vielleicht ein Stück von einem Satelliten, oder so?«, sinnierte sie und hielt sich die Hand über die Augen, um die blendende Sonne damit abzuschirmen.
»Quatsch!«, entgegnete der Mann barsch.
Und dann ging alles so schnell, dass Lucy auf die vielen Dinge, die in den nächsten Sekunden passierten, nicht mehr reagieren konnte. Es geschah alles gleichzeitig. Sie wandte sich zunächst um, um sich in das Gespräch ihrer Platznachbarn einzubringen. Dann sah sie das erschrockene Gesicht der Frau. Sie blickte Lucy mit aufgerissenen Augen an, zuckte zugleich zusammen und riss ihren ganzen Körper zur Seite. Ihren Mann zog sie mit sich. Im selben Moment spürte Lucy, wie ein stechender Schmerz sie wie ein Pfeil an der Hand traf und ihren Arm mit einer solchen Wucht nach hinten riss, dass sie mit mehreren Überschlägen rückwärts von der Tribüne flog. Sie hörte einen kurzen, hellen Schrei, während sie durch die Luft schleuderte. Dann schlug sie dumpf auf der Wiese auf.
Ihre Hand brannte wie Feuer. Die Geräusche um sie herum sausten davon, als führe sie auf einer Autobahn am Geschehen vorbei. Aus weiter Ferne hörte sie Rufe. Hilferufe. Sie wollte aufstehen und nach ihrer Hand greifen, in der das Blut zu kochen schien. Aber sie konnte ihren Körper nicht bewegen. Ihre Reflexe waren wie ausgeschaltet. Alles fühlte sich weich an. Wie Butter, die in diesem Moment in der Sonne schmolz und sich auf der Wiese verteilte. Und sie spürte nicht einen einzigen Muskel oder Knochen in ihrem Körper. Sie lag nur – ihr Bein seltsam verdreht – auf dem Rücken und starrte nach oben.
Über ihr verbogen sich die Bäume. Sie wölbten sich als würde jemand einen Ballon unter ihnen aufblasen und sie zur Seite drücken. Und die Pollen, die durch diesen unsichtbaren Ballon flogen, verwandelten sich in fußballgroße Wattebällchen. Dann verschwamm alles vor ihren Augen. Und als sie die Umrisse der Menschen sah, die auf sie zu eilten, wurde plötzlich alles ganz dunkel.
Wieso perlt das Pech an manchen Menschen ab, wie Regen an einem Ölteppich – und an manchen bleibt es haften wie Teer und Federn? Das war die Frage, die sich Lucy stellte, als sie die Augen öffnete und eine Traube von Sanitätern und Ärzten um sich herum sah.
»Sie ist wach!«, rief einer aus. Sie schienen in Panik zu sein.
Lucy runzelte die Stirn. War sie etwa so schwer verletzt? Sie wollte den Kopf heben, aber jemand drückte sie wieder hinunter. Sie wurde gerade sehr schnell durch einen Gang geschoben. Sie blickte nach oben und sah die Lichter an der Decke. Aber es sah immer noch alles merkwürdig aus. Irgendwie wabernd, als wäre nichts um sie herum fest. Sie versuchte, den Arzt zu fragen, was los war. Aber die Worte kamen nur nuschelnd aus ihrem Mund. Also griff sie mit der Hand nach dem weißen Kittel, der aussah wie eine Wolke. Jemand beugte sich zu ihr hinunter und sie stellte ihre Frage erneut.
»Ihr Bein ist gebrochen und Sie haben innere Verletzungen. Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte er.
Lucy wollte sich vor diesen Worten erschrecken. Aber sie war ganz entspannt. Ja geradezu selig und ruhig. Als sei alles in bester Ordnung. Sie runzelte wieder die Stirn. Sollte sie nicht beunruhigt sein? Sie fühlte ihren Körper kaum noch. Bis auf das Brennen in ihrer Hand. Eine Erkenntnis sickerte in ihr Bewusstsein. Wenn sie nichts spürte, hieß das, dass ihr Rückgrat etwas abbekommen hatte? War sie etwa gelähmt? Wieder versuchte sie, sich zu erschrecken. Aber schaffte es nicht. »Mmmeine Hand«, murmelte sie nur und hob ihre brennende Hand hoch. Aber niemand reagierte.
Stattdessen redete der Arzt mit jemandem, der sich wohl hinter ihr befinden musste. Er sprach von Frakturen. Es waren also mehrere. Nun gut, sie war auch ziemlich hart auf dem Boden aufgeschlagen. Aber warum fühlte sie keinen Schmerz? Stand sie noch unter Schock? Fühlte sich ein Schock so an? So völlig friedlich und ruhig?
Eine große Flügeltür wurde geöffnet und sie wurde hindurch geschoben. Jemand sagte: »OP vorbereiten.«
Lustig, dachte sie. Jetzt wurde sie operiert. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hatte überhaupt keine Angst. Stattdessen fand sie das Gewusel all der Schwestern recht amüsant. War sie etwa high? Hatten sie ihr Lachgas gegeben? Oder Morphium? Sie wollte lachen, weil alle so panisch aussahen, sie aber die Ruhe selbst war. War sie nun doch schon so abgehärtet von ihrem Leben, dass sie sich gerade gar nicht aufregen konnte? Dass sie sich nicht einmal erschrecken konnte? Fand sie das alles schon so normal, dass sie darüber lachen musste?
Sie bezeichnete sich zwar nicht gern als Pechvogel (sie bevorzugte den Begriff »verflucht«), aber Pech war genau das, was ununterbrochen in ihrem Leben geschah. Seit sie denken konnte. So etwas wie das hier war also nicht wirklich ungewöhnlich. Katastrophen passierten ständig in ihrem Leben. Und sie spielte gedanklich meist schon alle Eventualitäten durch, die passieren konnten. Um darauf vorbereitet zu sein. Ja, sie stand morgens sogar schon mit Katastrophengedanken auf. Nicht, weil es ihr Spaß machte. Sondern weil es einfach normal für sie war. Sie wollte eben möglichst auf alles vorbereitet sein, was eventuell passieren könnte. Das gab ihr in ihrem vom Pech verfolgten Leben ein wenig Sicherheit. Aber auf das hier hätte sie sich unmöglich vorbereiten können. Wer ging denn schon von der Möglichkeit aus, von einer mit hunderten Menschen besetzten Tribüne geschossen zu werden? Von irgendeinem Gegenstand, der durch die Luft flog? Sie musste sich eingestehen, dass man sich eben nicht auf alles vorbereiten konnte. Denn manche Pechvögel scheinen eben mehr Pech zu haben als andere. Und Lucy war einer davon.
Sie wurde in der Mitte des Raumes abgestellt. Ärzte und Schwestern liefen umher, bereiteten sich vor, warfen mit Fachbegriffen um sich und Lucy blickte die große Lampe an, die über ihr hing. Sie waberte genauso wie alles andere. Sie bewegte sich, als würde sie aus fließendem Sand bestehen. Am liebsten hätte sie hinein gegriffen, um zu testen, ob sie wirklich so flüssig war, wie sie aussah.
Doch dann wurde sie wieder von dem Brennen in ihrer Hand abgelenkt. Sie stöhnte auf und ballte die Hand zu einer Faust. Es fühlte sich an, als würde Lava durch ihre Adern fließen. Das Brennen stieg hinauf bis in ihre Schulter, dann in ihren Brustkorb und breitete sich schließlich in ihrem ganzen Körper aus. Ihr traten Schweißperlen auf die Stirn und sie stieß einen Schrei aus, bei dem sie es endlich schaffte, ihren Körper zu bewegen. Sie winkelte die Beine an, wobei es heftig knackste und sich an verschiedenen Stellen in ihren Beinen ein glühendes Stechen bemerkbar machte. Sie hatte das Gefühl, ihre inneren Organe, ihre Glieder und sogar ihr Blut würden in Flammen stehen! Sie schnappte nach Luft, als die Schwestern ihren Körper wieder nach unten drückten und sah, wie die Lampe über ihr wild zu flackern begann. Neben ihr stand ein Monitor, der plötzlich ausfiel und sie hörte ein Scheppern, als habe jemand alle Instrumente vom Tisch gefegt. Wieder sah sie Lichtpunkte in der Luft herum schwirren und wieder wölbte sich alles. Der Raum dehnte sich nach außen aus, als würde ein Ballon gegen die Wände drücken.
Lucys Körper bebte plötzlich. Sie drückte das Kreuz durch, wobei sie erneut ein Knacken hörte und spürte dabei, wie eine unbeschreibliche Energie ihre Wirbelsäule hinauf kroch. Sie bebte und surrte in ihren Knochen wie Strom. Ihr Körper krampfte und entspannte sich rhythmisch, zitterte, streckte sich und zog sich wieder zusammen. Und sie hatte keine Kontrolle darüber. Auch die Schwestern hatten kaum genug Kraft, ihren Körper festzuhalten.
»Fixieren!«, rief jemand.
Sie sah eine Frau mit einer Spritze. Lucy hasste Spritzen. Sie hatte Spritzen schon immer gehasst. Aber vermutlich war diese notwendig, dachte sie. Dennoch war es nicht möglich, ihr die Spritze zu verabreichen, weil ihr Körper einfach nicht still hielt. Und einen Moment später sah Lucy, wie die Spritze in der Hand der Frau zerfiel. Sie zerfiel in winzige kleine Stücke! Lucy traute ihren Augen nicht. Die Teile rieselten zu Boden und die Flüssigkeit tropfte von der zitternden Hand der Frau. Sie sah die Schwester an, die fassungslos auf ihre Hand starrte. Wie konnte eine Spritze einfach so zerfallen? Was ging hier vor sich?
Das Licht über ihr flackerte immer heftiger. Und die Stimmen um sie herum wurden immer lauter und panischer. Lucy sah Lichtblitze durch den Raum zucken. Und irgendwann wurde das flackernde Licht so unerträglich hell, dass es in ihren Augen schmerzte. Sie kniff die Augen zu und in dem Moment zerplatzte die Lampe. Sie zersprang mit einem heftigen Knall.
Scherben rieselten auf sie hinab. Und Schreie hallten durch den Raum. Dann war es ganz dunkel. Und ruhig. Und auf einmal beruhigte sich Lucys Körper wieder. Er wurde still. Das Krampfen hatte schlagartig aufgehört. Lucy ließ sich erschöpft auf die Liege fallen. Sie sah noch, wie jemand die Tür öffnete und ein wenig Licht in den Raum fiel. Und sie sah die erschrockenen Gesichter der Schwestern und Ärzte. Sie sahen sich entsetzt um. Und sie sahen Lucy erschrocken an. Ihre Blicke wanderten über Lucys Körper – ungläubig, erschrocken und fassungslos. Sie berührten sie. Betasteten sie. Und wirkten dabei völlig entsetzt. Lucy wusste nicht, was sie sahen. Sie wusste nur, was sie spürte. Sie konnte ihren Körper wieder fühlen – doch er fühlte sich anders an. Ganz anders. So als sei sie in einen anderen Körper hinein geschlüpft. Einen Körper, der das absolute Gegenteil von ihr war. Kraft pulsierte plötzlich durch ihre Adern. Eine Kraft, die sie noch nie zuvor gespürt hatte.
Nikolas lehnte am Fensterrahmen und sah nachdenklich hinaus. Sein Apartment lag im obersten Stockwerk. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die Parkanlage, aus derer Mitte sich das große, bekannte Kuppelgebäude erhob. Er konnte genau das Loch sehen, das er vor wenigen Stunden in sein gläsernes Dach geschossen hatte. Es funkelte im Sonnenlicht wie ein kleiner Stern, der sich auf das gewölbte Glas gesetzt hatte. Das ganze Gebiet um das runde Gebäude herum war abgesperrt und mit grün uniformierten Gardisten bestellt, die das Gelände nach Splittern absuchten. In ihren Händen hielten sie die Ortungsgeräte, die speziell für diesen Ausnahmefall angefertigt worden waren. Vor 10 Jahren.
Als hätten sie es gewusst, dachte er. Wahrscheinlich hatten sie es auch gewusst. Er war schließlich dafür bekannt, Mist zu bauen. Er war ein ungehorsamer Gardist, der manchmal einfach die Kontrolle über sich verlor. Und über seine Kräfte. Vermutlich hatten sie es tatsächlich kommen sehen. Er seufzte schuldbewusst und beobachtete seine Kameraden, wie sie über die Wiesen huschten und die Splitter suchten, die er von dem Kristall abgesprengt hatte. Von dem riesigen, unzerstörbaren Kristall, der sich innerhalb des Gebäudes befand. Er fragte sich immer noch, wie er es geschafft hatte, das Ding zu beschädigen. Es war unmöglich. So hatte er zumindest gedacht. Und seine Kollegen würden nur einige von den Splittern finden können. Die anderen – und das machte ihm ein wenig Sorgen – waren schon lange nicht mehr hier.
Er nahm einen tiefen Atemzug und drehte sich um, bevor es an der Tür klopfte. Alea trat in den Raum. Eine der höchsten Gardisten des Landes. Ihre Uniform war blütenweiß, mit violetten Streifen abgesetzt. Das Wappen von Lumenia trug sie nicht auf der Schulter, so wie er, sondern auf der Brust. Doch ihr feuerrotes, lockiges Haar verdeckte es fast gänzlich. Nach ihr betraten seine Freunde Paco und Hilar den Raum und machten Gesichter wie auf einer Beerdigung. Wie auf seiner Beerdigung.
»Quidea wartet«, sagte Alea und deutete mit der Hand in Richtung Tür.
Nikolas zögerte einen Moment und ließ den Blick ein letztes Mal durch sein Zimmer schweifen. Er war sich nicht sicher, ob er jemals zurückkehren würde. Es bestand eine geringe Chance, aber sie schwand mit jeder Minute, die verstrich. Er spürte genau, was auf ihn zukommen würde. Er konnte die Zukunft nur nicht in Bilder und einzelne Szenen und Situationen verpacken und sie vor seinem inneren Auge abspielen, so wie er es gewohnt war. Sie lag im Dunkeln. Nur ein Gefühl, eine dunkle Vorahnung half ihm, ein wenig Klarheit über die zukünftigen Ereignisse zu erlangen, die auf ihn zu kamen. Und dieses Gefühl war nicht positiv.
Er nahm noch einmal einen tiefen Atemzug und ging dann erhobenen Hauptes zur Tür. Als er an seinen Freunden vorbeiging, boxte er Hilar gegen die Schulter und grinste aufheiternd. »Macht nicht solche Gesichter. Ist doch kein Weltuntergang.«
Sie seufzten gequält und folgten ihm. Der Apartmentkomplex war direkt mit dem Gardezentrum verbunden. Es würde nicht lange dauern, bis sie den Versammlungsraum erreichten und auf Quidea trafen. Ihren Mentor. Und König. Aber der Weg dorthin erschien ihnen wie eine Ewigkeit. Keiner von ihnen sagte ein Wort, während sie mit gesenkten Köpfen durch die langen und lichtdurchfluteten Gänge schritten. Aber sie konnten jeden Gedanken des anderen hören und jede Gefühlsregung spüren. Sie hatten sich alle für diesen letzten gemeinsamen Gang weit geöffnet und jedem den Zutritt zu ihren ganz persönlichen Gedanken- und Gefühlswelten gewährt. Sogar Alea hatte ihre gedankliche Barriere eingerissen und sich in den inneren Dialog eingebracht.
Es wird alles gut, dachte sie mit ihrer festen und selbstsicheren Stimme.
Ja, vielleicht, entgegnete Nikolas. Er wusste es nicht. Keiner von ihnen wusste es. Denn niemand konnte sehen, was sich an dem Ort abspielen würde, an den er geschickt werden würde. Niemand hatte mentalen Zugriff auf diese Welt. Die Welt der verlorenen Menschen.
Von hier aus in die Gegenwelt zu blicken, gelingt wahrscheinlich nicht einmal Quidea, dachte Paco jetzt. Die Schwingung da drüben ist zu niedrig.
Nikolas nickte.
Ich werde dich vermissen, Alter! Das war Hilar. Seine Stimme drang viel lauter und energischer durch ihre Köpfe und auch seine Gefühle waren forscher und aufwühlender. Er war wütend. Und traurig. Er sprach es nie wirklich aus, aber er betrachtete Nikolas als seinen besten Freund. Er war der Mensch, der ihm am nächsten stand. Schon seit seiner Kindheit.
Nikolas wandte sich leicht um und warf ihm einen vertrauten Blick zu. Das typische, freche Grinsen eines Kindes, das etwas ausgeheckt hatte und sich nicht das geringste aus der Bestrafung machte.
Hilar lachte in sich hinein. Du wirst dich nie ändern, oder?
Nein.
Sie lachten leise. Doch dann war es still zwischen ihnen. Nur Gefühle sprangen von einem zum anderen und Bilder aus der Vergangenheit. Paco brachte sich mit einer Szene ein, die ihn für immer an Nikolas gebunden hatte. Das Bild war so klar und deutlich wie ein Film vor ihren inneren Augen. Keiner versuchte, es mit seinen eigenen Bildern zu verdrängen. Sie alle sahen zu, wie Paco als junger Gardist vor dem Ältestenrat stand und für etwas zur Rechenschaft gezogen werden sollte, das er bis heute nicht bereute. Er hatte seine Kräfte gegen einen weißen Gardisten eingesetzt. Gegen Taro – den mächtigsten Gardisten des landes. Nicht direkt, sondern aus der Entfernung heraus und auf eine hinterhältige Weise, so dass niemand genau sagen konnte, wer der Übeltäter war – was ein schwieriges Unterfangen war in einem Land, in dem jeder einfach alles wusste. Nikolas war ihm zur Hilfe gekommen. Er hatte jede erdenkliche Regel gebrochen, um ihn aus dieser Situation zu boxen und alle Schuld auf sich zu nehmen. Es sei ein übler Scherz gewesen, hatte er damals erklärt. Er habe seine Kräfte testen wollen. Der Kerl habe ihn einfach wütend gemacht. Das waren seine Argumente gewesen.
Ich habe die Kontrolle verloren, fügte Nikolas der Liste grinsend hinzu und sah seinen Freund kameradschaftlich an.
Paco blieb ernst. »Du hast dafür eine harte Strafe erhalten. Eine Strafe, die mir gegolten hätte«, sagte er nun laut.
»Sie haben mich nicht annähernd so hart bestraft, wie sie dich bestraft hätten, glaub mir.« Er nutzte die Sonderstellung, die er in Lumenia genoss, zwar nicht aus, aber sie kam ihm oft sehr gelegen. Die Lumenier kannten seine Ausrutscher schon. Und sie entschuldigten sie öfter, als er es verdient hatte.
Paco senkte wieder den Kopf. Ich werde dir das nie vergessen.
Jetzt schnaubte Nikolas entnervt. »Jetzt komm schon... Du tust ja so, als würden wir uns nie wieder sehen«, sagte er.
Paco senkte den Blick. Und Alea sah die drei Freunde interessiert an. Sie kannte all diese Verstrickungen zwischen ihnen. Sie war irgendwie ein Teil davon, hielt sich meistens aber einfach heraus. Doch jetzt sah sie, wie eng diese alten Geschichten sie in all den Jahren zusammen geschweißt hatten. Sie waren schon eine seltsame Truppe. Durch Leid und Schmerz auf ewig verbunden. Es war kein Wunder, dass Nikolas' Auftrag sie alle so sehr aufwühlte. Schließlich wurde gerade das zentrale Vehikel aus dieser Verbindung gerissen. Wer waren sie noch, wenn Nikolas fehlte? Hilar traf es am schlimmsten. Er litt schon jetzt furchtbar unter dieser Trennung. Seine Gefühle waren regelrechte emotionale Stürme, die langsam aber sicher gefährliche Ausmaße annahmen.
Das bekam auch Nikolas mit und sah seinen Freund mit einem freundschaftlichen, jedoch warnenden Blick an. »Reiß dich zusammen«, sagte er. Er konnte seine Gefühle zwar verstehen, aber er wusste auch, wie gefährlich es war, die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren. Besonders hier in Lumenia. Vermutlich wusste das keiner so gut wie er. Er hatte oft genug die durchschlagende Kraft von übersprudelnden Emotionen erlebt. Das letzte Mal an diesem Morgen, als er den Kristall beschädigt hatte. In einem Land wie diesem emotional abzustürzen, war keine gute Idee.
Nikolas ging jetzt voraus, um für alle die große Tür aufzuhalten, die zur Empfangshalle führte. Am Ende der Halle befand sich schließlich der Versammlungsraum. Die Gefühle und Gedanken seiner Freunde wurden zunehmend unruhiger. Sie tosten wild durch ihr Bewusstsein und als sie drohten Überhand zu nehmen, blieb Nikolas stehen und wandte sich zu ihnen um.
»Okay«, sagte er und machte eine beruhigende Geste mit den Händen. »Jetzt kriegt euch wieder ein. Es wird schon werden. So schlimm ist es da drüben nun auch wieder nicht«, log er und er wusste nicht, wer seinen Worten weniger Glauben schenkte. Seine Freunde oder er selbst. »Ich erledige das schnell und bringe euch ein Souvenir mit, alles klar?« Damit beendete er seine Rede und wollte sich schon umdrehen, als Paco wieder das Wort ergriff.
»Niko« Seine Stimme klang schwach und ängstlich. »Du weißt, dass die Chancen nicht sehr gut stehen, dass du überhaupt zurückkommst. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Aber dann verzog Nikolas seinen Mund zu einem ehrlichen, selbstbewussten Grinsen und hielt ihnen die Hand hin. »Wie wär's mit 'ner Wette?«
Paco und Hilar tauschten einen irritierten Blick und lachten.
Dann hob Nikolas selbstsicher den Kopf. »Ich bestimme über mein Schicksal. Ganz egal, wie es jetzt aussieht oder wie es sich anfühlt, es wird letzten Endes meine Handschrift tragen. So wie immer.« Und das konnte er sich auch ohne den geringsten Zweifel glauben. Er vertraute seinen Kräften und seinen Fähigkeiten. Auch wenn er manchmal die Kontrolle darüber verlor, wusste er, dass sie ihn nie im Stich ließen.
Sie legten erleichtert die Hände auf seine und nickten. »Ja, wie immer«, sagten sie und wirkten jetzt ein wenig zuversichtlicher.
Alea legte ihre Hand ebenfalls auf die Verbindung der Freunde und lächelte. »Keine Wette«, sagte sie. »Du hast recht. Du bestimmst über dein Schicksal und ich weiß, ich fühle, dass es gutgehen wird. Egal wie. Auch wenn keiner von uns in diese Welt da drüben blicken kann, um die Zukunft zu sehen. Aber...«, sie hielt einen Moment inne und sah Paco und Hilar an, »wenn du es wirklich zu deinen Freunden zurück schaffst, schenke ich dir etwas aus der ganzen Kraft meiner Fähigkeiten als weiße Gardistin.«
»Du willst mich mit einem Geschenk zurück locken?«, lachte Nikolas.
»Ich will die beiden nicht heulen sehen«, entgegnete sie mit hochgezogener Augenbraue. »Außerdem wird es ziemlich langweilig sein, wenn du hier nichts mehr anstellst.«
»Von mir kriegst du auch etwas«, sagte Paco nun. »Etwas Großes!«
Nikolas lachte herzlich, aber innerlich war er tief ergriffen. Es war eine große Geste, jemandem etwas aus seinen Fähigkeiten heraus zu schenken. Etwas für jemanden zu erschaffen. Ein solches Geschenk kam einer Offenbarung der eigenen Seele gleich. Es war, als würden sie ihm Teile ihrer Persönlichkeit schenken. Und egal wie die Geschenke aussehen würden, sie würden ihr Bewusstsein in sich tragen. Ihre Gefühle und Gedanken. Ihre Zuneigung. Ein solches Geschenk nicht anzunehmen, war die größte Beleidigung, die man sich vorstellen konnte. Es blieb ihm gar nichts Anderes übrig. Er musste zurückkommen. Und das wussten sie auch.
Hilar verschränkte nun die Arme vor der Brust und grummelte. »Und von mir kriegst du 'nen Tritt, wenn du nicht zurückkommst. Ich komme persönlich vorbei und reiß dich an deinen Locken zurück! Das schwöre ich!«
Nikolas lachte, klopfte seinem Freund auf die Schulter und ging schließlich seufzend zur Tür. Seine Freunde folgten ihm auf dem Fuße. Dann betraten sie gemeinsam einen imposanten Raum – die eine Hälfte mit Stühlen bestückt, auf denen offenbar die gesamte Belegschaft des Gebäudes saß und sie stumm anstarrte und auf der anderen Seite mehrere, lange Pulte voller Computer und Monitore. Hinter den Pulten erstreckte sich eine riesige Leinwand, auf der eine Satellitenaufnahme zu sehen war. Mehrere kleine, rote Lichter blinkten über den ganzen Bildschirm verteilt. Eines direkt über Quideas Kopf. Er stand mit verschränkten Armen vor der Leinwand und wartete geduldig, bis Nikolas, Paco und Hilar endlich zu ihm nach vorn traten. Alea setzte sich zu den anderen Gardisten direkt vor einen der Pulte und tippte etwas in einen Computer. Dann ergriff Quidea das Wort.
»Diese Karte zeigt nicht unser Land«, bestätigte er ihre Vermutungen. »Einige der Splitter haben den Schutzwall durchbrochen und befinden sich jetzt auf der anderen Seite.« Quidea war ein Mann von imposanter Größe und einer respekteinflößenden Ausstrahlung. Doch sein Gesicht wirkte stets liebevoll und zuversichtlich. Selbst, wenn die Lage noch so ernst war. Sein Gesicht strahlte die stetige innere Sicherheit aus, dass alles gut werden würde. Davon war er so überzeugt, dass ihn niemals etwas aus der Ruhe brachte. Selbst jetzt nicht.
Ganz im Gegensatz zu Hilar, der gerade missbilligend die Arme vor der Brust verschränkte und brummte. »Wie ist das überhaupt möglich?«, fragte er protestierend. Er war sich nicht sicher, wogegen er überhaupt protestierte. Womöglich nur gegen die Tatsache, dass sein bester Freund auf eine Mission geschickt werden sollte, von der er vielleicht nie wieder zurückkehren würde. »Ich dachte, der Schutzwall kann nicht durchbrochen werden?!«
Quidea kam langsamen Schrittes auf ihn zu und ließ gemächlich seine Hände in die Hosentaschen sinken. Mit geneigtem Kopf sah er ihn an. »Der Schutzwall wurde aus der Energie des Kristalls erschaffen«, sagte er milde. »Was glaubst du, ist die einzige Macht, die ihn durchbrechen kann?«
Hilar verstummte sofort und senkte den Kopf. Er hatte recht. Quidea hatte die faszinierende Fähigkeit, jemandem mit einem einzigen Blick klarzumachen, dass es nichts nützte, sich gegen die Wirklichkeit aufzulehnen. Der Kristall war beschädigt. Das war eine Tatsache. Und die Splitter waren in einer anderen Welt gelandet.
»Und sie müssen zurückgeholt werden«, führte Quidea seine Gedanken zu Ende. »Wir schicken mehrere Truppen hinüber, um sie zu finden.«
»Wie viele Splitter sind es?«, fragte Paco und kam mit seiner Frage Nikolas zuvor.
Alea stand nun wieder auf, nahm einen Stock vom Pult und deutete damit auf die rot blinkenden Lichter.
»Insgesamt acht«, sagte sie. »Die Stücke müssen beim Übertritt zersprungen sein. Jetzt sind sie nicht größer als ein Stecknadelkopf, was die Suche erheblich erschweren wird. Aber mit unseren Geräten sollten wir sie trotzdem schnell finden können. Nur einer von ihnen macht uns Sorgen.«
Quidea hob die Hand und Alea hielt sofort inne.
»Ich möchte, dass du dich um diesen Splitter kümmerst«, sagte er zu Nikolas und sah ihn dabei mit einem bedeutsamen, weisen Blick an. »Ich habe bereits einen Trupp zusammengestellt. Es sind jeweils drei Gardisten für einen Splitter zuständig. Du wirst mit Alea reisen.«
Nikolas wagte es nicht, zu widersprechen, obwohl er starke Bedenken hatte, auch nur einen Fuß in diese Welt zu setzen. Wieder. Er wusste kaum noch etwas von der Zeit, die er dort verbracht hatte. Nur das Chaos und das Leid war ihm immer in Erinnerung geblieben. Und der Schmerz. Der tief sitzende Schmerz von Verlust und das zerreißende Gefühl, machtlos zu sein. Und völlig ausgeliefert. Er war sich nicht sicher, ob er der Herausforderung gewachsen war, sie erneut zu betreten. Tief im Inneren hatte er Angst, dass sich das Leid dieser Welt erneut auf sein Bewusstsein auswirken und er deshalb nicht mehr zurückfinden würde.
Quidea legte eine Hand auf seine Schulter und sah ihn mitfühlend an. Sein väterliches und zuversichtliches Lächeln wirkte ein wenig beruhigend. »Vertraue mir, Nikolas. Du wirst uns den Splitter zurückbringen und keinen Schaden davontragen. Egal wie lange du in dieser Welt verweilst. Ich glaube an dich. Das habe ich immer.«
Nikolas konnte Quideas Vertrauen in ihn jedoch nicht nachvollziehen. Er hatte in seinem Leben schon mehr Mist gebaut, als er jemals gutmachen konnte. Aber vielleicht war diese Mission ja eine Chance. Eine Möglichkeit zu beweisen, dass er nicht vollkommen ungeeignet für diesen Job war. Vielleicht konnte er es wirklich schaffen, diesen Auftrag unbeschadet zu überstehen. Den Splitter zurückzubringen, ohne von der kranken und kaputten Welt und ihren Gefahren verschlungen zu werden. Vielleicht. »Wo muss ich hin?«, fragte er und versuchte, entschlossen zu klingen. Aber sein Gesicht und seine ganze Haltung drückten eher Unbehagen aus.
Alea deutete mit dem Stock auf ein rotes Licht inmitten einer Stadt. Einer der Gardisten an den Pulten zoomte das Bild heran und stoppte, als man den Stadtkern erkennen konnte. Die Häuser, Straßen und Bäume und sogar die Menschen, die in den Straßen auf und ab gingen, waren so gut zu sehen, dass Nikolas glaubte, schon mitten in dieser Welt zu stecken, vor der er sich so fürchtete. Der Gardist schwenkte nun ein wenig nach rechts und hielt an einem großen, grauen Gebäude an. Das rote Licht blinkte direkt an der obersten linken Ecke des Hauses.
»Es handelt sich hierbei um ein Krankenhaus, Nikolas«, sagte Quidea mit einem bedeutsamen Unterton in der Stimme, wobei er Nikolas aufmerksam beobachtete. »Der Splitter befindet sich in einem Menschen.«
Als Lucy aufwachte, hatte sie fürchterliche Kopfschmerzen. Aber wenigstens war das Brennen in ihrer Hand verschwunden. Es hatte noch den ganzen gestrigen Tag angehalten und sie fast um den Schlaf gebracht. Was auch immer sie da getroffen hatte, es hatte offenbar keine schlimmere Verletzung hinterlassen. Vielleicht war es wirklich ein Stück von einem Satelliten gewesen. Oder von einem Flugzeug. Sie schwang die Beine aus dem Bett und betrachtete ihre Hand abschätzend, wobei sie sie mehrmals hin und her drehte. Es war nur ein kleines Mal zurückgeblieben. Ein kleiner, roter Fleck, der aussah wie eine Welle oder wie eine kleine Wolke. Sie drückte mit einem Finger auf die rote Stelle, so wie es die Ärzte gestern unzählige Male getan hatten, und spürte immer noch kein Stechen. Es war wohl wirklich nicht in die Haut eingedrungen. Es hatte sie nur getroffen. Ziemlich hart sogar. Und natürlich hatte es jeden anderen der unzähligen Menschen, die da dicht an dicht auf der Tribüne gesessen hatten, verfehlt und ausgerechnet sie getroffen. Natürlich. Wen auch sonst.
Ihre Freundin hatte sich gestern im Krankenhaus köstlich darüber amüsiert. Nachdem sie sicher gestellt hatte, dass Lucy unverletzt war, natürlich. Aber mit ihrem Gelächter hatte sie Lucy ein wenig den Schrecken genommen. Und dafür war sie dankbar gewesen. Sie hatten schon oft gemeinsam über Lucys unglaubliches Talent gelacht, das Unglück magnetisch anzuziehen. Das hatte ihr sehr oft geholfen, ihr vom Schicksal gebeuteltes Leben zu ertragen. Und so war es auch gestern gewesen.