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Nachdem Lucy herausgefunden hat, welchen unglaublichen Plan Taro verfolgt, steht sie unter ständiger Beobachtung des gefährlichen Gardisten und wird zum Schweigen gezwungen. Bedroht und unter Druck gesetzt, versucht sie aber dennoch, immer wieder zurück ins Spiel der Götter und dessen Leichtigkeit zu finden. Aber als sich in Lumenia ein erschreckendes Ereignis ankündigt und die Bewohner in Lucy und Miriam ihre einzige Hoffnung auf Rettung sehen, stürzt Lucy unter der Last dieser Verantwortung ab. Sie schafft es nicht mehr, sich an die wichtigsten Grundregeln des Spieles zu halten. Und nicht nur das: Auch ihre Kräfte scheinen seit dem Tanz der Götter unberechenbare Ausmaße angenommen zu haben. Und sie ist sich nicht sicher, ob sie es mit diesen Kräften schaffen kann, alles wieder ins Lot zu bringen. Denn neben der Gefahr, die von Taro ausgeht und dem Ereignis, das die Lumenier fürchten, wird sie erneut von Menschen gejagt, die es auf sie und den Lumenischen Kristall abgesehen haben. Dass all diese Ereignisse zusammenhängen, erfährt sie erst, als es schon fast zu spät ist. Am Ende findet sie sich ganz allein vor der Entscheidung wieder, ob sie die Göttin erkennt, die Nikolas schon immer in ihr gesehen hat oder ob sie sich ihren Ängsten und Zweifeln ergibt. Denn nur mit einem festen Glauben an sich selbst kann sie die Geschichte noch zu einem guten Ende bewegen. Weitere Infos zur Euphoria-Reihe und anderen Büchern gibt es hier: www.euphoria-lane.de
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Seitenzahl: 339
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Kampf verrinnt in Akzeptanz, Wut verraucht in Liebe, Angst heilt durch Vertrauen, wenn du erkennst, wer du bist.
1 Gedanken
2 Programme
3 Eine dunkle Vorahnung
4 Marius
5 Ein schlechter Tag
6 Alltag
7 Besuch
8 Schicksal
9 Verzweiflung
10 Hilfe
11 Vermutungen
12 Spielen
13 Bettgeflüster
14 Welten
15 Urlaub
16 Hinterhalt
17 Kampf
18 Schmerz
19 Die Macht der Gegenwart
20 Phil
21 Antrag
22 Flucht
23 Notfallplan
24 5 vor 12
25 Verfolgungsjagd
26 Taros Plan
27 Erwachen
28 Kein Ende
Nikolas' Arm umschlang innig und liebevoll Lucys warmen Körper, der mit dem Rücken eng an ihn geschmiegt lag und in einem Zustand ruhte, den er nicht verstand. Sie schlief nicht. Aber sie war auch nicht wach. Er vermutete, dass sie sich in einem meditativen Zustand befand; einer höheren Bewusstseinsebene, die sie vielleicht selbst noch nicht ganz begriff. Ihr ganzes Sein schwebte in einer absoluten Harmonie mit der Existenz; in völliger Ruhe und Gelassenheit. Ihr Atem ging ruhig und die Schwingungen, die von ihr ausgingen, waren so hoch, dass selbst Nikolas dabei in eine andere Ebene aufstieg. Ob ihr klar war, in welchem Zustand sie sich gerade befand? Er hätte es so gern gewusst. Aber in ihrem Kopf war es seit Stunden so still wie auf einem Friedhof. Und ihre Emotionen schienen vollständig abgeschaltet zu sein. Als er den Kopf hob und ihr Gesicht betrachtete, das im Mondlicht strahlte wie das Antlitz einer blassen Steinskulptur, entdeckte er, dass ihre Augen geöffnet waren und starr aus dem Fenster blickten.
»Lucy?«
Fast im selben Moment ließ sie ein leises »Hm?« verlauten, das mehr wie ein Seufzen klang und kaum etwas von ihrer Stimme trug. Ihre Augen blieben dabei stur auf das Fenster gerichtet.
»Geht es dir gut?«
Kein Ton hörte er in ihrem Kopf. Kein Wort, keine Gedanken, keine Gefühlsregungen kamen aus ihrem Herzen. Nichts.
»Ja«, hauchte sie nach einer Weile. Aber ihr Gesicht war starr wie Stein.
»Würdest du...« Er wusste nicht, wie er sie darum bitten sollte, irgendetwas zu denken, damit er wenigstens einen kleinen Laut in ihrem Kopf hörte und sich keine Sorgen mehr machen musste. Er wusste ja nicht einmal, woran es lag. Ob es nur dieser meditative Zustand war, der sie so still hatte werden lassen? Wenn dem so war, wollte er sie nicht herausreißen, nur weil er sich Sorgen machte. Aber wenn dem nicht so war, wenn sie ihre Gedanken und Gefühle aus irgendeinem Grund vor ihm geheim hielt, dann musste er sich Sorgen machen. »Ich kann deine Ged...«
»Es tut mir leid«, unterbrach sie ihn flüsternd und dann schloss sie ohne ein weiteres Wort die Augen.
Nikolas sah sie ratlos an. Doch im nächsten Moment – als würde ein Blitz der Erkenntnis in ihm einschlagen – wurde ihm klar, was mit ihr los war. Er ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken und hinderte die Erkenntnis daran, von seinem Unterbewusstsein in seinen Verstand aufzusteigen. Er wusste, dass seine Gedanken nicht vor jedem in diesem Land sicher waren. Auch, wenn er eine mentale Mauer darum errichtete. Also dachte er einfach nicht daran, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und versuchte, mit ihrem Duft in der Nase einfach einzuschlafen. Er spürte noch, wie sie seine Hand umfasste und sie langsam zu ihrer Brust führte, um sie auf ihrem Herzen ruhen zu lassen. Er flüsterte noch ein »Ich liebe dich auch« und ließ sich schließlich von seiner Müdigkeit in einen unruhigen Schlaf hinabziehen.
Lucy jedoch blieb wach. Sie fürchtete sich davor, einzuschlafen und versehentlich von etwas zu träumen, wovon Nikolas unter keinen Umständen etwas erfahren durfte. Sie konnte das Risiko nicht eingehen, ihn oder einen anderen Menschen, den sie liebte, mit ihren Gedanken in Gefahr zu bringen. Sie musste den gefährlichen Teil in ihrem Kopf erst irgendwo in ihrem Unterbewusstsein vergraben, damit er nicht mehr an die Oberfläche geraten konnte. Sie hatte es an diesem Abend mehrmals versucht. Aber die Gedanken waren immer wieder aufgetaucht, wenn sie Taro gesehen hatte. Oder Linn. Oder Hilar und Miriam. Also hatte sie eine Barriere errichtet. Und diese Barriere musste sie solange aufrechterhalten, bis sie es geschafft hatte, die Informationen in einem Teil ihres Seins zu verstecken, der Nikolas nicht zugänglich war.
Sie fragte sich, ob Taro sie in diesem Moment belauschte. Und fast im selben Augenblick, in dem sie sich diese Frage stellte, spürte sie sein Bewusstsein. Und die Verbindung, die er zu ihr aufgebaut hatte. Er lauschte. Sie konnte es deutlich fühlen. Er kannte jeden ihrer Gedanken und all ihre Gefühle. Es war, als würde er mit ihr und Nikolas im selben Bett liegen und jedes Wort aus ihrem Kopf hören, als würde sie es aussprechen und nach jedem Gefühl greifen, als bestünde es aus Materie. Sie lag da wie ein offenes Buch, in dem er beliebig hin- und herblättern konnte. Und sie wusste trotz ihrer hohen Energie nicht, wie sie sich davor schützen sollte. Sie wusste auch nicht, warum er der Einzige in diesem Land war, der gedankliche Barrieren überwinden konnte. Offensichtlich konnte dies nicht einmal der König von Lumenia. Und der war – wie Nikolas sagte – der mächtigste von allen. Wieso konnte sie ihre Gedanken vor Nikolas verbergen und sogar vor Alea und Quidea, aber nicht vor Taro? Wieso war er als einziger dazu in der Lage, gedankliche Mauern zu durchbrechen? Und was sie noch viel mehr beunruhigte, war: Wieso konnte sie es?
Wenn Taros Fähigkeiten die am stärksten ausgeprägten in diesem Land waren – und alles schien dafür zu sprechen – mussten seine gedanklichen Barrieren doch geradezu unüberwindbar sein. Und nach dem Entsetzen in seinem Gesicht zu urteilen – als sie seine Gedanken und Gefühle so deutlich wahrgenommen hatte, wie die von Nikolas – waren sie das wohl bisher tatsächlich immer gewesen. Was war nur mit ihr los? Was passierte mit ihr?
Sie beobachtete in ihrem tranceartigen, schwebenden Zustand, wie der Mond von einer Seite des Fensters langsam und gemächlich zur anderen Seite wanderte und ließ den Abend noch einmal Revue passieren, um sich wachzuhalten. Nach Taros gescheitertem Versuch, sie ein weiteres Mal zu manipulieren und ihrer unfassbaren Reaktion darauf, hatte sie mit Nikolas ihre Halskette im Gebüsch hinter der Terrasse gesucht, sie aber nicht mehr gefunden. Sie hatte ihm erzählt, sie sei ihr vom Hals gefallen, als sie sich über die Mauer gebeugt hatte. Sie hasste es, ihn anzulügen. Aber es blieb ihr nichts Anderes übrig. Danach war die kleine Mika auf dem Ball ausgewählt worden, die Energie zu dem Kristall zu leiten. Es war kaum zu glauben, dass dieses kleine Mädchen eine der mächtigsten Lumenier war. Ob sie auch gedankliche Barrieren überwinden konnte? Während sie darüber nachdachte, bemerkte sie nicht, wie ihr die Augen zufielen. Der Gedankenstrom floss weiter unaufhörlich durch ihren Kopf. Selbst dann noch, als sie in einen tiefen Schlaf fiel. Die Bilder setzten sich fort und wiederholten sich wie eine endlose Kette. Erst, als sie – es fühlte sich an, als sei nicht einmal eine Minute vergangen – spürte, wie ihr ein paar Sonnenstrahlen ins Gesicht schienen, blitzte im Bruchteil einer Sekunde Taro auf, wie er ihre Kette mit einem heftigen Energiestoß im hohen Bogen über die Mauer warf. Sie war sofort wach, riss die Augen auf und blickte direkt in Nikolas' Gesicht.
Er sah sie an. So als würde er schon seit einer ganzen Weile daliegen und sie ansehen. Ihr blieb vor Schreck das Herz fast stehen. Sie erneuerte sofort ihre gedankliche Mauer und hoffte, dass er das Bild in ihrem Kopf nicht gesehen hatte.
»Guten Morgen«, flüsterte er lächelnd.
»Morgen«, murmelte sie und lächelte zaghaft zurück. Dabei versuchte sie, in seinem Kopf einen Hinweis darauf zu finden, ob er etwas von ihren Gedanken und Träumen mitbekommen hatte. Aber sie fand nur Bilder von einem Park und einem Kuppelgebäude. Dem Gebäude, in dem sich der Kristall befand.
»Ich möchte dir gern etwas zeigen.«
Sofort riss er die Bettdecke von ihrem Körper, nahm ihre Hand und zog sie aus dem Bett.
»Jetzt sofort?«, fragte sie überrascht.
»Ja«, sagte er, nahm einen Stapel Kleider und legte ihn für sie aufs Bett.
»Die sind von Alea«, klärte er sie auf und lächelte.
Lucy warf einen Blick auf den Stapel und runzelte die Stirn.
»Wann hat sie die gebracht?«
»Vor etwa einer Stunde.«
Lucy erschrak. »Wie spät ist es denn?«
Nikolas sah auf seine Armbanduhr. »Kurz vor sechs.«
»Kurz vor sechs?«, rief sie entsetzt aus. »Steht ihr hier immer so früh auf?«
Nikolas lachte und ging sich mit einer Hand durch sein wirres Haar, um es ein wenig in Form zu bringen. Er sah glücklich aus. Und Lucy konnte seine Glücksgefühle sehr gut nachvollziehen. Das hier war seine Heimat. Das Land, in dem er sich zu Hause fühlte. Geborgen und sicher. Dieses Glück wollte sie ihm nicht madig machen, nur weil es für sie zu früh war, um einen Ausflug zu machen. Sie griff nach den Kleidern und lächelte ihn an.
»Ich warte im Wohnzimmer«, sagte er fröhlich und tänzelte aus dem Raum.
Die Kleidungsstücke waren genauso ungewöhnlich geformt wie alles in dieser Welt. Knopfleisten und Reißverschlüsse waren an ganz anderen Stellen, als sie es kannte. Die weiße Hose – die seltsamerweise keine Naht aufwies – schloss sie an ihrer rechten Hüfte mit einem kurzen, transparenten Reißverschluss und einem kristallähnlichen Knopf. Und das Oberteil – es schimmerte in den unterschiedlichsten Pastellfarben, wenn man es bewegte – ließ sich nur mit einem Band schließen, das sie sich um die Hüfte wickelte und an einem kleinen Knopf festband. Die Ärmel waren lang und trompetenförmig weit und der Ausschnitt lag über ihrer linken Brust. Selbst die schneeweißen Schuhe mit ihrer dunkelbraunen Sohle waren ungewöhnlich geformt. Am oberen Ende, direkt unter ihren Knöcheln, bog sich der dicke, feste Stoff nach außen. Sie hatten keinerlei Verschluss, passten aber, als hätte man sie ihr an die Füße gegossen. Lucy beäugte sich skeptisch im Spiegel, musste aber feststellen, dass ihr Outfit wirklich sehr elegant und reizvoll wirkte. Als sie sich im Badezimmer ein wenig frisch gemacht und ihr Haar gekämmt hatte, betrat sie das Wohnzimmer, in dem Nikolas schon ungeduldig auf und ab ging. Er nahm sofort ihre Hand und verschwand mit ihr aus der Haustür.
Das Gästehaus war nur eines von vielen kleinen, runden Häusern, die in dieser Straße – etwas abgelegen von der Innenstadt – in Reih und Glied standen und von mit Bäumen und Büschen gezierten Gärten umrangt waren. Es lag noch Nebel auf den Wiesen und die Luft roch nach Tau und Moos. Lucy betrachtete die märchenhafte und friedliche Umgebung, während Nikolas sie zwischen zwei großen Wiesen einen Kieselsteinweg entlang führte. Am Ende des Weges gab es einen silbrig schimmernden Torbogen, der in ein kleines Waldstück führte. Als sie dort ankamen, blieb Nikolas stehen.
»Lucy?«
»Hm?«, machte sie und betrachtete die verschnörkelten Symbole an dem Tor.
»Du musst wissen, dass wir da nicht hindurch können, wenn du...« Er sprach nicht weiter, aber natürlich hörte sie in seinem Kopf genau, was er meinte.
»Keine Angst, ich denke nicht negativ«, erklärte sie und sah ihm dabei vertrauensvoll in die Augen.
»Ich kann es nicht hören. Deshalb muss ich dich warnen. Es ist eine Schutzvorrichtung der blauen Garde. Du wirst sofort herausgerissen, wenn du die Kontrolle verlierst.« Dabei senkte er den Kopf und Lucy sah ein erschreckendes Bild aus seiner Erinnerung, in der er durch genau dieses Tor flog und hart auf dem Boden aufschlug.
»Dir ist das schon passiert?«, fragte sie erschrocken.
Er nickte schuldbewusst. »Als ich ein paar Splitter von dem Kristall abgesprengt habe, von denen sich einer in deine Hand gebohrt hat.« Er nahm ihre Hand und streichelte mit dem Daumen über das Mal, das von diesem Unfall zurückgeblieben war.
Lucy betrachtete ihn überrascht. »Wieso hast du das denn gemacht?«
Jetzt lächelte er frech. »Erkläre ich dir drinnen. Bist du bereit?«
Lucy nahm einen tiefen Atemzug, ließ ihre Glücksgefühle ansteigen, so wie sie es immer tat, und schritt mit ihm durch das Tor. Glücklicherweise passierte nichts. Sie gingen wortlos durch das Waldstück und kamen dann an einer großen von hohen Bäumen eingegrenzten Wiese wieder heraus, aus derer Mitte sich ein großes, steinernes und natürlich rundes Gebäude erhob. Die gläserne, hellblaue Kuppel ragte weit über die Bäume hinaus. Lucy blieb jedoch keine Zeit, das Gebäude zu bestaunen, denn Nikolas zog sie sofort zum Eingang, legte seine Hand auf ein Scannergerät und schlüpfte mit ihr durch den Spalt, der sich dann mit einem leisen Surren öffnete. Es gab einen Vorraum, der sich wie ein ringförmiger Flur um den ganzen Saal zu erstrecken schien. Und nach der nächsten Tür durchquerten sie wieder einen solchen Raum. Das Ganze machten sie drei Mal, bis sie endlich an einer Tür ankamen, die vor Schutzmaßnahmen nur so piepte und blinkte. Nikolas musste mehrere Computer bedienen, Codes eintippen, seine Hand scannen lassen und ein computergesteuertes Rad mit seinen Gedanken mehrere Male auf verschiedene Positionen drehen. Erst dann öffnete sich langsam die meterdicke Metalltür.
Lucy war, als würde sie eine warme Energiewelle überrollen. Ein helles Licht trat aus dem Raum und schien ihren ganzen Körper zu durchdringen. Sie fühlte sich, als würde jede einzelne ihrer Körperzellen anfangen zu schwingen und zu vibrieren. Als Nikolas sie dann ein paar Schritte in den Raum zog, hob sie den Blick und stieß ein überwältigtes Seufzen aus. Mitten im Raum, direkt unter dem gläsernen Dach, schwebte eine gigantische, leuchtende Kristallkugel. Sie war so groß, dass sie die gesamte Breite des riesigen Raumes ausfüllte und fast bis zu ihren Köpfen hinunter ragte. In ihrem Inneren schienen sich Lichtquellen in allen Regenbogenfarben zu bewegen.
Nikolas lachte über ihr erstauntes Gesicht und trat näher in den Raum, bis er direkt unter der Kugel stand. Dann winkte er sie zu sich.
Lucy kam langsamen Schrittes auf ihn zu, ließ aber dabei die Kugel nicht aus den Augen. »Hast du keine Angst, dass sie 'runterfällt?«, fragte sie unsicher und duckte sich ein wenig, als sie neben Nikolas stand.
Er lachte wieder, nahm dann ihren Arm und hob ihn hoch, so dass Lucy die Kugel mit einem Finger berühren konnte. Es zog sofort ein so starkes, angenehmes Kribbeln durch ihre Knochen, dass sie unweigerlich anfangen musste zu grinsen.
»Mein Gott«, flüsterte sie benommen. »Das fühlt sich unglaublich an!« Es war warm und trotz seiner Sanftheit so stark, dass sie befürchtete, ihr Körper würde so viel Kraft nicht aushalten können. Als sie den Finger von dem Kristall löste, fühlte er sich ganz heiß an. Und auch das Mal an ihrer Hand wurde ganz heiß und fing zu kribbeln an. Sie berührte es irritiert und sah Nikolas fragend an.
»Es ist immer noch eine Verbindung da«, erklärte er. »Das Stück, das an dieser Stelle in deinem Körper gesteckt hat, ist jetzt wieder Teil des Kristalls. Aber er erinnert sich noch an dich.«
Lucy machte ein verwirrtes Gesicht. »Der Kristall erinnert sich? Wie kann sich ein Kristall an etwas erinnern?«
»Alles ist mit Bewusstsein durchdrungen, Lucy«, sagte er lächelnd. »Mit Informationen. Der Splitter, der jetzt wieder mit dem Kristall verschmolzen ist, hat seine Informationen mit dem Rest des Ganzen geteilt. Das heißt, das riesige Ding hier«, er deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die Kugel, »kennt dich. Es kennt deine Gefühle, deine Gedanken, dein Bewusstsein. Du bist ihm so vertraut, als wärst du ein Teil von ihm. Weil er einst mit dir verbunden war.«
Lucy bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. »Du meinst… mein Bewusstsein ist in diesem gigantischen… Planeten?«
Nikolas nickte lachend. »Die blaue Garde hat mir eigentlich verboten, dir das zu erzählen. Sie denken, du könntest größenwahnsinnig werden, wenn du weißt, dass du mit einem… Planeten verbunden bist.« Dann lachte er wieder.
Lucy konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie war mit diesem Kristall verbunden? Was bedeutete das überhaupt?
»Ich weiß nicht, was es bedeutet«, antwortete Nikolas auf ihre Gedanken und zuckte mit den Schultern, wobei er den Kristall nachdenklich betrachtete. Dabei blitzten in seinen Gedanken Bilder von dem Tag auf, an dem er ihn beschädigt hatte. Er hatte wie üblich seinen Dienst angetreten und seinen Kontrollgang durch dieses Gebäude gemacht, als Taro aufgetaucht war. Er hatte urplötzlich vor ihm gestanden und angefangen, ihn zu provozieren. Lucy konnte nicht hören, was er zu ihm gesagt hatte, aber sie spürte genau, dass es Nikolas sehr verletzt hatte. Taro war so weit gegangen, dass Nikolas vor Wut eine geballte Ladung Energie auf ihn gefeuert hatte. Im selben Moment war die Energiewelle von Taro abgeprallt und hatte den Kristall getroffen. Sie sah die Bilder genau vor sich. Die Splitter schossen aus dem Dach und Nikolas flog im selben Augenblick mit einem Affenzahn aus dem Gebäude und schlug vor dem silbernen Tor auf dem Kieselsteinweg auf. Sie zuckte zusammen, als sie seine Schmerzen spürte.
Nikolas sah sie an und seufzte. »Ich habe die Kontrolle verloren. Das ist in Lumenia ziemlich schlecht.« Dann lachte er wieder.
Lucy aber stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Während Nikolas immer noch darüber grübelte, warum Taro ihn derart provoziert hatte, war es Lucy sonnenklar. So klar, dass sie fürchterliche Angst bekam. Nicht nur vor der Erkenntnis selbst, sondern davor, dass sie überhaupt dazu in der Lage war, es zu erkennen. Den Grund zu sehen, warum Taro so handelte, wie er es eben tat – und die Tatsache, dass Nikolas diesen Grund nicht sehen konnte. Weil Taro seine Gedanken und Gefühle und die Gründe für sein Handeln immer hinter einer undurchdringlichen Mauer verbarg. Undurchdringlich für alle. Nur nicht für sie.
Nikolas blickte sie jetzt so erschrocken an, dass sie zusammenfuhr und sich entsetzt auf die Lippe biss. Er hatte ihre Gedanken gehört. Sie baute sofort eine Mauer in ihrem Kopf auf und wandte schnell den Blick von ihm ab. Wie hatte sie das nur vergessen können?
Nikolas nahm sofort ihre Hand, zog sie aus dem Gebäude hinaus – die Türen schlossen sich hinter ihnen von ganz allein – und lief mit ihr so schnell über die Wiese, dass sie fast über ihre Füße stolperte.
»Wohin rennst du mit mir?«, fragte sie keuchend.
Sie liefen durch das Waldstück auf der anderen Seite und kamen an einer anderen Wiese heraus, in derer Mitte ein weiteres Gebäude stand. Ein viel kleineres Gebäude. Es war silberfarben und hatte – im Gegensatz zu allen anderen Gebäuden in diesem Land – eine eckige Kastenform. Nikolas stürmte mit ihr hinein, lief durch eine Halle, dann durch einen Flur und öffnete dann mit seinen Gedanken eine Tür ohne Griff. Sie schob sich seitlich auf und schloss sich sofort wieder, nachdem sie den Raum betreten hatten. Nikolas umfasste dann sofort Lucys Schultern und blickte ihr eindringlich in die Augen.
»Sag mir was passiert ist, Lucy«, bat er sie.
Lucy wich sofort seinem Blick aus und senkte den Kopf.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, log sie. Sie hörte ihn schnauben. Ob vor Wut oder Verzweiflung, war ihr nicht klar. Es fühlte sich wie beides an.
»Lucy, du kannst hier ruhig reden. Wir sind in einem energiesicheren Raum. Hier werden Menschen eingesperrt, die ihre Gedanken nicht unter Kontrolle haben und eine Gefahr für Lumenia darstellen. Kein Gedanke und kein Gefühl dringt hier je nach draußen.«
Lucy sah sich erstaunt um. War das der Raum, von dem Alea gesprochen hatte, als Lucy sich damals in ihre Trauer hineingesteigert hatte? Sie hatte sie gewarnt, dass die blaue Garde sie hier einsperren würde, wenn sie sich nicht unter Kontrolle hatte. In diesem Raum gab es nichts weiter als einen Tisch und zwei Stühle, die sorgfältig voreinander standen und sich über die Tischplatte hinweg anzublicken schienen.
»Bitte, sprich mit mir«, bat Nikolas erneut. »Ich kann dir nicht helfen, wenn du dich vor mir verschließt, Lucy.«
Lucy senkte jedoch wieder den Kopf.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte sie erneut. Dieses Mal jedoch mit einer Traurigkeit in ihrer Stimme, die ihm fast das Herz zerriss.
»Lucy, ich habe es gesehen. Ich habe in deinen Gedanken gesehen, wie er dir die Kette vom Hals gerissen hat. Was hat er dir angetan? Bitte, sag es mir!«
Sie sah zu ihm auf und entdeckte Tränen in seinen Augen. Er wollte sie beschützen und fühlte sich ein weiteres Mal unendlich machtlos, weil sie seine Hilfe verweigerte. Es verletzte ihn zutiefst, dass sie sich vor ihm verschloss. Obwohl er ahnte, warum sie es tat.
»Er hat mir nichts getan«, beruhigte sie ihn. »Er konnte nicht.«
Nikolas machte ein überraschtes Gesicht. »Was meinst du damit?«
Lucy wich erneut seinem Blick aus und sah sich noch einmal um.
»Du hast mir beigebracht, dass nichts auf dieser Welt energiesicher ist«, sagte sie und sah ihn dann bedeutsam an.
»Ich weiß«, seufzte er. »Und das ist auch die Wahrheit. Aber es kommt auf die Stärke der Programme an. Marius' Waffen umzuprogrammieren war leicht. Aber um diesen Raum hier zu knacken, brauchst du mindestens so viel Energie wie der Kristall, den du gerade gesehen hast. Und kein Mensch auf dieser Welt kann so viel Energie aufbringen, Lucy.«
Lucy dachte einen Moment lang nach und betrachtete den Raum weiter. Sie versuchte zu fühlen, ob sie Taros Bewusstsein spüren konnte, traute sich aber nicht, allzu intensiv nachzufühlen. Sie befürchtete, er würde dann sehen, wo sie sich befand und Verdacht schöpfen.
»Ich traue dem Raum nicht«, sagte sie ängstlich.
Nikolas senkte seufzend den Kopf.
»Dann gib mir wenigstens einen Hinweis«, raunte er. «Nur einen kleinen Hinweis darauf, was passiert ist. Was will er?«
Lucy dachte nach. Was sollte sie ihm sagen? Was konnte sie ihm sagen, was nicht sofort darauf schließen ließ, was Taro vorhatte?
»Er kann gedankliche Barrieren überwinden, Niko«, flüsterte sie. Wahrscheinlich nützte es nichts, aber sie fühlte sich einfach sicherer, wenn sie flüsterte.
»Ich weiß«, flüsterte er zurück.
Dann nahm sie einen tiefen, zitternden Atemzug und fuhr flüsternd fort: »Und ich kann es auch. Ich habe ihn damit erschreckt.«
Nikolas Augen wurden vor Überraschung und Ungeduld immer größer. Er ließ Lucy los, fuhr sich hektisch durch sein lockiges Haar und ging dann in dem Zimmer einige Male auf und ab, wobei er stirnrunzelnd nachdachte.
»Du hast in seinen Gedanken etwas gesehen, das du nicht sehen solltest«, schloss er aus ihren Worten. »Und deshalb hat er versucht, dich zu manipulieren, richtig?« Er hatte große Mühe, seine Zähne beim Sprechen nicht vor Wut zusammenzubeißen.
Lucy antwortete nicht. Sie sah ihn nur an und er verstand.
»Er konnte es nicht«, sagte sie erneut.
Dann blieb Nikolas stehen und sah sie erschrocken an.
»Er konnte nicht, oder er … konnte nicht?«
Sie wusste genau, was er meinte, formulierte den Satz in ihrem Kopf um und schickte ihn an Nikolas: Er war nicht dazu in der Lage. Dann richtete sie schnell die gedankliche Mauer wieder auf.
Nikolas kam auf sie zu und sah sie mit einer solchen Überraschung in seinem Gesicht an, dass es ihr fast unangenehm war. »Er kann dir nichts tun?« Erleichterung mischte sich in seinen erstaunten Gesichtsausdruck.
Sie schüttelte langsam mit dem Kopf, woraufhin er beruhigt die Schultern sinken ließ. In seinem Kopf ertönte ein Gott sei dank!, wobei er sich aber im selben Moment fragte, wie das möglich war.
Lucy antwortete nicht. Sie hatte schon viel zu viel gesagt.
»Lucy, wenn ich diesen Raum verlasse, werde ich alles, was wir hier besprochen haben, in mein Unterbewusstsein sinken lassen. Ich werde nie wieder bewusst daran denken. Er kann also nichts von mir erfahren.«
Sie sah ihn überrascht an. »Er kann nicht in dein Unterbewusstsein sehen?«
Nikolas schüttelte mit dem Kopf.
»Und wenn er es doch kann?«
»Wenn ich nicht bewusst an etwas denke, dann kann er es auch nicht. Gedankliche Barrieren sind nur dazu da, bewusste Gedanken zu schützen. Unbewusste Informationen liegen im Verborgenen.«
In Lucy keimte Hoffnung auf.
»Kannst du mir zeigen, wie das geht?«
Jetzt lächelte Nikolas hoffnungsvoll. »Natürlich.«
Miriam stand schon seit einer viertel Stunde im Nachthemd vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und betrachtete sich nachdenklich. Ihr Blick wanderte immer wieder ihren Körper hinunter, dann wieder hinauf und blieb schließlich an ihren Augen haften. Dann schüttelte sie erneut kaum merklich mit dem Kopf. Träumte sie das alles nur? Oder war die letzte Nacht wirklich geschehen? Stand sie gerade wirklich vor diesem ovalen Spiegel, in diesen ungewöhnlichen Klamotten? In einer Welt, von der – abgesehen von ihr und Lucy – keiner in ihrer Welt etwas wusste? War das alles Wirklichkeit? Waren die letzten Monate wirklich geschehen? Und hatte sie sich tatsächlich mit ihren Gedanken von ihrer Krankheit befreit? Sie konnte es immer noch nicht richtig begreifen.
Sie blickte sich durch den Spiegel in die Augen und fragte sich, wie sie das geschafft hatte. Hatte sie es wirklich mit ihren Gedanken getan oder war es Linns Liste gewesen, die sie geheilt hatte? Sie war verwirrt. Einerseits wurde ihr gerade mehr denn je bewusst, dass die Wirklichkeit ganz anders aussah, als sie immer gedacht hatte. Dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als sie sich in ihren kühnsten Träumen je hätte ausmalen können und Dinge möglich waren, welche die Grenzen ihres Verstands einfach überschritten. Aber andererseits … wenn die Möglichkeiten so grenzenlos waren, warum hatte sie dann eine Ernährungs-Liste von Linn gebraucht, um sich zu heilen? Hätte sie es nicht auch ganz allein mit ihren Gedanken schaffen können? Das musste doch möglich sein. Ihr kamen leise Zweifel, ob sie sich tatsächlich selbst geheilt hatte und ob die Möglichkeiten tatsächlich so unbegrenzt waren oder ob die Menschen hier in Lumenia einfach nur gern daran glaubten. Aber andererseits sah sie auch, wozu die Lumenier in der Lage waren. Was sie tun konnten, ohne auch nur den Hauch eines Zweifels zu haben.
Miriam senkte seufzend den Kopf und massierte ihre Schläfen. Die halbe Nacht hatte sie mit Nachdenken verbracht. Die andere Hälfte hatte Hilar gehört. Sie hatten noch lange am Kamin gesessen und geredet. Über Lumenia, über das Spiel der Götter, über den Tanz und auch über ihre Gefühle. Miriams Mundwinkel zogen sich nach oben, als sie daran dachte wie er ihr seine Gefühle gestanden hatte. Sie war so erleichtert gewesen, als sie erfahren hatte, dass er für sie dasselbe empfand, wie sie für ihn. Und dass er ihr versprochen hatte, eine Lösung zu finden. Eine Lösung für ihre Liebe. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihm zusammen zu sein. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so wohl gefühlt, wie mit ihm. So vollkommen geborgen und sicher. Und so geliebt.
Als sie an ihren Abschiedskuss dachte und noch einmal vor ihrem geistigen Auge sah, wie er heute früh gegangen war, und sie ihm durch das Fenster nachgesehen hatte, klopfte es plötzlich an der Schlafzimmertür.
»Ja?«
Die Tür öffnete sich einen Spalt und gab den Blick auf ein wunderhübsches, schmales Gesicht frei, das Miriam fröhlich anlächelte. Es war Linn. »Darf ich rein?«
Miriam blickte sie einen Moment lang erschrocken an. War sie einfach so ins Haus gekommen? Sie dachte, sie hätte die Tür wieder abgeschlossen, nachdem Hilar gegangen war.
Linns Gesicht verwandelte sich sofort in eine herzzerreißende, entschuldigende Miene. »Oh Gott, das tut mir leid! Ich wollte nicht… ich dachte, du… wir wissen normalerweise, wenn es okay ist, jemanden zu besuchen. Und ich dachte, es wäre gerade ein guter Zeitpunkt. Tut mir leid.«
Miriam machte eine beruhigende Handbewegung und bat sie lachend herein. Sie hatte für einen Moment vergessen, dass die Menschen in Lumenia die Gebräuche der anderen Welt nicht kannten. »Ist schon gut. Ich bin es nur nicht gewohnt, dass jemand einfach so ins Haus kommt. Bei uns wird man dafür bestraft, wenn man ein Haus ungefragt betritt.«
Linn machte ein erschrockenes Gesicht, trat nun aber in den Raum und schloss leise die Tür. In ihrer Hand hielt sie einen Stapel Kleider, den sie nun sorgsam auf das Bett legte. Dann wandte sie sich wieder lächelnd Miriam zu. »Du machst dir Gedanken um deine Genesung«, sagte sie sanft. »Ich dachte, ich komme vorbei und helfe dir ein bisschen, Klarheit darüber zu erlangen.«
Miriam guckte sie überrascht an. »Das hast du mitbekommen?«
Linn lächelte wissend. »Du errichtest oft eine gedankliche Barriere in deinem Kopf. Aber heute Morgen hast du es wohl vergessen.«
»Ich mache was?«
Linn trat ein Stück näher an sie heran und tippte ihr sanft mit einem Finger gegen die Schläfe, die Miriam seit ein paar Stunden wehtat. Der Schmerz verflog sofort und Linn reagierte auf Miriams überraschtes Gesicht mit einem zufriedenen Lächeln. »Mir ist klar, dass du nicht weißt, was du da tust. Aber du hast diese Fähigkeit schon trainiert, bevor du Hilar getroffen hast. Du hast dein Leben lang versucht, deine Gedanken und Gefühle vor anderen Menschen zu verbergen. Besonders vor Lucy. Das Gleiche tun wir, wenn wir unsere Gedanken vor jemandem verbergen wollen. Wir verdrängen sie zwar nicht, so wie du es getan hast, aber wir schützen sie mit einer inneren Mauer, so dass niemand Zugriff darauf hat. Du tust das schon seit einer Weile. Das erste Mal, als dir Marius gegenüber gestanden hat. Erinnerst du dich?«
Miriam dachte sofort an die Szene am Fluss, als Marius sie mit seinen Männern bedroht hatte. Hilar hatte ihr später gesagt, dass er in diesem Moment ihre Gedanken nicht hatte lesen können.
Linn nickte bestätigend. »Und deine Kopfschmerzen kommen übrigens von der Verkrampfung in deinem Kopf«, wechselte sie nun das Thema. »Du strengst dich beim Denken zu sehr an.«
Miriam seufzte. »Weil ich nicht weiß, was ich glauben soll. Alles ist so verwirrend.«
Linn nahm nun ein hellblaues Oberteil von dem Stapel mit den Kleidern und hielt es Miriam vor den Oberkörper, um die Größe abzuschätzen. »Eigentlich ist es ganz simpel«, sagte sie dabei. »Du solltest den Geist und die Materie nicht voneinander trennen. Sie existieren im Einklang miteinander. Natürlich hättest du dich auch nur mit deinen Gedanken heilen können. Aber dazu wäre wahrscheinlich mehr Kraft nötig gewesen.« Jetzt legte sie das Oberteil wieder weg und setzte sich auf das Bett. Miriam setzte sich neben sie.
»Mehr Kraft? Aber ich hatte doch eine Menge Kraft«, erinnerte sich Miriam. »Hilar hat mir dabei geholfen, sie zu steigern.«
»Es ist so«, begann Linn und holte tief Luft, »dein Körper besteht aus Programmen.« Dabei deutete sie mit einem schlanken Zeigefinger auf Miriams Brust. »Schon vor deiner Geburt, während deiner Entwicklung im Mutterleib, wurde dein Körper programmiert. Er erhielt die Programme, wie er zu funktionieren hat. Wie seine Verdauung ablaufen muss, wie warm seine Körpertemperatur zu sein hat, wie die Zellteilung funktionieren soll und die Wundheilung und so weiter. Diese Programme hat er von den Genen deiner Eltern bekommen. Alle Abläufe in deinem Körper sind eingespeicherte Programme. Sie funktionieren von allein. Ohne dein Zutun.«
Miriam nickte, als Linn kurz inne hielt und dann fuhr sie auch gleich fort: »Der menschliche Organismus ist also auf eine bestimmte Weise programmiert, die sich im Laufe der Evolution durchgesetzt hat. Das heißt, alle Programme in deinem Körper haben sich im Laufe der Zeit als nützlich erwiesen und wurden beibehalten. Zum Beispiel auch die Programme, welche Nahrungsmittel für deinen Körper gesund und gut sind und welche nicht, welche Dinge deinem Körper schaden und welche ihm nützen. Das ist eine Speicherung in deinem System. Es ist nur eine von vielen. Aber diese Programme müssen wir beachten, um gesund zu bleiben.«
Miriam dachte einen Moment lang nach und runzelte dabei die Stirn. »Das heißt, es ist ein Programm, dass eine bestimmte Ernährung nützlich für die Genesung meines Körpers ist?«
Linn nickte. »Alle unsere Körper sind so programmiert, dass sie krank werden, wenn sie zum Beispiel durch falsche Ernährung oder durch Stress übersäuert sind. Das ist einfach so. Also müssen wir entweder dafür sorgen, dass wir sie nicht übersäuern oder wir müssen das Programm unserer Gene ändern.«
Miriam zog die Augenbrauen hoch. »Die Gene ändern? Das geht?«
Linn nickte erneut. »Das geht. Aber es erfordert ein bisschen mehr Aufwand, den du zu dem Zeitpunkt deiner Krankheit wahrscheinlich nicht hättest aufbringen können.«
»Hm«, machte Miriam und fragte sich, ob die Menschen in Lumenia schon jemals ihre Gene verändert hatten. Irgendwie konnte sie sich das nicht vorstellen.
»Wir könnten es«, antwortete Linn auf ihre Gedanken. »Aber es besteht keine Notwendigkeit darin, unsere Gene derart zu verändern, dass unsere Körper zum Beispiel nicht mehr übersäuern. Wir ernähren uns aus Überzeugung gesund.«
»Also«, Miriam versuchte die richtigen Worte zu finden, »esst ihr aus Überzeugung kein Fleisch. Und nicht, weil es ungesund ist.«
Linn lächelte ein weises Lächeln, das in ihrem jungen Gesicht wirkte, als habe eine uralte Seele von ihrem Körper Besitz ergriffen. »In erster Linie ist es unsere Überzeugung, ja. Das wirst du verstehen, wenn dir klar wird, dass alles aus Bewusstsein und Energie besteht, es keine Trennungen gibt und alles miteinander verbunden ist. Wenn dir das einmal bewusst ist, hast du an verschiedenen Dingen kein Interesse mehr.«
»Zum Beispiel daran, Tiere zu essen«, schloss Miriam.
»Ja. Oder daran, überhaupt irgendeinem Lebewesen zu schaden. Alles, was wir einem anderen Lebewesen antun, fällt auf uns selbst zurück. Dein Unterbewusstsein kann nicht zwischen außen und innen unterscheiden. Ob du jemandem außerhalb von dir schadest oder dir selbst. Weil wir alle miteinander verbunden sind.«
Miriam zog die Augenbrauen zusammen und versuchte sich diese Verbindung vorzustellen, aber sie konnte sich einfach kein Bild dazu ausmalen.
»Stell es dir wie ein Netz vor«, erklärte Linn. »Ein gigantisches Netz, das in allen Richtungen und Dimensionen alles miteinander verbindet. Die Menschen, die Tiere, die Umwelt und auch die Zeit und den Raum. Wenn sich in diesem Netz ein Knotenpunkt bewegt, bewegt sich das ganze Netz mit. Es muss sich neu um diesen Knotenpunkt herum ordnen, weil dieser Punkt mit allen anderen Punkten in dem Netz direkt verbunden ist, verstehst du? Deshalb können wir auch die Gedanken der anderen hören und ihre Gefühle wahrnehmen. Weil es in Wirklichkeit kein Getrenntsein gibt. Wir sind alle...« Plötzlich hielt sie inne und erstarrte. Ihr Blick ging ins Nichts und schien gleichzeitig das Bett zu durchbohren, auf dem sie saßen.
Miriam hob die Hand und wedelte damit vor ihrem Gesicht herum. »Linn? Ist alles in Ordnung?«
Sie rührte sich nicht. Nur ihre Augen zuckten jetzt hektisch hin und her, als würde sie schwer über etwas nachdenken und verzweifelt versuchen, eine Antwort zu finden.
»Linn? Was ist denn?« Langsam wurde Miriam nervös. Linn wirkte immer so entspannt und ruhig. Sie so hektisch zu sehen, machte ihr Angst.
»Miriam, weißt du wo Lucy ist?«, fragte sie plötzlich.
Miriam zuckte mit den Schultern. »Ich vermute bei Nikolas.«
»Ich war vorhin bei ihnen. Sie sind nicht da. Und ich kann sie auch nicht spüren. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt und das kann nur eins bedeuten.«
»Und was?«
Jetzt sah Linn zu ihr auf und betrachtete sie eine Weile.
»Interessant, dass wir gerade über dieses Netz gesprochen haben. Man nennt es auch das Feld. Über das Feld kannst du nicht nur Informationen von einzelnen Menschen bekommen, sondern auch von Ereignissen. Großen Ereignissen. Die Sache ist nur … ich kann Lucy und Nikolas nicht spüren, was bedeutet, dass sie aus irgendeinem Grund abgeschottet sind. Aber ich spüre etwas Größeres, das mit ihnen zu tun hat. Und mit dir.« Dann sah sie Miriam bedeutsam an. »Und auch mit deiner Familie.«
Miriam erschrak und blickte sie mit großen Augen an.
»Es ist wichtig, dass ihr jetzt zusammenhaltet«, fuhr sie fort. »Frag mich bitte nicht, warum, aber es ist von größter Bedeutung, dass ihr euch gegenseitig in eurer Entwicklung unterstützt und dass ihr Frieden findet. So schnell wie möglich.« Dann stand sie auf und ging rasch zur Tür.
»Warte, Linn! Was meinst du damit?«, fragte Miriam ängstlich. »Frieden finden? Was soll das bedeuten?«
Linn drehte sich noch einmal zu ihr um. Ihr Gesicht war erschreckend ernst.
»Es geht um Liebe. Es geht immer nur um Liebe. Egal wie schlimm das Leid ist oder der Streit. Ihr müsst zur Liebe zurückfinden. Sie ist wichtiger als Verletztheit, Verbitterung und Stolz. Viel wichtiger, als du es dir jetzt vorstellen kannst. Vertrau mir. Sie ist der einzige Ausweg.«
Und dann verschwand sie aus der Tür. Miriam rief ihr noch die Frage hinterher, was sie mit Ausweg meinte, aber sie stürmte so schnell aus dem Haus, dass Miriam nur noch beobachten konnte, wie sie über die Wiese rannte und ihr blondes Haar im roten Sonnenlicht glitzerte wie flüssiges Gold. Und sie hätte schwören können, dass sie sie in ihrem Kopf nach Paco rufen hörte.
Alea stand vor dem silbernen Tor und schloss die Augen. Der Wind streichelte ihr sanft durch das rote Haar und trug den Duft des Waldstücks an sie heran, das hinter dem Tor lag und das Kuppelgebäude mit seinem riesigen Kristall verbarg. Sie nahm einen tiefen Atemzug und öffnete ihren Geist, um Zugang zu Lucys oder Nikolas' Gedanken zu finden. Aber ihr kam nur Stille entgegen. Dann weitete sie ihr Bewusstsein weiter aus und öffnete sich für das gesamte Feld, um nach Informationen zu suchen. Sie spürte schon den ganzen Morgen, dass etwas nicht stimmte. Es lag Veränderung in der Luft. Und große Ereignisse speisten sich in das Feld ein, wurden immer deutlicher und spürbar bedrohlich. Sie konnte sie nicht sehen oder mit dem Verstand greifen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie stattfinden würden. Sie lagen in der Zukunft. Noch weit entfernt. Sie versuchte nachzufühlen, ob es einen Weg gab, diese Ereignisse abzuwenden. Denn sie spürte, dass sie Leid hervorbringen würden. Und dann sah sie Lucy vor sich. Und Miriam. Und viele andere Menschen, die sie nicht kannte, die aber in direktem emotionalen Kontakt mit den beiden standen. Für einen kurzen Moment blitzte Taros Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf, was ihr Herz plötzlich um einiges schneller schlagen ließ. Aber sie schüttelte sein Gesicht schnell wieder ab und nahm noch einen tiefen Atemzug. Er tauchte öfter in ihrem Kopf auf. Das war nichts Ungewöhnliches. Aber sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Ganz besonders nicht von Taro. Er bedeutete ihr zu viel und würde sie nur durcheinander bringen, wenn sie sich weiterhin auf ihn konzentrierte.
Sie wollte sich gerade wieder intensiver auf das Feld fokussieren, da tauchten auch schon Lucy und Nikolas hinter dem Tor auf. Lucy winkte ihr fröhlich lächelnd zu und Nikolas versuchte, ebenfalls zu lächeln. Aber es gelang ihm nicht so gut. Sie kannte ihn einfach schon zu lange, um nicht zu erkennen, was in ihm vorging. Er machte sich Sorgen. Zwar ließ er sich von diesen Sorgen nicht kontrollieren, aber sie spürte genau, dass sie da waren. Und womöglich waren sie aus demselben Grund da, aus dem sie gerade hier stand und das Feld nach Informationen durchforstete.
»Ihr wart im Schutzraum?«, fragte Alea direkt heraus.
Nikolas nickte schwermütig. »Ich wollte ihn Lucy zeigen.«
Alea spürte, dass er log. Aber seine Lüge hatte einen tieferen Sinn, den sie sofort verstand. Er ließ keine weiteren Informationen in sein Bewusstsein aufsteigen, also tat es Alea auch nicht. Ihr war seit heute Morgen klar, dass es in Lumenia jemanden – oder vielleicht mehrere Leute – gab, denen man nicht trauen konnte. Und es war besser, einige Informationen vor ihnen geheim zu halten. Welche Leute das waren, konnte sie nicht sehen. Sie spürte nur, dass es sie gab.
»Linn sucht nach euch. Quidea hat sie geschickt, um euch zum Frühstück zu holen. Aber ich spüre gerade, dass es wohl ausfallen wird. Er möchte sofort mit dir sprechen, Lucy.«
Lucy sah sie erschrocken an und warf dann Nikolas einen verängstigten Blick zu. Doch dieser nahm nur ihre Hand und eilte mit ihr voraus. Sein Gesicht war so bitterernst wie damals, als er sie vor ihren Verfolgern hatte beschützen wollen. Und obwohl Lucy nichts in seinen Gedanken fand, das auch nur den Hauch eines Hinweises auf die letzte halbe Stunde frei ließ, wusste sie genau, was in ihm vorging. Er wollte sie vor Taro beschützen. Obwohl sie ihm versichert hatte, dass dies nicht nötig war. Aber mehr hatte sie ihm nicht erzählt, also musste er sich auf die Informationen beschränken, die ihm zur Verfügung standen. Und das war einzig und allein die Tatsache, dass Taro versucht hatte, sie zu manipulieren. Weil sie irgendetwas wusste.
Sie war beruhigt, dass sie diese Gedanken nicht in seinem Kopf hören konnte. Sie lagen tatsächlich im Verborgenen. Genauso wie Nikolas es ihr gesagt hatte. Aber sie wollte trotzdem vorsichtig sein. Sie hatte keine Ahnung, wozu Taro noch in der Lage war und sie wollte das Risiko nicht eingehen, die Menschen, die sie liebte, in Gefahr zu bringen, nur weil sie ihre Klappe nicht halten konnte. Sie hatte einfach das Gefühl, dass es klüger war, die Informationen für sich zu behalten. Und sie bemühte sich, ihre Gedanken dazu in der Dunkelheit ihres Unterbewusstseins ruhen zu lassen. So wie Nikolas es ihr vor ein paar Minuten beigebracht hatte.