Ewig Leben
Michael Pick
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Michael Pick
Primo
In jenem Herbst reiften auf dem Strand der Hebrideninsel Runa seltsame Früchte.
Ein Auto, ein französisches Fabrikat, parkte lässig auf den Kieseln. Dem Fahrzeug gefiel es, auf dem Dach zu liegen. Zuweilen schlug eine Windböe auf eines der Hinterräder und drehte es zum Spiel. Die Tür auf der Fahrerseite war aus den Angeln gerissen und zeichnete mit der unteren Kante, einzig noch an einem schwarzen Gummiband an der Karosserie hängend, eine rechtwinklige Spur in den Sand. Über den Strand marodierten ein Dutzend Sturmmöwen. Ihre Schreie prallten gegen das Kliff und verloren sich über dem Meer.
Zwei Schritte vom Wagen entfernt ruhte ein Mann auf dem Bauch. Arme und Beine streckte er weit vom Körper, als forme er da Vincis Proportionsstudie nach. Zuweilen schlugen ihm Wellen über den Kopf, zausten in seinen Haaren, manchmal nässten sie knapp seine Stirn. Der grobe Wind fuhr steif unter den Anzug, beulte das cordbraune Jackett aus, als hätte der Mann einen Buckel.
Zwischen dem Menschen und dem Wagen lag ein opalblauer Diplomatenkoffer. Die Breitseiten aufgeklappt wie die Schalen einer verdorbenen Auster. Auf dem brackigen Wasser, das sich im Koffer gesammelt hatte, trieb eine blaue Brotschatulle.
I
Am Abend zupften Cirruswolken über den Himmel wie zerzauste Wattebäuschen. Arktische Temperaturen über Grönland und ein verzweifelt später Sommereinfall auf den Azoren waren zu den Geburtshelfern einer ausgeprägten atlantischen Schlechtwetterfront geraten. Dieses Tiefdruckgebiet entfachte einen Orkan, der die Insel Runa, knapp fünfundzwanzig Kilometer vor dem schottischen Festland gelegen, für einige Stunden fest mit seinen Pranken umklammerte.
Mit Eintreffen der Kaltfront konvertierte der Landregen, der kurz zuvor eingesetzt hatte, zu einem dunkelgrauen Vorhang aus schweren Regentropfen. Pfiffen über die grasbewachsenen Hügel des Eilandes.
Über die aufgewühlte Landschaft hasteten die Kegel zweier Scheinwerfer. Im Rückspiegel des Autos blinkte die rote Flugsicherungsbeleuchtung über der Silhouette des Skytowers, Sitz der Firma LifeandAge, wie das Feuer eines Leuchtturmes.
Der Wagen, ein etwa fünf Jahre altes, französisches Modell, folgte der Straße nach Süden. Hinter dem Steuer beugte sich ein Mann weit nach vorne, dass seine Stirn gegen die angelaufene Frontscheibe stieß. Über sein melonenrundes Gesicht perlten unablässig Schweißtropfen und verliefen anschließend im Halsteil seines Rollkragenpullovers.
Die Lüftung dröhnte auf der höchsten Stufe. Ohne Unterbrechung pumpte sie fiebrig-heiße Luft in den Innenraum des Wagens. Ein beißender Geruch nach Schweiß und finnischer Fichte kroch aus den Polstern der Sitze.
Der Fahrer schaltete hektisch in den dritten Gang und ignorierte die Beschwerde des Getriebes. Der Sturm verschluckte mit seinem schauerlichen Gewimmer das Motorengeheul und trommelte pausenlos Regentropfen gegen das Fahrzeug.
Mit beiden Händen packte der Mann das Lenkrad. Wenn er glaubte, eine besonders gefährliche Stelle überwunden zu haben, wischte er den Schweiß auf seinen Händen am Hosenstoff ab. Mit aufgerissenen Augen suchte er das Chaos außerhalb der Scheiben zu durchleuchten.
Straßen sollten rot oder gelb gefärbt sein, dachte er.
Wie Nebelschwaden jagten Böen Regentropfen waagerecht durch das Licht der Scheinwerfer. Der Mann am Steuer vermochte keine fünf Meter weit zu sehen.
Drei Minuten bis zum Fähranleger. Nur drei Minuten; einhundertachtzig Sekunden, eintausendachthundert Wimpernschläge. Die Kurve noch und den Hügel hinab. Das sollte dir Mut machen, dachte er. Doch die Falten auf seiner Stirn glätteten sich nicht. Die grünen Pupillen flackerten nervös.
Sein Blick fiel auf die Uhr in der Fahrzeugarmatur. Ziffern und Zeiger leuchteten schwachblau.
In fünf Minuten legt die Fähre ab.
Der Mann drückte das Gaspedal nach unten. Hinter der nächsten Linkskurve würde er die Steuerbord-Positionslichter der „Isadora“ sehen können.
Du musst es schaffen, ermunterte er sich, du musst.
Wie ein Albtraum tauchte der Monitor eines Computers vor seinen Augen auf. Eine simple Textdatei. Zwei Sätze. Zwei mittellange Sätze hatten ausgereicht, um seinen Verdacht zu bestätigen. Irgendwie hatte er nach all den Monaten der Suche etwas Anspruchsvolleres erwartet.
Selbst in seiner Vorstellung hatte er sich nicht die Grausamkeit ausmalen können, diese Menschenverachtung, die, wenn er daran dachte, in seiner Seele wütete wie ein leckes Glas Salzsäure. Der Abscheu unterdrückte sogar die Befriedigung, das Rätsel und die Geheimnisse gelöst zu haben.
Vor genau zwei Stunden hatte er das letzte Puzzleteil gefunden, den Beweis einer Ungeheuerlichkeit. Er spürte, wie die Erkenntnis von einer große Furcht begleitet wurde. Eine Furcht, die sich in sein Gesicht eingrub und seine Kehle zusammendrückte.
Du musst rechtzeitig zur Fähre gelangen. Die Öffentlichkeit muss diese Information erfahren.
Sein Blick fiel auf die schwarze Aktentasche, in der sich neben der blauen Frühstücksbox, die Khadiras zarte Finger hineingelegt hatte, die gesammelten Ergebnisse seiner Recherchen, festgehalten auf einem USB-Stick, befanden.
In letzter Sekunde wich er einem Verkehrsschild aus, das der Sturm aus der Verankerung gerissen und auf die Straße geworfen hatte. Am Rand der Scheinwerfer tauchten Schatten aus der Nacht auf. Rote Lichter blinkten unvermittelt auf der Straße, wie auf dem Landeplatz eines außerterristischen Raumschiffhafen.
Mit voller Kraft trat er auf das Bremspedal, die roten Leuchten erwiesen sich im Scheinwerferlicht als Barken, die eine schräge Linie quer über die Fahrbahn zogen.
Der Fahrer erkannte, dass er nicht rechtzeitig vor der Absperrung stoppen konnte und wich instinktiv nach rechts, der Barkenlinie folgend, aus. Der Wagen setzte über den Straßenrand und kam, fünf Meter weiter, in einem flachen Entwässerungsgraben, zum Stehen.
Als der Mann feststellte, dass das Fahrzeug nicht mehr rollte, atmete er langsam ein und aus und lehnte die Stirn gegen die obere Rundung des Lenkrades.
Zwei Meter weiter und du wärst die Klippen hinunter gestürzt. Glück gehabt. Wie nur kamen die verdammten Barken auf die Straße?
Plötzlich hörte er unter dem Fahrzeug ein hässliches Geräusch, als rutschte Metall über Metall. Auf der Beifahrerseite stieß etwas unsanft gegen die Tür und das Geräusch unter dem Fahrzeugboden verstummte so unerwartet wie es aufgetaucht war. Dem Mann traten beinahe die Glaskörper aus den Augenhöhlen, doch es gelang ihm nicht, das Dunkel außerhalb des Wagens zu durchdringen. Er erinnerte sich an die Schatten, die er am Straßenrand zu sehen geglaubt hatte. Kalter Schweiß lief über seine Haut.
Ein bisher unbekanntes Gefühl panischer Angst überwältigte ihn. Er atmete kurz und flach, sein Puls schwirrte. Verschwinde! war sein einziger Gedanke. Verschwinde!
Er zog am Hebel, um die Tür zu öffnen. Sie ließ sich einen daumenbreiten Spalt aufstoßen; dann klemmte sie. Irgendetwas blockierte die Tür von außen, als hätte jemand einen Findling davor gerollt.
Verdammt!
Sein Herz pochte wild und chaotisch. Verzweifelt warf er sich mit der Schulter gegen die Fahrertür; versuchte es wieder und wieder. Die Luft ging ihm aus und er japste wie ein Fisch.
Beißendes Motorengeheul drängte sich durch den Spalt, aber es kam nicht von seinem Wagen. Eine Dieselwolke trieb Tränen in seine Augen und fraß den Sauerstoff; sein Auto war Benziner. Wieder diese schleifenden Geräusche unter dem Wagen. Das Fahrzeug zitterte. Der Mann warf sich mit der blassen Schulter gegen die Tür, stemmte den Rücken an den filzverkleideten Wulst unterhalb der Scheibe und drückte mit angezogenen Beinen gegen die Mittelkonsole.
Der kleine Spalt zwischen Tür und Rahmen blieb die einzige Verbindung zur Außenwelt. In dem Konzert der aufgewühlten Natur vermeinte er ein menschliches Lachen zu hören – vollkommen irre und bar jeder Vernunft.
Es ging rasend schnell. Der Wagen stieg einen halben Meter in die Luft, das Fahrzeug bewegte sich in Richtung Beifahrertür, drehte einen Halbkreis nach rechts.
Durch die Frontscheibe sah der Mann die Lichter des Skytowers. Wie ein Geist im schwarzen Umhang ragte das Gebäude aus der Nacht und starrte zu ihm herüber.
Es ist zu spät.
Instinktiv stemmte er sich mit aus Verzweiflung geborener Kraft gegen die Tür, wollte nicht wahrhaben, was sein Verstand längst begriffen zu haben schien. Zu seiner Überraschung sprang die Tür auf. Es war nicht die Zeit zum Jubeln. Sein einziger Gedanke lautete: Raus hier! Allem zum Trotz: dem Sturm, seiner Angst. Raus hier!
Sein Fuß stieß ins Leere, als hätte der Orkan ganz Runa fortgetragen. Eisiges Grauen jagte ihm über den Rücken. Gischt zischte unter ihm um schwarze Klippen, weißgekrönte Wogen warfen sich auf den grau schimmernden Strand.
Er befand sich fünf Stockwerke, zwanzig Meter, über dem Meer. Der Wagen ächzte, als fühlte auch er Angst. Dann kippte das Fahrzeug zur Seite.
Endlich verstand der Mann, dass sein Tod beschlossene Sache war.
II
Atlantische Wellen warfen sich unter großem Getöse gegen die Felsklippe. Weißschäumende Kronen sprangen auf den Stein, höhlten, tauchten ab und nahmen kurze Zeit später einen neuen Anlauf.
Augustus Mooney kam nicht umhin, die Unermüdlichkeit zu bewundern, mit der die Wellen gegen das Gestein anrannten. Mit dem Optikum, das sein linkes Auge ersetzte, maß er wieder und wieder Geschwindigkeit und Kraft der Wogen.
Famos.
Ein Regiment tiefhängender grauschwarzer Wolken unterstützte den Angriff aus der Luft. Mooney hörte die Regentropfen gegen die Fenster auftreffen; getrieben vom Westwind, der fauchte und wütete, als wäre das Ende der Welt gekommen.
Oder der Anfang einer neuen Welt, dachte Mooney und dämmte das Licht, bis die Nacht auch im Konferenzsaal des Skytowers angekommen war.
„Eliahs“, sprach er in den Kommunikator, gleichzeitig Sender und Empfänger, der in seinem linken Handballen implantiert war und an ein silbernes Omega erinnerte.
„Meister?“, die Antwort kam unmittelbar und klar.
„Die Zeit ist gekommen. Schalte die Teilnehmer auf mein Zeichen zu.“
„Ja, Meister.“
Augustus Mooney warf einen letzten Blick auf das Schlachtfeld zu seinen Füßen. Der Natur kam sehr gut ohne den Schnickschnack von Liebe und Vergebung aus. Angst war das Gefühl, auf das es ankam und das alles antrieb. Unerbittlich zählte sie die Verweilzeit einer jeden Kreatur herunter – doch er, Augustus Mooney, war auf dem Weg, sämtliche Gesetze dieser Welt zu brechen und seine eigenen Regeln zu erschaffen.
Mooney kontrollierte den Konferenzraum. Die Örtlichkeit erstreckte sich über die gesamte zweiundzwanzigste Etage des Skytowers. Das Neonlicht schimmerte gedämmt durch den Raum, sodass die Möbel im Zimmer mit einer düsteren Patina belegt schienen. Das weißlackierte Metall des Konferenztisches kroch schemenhaft aus der Dunkelheit hervor. Mooney zog einen viereckigen handtellergroßen Spiegel aus der Anzugtasche. Das Licht reichte nicht, um sein Antlitz auszuleuchten.
„Zuerst der Duke, Eliahs.“
Sofort öffnete sich surrend eine halbmeterlange quadratische Platte auf dem Tisch. Aus der Öffnung stieg langsam ein silberfarbener Monitor empor und richtete sich zum Standort des Hausherren aus. Zwei Augenblicke lang beherrschte das Summen der Elektromotoren den Raum.
Auf dem Bildschirm leuchtete ein weißer Punkt auf, vergrößerte sich strahlenförmig und allmählich schälte sich ein schemenhaft dargestellter schwarzer Kopf auf hellgrauem Hintergrund heraus.
„Euer Durchlaucht. Ich freue mich, dass Ihr wieder mein Gast seid.“
„Ich überhaupt nicht, Mooney, ich überhaupt nicht“, dröhnte eine künstlich verzerrte Stimme aus den Monitorlautsprechern. „Um ehrlich zu sein, Mooney, ich bin das Thema bald überdrüssig. Möglich, dass sich die Angelegenheit überhaupt und demnächst auf natürliche Weise regelt. Ohne Euer Mittel werde ich älter und älter. Und nach älter kommt, wie Ihr korrekt vermutet, der Tod.“
Über Mooneys Gesicht huschte ein Schatten, ohne dass sein Gegenüber es bemerken konnte.
„Ein Grund mehr, heute und mit einem gewagten Gebot das Medikament zu ersteigern.“
„Natürlich. Aus Euch spricht der Geschäftsmann und ich bin ohne Zweifel ein ideales Opfer. Gott weiß es, ich auch, Ihr am besten. Ihr manipuliert mich mit meiner Angst vor dem Tod.“
Mooneys Miene wurde um einige Grade kälter.
„Nun, Durchlaucht, Ihr wisst um die Bedingungen. Eliahs, Nummer zwei.“
„Ja, Meister.“
Ein weiterer Monitor fuhr aus dem Konferenztisch, präsentierte das stilisierte Konterfei eines Mannes und schwenkte in Mooneys Richtung.
„Guten Abend. Für die heutige Auktion habe ich Ihnen die Nummer zwei zugeteilt.“
„Sind Sie verrückt geworden? Nummer zwei? Hören Sie, Mooney, Sie schlitzohriger ...“, hier schien es, als überlegte der Sprecher ob eines passenden Schimpfwortes, besann sich aber offensichtlich eines anderen, „... merken Sie sich: für mich existiert keine Zahl Zwei.“
Bevor Mooney etwas darauf antworten konnte, sprach der Duke of Sandringham: „Hallo, Nummer Zwo, hier spricht die Nummer Eins. Offensichtlich hat unser Freund Mooney äußerst weitsichtigen Geschmack, was die Vergabe gewisser Reihenfolgen betrifft. Doch zu Eurer Hoffnung, es gibt für Euer Problem eine Lösung, wie der gute Mooney sicher ebenfalls vorschlagen wollte. Überlasst mir heute das vermaledeite Medikament und Ihr werdet beim nächsten Mal garantiert die Nummer Eins.“
„Meine Herren oder Damen! Es hat keinen Sinn, sich abzusprechen. Nummer Zwei: die Reihenfolge, mit der ich die Teilnehmer zuschalte, ist willkürlich gewählt und trifft weder eine Aussage meiner Wertschätzung noch zum vermuteten Auktionsergebnis.“
„Bedauerlich“, warf Nummer Eins ein, „alles, was im Leben zählt, ist Geld. Richtig, Mooney? Wir drehen uns im Kreis.“
Dieses Mal huschte ein Lächeln über das Gesicht des Geschäftsmannes, ohne dass es die Anspannung fortwischen konnte, die auf ihm lag.
„Eliahs, Nummer Drei.“
Die Stille, die nach Augustus Mooneys Order folgte, wurde durch das neuerliche Summen von Elektromotoren abgelöst. Auf dem grauen Hintergrund des Monitors erschien eine Kopfsilhouette, der Mooney die entsprechende Zahl zuteilte.
„Hallo Nummer drei! Nach Aussage unseres Gastgebers hat Ihre Nummer heute keine Aussicht auf Erfolg. Es wäre besser, Sie verzichten von vornherein“, meldete sich Nummer Zwei.
„Ist das wahr?“, selbst die verzerrte Computerstimme konnte den besorgten Unterton nicht überspielen.
„Natürlich nicht“, Mooney klang nicht verärgert, eher amüsiert. „Nummer Zwei scheint in ausgelassener Stimmung zu sein. Beunruhigen Sie sich nicht, Nummer Drei, es entscheidet allein ...“
„... Geld“, Nummer Eins und Zwei im Chor.
„Vielleicht ist es genau das, was mich beunruhigt“, ließ die Drei verlauten.
„Nummer Vier, Eliahs.“
Mooney hatte es eilig.
Während der Monitor hochfuhr, erklärte Augustus Mooney den anderen Teilnehmern, dass Nummer Vier der letzte und neu in der heutigen Runde war.
„Was, Mooney? Kann es möglich sein? Finden Sie keine Kunden mehr?“, Nummer Zwei lachte kantig.
„Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein“, Augustus Mooney flüsterte beinahe aber an dem Ton konnte man sich schneiden.
„Darauf können Sie Gift nehmen, wenn`s beliebt. Je weniger Mitstreiter, umso besser für mich und meinen Geldbeutel. Auch ich kann rechnen, Mooney.“
Augustus Mooney trat einen Schritt näher an die Monitore. Das gedämmte Neonlicht zeichnete den Kreis seiner Reichweite, sodass der Gastgeber zur Hälfte in düsteres Licht getaucht war und zugleich von Schwärze und Geheimnis umgeben blieb.
„Meine Damen, meine Herren! Im Namen der Firma LifeandAge heiße ich sie herzlich willkommen zur diesmonatigen Auktion. Die meisten von ihnen wissen bereits, welches Wunder, welche Gabe sie ersteigern können. Es handelt sich um nicht weniger als den Wunsch, nein, DEN größten Wunsch der Menschheit. Jenes, was in den Augen der ganzen Welt unbezahlbar ist“, der Moderator setzte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, „drei Dinge: Erstens, sie bekommen von mir die Möglichkeit, diesen Zugang zum Paradies zu besitzen. Zweitens, für sie ist es bezahlbar. Drittens, sie gehören danach einem exklusiven Klub von einer neuen Spezie Mensch an. Der- oder diejenige von ihnen, der oder die heute auf dieser Auktion das höchste Gebot abgibt und den Betrag innerhalb einer Stunde auf eines meiner Konten transferiert, erhält das Medikament für ...“, Mooney hielt die Luft an, als lausche er seiner eigenen Stimme, „... EWIGES LEBEN.“
Das Schweigen verursachte eine Pause, als wartete jeder auf die Reaktion von Nummer Vier.
„Dann ist es also wahr?“
„Allerdings, Nummer Vier. Ich garantiere Ihnen, dass Sie ab dem Zeitpunkt der Einnahme einer Tablette Nonagerie körperlich keine Sekunde altern werden.“
„Wie funktioniert das? Ich meine, kaum zu glauben, dass Sie ein solches Mittel gefunden haben wollen. Ich habe noch nie in den Medien davon gehört.“
„Das letztere wird auch so bleiben. Andernfalls wäre es mir kaum möglich, einem exklusiven Kreis, wie dieser einer ist, Nonagerie anbieten zu können. Zur Zusammensetzung und Wirkungsweise kein Wort. Vertrauen sie mir. Das Mittel besitzt keine Nebenwirkungen. Es ist, nun, sagen wir, einfach famos.“
„Kaum zu glauben“, aus Nummer Viers Stimme war noch immer deutliche Skepsis herauszuhören.
„Ich zwinge Niemanden, mir zu glauben oder mitzubieten. Es ist allein Ihre Entscheidung.“
Augustus Mooney ließ Madame Frederike Lafayette, die sich hinter Nummer Vier verbarg, eine Bedenkminute, bevor er die Auktion fortsetzte.
„Da Nummer Vier zum ersten Mal an unserer Runde teilnimmt, erkläre ich die Modalitäten: Auf dem Gerät vor ihnen finden sie Nummerntasten. Bitte geben sie ihr Gebot in Britischen Pfund ein. Das Minimalgebot lautet eine Million Pfund. Sobald alle einen Betrag eingetippt haben, werde ich die Entscheidung bekannt geben. Die oder der Höchstbietende erhält den Zuschlag. Sollten zwei oder mehrere ein gleichhohes Gebot abgegeben haben, besteht einmalig die Möglichkeit zu erhöhen. Noch Fragen?“
Es meldete sich Niemand.
„Dann gebe ich die Gebote frei. Meine Damen und Herren, bitte.“
Auf den Monitoren, unter den schematisierten Köpfen, erschien ein rechtwinkliges Display, das als Platzhalter für die erwarteten Zahlen rote waagerechte Striche aufwies. Augustus Mooney war versucht, die Augen zu schließen, die Innenfläche seiner rechten Hand wurde feucht und er war froh, dass sein anderer Arm aus einer Prothese bestand.
Nummer Zwei war der erste, der seinen Preis eingegeben hatte und Mooney atmete zufrieden auf. Das Gebot übertraf seine Minimalerwartungen. Die Haltung des Gastgebers entspannte sich, das Warten fiel ihm plötzlich ungleich leichter. Nummer Vier war die letzte, die einen Betrag bestätigte.
„Meine Damen, meine Herren! Nichts geht mehr, wie es so schön heißt. Wir haben einen Gewinner. Es ist: Nummer Vier. Nummer Eins bis Nummer Drei, bis zum nächsten Monat. Eliahs.“
Ein dreifaches Summen erklang und die Monitore der unterlegenen Bieter verschwanden unter die Tischplatte.
„Madame, meinen Glückwunsch. Sie haben sich heute einen Traum erfüllt, der nur wenigen auf dieser Welt beschieden sein wird, ja, den einige nicht zu träumen wagen, so abwegig würde er ihnen erscheinen. Wenn ich hinzufügen darf: zu einem Preis, der niemals den Gegenwert dessen erreichen kann, was ich Ihnen dafür schenken werde. Ich erläutere Ihnen jetzt das weitere Verfahren.“
Mooney konnte sich sicher sein, dass Madame Lafayette jedes Wort von seinen Lippen lesen würde.
III
Marcus bog in einem akkuraten Viertelkreis von der Burnsroad und parkte den himmelblauen Ford Kuga auf dem Besucherparkplatz. Die Straße zwischen ihm und seiner Wohnung gähnte gelangweilt. Liisa war schon zu Hause, das zweisitzige Cabrio stand auf dem Parkplatz vor der Haustür.
Marcus hätte ihren Wagen auch ohne Nummernschild an der Delle an der rechten Heckseite erkannt. Sie passte genau zu der Rundung des Laternenpfahls auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Liisa hatte den Ärger fortgelacht und war dennoch ein bisschen erleichtert gewesen, als die Laterne am Abend des Zusammenstoßes ein mattes Licht auf die Burnsroad warf.
Liisa verstand es ausgezeichnet, Probleme wie einen Luftballon zu behandeln. Drohte er zu platzen, ließ sie die Luft raus. Ganz einfach.
„Wurde Zeit, dass Sie nach Hause kommen, Violess!“
Die helle Haustür der Nachbarin zur Linken, mit dem Bullauge in der Mitte, war lediglich angelehnt gewesen und jetzt hüpfte eine hexenähnliche Gestalt auf den Gehweg.
„Mrs. Krustschow“, Marcus nickte seiner Nachbarin Krustschow flüchtig zu und wünschte sich einen Umhang, der ihn unsichtbar machen konnte.
„Ich habe auf Sie gewartet“, umstandslos zwängte sich die dralle Mittfünfzigerin zwischen Marcus und seine Haustür.
Obgleich die Frau nicht größer als eineinhalb Meter maß, kratzte die Spitze ihrer roten Haarpracht, hochgesteckt wie der Turm von Pisa, an Marcus Kinn, wenn sie so dicht vor ihm stand. Natalia Krustschow arbeitete als Essensausgeberin in der Kantine von LifeandAge und war unverheiratet, unverlobt und unverliebt. Ein gleichmäßiger Duft von Kartoffelwasser und Jägersoße umgab sie. Ihr Anblick erinnerte Marcus an einen feisten, kurz vor der Pensionierung stehenden, Stier.
„Hat meine Frau etwas angestellt?“, erkundigte sich Marcus mit einem verbindlichen Lächeln.
Mrs. Krustschow blickte ihn an, als hätte er sie gefragt, ob der Mond auf die Erde gefallen wäre.
„Ihre Frau? Mitnichten“, über ihren ausladenden Busen und den Bauch, die übergangslos ineinander liefen, spannte sich eine rote Wachstuchschürze mit handgroßen, weißblühenden Gänseblümchen, die jetzt vor Aufregung zitterten.
„Nein“, Mrs. Krustschow stemmte die Arme in die Hüften, „es geht mir um das hier!“
Mit dem rechten Fuß beschrieb sie einen Kreis in die Luft. Marcus kratzte sich am Kopf. Offenbar hatte Mrs. Krustschow es auf ihn abgesehen. Verzweifelt blickte er sich um.
„Ich verstehe nicht.“
„So? Dachte ich mir schon“, brummelte die Nachbarin und kniff die Augen zusammen, „kommen Sie mal näher mit ihren Seh- und Riechorganen.“
Ohne weitere Umstände packte sie seinen Arm und zerrte Marcus zu dem Vorgarten vor dem Reihenhaus.
„Hätte ich mir denken müssen. Mein Fehler. Männer und Beschränktheit sind eineiige Zwillinge. Und jetzt?“
Mrs. Krustschow breitete die Arme aus und deutete vage in Richtung Haus.
„Fangen wir bescheiden an. Was fällt Ihnen auf?“
Da gibt es einiges, dachte Marcus, aber sicher nichts, was die alte Vettel von mir hören will. Er fühlte Schweißtropfen auf seiner Stirn und kam sich vor, wie bei seiner Examensprüfung. Reiß dich zusammen, Marcus, reiß dich bloß zusammen, sonst reißt sie dir die Augen aus dem Kopf und zerquetscht sie unter ihren Hauspantoffeln.
Er ließ den Blick über das Haus gleiten, das in vier Partien aufgeteilt war. Die linke Endreihenhauswohnung bewohnte ein älteres Ehepaar, das ganz für sich lebte. Die Glücklichen. Marcus kannte weder ihre Namen, noch konnte er sich an ein Gesicht oder einen Ausdruck von ihnen erinnern. Es folgte Mrs. Krustschow, Liisa und er. Das andere Ende beschloss Graham Goodwillie. Mir fällt nur auf, dass wir zwischen den schrecklichsten Nachbarn der Welt leben.
„Na?“, Mrs. Krustschow wippte auf einem Bein. „Macht irgendetwas Piep?“
„Puh. Das war ein langer Tag heute“, Marcus blies die Backen auf. „Ich weiß wirklich nicht, worauf Sie anspielen.“
Mrs. Krustschow beugte sich vornüber, dass ihre Haare den Boden streiften, breitete die Arme aus und verharrte in dieser Stellung wie ein Skispringer, der den richtigen Punkt zum Absprung suchte. Als sie sich aufrichtete, schimmerte der Kopf wenigstens so rot wie ihre Haare. Sie deutete, ein wenig resignierend, wie es Marcus schien, auf ein Dutzend Brennnesseln, eine Kolonie Rhododendron und Weidenröschen, die sich in Marcus und Liisas Vorgarten, vornehmlich selbständig, angesiedelt hatten. Marcus musste anerkennen, im Vergleich zu den anderen Vorgärten nahm sich ihr Stückchen Erde in etwa wie ein Dschungel zum städtischen Kurpark aus.
„Zugegeben ...“
„... zugegeben reicht nicht. Sie müssen etwas dagegen tun. Das Zeug ...“, hier wedelte sie mit den Armen wie eine Windmühle, „schauen Sie sich dies hier an!“
Mrs. Krustschow zerrte Marcus auf ihre Seite des Vorgartens und präsentierte ihm ein Pflänzlein mit pelzigen Blättern, dessen Namen er nicht im Entferntesten erahnte.
„Das da ist von Ihrem Unkrauthaufen ausgebüchst und unter meinen geliebten, gepflegten Rasen gekrochen. Es hat ihn untergraben und ist auf meinem Grün wie ein Maulwurfshügel explodiert. Ein Hort stinkenden schleimigen Eiters. Verstehen Sie mich jetzt?“
Mit jedem Wort wurde Mrs. Krustschow lauter.
„Das tut mir leid“, stammelte Marcus und steuerte in Richtung Hauseingang.
„Das tut mir leid“, äffte sie ihn nach. „Worte, nichts als Worte, Violess“, ihre Stimmlage blieb auf Gipfelniveau, es gab keine Steigerung mehr. „Wissen Sie, was Ihre Frau mir zur Antwort gab, als ich sie heute darauf ansprach?“
Wahrheitsgemäß zuckte Marcus mit den Schultern. Liisas Antworten waren nie vorhersehbar. Hinter seinem Rücken spürte er wie jemand stehenblieb. Aus den Augenwinkeln erkannte er ein junges Pärchen, das seinen geröteten Nacken neugierig betrachtete. Sensationslüsterne Aasgeier, angelockt durch den Krawall einer Oberhexe. Marcus spürte, wie seine Handflächen nass wurden, er trippelte auf der Stelle.
„Ich werde meine Frau sofort befragen“, Marcus schummelte sich an der überraschten Mrs. Krustschow vorbei.
Er öffnete die Tür und zog sie hinter sich zu, bevor die Nachbarin etwas dagegen sagen konnte. Als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, lehnte er sich rücklings an die Wand im Flur und seufzte.
IV
In der Wohnung war es ruhig, was mehr als ungewöhnlich war, wenn Liisa zu Hause war. Üblicherweise beschallten Radio oder Fernseher sämtliche Räume. Ich bin zu Hause, wo es laut ist, war einer von Liisas Lieblingssprüchen. Sie fühlte sich erst glücklich, wenn Alexander Pumkins Drums den Laminat unter ihren Füßen zum Beben brachte. Angeborene Hörstörungen.
Marcus tauschte die schwarzen Lackschuhe gegen grünrote Filzsandalen, hängte seinen Mantel an den Kleiderständer, der ihn an einen bleichen, toten Baum erinnerte. Liisa hatte ihn von einer Vortragsreise aus Manchester mitgebracht. Noch heute erinnerte Marcus sich an das verdutzte Gesicht von Mrs. Krustschow, als Liisa ihn von den Sitzen ihres Cabrios zerrte und mit der Miene eines erfolgreichen Kunsthändlers an ihr vorbei ins Haus schleifte.
Die Uhr im Wohnzimmer zeigte Viertel vor Fünf. Marcus schloss die Augen und atmete tief durch. Eines wurde es mit Liisa gewiss nicht: langweilig.
In der letzten Zeit kam es öfter vor, dass er sich über sie ärgerte. Es war ihm, als wäre seine Frau ein Hort von Ärgernissen. Zum Beispiel, das die Terrassentür offen stand. Von der Wohnküche führte eine Glastür auf eine kleine Steinterrasse, die in einem ungepflegten Rasenstück überging. Ein Trampelpfad begrenzte das kleine Grundstück.
„Liisa?“, rief Marcus in die Stille.
Typisch Liisa, sie riecht es, wenn man sie zur Verantwortung ziehen will. Der Vorgarten war ihre Zuständigkeit. Marcus lächelte bitter, als er sich erinnerte, ihr vorgeschlagen zu haben, Rasen zu säen, wie die anderen auch. Liisa hatte die Luft hinausgestoßen, dass ihre Oberlippe wie Espenlaub zitterte.
„Kommt nicht in Frage. Ich bin niemals wie die anderen.“
Marcus klangen ihre Worte noch in den Ohren.
„Du bist so kreativ wie ein Felsen. Lass mich nur machen.“
Das hatte er jetzt davon, wobei es genau das Ende war, das er vorhergesehen hatte.
„Liisa?“
In der Wohnung blieb es still. Seine Mutter hätte sich in solchen Augenblicken vor dem Spiegel in den Flur gestellt, die Fäuste in die Hüfte gestemmt und sich angeschrien, bis alle Wut aus ihr geflossen war. Es war nicht das erste Mal, dass Liisa es ihm überließ, eine Angelegenheit in Ordnung zu bringen.
„Liisa?“, er ahnte bereits, dass auch auf diesen Ruf keine Antwort erfolgen würde.
Die Abendsonne tauchte die Wohnküche in mediterrane Tomatensoße. Neben der Edelstahlspüle lungerte ein halbvoller tiefer Teller. Hühnersuppe, schätzte Marcus und verzog die Mundwinkel. Wenigstens abwaschen hätte sie können.
„Liisa?“, auf dem Weg in das obere Stockwerk kam Marcus der Gedanke, dass Liisa vielleicht mit einem Liebhaber im Ehebett lag. Die Idee war nicht hartnäckig, verflüchtigte sich und Marcus schalt sich einen Narren. Dennoch flatterte sein Herz, als er vor der Schlafzimmertür stehen blieb.
Aber das Bett war unberührt, wie er es am Morgen verlassen hatte und starrte ihn vorwurfvoll an. Liisa war nicht zu Hause.
Marcus schlenderte in die Küche und legte einen Filter in die Kaffeemaschine. Liisa musste zu Hause sein. Ihr Auto stand vor der Tür. Ausgeschlossen, dass sich seine Frau mehr als zehn Meter ohne ein Fahrzeug fort bewegte.
Sorgfältig zählte er fünf Löffel Kaffeepulver ab und füllte den Wassertank, bis die Markierung die Wasseroberfläche bedeckte. Marcus schaltete die Maschine ein und betrachtete nachdenklich den Suppenteller.
Ihr könnte etwas zugestoßen sein.
Die Idee nistete sich wie ein Kuckuck in seinen Verstand ein.
Ihr wird nichts zugestoßen sein. Nicht hier. Nicht seiner Liisa.
Gurgelnd stürzte das Wasser in das Kaffeepulver. Marcus tastete mit dem kleinen Finger in den Rest der Suppe in dem Teller. Sie war noch warm. Lauwarm.
Marcus Gedanken überschlugen sich. Er stellte die leere Tasse auf die Arbeitsplatte.
Wie eine Filmsequenz tauchte die Szene mit seinem Freund Robert vor Marcus Augen auf. Der Tag von Liisas Hochzeit.
„Hast du ein Glück, Marcus“, hatte ihm Robert kurz vor der Trauung zugeraunt.
„Was meinst du?“
„Deine Liisa ist ein Wahnsinnsweib. Was die für ein niedliches Gesicht hat und gleichzeitig den perfekten Körper einer Frau. Wenn ich mit Liisa irgendwo alleine wäre, könnte ich für nichts garantieren.“
Marcus hasste das dreieckige Grinsen auf Roberts Gesicht. Und noch mehr die Andeutungen, die hinter seinen Worten steckten.
„Untersteh dich, auch nur daran zu denken“, hatte er ihm damals zugeflüstert.
Robert grinste anzüglich und zog sich zurück, aber Marcus musste ihm im Stillen Recht geben. Liisa war eine aufregende Verschmelzung aus jugendlich naivem Gesichtsausdruck und dem Körper einer Frau.
Wenn Marcus sich nur vorstellte, dass ein Fremder seine Liisa beobachtet hatte. Ihren sinnlichen Gang, die ausufernde Gestik, mit der sie ihre Worte begleitete, gleich ob in einem Zwiegespräch oder während einer Vorlesung an der Universität.
Vielleicht war der Kerl – diese Bestie, Marcus hatte den Täter fest vor Augen, - ihr hierher gefolgt, hatte abgepasst, als seine Frau mit der Suppe beschäftigt war und dann ...
Marcus schüttelte sich. Er kämpfte gegen eine aufsteigende Panik an. Immerhin beruhigte ihn ein Umstand. Es gab keine Anzeichen dafür, dass jemand gewaltsam in das Haus eingedrungen war. Er musste sogar lächeln, wenn er daran dachte, dass ein Fremder ungesehen an Mrs. Krustschow vorbei wollte.
Vielleicht hatte Liisa ihren Entführer gekannt und ihm arglos die Tür geöffnet. Marcus wurde übel vor Sorge. Bleib ruhig!, sagte er sich. Es gab keine andere Wahl: er nahm das schnurlose Telefon aus der Halterung und wählte drei Ziffern.
„Hallo? Mein Name ist Marcus Violess. Bitte kommen Sie schnell. Meine Frau ist entführt worden. Vermutlich.“
V
Nach dem Sturm schwirrte die Luft vor Klarheit. Durch die gläserne Westseite des Skytowers drang Tageslicht ungehindert in den Raum. Reste der Wolkendecke dümpelten verstreut am Himmel; sie malten weiße Tupfer auf das kräftige, frische Blau.
Augustus Mooney blickte von seinem Ankleideraum im dreiundzwanzigsten Stockwerk auf den Atlantischen Ozean, der heute kaum merklich in Bewegung war.
„Eliahs!“
Ein Mann von etwa dreißig Jahren näherte sich aus dem hinteren Bereich des Zimmers und trat mit leicht gesenktem Kopf hinter Augustus Mooney.
„Meister.“
Seine Stimme klang sanft wie die eines Predigers. Er trug das schwarze Haar kurz geschnitten, dazu einen tadellos sitzenden Frack, einen gestärkten Hemdkragen, der ihm den Hals wundscheuerte, und eine schwarze Fliege.
„Meine Kleider.“
„Welche Farbkombination wünscht Ihr heute zu tragen?“
Mooney wand den Blick nicht vom Ozean.
„Eliahs, was ist dein Lebenswunsch?“
Mooneys Leibdiener zupfte an seinen Ohrläppchen. Eliahs mochte keine offenen Fragen.
„Ich verstehe nicht.“
Augustus Mooney trat einen Schritt näher an die Fensterscheibe, sodass ihn nur das bruchsichere Glas vom Abgrund trennte.
„Es muss doch etwas geben, das du, selbst für den Preis deines Lebens, zu besitzen wünschst. Etwas, das deinen Geist immerdar ausfüllt und sich in deine Träume stiehlt. Eine Famosität. Vielleicht eine Fähigkeit? Leugne nicht. Jeder Mensch trägt einen solchen Samen in sich.“
Eliahs zog fragend die Augenbrauen hoch. Auf seiner Stirn lagen Falten und Mooney hörte ihn die Luft scharf einziehen.
„Mein einziger Wunsch ist, Euch treu und gut zu dienen, Meister.“
Mooney knöpfte das weißseidene Schlafoberteil auf. Die Hornknöpfe ritzten seine Haut.
---ENDE DER LESEPROBE---