Falkentod - Bernd Köstering - E-Book

Falkentod E-Book

Bernd Köstering

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Beschreibung

Als Franziska Falke über die Schlagzeile „Ist Karin F. aus Offenbach eine Mörderin?“ stolpert, wird ihr eiskalt. Ist damit ihre vermisste Mutter gemeint? Von einem Unbekannter erhält Franziska ein Buch von Heinrich Böll, in dem sich ein versteckter Hinweis auf ihre Mutter befindet. Die Suche nach der Wahrheit führt sie über die JVA Tegel nach New York. Gemeinsam mit Opa Herbert, frischgebackener Privatdetektiv, deckt Franziska dabei dunkle Geheimnisse auf, die sie wohl besser nie gekannt hätte. „Seine Literaturkrimis haben eine Marktlücke gefüllt!“ MARKUS TERHARN, Offenbach Post

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Bernd Köstering

Falkentod

Ein Literaturkrimi

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

unter Verwendung eines Fotos von: © Svitlana Unuchko –istock.com und ©kazy –fotolia.com

ISBN 978-3-7349-9460-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog – ein Montag im April

Die schlanke, blonde Frau saß mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen in einem Café mit Blick auf den Río de la Plata und las das Argentinische Tageblatt, die einzige deutschsprachige Zeitung in Buenos Aires. Sie blätterte um. »Ist Karin F. aus Deutschland eine Mörderin?«

Ihr Fuß schlug reflexartig gegen das Tischbein, der Kaffee kippte um. Sie griff sich an den Hals, sah sich verstohlen um. Über zehn Jahre hielt sie sich schon in Argentinien versteckt. Sollte alles umsonst gewesen sein?

Montag – zwölf Tage vor Take-off

Franziska Falke hatte sich im Café Brotzeit ganz hinten an einen Ecktisch gesetzt. Wenn im Sommer draußen an der Richard-Wagner-Straße Sitzgruppen und gelbe Sonnenschirme standen, war das Café auch als solches zu erkennen. Heute, bei dem schmuddeligen Aprilwetter in Offenbach, sah es eher aus wie das Ladengeschäft einer Bäckerei. Nur wenige Kaffeetrinker verirrten sich hierher. Das war Franziska nur recht, denn sie wollte ihre Ruhe haben, eine halbe Stunde wenigstens, mitten im Abiturstress. Sie hatte Virginia Woolfs Werk auf den Knien liegen und meinte, vom dauernden Lernzwang getrieben, noch einmal in das Buch schauen zu müssen, aber bisher hatte sie sich nicht dazu durchringen können. Morgen um 8 Uhr würde es losgehen. Abiturarbeit in Englisch, an den folgenden Tagen dann Deutsch und Mathematik, später eine mündliche Prüfung in Biologie.

Der Kaffee war passabel, der Kuchen gut. Ihre Hände suchten Halt, etwas zu greifen. Eine Zeitung: das BLATT. Ihr Vater würde Ganzkörperausschlag bekommen, wenn er diese »sogenannte Zeitung«, wie er sich auszudrücken pflegte, in die Finger bekäme. Als Deutschlehrer hatte er eine andere Vorstellung von seriösem Journalismus. Franziska betrachtete die Titelseite, ließ ihre Gedanken treiben, ohne wirklich etwas zu lesen, geschweige denn inhaltlich zu verstehen. Die Frau hinter der Theke lächelte. Dann fiel ihr Blick auf eine rote Schlagzeile: »Ist Karin F. aus Offenbach eine Mörderin?«

Karin F.? Karin Falke? Ihre Mutter, die seit elf Jahren verschwunden war? Nein, das war nicht möglich. Sie wollte das nicht lesen. Und schon gar nicht jetzt. Sie drehte das BLATT um, sodass sie den Artikel nicht mehr sehen konnte. Stattdessen leuchtete ihr nun eine Frau mit blankem Busen entgegen. Einen Moment überlegte sie, die Zeitung in Stücke zu reißen, dann änderte sie ihre Meinung, schielte nach der Frau hinter der Theke – sie bediente gerade einen Kunden –, ließ das BLATT in ihrer Jackentasche verschwinden, legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ das Café.

*

In einem Moment, der nicht wirklich dafür geeignet schien, bemerkte Herbert Falke, dass sich all seine Gefühle auf einen einzigen Menschen konzentrierten.

Es war der Augenblick, in dem er früh am Montagmorgen das Offenbacher Finanzamt betrat. Den Zusammenhang konnte er sich nicht erklären, aber er fuhr fort, über das Problem nachzudenken, denn sicher würde er wieder lange vor dem Zimmer seiner Sachbearbeiterin warten müssen. Gudrun Bender-Berger war die Frau, die für seine Steuerangelegenheiten als Selbstständiger zuständig war.

Auch wenn seine Gefühle mit grenzenloser Liebe verbunden waren und somit grundsätzlich etwas Positives darstellten, bereitete es ihm Sorgen, diesen einen Menschen damit zu überfrachten, zuzudecken, ja sogar zu bedrohen. Seine verstorbene Frau Christel hatte ihm das mehrmals vorgeworfen. Sie hatte sich an solchen Tagen in den Garten geflüchtet. Auch sein Sohn Andreas war geflüchtet, in eine selbst gewählte Isolation. Äußerlich ließ er seinen Vater zwar an sich heran, hatte aber einen emotionalen Grenzzaun gezogen. Das konnte mit den durch seine Frau Karin verursachten inneren Narben zu tun haben. Vor elf Jahren hatte sie ihre Familie verlassen. »Seid mir bitte nicht böse, ich muss los!« Das war alles, was sie auf einem kleinen Zettel hinterlassen hatte. Nach Jahren des Zweifelns hatte Andreas im vergangenen Juli entschieden, seine Frau zu vergessen, aus seinem Gedächtnis zu streichen. Und Herbert wusste, wenn sein Sohn einmal einen Entschluss gefasst hatte, dann war er nur sehr schwer davon abzubringen.

Seine Enkelin Franziska war nicht vor ihm geflüchtet. Sie genoss seine großväterliche Liebe und Fürsorge. Herbert lächelte. Dennoch musste er aufpassen, nicht »übergriffig« zu werden, wie die Jugendlichen das nannten. Viele Jahre lang hatte Franziska nichts über ihre Mutter hören wollen, hatte sich eine sogenannte Muttersperre auferlegt. Doch vor ein paar Monaten hatte Herbert bemerkt, dass sich das Blatt gewendet hatte. Sie benutzte immer häufiger das Wort »Mutter« statt des jahrelang verwendeten Ausdrucks »Erzeugerin«. Herbert hatte seine Enkeltochter an einem ruhigen Januarabend vorsichtig darauf angesprochen. Ja, es stimme, sagte sie damals, sie wolle endlich Klarheit, wie eine erwachsene Frau den Tatsachen ins Auge sehen, wolle wissen, wo ihre Mutter sei und warum sie ihre Familie verlassen habe. Konkrete Maßnahmen hatte Franziska zu dieser Zeit noch nicht vor Augen und wollte sich erst nach dem Abitur Gedanken darüber machen. Die Prüfungsvorbereitungen standen über allem, und Herbert akzeptierte das. Einerseits war ihm natürlich klar, dass eine gute Abiturnote die besten Voraussetzungen für das Erwachsenenleben bot. Anderseits wollte Herbert das Verhältnis zu seinem Sohn Andreas nicht belasten, der – selbst als Lehrer tätig – versuchte, Franziska in dieser Phase von allen Belastungen außerhalb der Schule abzuschirmen.

Direkt nach ihrem Gespräch im Januar hatte sich Herbert Falke fiebernd auf diese neue Aufgabe gestürzt. Er musste nicht bis nach dem Abitur warten, er konnte vorarbeiten und sein Freund Gianni half ihm dabei. Karin Falke zu finden war sein bisher schwierigster Fall.

Eine graue Tür öffnete sich und brachte ihn in die Gegenwart zurück. »Herr Falke?«

Er sah Frau Bender-Berger erstaunt an und warf einen Blick auf die Uhr. Keine Wartezeit. Nicht eine einzige Minute. Er schob die Unterlippe anerkennend vor und erhob sich. »Guten Morgen!«

»Immer noch als Privatdetektiv tätig?«, fragte sie statt einer Begrüßung. Ihr Tonfall ließ Zweifel erkennen, ob man mit solch einem Gewerbe überhaupt Geld verdienen könne.

»Ja«, sagte Herbert Falke. »Und das wird auch so bleiben!«

*

»Papa?«

Es war bereits kurz vor 23 Uhr, im Fernsehen lief ein Fußballspiel. Champions League.

»Ja, Franzi?«

»Du hast mir doch versprochen, dass ich nach dem Abitur eine schöne Reise machen darf.«

Ihr Vater drehte sich um, sah Franziska an und lächelte. Dann nahm er die Fernbedienung und schaltete den Ton aus. »Ja, das habe ich. Und dabei bleibt es auch. Wohin soll’s denn gehen?«

Franziska zögerte. »Na ja, also … ich dachte an New York.«

Lange hatte sie darüber nachgedacht. Immer wieder waren ihre Gedanken um Amerika gekreist, die USA, New York, die großen Seen, San Francisco und Arizona. Aber sie hatte sich nicht getraut, diesen Wunsch zu äußern. Sie wusste, das würde viel Geld kosten, und sie hatten nie teuren Urlaub gemacht, immer an der Nordsee, einmal in Italien. Sie war sich nicht sicher, ob der Verlust des Einkommens ihrer Erzeugerin den Vater vor große Probleme stellte, ob sein Gehalt als Lehrer an der Albert-Schweitzer-Schule für sie beide ausreichte. Sie kannte sich ein wenig aus mit Geld und wusste, wie hoch die Lebenshaltungskosten für eine einzelne Person ungefähr waren, aber sie hatte noch nie einen eigenen Haushalt geführt. Opa Herbert hatte ihr das alles einmal vorgerechnet, eine richtige Einnahmen- und Ausgabenrechnung, da hatte ihr der Kopf gebrummt, und irgendwann hatte sie den Durchblick verloren. Aber die Sehnsucht nach Amerika war größer als ihre Bedenken.

Ihr Vater nickte. »Ist okay!«

»Wie? Also, du meinst …«

»Ja, meine ich. Du hast schon so oft von Amerika geschwärmt, jede Menge Bücher gelesen über New York und den Grand Canyon und so weiter. Ich kenne doch meine Tochter. Und ich habe Geld gespart!«

Franziska kamen fast die Tränen, aber mit 18 Jahren heult man natürlich nicht einfach so drauflos, das ist uncool. Sie umarmte ihren Vater. Endlich! Endlich kam sie raus aus Offenbach, aus dieser Enge, diesen Straßen und Häuserblocks, die sie alle kannte, in- und auswendig. Etwas Neues musste her, etwas Großes!

»Und was ist mit Alex?«, fragte ihr Vater.

Sie riss die Augen auf. »Woher weißt du von Alex?«

Er grinste. »Ich weiß nichts, ich ahne nur. Jedenfalls ist er ein netter Junge, du solltest ihn besuchen. Er ist doch jetzt in New York, oder?«

Sie lachte. »Du hast recht. Und ja … ich werde ihn treffen. Danke, Papa!«

»Kann ich jetzt weiter Fußball schauen?«

»Na ja, da wäre noch etwas.«

»Ja?«

Sie reichte ihm das BLATT. »Schau mal bitte, hier, auf der Titelseite!«

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst!«

»Bitte! Ausnahmsweise.«

Er angelte mit zwei Fingern nach der Zeitung, so als sei sie infektiös. Die rote Schlagzeile war nicht zu übersehen: »Ist Karin F. aus Offenbach eine Mörderin?«

Er ließ das BLATT fallen und schaltete den Ton wieder ein, ohne Franziska anzusehen. »Du weißt, dass ich mit dem Thema Karin abgeschlossen habe.«

»Ich weiß, aber …«

»Was ist los, Franzi? Jahrelang hast du dir selbst eine Muttersperre verordnet, und jetzt?«

»Das stimmt, ich … also, ich will ja nur endlich wissen, warum sie einfach abgehauen ist und ob das etwas mit mir zu tun hat.«

»Wie kommst du denn auf die Idee, es könnte etwas mit dir zu tun haben?«

Franziska hob ihre Stimme, sie musste gegen die Fußballfans und ihre eigene Angespanntheit anreden. »Ach tatsächlich? Bisher hast du immer gesagt, du kennst den Grund nicht!«

»Stimmt ja auch, ich kenne ihn nicht. Aber es lag garantiert nicht an dir.«

»Okay, ich will es aber trotzdem wissen!«

Er wandte seinen Blick wieder zum Fernseher. »Na gut. Das hat aber Zeit bis nach den Abiturprüfungen. Und ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Selbst wenn sie eine Mörderin sein sollte. Mir egal.«

Der Lärm aus dem Fernseher schwoll erneut an. Tor. Soweit Franziska erkennen konnte, war es ein Eigentor. »Ich gehe ins Bett, morgen schreiben wir Englisch.«

Ihr Vater nickte.

Dienstag – elf Tage vor Take-off

Herbert Falke schloss den Briefumschlag mit seiner Steuererklärung und klebte eine Briefmarke darauf. Frau Bender-Berger war guter Laune gewesen, hatte seine Fragen beantwortet und zweimal mit einem Augenzwinkern genickt. Diese beiden nicht unstrittigen Einträge würde sie also durchgehen lassen. Um das Steuerthema abschließen zu können, wollte er den Umschlag noch vor dem Mittagessen einwerfen. Er griff nach seinem Helm und schwang sich auf seinen rosafarbenen Motorroller. Von seiner Wohnung in der Brinkstraße bis zum Postverteilerzentrum in der Sprendlinger Landstraße waren es kaum zehn Minuten. Er warf den Brief ein und hielt auf dem Rückweg bei einem Supermarkt, um einige Kleinigkeiten einzukaufen. Als er mit einer Einkaufstüte in der Hand das Gebäude verlassen wollte, streifte sein Blick den Zeitungsstand. Das BLATT. »Ist Karin F. aus Offenbach eine Mörderin?«

Fast hätte er die Tüte fallen lassen. Wie konnte das sein? Seit Wochen recherchierte er mit seinem Freund Gianni, ermittelte und kombinierte, versuchte herauszufinden, wo Karin Falke sich aufhielt. Und nun war ihnen so ein platter Sensationsreporter zuvorgekommen!

Er startete die Vespa und fuhr in die Waldstraße. Es war kühl und windig, richtiges Aprilwetter, aber zum Glück regnete es nicht. Er besuchte Gianni selten in der Redaktion des Offenbach Kuriers, aber heute musste es sein. Die ehemalige Kollegin am Empfang kannte ihn noch aus seiner aktiven Zeit als Journalist. »Hallo, Herr Falke!«

Er winkte kurz.

»Zu Herrn Mussner?«

Er nickte.

»Sie kennen sich ja aus!«

»Ja, danke!« Er fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock, begegnete einigen jungen Kurier-Mitarbeitern, die ihm fremd waren, und klopfte an Giannis Bürotür. »Gianni Mussner, Lokalredaktion Ost« stand auf einem Schild.

»Herein!«

Er trat ein.

»Ei gude, Gianni!«

»Bon di, Herbie!«, brummte Gianni in seinem typischen Südtiroler Dialekt, den er selbst nach 30 Jahren in Hessen nicht abgelegt hatte. »Was machst du denn hier?«

»Tut mir leid, dass ich dich stören muss, aber es ist wichtig.«

»Hmm«, machte sein Freund und zeigte auf einen Stuhl.

Herbert schloss die Tür und setzte sich. »Schau mal auf die Webseite der BLATT-Zeitung!«

Gianni warf ihm einen erstaunten Blick zu, dann bearbeitete er kurz die Tastatur seines Computers und starrte auf den Bildschirm. »Oh mein Gott!«

»Ja, hab ich eben am Kiosk gesehen. Wir arbeiten wochenlang daran, Karin Falke zu finden, und nun funkt uns dieser Schmierfink dazwischen!«

»Nun ja, das ist eben journalistisches Arbeitsrisiko, die Frage ist nur, was weiß UVS wirklich. Sein Artikel enthält ja nur vage Andeutungen.«

»UVS?«

»Uwe Volker Sauter.«

»Du kennst den?«

»Ja, ich war vor ein paar Jahren mit ihm auf einer Fortbildung.«

»Was denn für eine Fortbildung?«

»Das Recht am eigenen Bild. In Marburg.«

Die beiden Männer dachten nach.

»Was für ein Mensch ist dieser Sauter denn?«, fragte Herbert Falke.

»Hmm, schwer zu sagen«, antwortete Gianni Mussner. »Manchmal hat er sich aufgeplustert und mit seinen Erlebnissen geprahlt. Dann wieder war er sehr verschlossen. Ein undurchschaubarer Typ.«

»Du musst mit ihm sprechen, versuchen, was rauszubekommen!«

»Ich?«

»Ja, klar, du kennst ihn doch, nicht ich!«

Gianni schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ich habe ihn seit dem Kurs nie wieder gesehen – zwei Tage, ein paar Pausen, zweimal in der Kantine, mehr war das nicht.«

»Hast du noch die Teilnehmerliste von dem Kurs, mit Kontaktdaten? Wird doch meistens an alle verteilt.«

»Ich glaube schon.«

»Na also, dann versuch’s. Irgendein Vorwand wird dir schon einfallen. Bitte!«

Gianni nickte. »Ich versuch’s.«

»Gibt es sonst etwas Neues zu dieser E-Mail, die Karin letztes Jahr an den Kurier geschickt hat?«

»Nicht wirklich. Mein Kollege aus der IT-Abteilung hat die IP-Adresse nachverfolgt. Ein Internetcafé in Buenos Aires. Weiter kommen wir nicht.«

»Okay, ich habe inzwischen versucht, etwas über ihre DDR-Vergangenheit herauszubekommen, keine Chance. Aus dieser Zeit gibt es natürlich nichts im Internet. Jetzt bin ich an ihrer Zeit nach 1989 dran. In der Stadtteilbibliothek Charlottenburg hat sie sich 1990 einige Bücher ausgeliehen, noch unter ihrem Mädchennamen Sattler, alles Agentenromane.«

»Agentenromane …«, murmelte Gianni vor sich hin. »Übrigens, was machen wir mit Franzi und Andreas? Ich meine …«, er zeigte auf den Monitor, »falls sie das lesen.«

»Andreas ist kein Problem, er scheut das BLATT wie der Teufel das Weihwasser, außerdem hat er mit dem Thema Karin abgeschlossen. Ich kenne ihn, er ist in solchen Dingen sehr konsequent. Aber Franzi, sie müssen wir schützen. Ich möchte sie erst dann einweihen, wenn wir belastbare Ergebnisse haben.«

»Du meinst, wenn wir definitiv wissen, ob Karin wirklich eine Mörderin ist oder nicht?«

»Genau«, antwortete Herbert. »Diese Woche ist das kein Problem, sie ist voll beschäftigt, heute fangen ihre schriftlichen Prüfungen an.« Er sah auf die Uhr. »Im Moment sitzt sie in der Englischprüfung.«

»Okay, und falls sie das BLATT liest? Oder davon hört?«

»Dann muss ich versuchen, das Ganze herunterzuspielen und die Glaubwürdigkeit des BLATTs infrage zu stellen. Da fällt mir schon etwas ein.«

»Hmm«, brummte Gianni.

»Findest du nicht gut?«, fragte Herbert.

»Weiß nicht, ist ja deine Enkelin, nicht meine.«

»Frag doch mal Eva, was sie dazu meint. Franzi hat ja einen guten Draht zu ihr.«

»Okay, ich frag sie heute Abend, wenn ich nach Hause komme. Wird aber spät, ich muss vorher noch zum Kamelienkonzert nach Dudenhofen.«

»Aha, in der Gärtnerei Fischer … Sehr schön, da kannst du ja entspannen und darüber nachdenken, wie du Kontakt zu diesem Sauter aufnehmen wirst!«

*

Üblicherweise blieben Franzi und ihre Freundin Jaqueline »Jacky« Jansen auf dem Heimweg von der Schule noch ein paar Minuten an der Kreuzung des Buchrainwegs mit der Brandsbornstraße stehen, um all das zu besprechen, was nicht mehr in den Vormittag gepasst hatte. Manchmal wurde daraus eine ganze Stunde. Heute jedoch überraschte sie ein Regenschauer, vor dem sie in die Bäckerei Kress flüchteten. Beide waren der Meinung – wo sie schon einmal da waren –, dass sie nach der Englischprüfung einen Milchkaffee und einen Kreppel mit Vanillecremefüllung verdient hatten.

Die Bedienung, eine mitteilsame Frau in ihren Vierzigern mit einer orangen Schürze, stimmte ihnen lautstark zu. »Ei horsche ma, zwei so schlaue Mädels, die müsse auch ordentlisch was esse, gell!«

Franziska lächelte. »Danke, Moni!«

»Und weil ihr heut des Abi gebaut habt, geht der Kaffee uffs Haus!«

»Schön wär’s mit dem Abi«, meinte Jacky. »Bisher haben wir erst ein Viertel geschafft. Aber trotzdem danke!«

Sie standen neben der Ladentür, dort wo das schwarze Brett hing, das gespickt war mit Wohnungsgesuchen und Angeboten von gebrauchten Möbeln. Auf einem schmalen Holzbrett standen Zucker, Milch und Plastiklöffel.

»Bin gespannt, wie es weiter läuft«, sagte Jacky. »Heute habe ich jedenfalls Glück gehabt, Virginia Woolfs Art zu schreiben finde ich cool!«

Franziska hob die Schultern. »Ich weiß nicht, meine Begeisterung für ihren Schreibstil hält sich in Grenzen. Besonders was den ungezügelten Gedankenfluss in ›Mrs. Dalloway‹ betrifft. Aber ich denke, ich hab’s einigermaßen hinbekommen.«

» Diesen ›stream of consciousness‹, also, den fand ich voll geil, mal was anderes.«

»Du kannst dich ja gut in große Literatur eindenken. Bleibt es eigentlich dabei, dass du nach dem Abi Schriftstellerin werden möchtest?«

Monikas Stimme wurde immer lauter, der Laden füllte sich. Brötchen, Kreppel und Kuchen gingen über die Theke, von hinten aus der Backstube rief der Chef ein paar markige Worte, die Franziska nicht verstand.

»Ja«, antwortete Jacky. »Es bleibt dabei. Mein Vater hofft immer noch, dass ich Jura studiere und in seine Kanzlei einsteige. Da hätte ich auch viel mit Schriftstücken zu tun, meint er.«

»Haha!«

»Fand ich auch nicht so witzig. Ich muss mir noch überlegen, wie ich starte, ich finde ja schließlich nicht so einfach einen Verlag, der eine 18-Jährige unter Vertrag nimmt. Vielleicht erst mal als Volontärin zu einer Zeitung oder zum Rundfunk, am besten in die Kulturredaktion, das wäre gut, dann weitersehen.«

Franziska nickte.

»Du wirst bestimmt ’ne dolle Schriftstellerin«, rief Monika, während sie die Theke mit frischem Kuchen befüllte. »Dann machsde ma en schöne Krimi über Offebach, gell!«

Jacky lachte. »Also, Moni, Unterhaltungsliteratur ist ja ganz nett, aber da wollte ich schon etwas Anspruchsvolleres schreiben.«

Moni hielt irritiert in ihrer Bewegung inne. »Ich würde das jedenfalls lesen!«

Franziska hob die Augenbrauen, sah Jacky an und wies mit einer Kopfbewegung auf Monika.

»Äh, ja, Moni«, sagte Jacky. Ihr Nasenpiercing bewegte sich auf und ab. »Vielleicht schreibe ich auch mal einen Kriminalroman. Und dann würde ich mich freuen, wenn du ihn liest!«

Monika lächelte. Eine Gruppe Schüler stürmte herein, Stufe fünf oder sechs, mit bunten Schulranzen, alle redeten durcheinander, der Lärmpegel stieg.

»Und du?«, fragte Jacky in Franziskas Richtung.

Franziska wiegte den Kopf hin und her. »Zuerst mal nach New York, mein Vater hat zugestimmt.«

»Echt? Cool!«

»Ja, ich muss raus aus Offenbach, die Stadt engt mich irgendwie ein, ich brauch was Neues!«

»Na, na, so schlecht ist Offenbach nun auch wieder nicht!«

»Nein, ist ganz normal, nicht besonders schön, aber … ja, normal eben. Das Internationale gefällt mir, und Frankfurt mit all den Theatern und Konzerten ist ja in der Nähe, aber …«

»Du brauchst Abwechslung?«

»Genau. Und New York war schon immer mein Traum.«

Jacky nickte. »Ich weiß. Nur zum Urlaub oder länger?«

»Mal sehen.«

»Im Ernst, Franzi …?«

»Ja, Jacky, ich weiß, was du denkst. Ich hab noch keine genauen Pläne, aber es kann schon sein, dass ich dortbleibe. Das hängt von vielen Dingen ab.«

»Auch von Alex?«

Franziska durchfuhr ein Gefühl, von dem sie nicht wusste, ob sie es mochte oder nicht. War sie so durchschaubar? »Ja«, sagte sie lächelnd, »auch von Alex.«

Jacky holte Luft, als wollte sie etwas sagen. Aber sie sagte nichts, sondern schob sich den Rest ihres Kreppels in den Mund und leerte ihre Kaffeetasse. »Ich bin müde, komm, lass uns gehen!«

Franziska nickte, legte den Arm um die Schultern ihrer Freundin, und die beiden verließen unter heftigem Winken die Bäckerei. Monika winkte ebenso heftig zurück.

Vor dem Laden trennten sich ihre Wege, Jacky wohnte im oberen Teil des Buchrainwegs, Franziska im unteren.

»Bis morgen, Jacky, ich hoffe, die Deutschprüfung wird nicht zu schwer.«

Jacky nickte vorsichtig. »Wird schon!« Deutsch war ihr Paradefach, sie musste sich also um den morgigen Tag keine Sorgen machen. Übermorgen, bei der Mathematikprüfung, da würde es umgekehrt sein. Mathematik war Franzis Stärke. Ausgleichende Gerechtigkeit.

»See you tomorrow!« Sie umarmten sich.

»Ach, fast hätte ich es vergessen!« Mit diesen Worten zog Franziska das BLATT aus ihrer Schultasche und reichte es ihrer Freundin. »Schau dir den markierten Artikel bitte mal in Ruhe an, später, wir können ja heute Abend mal …« Sie hob die Hand mit gestrecktem Daumen und kleinem Finger ans Ohr.

»Alles klar!«, meinte Jacky, steckte die Zeitung unbesehen ein und trabte müden Schrittes davon.

*

Am Abend wollte Gianni wie geplant das Kamelienkonzert der Gärtnerei Fischer in Dudenhofen besuchen. Die Musiker, die dort auftraten, waren zwar unbekannt, aber sehr gut – angehende Profis sozusagen. Bei ihrem Auftritt wurden sie umrahmt von einer einzigartigen Blütenpracht. Er hätte auch gern einen geschmeidigen Text dazu geschrieben. Doch der Abend nahm eine ungeahnte Wendung.

Kurz vor seiner geplanten Abfahrt stöberte Gianni noch einmal im Internet nach Uwe Sauter. Er brauchte einen Aufhänger, um mit ihm Kontakt aufnehmen zu können. Dabei entdeckte er einen Artikel von UVS, der sich mit dem monatlichen Treffen einer rechtsgerichteten Gruppierung namens Deutschbürger in Heusenstamm beschäftigte. Sauter schüttete zunächst seine gesamte Häme über die Rechtsradikalenszene in Deutschland aus, um dann jedoch einige Ideen der Deutschbürger durchaus lobend zu erwähnen und um Verständnis zu werben, dass es Menschen gab, die das komplette System der Bundesrepublik einschließlich ihrer Gesetzgebung ablehnten. Typisch BLATT, dachte Gianni, da war keine klare Linie zu erkennen, kein journalistisches Rückgrat, lediglich das Zünden von Brandsätzen, um die Auflage hoch zu halten. Er hob die Augenbrauen, als er las, dass das nächste Treffen der Deutschbürger in Heusenstamm heute Abend stattfinden würde. Gianni sah auf die Uhr. In knapp einer Stunde begann die Versammlung. Er würde etwa eine Viertelstunde bis nach Heusenstamm benötigen. Eigentlich nicht sein Berichtsgebiet, aber die Kollegen würden ihm den Artikel aus den Händen reißen, das war sicher. Er holte seine Kamera aus der Schreibtischschublade und schnappte sich seine Jacke. Uwe Sauter würde dort sein. Und Gianni würde ihn erkennen, selbst nach so langer Zeit, denn es war unmöglich, ihn nicht zu erkennen.

Die Deutschbürger trafen sich in einer typisch deutschen Kneipe. Das passte ja gut zusammen, dachte Gianni. »Zum Adi« stand auf dem Schild über dem Eingang. Auf den Gedanken, dass »Adi« eine Anspielung auf Hitler sein könnte, kam er nicht. Auch die Hausnummer 88 kam ihm zunächst nicht merkwürdig vor. Er fotografierte das gesamte Haus, einige Fahrzeuge, die davor parkten, außerdem zahlreiche Motorräder, einige blau, die meisten schwarz.