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Alfred Sival erhält mehrere Todesanzeigen - mit seinem eigenen Namen versehen. Doch sein Hass auf die Polizei hält ihn davon ab, um Hilfe zu bitten. Schließlich offenbart er sich dem ehemaligen Journalisten Herbert Falke, der zusammen mit seiner Enkeltochter Franziska Kleinkriminelle jagt. Die beiden versuchen die seltsam verstreuten Puzzleteile des Falls zusammenzusetzen: ein mysteriöser Toter, ein Hund ohne Fell, der sich für Gulaschsuppe begeistert, und ein Opfer, das zum Täter wird.
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Seitenzahl: 263
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Bernd Köstering
Falkensturz
Ein Literaturkrimi
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Quellenangabe: Alle Bemerkungen zuDer Richter und sein Henkervon Friedrich Dürrenmatt beziehen sich auf die Ausgabe von 1998, Diogenes Verlag AG Zürich
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
Die Karten wurden gestaltet von: Felix Volpp – www.fevo-design.de
unter Verwendung eines Fotos von: © Igor Link – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4488-3
Ich widme dieses Buch einer Frau, die ich wegen ihrer Herzenswärme und positiven Lebenseinstellung bewundere. In ihrer Jugend kannte ich sie nicht, stelle sie mir aber so vor, wie die Franziska im folgenden Roman. Ich widme dieses Buch meiner Mutter.
1: Büsing Palais
2: Haus der Stadtgeschichte
3: Rathaus
4: Ledermuseum
5: Leibnizschule
6: Hauptbahnhof
7: Ostbahnhof
8: Berliner Straße
9: Odenwaldring
10: Nordring
11: Senefelderstraße
12: Brinkstraße
13: Beethovenstraße
14: Unterer Buchrainweg
15: Oberer Buchrainweg
16: Starkenburgring
17: Wohnung Falke
18: Haus Sival
19: Sana-Klinikum
20: Bäckerei
21: Kiosk
22: Zum Stadion und Leonard-Eißnert-Park
23: Deutscher Wetterdienst
24: 1. Polizeirevier
Herbert Falke, ehemaliger Journalist, auf der Suche nach Handtaschendieben und Erpressern.
Andreas Falke, sein Sohn, auf der Suche nach seiner verschwundenen Frau.
Franziska Falke, seine Enkelin, auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.
Gianni Mussner, Herberts bester Freund, trotz bester Absichten manchmal in der Versuchung, den rechten Weg zu verlassen.
Jaqueline »Jacky« Jansen, Franziskas beste Freundin, versucht, Recht und Freundschaft in Einklang zu bringen.
Skander »Alex« Halima, Franziskas Mitschüler, auf der Suche nach seiner inneren Heimat.
Nina Heckmanns, Kriminalhauptkommissarin, auf der Suche nach einem fähigen Mitarbeiter.
Matthias Bennert, Kriminaloberkommissar, Nina Heckmanns immer gut gekleideter Mitarbeiter, an dessen Fähigkeiten sie zu glauben versucht.
Als er den Briefkasten öffnete, fiel ihm der Umschlag mit dem schwarzen Rand direkt vor die Füße. Er wusste sofort, welcher Name auf der Todesanzeige prangte. Sein eigener: Alfred Sival.
Drei Monate waren vergangen ohne die zermürbenden Todesanzeigen mit seinem Namen. Wie hatte er sich nur der Illusion hingeben können, es wäre vorbei? Vielleicht war die Pause sogar Absicht gewesen, vielleicht wollte sein Peiniger ihn in Sicherheit wiegen, seine Hoffnung auf ein Ende der Tortur nähren, um dann von vorn zu beginnen.
Er bückte sich langsam und griff nach dem Brief. Mit ungeschickten Fingern riss er den Umschlag auf. Diesmal stand nicht nur sein Name auf der Anzeige, nein – diesmal leuchtete fett gedruckt auch sein Todestag auf dem blütenweißen Papier: Sonntag, der 14. Mai.
Er krümmte sich wie nach einem Schlag in die Magengrube. So stand er mehrere Minuten vor dem Haus, unfähig, sich zu bewegen, während die Morgensonne über die Dächer lugte. Dann hörte er seinen Nachbarn mit dem Hund die Straße heraufkommen. Es kostete ihn enorme Überwindung, sich umzudrehen und ins Haus zurückzugehen, nur die Aussicht auf ein Gespräch mit dem benachbarten Faselhans trieb ihn an.
Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, klingelte das Telefon. Er mühte sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, seine Beine versagten ihm fast die Gefolgschaft, seine Arme hingen wie schlaffe Gummibänder an ihm herunter. Das Läuten hielt erbarmungslos an. Endlich hatte er den Telefonapparat erreicht. »Ja?« – Keine Antwort. – »Hallo, wer ist denn da?« Er meinte, ein Atmen am anderen Ende zu hören, dann ein Kichern, war sich aber nicht sicher, es konnte auch Einbildung sein. »Verdammt, wer ist denn da?«, rief er. Keine Antwort. Ein bislang nie dagewesener Strom der Wut stieg aus seinen Eingeweiden hoch. Er glaubte, bersten zu müssen, holte weit aus und schleuderte das Mobilteil des Telefons mit aller Kraft gegen die Fensterscheibe. Kunststoff splitterte, die Batterien flogen quer durchs Zimmer und aus der Mitte der Scheibe entsprang ein Riss, der in Sekunden diagonal über das Glas schoss, bis der Fensterrahmen ihm Einhalt gebot.
»Lasst mich in Ruhe!«, schrie er. »Ich habe doch nichts getan. Lasst mich endlich in Ruhe!«
Hatte er jemandem Unrecht getan? Jemanden beleidigt oder missachtet? Tagelang – nein, wochenlang hatte er sich mit Gedanken gemartert, aber nichts war ihm eingefallen, das ein solch barbarisches Verhalten rechtfertigen konnte. Stechende Magenschmerzen ergriffen ihn, schüttelten ihn wie nach jedem der Briefe. Stöhnend, röchelnd warf sich Alfred Sival in den Sessel.
Franziska Falke konnte zum Frühstück nichts essen. Sie trank nur eine Tasse Milchkaffee und blätterte dabei in den Schulbüchern. So lief das schon seit Jahren. Trotzdem rief ihr Vater aus der Küche: »Hast du wirklich keinen Hunger, Franzi?«
»Papa!«
»Schon gut.«
»Hilfst du mir bei den Hausaufgaben?«, fragte sie.
»Wie, jetzt?«
»Natürlich jetzt, in einer halben Stunde fängt meine Deutschstunde an!«
»Franzi!« Andreas Falke bog um die Ecke, eine Kaffeetasse und ein Nutellabrot in der Hand.
»Das ist aber nicht gesund«, meinte Franziska mit einer Kopfbewegung in Richtung Nutella.
»Ja, ja, ich hab heute Abiturprüfung, da brauche ich Nervennahrung.«
Franziska lachte. »Aber Papi, du schreibst doch nicht die Abiturarbeit, sondern deine Schüler!«
»Ja, trotzdem, zeig mal her, um was geht es denn?«
»Wir sollten Dürrenmatt lesen, ›Der Richter und sein Henker‹, aber ich hatte keinen Bock drauf … und so viel zu tun, du weißt schon.«
»Ja, ich weiß, du musstest dringend mit Jacky ins Ringcenter, Shopping, Kaffee, Eis und so weiter.«
»Mensch, Papa!« Sie rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her und warf einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Okay, Jo Bester wartet, und er will eine Inhaltsangabe, nehme ich an.«
»Woher weißt du das?«
»Immerhin haben wir zusammen studiert, also pass auf: Man kann ›Der Richter und sein Henker‹ als Kriminalroman bezeichnen …«
Franziska sah erstaunt auf. »Ein Krimi?«
»Richtig. Dürrenmatt geht aber noch weiter, er thematisiert Schuld, unrechtmäßiges Handeln und …«
»Okay, das kannst du mir ja morgen erzählen, heute brauche ich nur die Inhaltsangabe.«
Ihr Vater atmete hörbar aus. »Also gut: Die Geschichte spielt in der Schweiz, ein Polizist wird ermordet. Kommissar Bärlach und sein Kollege Tschanz untersuchen den Fall. Dabei stoßen sie auf Gastmann, einen international tätigen Verbrecher. Neben dem eigentlichen Fall gibt es eine Rückblende, eine zweite Handlungsebene, in der man erfährt, dass Bärlach vor 40 Jahren mit eben diesem Gastmann eine Wette abgeschlossen hat. Gastmann behauptete, er könne vor Bärlachs Augen einen Mord begehen, ohne dass es diesem gelänge, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Bärlach ging auf die Wette ein. Was er nicht für möglich hielt: Gastmann setzte sein Vorhaben in die Tat um. Er stieß im Beisein des Kommissars einen Mann von einer großen Brücke.«
»Aha, hört sich nach perfektem Mord an.«
»Könnte man sagen. Das Besondere an diesem Mord ist, dass der Mörder kein Motiv hatte.«
»Wie, der bringt jemanden um – einfach nur so?«
»Genau.«
»Ist ja krass!«
»Ich glaube, du musst los, fährst du mit dem Fahrrad?«
»Nein, das steht noch an der Schule … aber wie geht die Geschichte denn weiter?«
Andreas Falke lächelte. »Bärlach ist erfahren und listig. Er merkt schnell, dass sein Kollege Tschanz den Polizisten ermordet hat, aus Eifersucht und Karrierestreben. Schließlich manipuliert Bärlach Tschanz so, dass dieser Gastmann erschießt. Er erreicht also seine eigene Gerechtigkeit durch unrechtmäßiges Handeln.«
Franziska hatte sich bereits ihre Schultasche über die Schulter geworfen. »Danke, Papi, jetzt bin ich gut vorbereitet, tschüss!«
Als sie die Haustür zuschlug, kläffte aus dem Nachbargarten der Pudel von Frau Petermann. Ein Grund mehr, sich schnellstens davonzumachen.
»Willst du noch wissen, was mit Tschanz passiert?«, rief ihr Vater von oben aus dem Fenster. Sie winkte kurz ab und rannte los, den Buchrainweg entlang.
»Was ist dir beim Tanz passiert?«, hörte sie Frau Petermann noch fragen. Da war sie aber schon fast bei der Bäckerei Kress angekommen.
*
Herbert Falke wartete bereits seit einer Dreiviertelstunde in der Hessewirtschaft, als Gianni endlich durch die Tür trat.
»Bon di. Entschuldige, Herbie, war so viel los in der Redaktion.«
Den typischen Dialekt des Grödnertals hatte Gianni nie vollständig abgelegt, obwohl er schon seit 33 Jahren in Deutschland lebte. Immer noch hörte man dieses leichte, ans Schweizerdeutsch erinnernde Kratzen im Hals. Sein ›Bon di‹ war in der Stadt allseits bekannt. Im Ladinischen, seinem Südtiroler Urdialekt, war es die tägliche Begrüßungsformel, gleichbedeutend mit dem hessischen ›Ei gude, wie?‹.
»Mann, ich musste schon drei Apfelwein trinken, nur weil du mich so lange warten lässt!«
Gianni Mussner legte seine Pranke auf Herberts Schulter und begutachtete dessen Glas. »Sieht nach Sauer Gespritztem aus, also halb so schlimm. Und sicher hast du als Grundlage schon eine ordentliche Portion Grüne Soße verdrückt, oder?«
Herbert Falke grinste. Anita ratterte vorbei und rief, ohne Gianni anzusehen: »Pils?«
»Ja, bitte!«, antwortete er, setzte sich und legte eine Zeitung auf den Tisch. »Das ist der Offenbach-Kurier von heute, schon reingesehen?«
»Nein.«
»Solltest du aber. Ein Fall für dich.« Er tippte mit seinem mächtigen Zeigefinger mehrmals auf den Artikel.
Herbert Falke zog die Brille aus der Brusttasche seines karierten Sakkos und begann vorzulesen. »Gestern wurde einer 75-jährigen Frau an der Mainuferpromenade in Offenbach-Bürgel die Handtasche geraubt. Zeugen beobachteten einen jungen Mann auf einem silbernen Fahrrad, der sich der Frau von hinten näherte und ihr die Tasche entriss. Die Rentnerin stürzte dabei, erlitt eine Schulterverletzung und wurde ins Offenbacher Klinikum gebracht. Der Täter konnte unerkannt entkommen. Er trug einen grauen Kapuzenpulli und helle Turnschuhe. Sachdienliche Hinweise nimmt das 1. Offenbacher Polizeirevier entgegen. Telefon … und so weiter, das Übliche.« Falke schüttelte den Kopf. »Von wegen ›Hinweise entgegennehmen‹, gar nichts machen die, der Fall kommt zu den Akten und das war’s. Wie immer.«
Gianni nickte. »Du hast recht. Leider. Frage mich immer wieder, warum wir das noch abdrucken. Aber der Chefredakteur will es so. Er glaubt an die Polizei.«
»Hast du etwas im Archiv gefunden?«
»Ja, mehrere ähnliche Fälle, immer Handtaschen, immer vom Fahrrad aus, immer am Mainufer. Jedes Mal ein junger Kerl im Kapuzenpulli, aber verschiedene Fahrräder, mal rot, mal blau, mal silber. Wahrscheinlich geklaut.«
»Okay, wer von euch war bei der Polizei?«
»Niemand, ein Kollege ist krank, die anderen waren bereits eingeteilt. Ich auch. Aber hier: Evas Bericht.«
Herbert Falke lächelte. »Gut, dass du so eine nette … Informantin im Polizeipräsidium hast.«
Gianni grinste. »Die Frau aus Bürgel heißt Marie Landwehr. Hier die Adresse. Und noch ein bisschen mehr.« Damit schob er eine dünne Mappe über den Tisch.
»Danke. Irgendeine Beschäftigung muss ich als Rentner ja haben. Wenn ich schon nicht mehr offiziell für den Kurier recherchieren darf, dann tue ich es eben privat.«
»Wäre froh, wenn ich dir helfen könnte. Aber keine Chance, solange ich noch arbeite. Wenn ich in Rente gehe, machen wir ein Oldie-Detektivbüro auf.«
»In sechs Jahren fließt noch viel Wasser den Main hinunter.«
»Fünf Euro ins Phrasenschwein!«
Anita kam herangerauscht. »Gianni, dein Pils, haste ’n Deckel?«
»Ich übernehme das Pils«, sagte Herbert und schob ihr seinen Bierdeckel hin. »Statt Phrasenschwein.«
»Sicher?«, fragte Gianni.
»Klar, das galt zu meiner aktiven Zeit in der Redaktion und gilt auch heute noch, Prost!«
»Danke, Prost! Hilft dir deine Enkeltochter wieder?«
»Weiß ich noch nicht, Franzi schreibt derzeit viele Klausuren und Andreas war beim letzten Fall nicht so begeistert. Ich hätte sie angeblich von den Hausaufgaben abgehalten.«
»Hat ihr aber Spaß gemacht, oder?«
»Natürlich, sie war ganz begeistert, und das will bei einem 17-jährigen Mädchen schon was heißen. Aber Andreas, na ja, du weißt schon, alleinerziehender Vater …«
»Immer noch nichts von Karin gehört?«
»Nein.«
»So ein Käse!«, sagte Gianni, wobei das das ›K‹ einem rauen ›Ch‹ gewichen war.
Herbert nickte. »Ja. Ich persönlich vermisse sie zwar weniger …«
»Ich weiß.«
»Aber aus Franzis Sicht ist es ein Drama.«
In diesem Moment klingelte Herbert Falkes Mobiltelefon.
*
Franziska Falke ließ sich genau in dem Augenblick neben Jacky auf den Stuhl fallen, als Dr. Johannes Bester die Tür zum Klassenraum öffnete. Normalerweise wäre ihr eine Verspätung egal gewesen, aber da Dr. Bester und ihr Vater sich kannten, wollte sie die peinliche Diskussion zu Hause vermeiden. Außerdem war ihr Vater ziemlich angeschlagen, seitdem er meinte, letzte Woche in einem Fernsehbericht des Auslandsjournals seine Frau gesehen zu haben – auf einem großen Platz, mitten im Menschengetümmel. Über welches Land berichtet worden war, wusste er allerdings nicht mehr. Franziska selbst war der Aufenthaltsort ihrer Mutter egal. Sie konnte sich kaum noch an sie erinnern. Vor zehn Jahren war sie verschwunden. Einfach abgehauen. Kleidung, Schuhe, Schminksachen – alles hatte sie mitgenommen. Kein Schatten war von ihr geblieben. Nur ein Zweizeiler hatte auf dem Küchentisch gelegen: ›Seid mir bitte nicht böse, ich muss los!‹ Das war alles. Somit war klar, dass sie ihre Familie aus freien Stücken verlassen hatte, nicht etwa einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Seit Franziska das verstanden hatte, war ihre Mutter für sie tot. Sie wollte nicht mehr über sie nachdenken, hatte sich eine ›Muttersperre‹ verordnet. So nannte sie das ihrem Vater und Opa Herbert gegenüber. Außer diesen beiden ging das niemanden etwas an.
Eine ferne Stimme sprach zu ihr. »Hallo, Franziska, bist du noch bei uns?«, fragte Dr. Bester. Alle Schüler lachten, außer Jacky.
»Ja, ja, Entschuldigung!«
»Kannst du uns bitte eine Inhaltsangabe von ›Der Richter und sein Henker‹ geben?«
»Äh … ja.«
»Oder hast du es gar nicht gelesen?« Wieder lachten alle. Außer Jacky.
»›Der Richter und sein Henker‹ kann als Kriminalroman angesehen werden«, sagte Franziska, »aber eigentlich steckt viel mehr darin. Es geht um Gerechtigkeit und gerechtes Handeln. Ein Polizist wird in der Schweiz ermordet. Kommissar Bärmann und sein Kollege Tschanz …«
»Bärlach«, unterbrach der Lehrer, »der Kommissar heißt Bärlach!« Diesmal lachte niemand.
»Ach ja, natürlich, Bärlach. Jedenfalls suchen die beiden den Mörder. Bärlach erkennt ziemlich schnell, dass Tschanz seinen Kollegen aus Neid und Karrierestreben umgebracht hat. Das sagt er diesem Tschanz jedoch nicht, denn er will ihn für seine eigenen Zwecke benutzen. Beide treffen im Laufe des Falls auf einen weltweit tätigen Verbrecher namens Gastmann.« Franziska unterbrach kurz, um sich an die Situation beim Frühstück zu erinnern, um die Worte ihres Vaters im Kopf aufbauen zu können. Sie dachte an das Nutellabrot – ihre Mutter hatte ihr oft Nutellabrote geschmiert …
»Gut, weiter bitte!«, sagte Dr. Bester.
»Parallel gibt es eine zweite Geschichte, eine Art … Rückblende. Man erfährt, dass Bärlach mit genau diesem Gastmann vor vielen Jahren eine Wette abgeschlossen hat. Gastmann behauptete, er könne einen Mord begehen, ohne dass Bärlach es schafft, ihn dafür ins Gefängnis zu bringen. Und Bärlach ging tatsächlich auf diese Wette ein!«
Es war so still im Raum, dass man selbst das Vibrieren von Franziskas Handy in ihrer Schultasche gehört hätte.
»Gastmann brachte also tatsächlich jemanden um, einfach nur so, um seine Wette zu gewinnen, also … das muss man sich mal vorstellen! Einfach nur so!« Franziska musste tief Luft holen. »Seitdem versucht der Kommissar, Gastmann zur erledigen, und obwohl dieser den Schweizer Polizist gar nicht umgebracht hat, steuert Bärlach jetzt alles so, dass sein Kollege Tschanz den Gastmann erschießt.«
»Sehr gut, Franziska, danke!« Dr. Bester kramte in seiner Aktentasche herum. »Und was passiert mit Tschanz?«, fragte er währenddessen.
Franziska sah Jacky Hilfe suchend an. Diese machte schnell eine Schießbewegung in Richtung ihrer Schläfe.
»Der bringt sich um«, antwortete Franziska.
Der Lehrer hatte inzwischen sein Notizbuch gefunden. »Richtig. Meinst du denn, dass Gastmann seine Wette gewonnen hat?«
»Ja, ich denke schon. Der Kommissar hat ihn zwar zur Strecke gebracht, aber dabei selbst einen Mord begangen, für den er nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Damit hat er Gastmanns Behauptung, ungesühnt einen Mord begehen zu können, ja nachträglich selbst bestätigt.«
Dr. Bester nickte anerkennend. Er schlug sein Notizbuch auf und trug etwas ein. Alle wussten, was das bedeutete: mindestens 13 Punkte.
»Moment mal …«, kam es von Alex, »dann hätten wir es ja mit zwei perfekten Morden zu tun, oder?«
Diese Frage war typisch für Alex. Er war der ›perfekte‹ Typ, 1,90 Meter groß, sportlich, dunkler Teint und schwarze Locken. Als Basketballer beim EOSC war es sein größter Wunsch, in die USA zu gehen, um in der NBA zu spielen. Wenn seine Mitschüler Worte benutzten wie ›genau‹, ›klar‹ oder ›voll korrekt‹, dann sagte er: ›perfekt‹.
»Was meint ihr dazu?«, fragte Dr. Bester und machte eine weit ausholende Bewegung in den Raum.
»So perfekt finde ich den Mord nun auch wieder nicht«, sagte Jacky. »Der wirklich perfekte Mord ist für mich derjenige ohne Motiv. Gastmann hatte aber ein Motiv: Er wollte die Wette gewinnen.«
»Das schon«, entgegnete Franziska, »aber der Einzige, der dieses Motiv kannte, war Bärlach, und der würde es nie jemandem verraten, denn durch die Annahme der Wette hat er Gastmann ja zu dem Mord angestiftet, ist also mitschuldig. Angenommen, Gastmann hat das wissentlich einkalkuliert, ist der Mord ziemlich perfekt!«
Sogar ein Schüler aus der letzten Reihe beteiligte sich an der Diskussion: »Das stimmt, und der Kommissar fühlt sich ja auch tatsächlich schuldig!«
Dr. Bester blieb der Mund offen stehen. Er schlug erneut sein Notizbuch auf und notierte etwas für den Hinterbänkler. Sicher nicht 13 Punkte, aber immerhin einen Vitalitätsnachweis.
Alex riss die Arme hoch. »Das ist ja noch besser! Ein Motiv, das nur ein einziger Mensch kennt, der es aber nicht verraten kann, weil er sich damit selbst belastet. Das ist ja …« Er holte tief Luft, doch bevor er weiterreden konnte, riefen seine Mitschüler im Chor: »Perfekt!«
Dr. Bester lächelte. »Franziska, du sprachst vorhin von Gerechtigkeit und gerechtem Handeln, wo siehst du da den Unterschied?«
»Na ja, der Tod von Gastmann ist sicher eine Art Gerechtigkeit, schließlich hat er ja einen anderen Menschen ermordet, nur um die Wette zu gewinnen. Gastmann hat den Tod also … irgendwie verdient. Anderseits ist das, was Bärlach getan hat, nicht legal, also nicht gerecht – aus Sicht des Staats. Das ist Selbstjustiz. Noch dazu durch einen Polizeibeamten, der mehr als jeder andere das Gesetz vertreten sollte.«
»Andere Meinungen?«, fragte der Lehrer.
Der Hinterbänkler meldete sich erneut. »Für alle anderen Leute war es doch gut, was Bärlach gemacht hat, dann kann der Gastmann wenigstens keinen Schaden mehr anrichten, oder?«
Auf einmal redeten alle durcheinander, jeder wollte etwas dazu sagen. Dr. Bester ließ seine Schüler ein paar Minuten gewähren, bevor er sie unterbrach: »Moment bitte, so geht das nicht. Wir müssen auch nicht unbedingt zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen, eine Vielfalt an Meinungen ist gut. Zu dem Thema Allgemeinwohl gegenüber Einzelwohl lesen wir im nächsten Schuljahr ›Der Besuch der alten Dame‹, ebenfalls von Friedrich Dürrenmatt.«
»Schon wieder der gleiche Schriftsteller?«
»Ja«, sagte Dr. Bester, »denn Friedrich Dürrenmatt hatte die Fähigkeit, aus Worthülsen ein Wortgewand zu machen.«
Das musste der Fragesteller erst einmal verdauen.
»Und weil ihr so gut mitgearbeitet habt, gebe ich euch den Rest der Stunde frei!«
Der Rest der Stunde bestand zwar nur noch aus fünf Minuten, aber trotzdem würdigten alle Schüler das Verhalten ihres Lehrers mit Beifallsbekundungen und stürmten hinaus. Franziska und Jacky holten sich in der Cafeteria eine Bionade und trafen dabei Mia-Sophie aus dem Mathekurs, die sie für den nächsten Tag zum Shoppen im KOMM-Center überreden wollte.
»Morgen ist Mittwoch …«, überlegte Franziska, »ach nee, keine Chance, morgen Abend bin ich auf dem Bieberer Berg, das wird zu knapp, sorry.«
»Auf dem Bieberer Berg?«
Jacky grinste. »Du weißt doch, Franzi und die Kickers!«
Mia-Sophie schüttelte voller Unverständnis den Kopf.
»Morgen ist das Pokal-Halbfinale gegen Schalke«, sagte Franziska, »ich hab schon Tickets, mein Opa hat sie besorgt, über den Offenbach-Kurier, da kommt man nur schwer dran.«
Mia-Sophie resignierte. »Na gut, dann am Donnerstag?«
»Super, Donnerstag passt!«
Franziska war bestens gelaunt, als sie mit Jacky im Schlepptau den Fahrradkäfig ansteuerte. Sie besprachen, was sie am Donnerstag alles kaufen wollten. Plötzlich blieb Franziska abrupt stehen. »Mein Fahrrad ist weg!«
»Was?« Jacky inspizierte den Fahrradständer. Das Fahrrad war offensichtlich verschwunden, doch ein Bügelschloss hing unbeschädigt am Ständer. Franziska meinte, es als das ihrige zu erkennen. Um sicher zu sein, zog sie das Schlüsselbund heraus und probierte, es zu öffnen. Das Schloss sprang auf.
Jacky schüttelte ihren hennaroten Haarschopf. »Du hast dein Bügelschloss am Ständer befestigt, aber vergessen, das Fahrrad mit anzuschließen!«
»Oh nein – bin ich verpeilt!«
»Da muss ich dir ausnahmsweise recht geben!«, murmelte Jacky.
Alex kam vorbei. »Was ist los?«
Die beiden Mädchen erklärten ihm die Situation.
»Vielleicht steht es ja noch irgendwo …« Er durchsuchte den gesamten Fahrradkäfig. »Silberner Rahmen, soweit ich mich erinnere?«
»Stimmt, und ›Breakman‹ steht drauf«, antwortete Franziska missmutig. Sie überlegte schon, wie sie ihrem Vater den Verlust beibringen sollte. »Hat 800 Euro gekostet!«
Alex pfiff leise durch die Zähne. Er half, Franziska und Jacky die Gegend um den Käfig abzusuchen, bis hinüber zum Parkplatz an der Brandsbornstraße. »Nichts zu machen«, sagte er, »tut mir leid. Wenn ich dein Fahrrad irgendwo in Offenbach sehe, bringe ich es dir, okay?«
Franziska nickte und musste über seine hilfsbereite Art ein wenig lächeln. Jacky hakte sich bei ihr ein und die beiden trotteten nach Hause.
*
Dr. Johannes Bester verließ die Leibnizschule und stieg in seinen alten gelben Peugeot Kombi. Er legte keinen besonderen Wert auf Technik und Ausstattung seines Autos, schon gar nicht auf das Design. Es war für ihn ein reiner Gebrauchsgegenstand. Und so hielt er es auch mit seiner Kleidung. Wenn sein Beruf ihm nicht absolut lästerfreie Garderobe abfordern würde, käme er wahrscheinlich mit zwei Pullis und einer Jeans aus. Er nahm die große Ringstraße, fuhr den Bieberer Berg hinauf und bog am Stadion links ab. Kurz darauf hatte er die Schnellstraße in Richtung Obertshausen erreicht.
Dr. Bester freute sich über die Leistungen seines Deutschkurses, besonders über Franzis Interpretation der Dürrenmatt-Lektüre. Er hatte immer ein Problem damit, die Kinder von Bekannten oder Freunden zu unterrichten, denn er wollte vermeiden, sie zu bevorzugen. Wahrscheinlich tat er am Ende genau das Gegenteil. Doch heute war Franziskas Leistung so eindeutig gewesen, dass er ihr 15 Punkte geben musste.
Kaum hatte er seine Wohnung in der Badstraße betreten, war die gute Laune verflogen. Der Flur hing voller Fotos, die seinen Vater zeigten. Karl Bester bei der Metallbearbeitung, Karl Bester auf der Baustelle mit Blaumann und Schutzhelm, Karl Bester im Urlaub an der Nordsee. Und dann starrte er auf das Bild, das er erst vor zwei Wochen aufgehängt hatte: das Grab. Vor diesem Foto blieb Johannes besonders lange stehen. Seine Augen stierten auf das Bild, seine Gedanken konzentrierten sich einem Laserstrahl gleich auf jenen imaginären Ort, an dem er seinen Vater jetzt vermutete. Schon seit einigen Tagen übte er sich darin, diesen Ort ausfindig zu machen. Sein Gesicht veränderte sich. Es wurde zu einer Maske, die ihn von sich selbst entfremdete. Er konnte diese Maske nicht sehen, sonst hätte er wohl gemerkt, dass etwas in ihm vorging, hätte sich selbst gezügelt, sein Blut beruhigt. Doch kein Mensch kann sich selbst sehen, er kann sich nur fühlen. In zwölf Tagen wäre sein Vater 70 Jahre alt geworden. Heutzutage war dies kein besonders hohes Alter, beim Entwicklungsstand der modernen Medizin hätte er gut 80 werden können. Oder zumindest 78, das durchschnittliche Alter eines deutschen Mannes. Aber nein – er war bereits seit acht Jahren tot, nur weil in dieser Metallbaufirma ungenügende Sicherheitsvorkehrungen geherrscht hatten. Und dann dieser Chef! »Ich bin nicht der Typ, der Magengeschwüre bekommt. Ich verursache sie!« Das hatte er einmal gesagt. Johannes Bester ballte unwillkürlich seine Hände zu Fäusten. Die Gerechtigkeit würde siegen, das war klar für ihn. Und der Siegeszug hatte bereits begonnen: Der ehemalige Chef seines Vaters hatte Magengeschwüre bekommen. Sollten sie ihn doch von innen auffressen.
*
Alex Halima hatte zweimal am Tag einen halbstündigen Fußmarsch zwischen der elterlichen Wohnung in der Flutstraße und der Leibnizschule zurückzulegen. Das machte ihm nichts aus, denn er liebte es, an der frischen Luft zu sein. Den Bus nahm er nur selten. Mit seinen 1,90 Meter und der sportlichen Figur war er entlang seiner Hausstrecke Marienstraße und Feldstraße eine bekannte Größe. Auch bei Schlunz, dem Besitzer der Trinkhalle ›Am Tunnel‹, direkt neben der Bahnunterführung an der Senefelder Straße.
Alex’ Verwandte aus Berlin machten sich oft lustig über den Ausdruck ›Trinkhalle‹. Na ja, ein bisschen komisch klang das schon, denn mit einer Halle hatte das Freilufttrinken dort wirklich nichts zu tun, und in den meisten Gegenden Deutschlands sagte man dazu einfach Kiosk. Aber nicht so in Offenbach.
Auch heute waren die üblichen Bierfreunde bei Schlunz: Pepi, Karli und Dieter. Pepi und Karli kannte er als zwei Obdachlose. Er fragte sich oft, wie das wohl war, wenn man kein Zuhause hatte, kein warmes Zimmer und keine weiche Bettdecke. Schrecklich. Doch Pepi und Karli schien das nicht im Mindesten zu stören, sie waren immer gut gelaunt. Immer. Alex selbst war manchmal missmutig, wenn er aus der Schule kam. Auch Dieter war oft sauer, meistens auf seine »Alte«, die ihm kein Geld für Bier geben wollte. Und Schlunz, na ja, der war sowieso immer knurrig, sprach nur wenig, trank dafür umso mehr Kräuterschnaps und machte den Eindruck eines vom Leben ungeliebten Mannes. Nur Pepi und Karli, für die schien immer die Sonne.
»Ei, Alex!«, rief Karli in breitestem Offenbacher Dialekt. »Komma rübber, s’gibt ebbes zu feiern, de Schlunz gibt aane aus!«
Alex lachte und überquerte die Straße. Schon hatte er eine Flasche Bier in der Hand.
»Heut gibt’s sogar Flaschebier, kaa Dose, de Schlunz hat nämmisch Gebortstag, er wird so alt, wie de Johannes Heesters ma werdde wollt!«
Die vier lachten und Alex stimmte ein. Das befreite den Geist. Und manchmal auch den Körper. Perfekt.
*
Franziskas Heimweg war kurz. Normalerweise brauchte sie etwa fünf Minuten bis in den unteren Teil des Buchrainwegs, vorausgesetzt, sie machte keinen Abstecher in die Bäckerei Kress, um sich einen der in ganz Offenbach bekannten Kreppel zu kaufen, und vorausgesetzt, sie blieb an der Kreuzung vor der Bäckerei nicht stehen, um mit Jacky all das zu besprechen, wozu die Schulzeit nicht gereicht hatte. Jacky musste hier rechts abbiegen, denn sie wohnte im oberen Teil des Buchrainwegs, auf dem sogenannten Millionenhügel. Na ja, eine schöne Villa hatten sie schon, die Jansens. Bernhard Jansen, Jackys Vater, war ein bekannter Anwalt, der durch seine zahlreichen Strafprozesse häufig im Offenbach-Kurier auftauchte. Claudia Jansen hatte an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung studiert und sich über die Jahre zu einer der bekanntesten Malerinnen im Rhein-Main-Gebiet entwickelt. Ihre Ausstellungen in der Heyne-Fabrik fanden große Beachtung. So weit jedenfalls die Schilderungen von Andreas Falke. Franziska selbst ließen diese Schilderungen eher kalt, für ihre Freundschaft mit Jacky spielten deren Eltern keine Rolle. Die Einzige, mit der Franziska ab und zu Kontakt hatte, war Jackys Oma.
Als Franziska die Wohnungstür aufschloss, fiel ihr ein, dass ihr Vater heute Abiturprüfung hatte und erst spät nach Hause kommen würde. Ein Zettel hing am Kühlschrank: ›Essen in der gelben Dose. Liebe Grüße Pa!‹ Sie lächelte. Die gelbe Plastikdose enthielt eine Scheibe Schweinebraten und zwei Kartoffeln, sie hätte das Ganze einfach nur in der Mikrowelle aufwärmen müssen. Aber irgendwie hatte sie keinen Appetit, und schon gar nicht auf Fleisch. Außerdem musste sie dringend mit jemandem über ihr Fahrrad sprechen. Sie überlegte. Opa Herbert, ja, ihn konnte sie anrufen. Als Rentner war er fast genauso viel unterwegs wie zu seiner aktiven Zeit als Redakteur beim Offenbach-Kurier, deswegen wählte sie seine Handynummer. Er nahm sofort ab. »Hallo, Opa, ich müsste mal was mit dir besprechen …«
»Hallo, Franzi, gerne, ich sitze allerdings gerade mit Gianni in der Hessewirtschaft.«
»Ach so …« Franziska zögerte.
»Um was geht es denn?«, fragte Herbert.
»Na ja, weißt du … Mein Fahrrad ist geklaut worden.«
»Ach – dein Fahrrad ist gestohlen worden.«
Franziska hörte, wie ihr Opa sich im Hintergrund mit Gianni Mussner unterhielt. Sie kannte die sonore Stimme des Südtirolers.
»Soweit ich mich erinnere, hat dein Fahrrad einen silbernen Rahmen, oder?«
»Ja, silber, von Trek … eine amerikanische Marke, auf der Querstange steht ›Breakman‹.«
»Silber und Breakman, aha, hast du Fotos vom Fahrrad?«
»Ja, hab ich. Papa wollte das damals unbedingt. Auch die Rahmennummer haben wir notiert.«
»Sehr gut, pass auf, ich hab da eine Idee, brauche aber etwas Zeit. Kannst du morgen nach der Schule zu mir kommen? Ich koche uns Spaghetti.«
»Klar, gute Idee, dann mache ich meine Hausaufgaben bei dir und wir gehen danach gleich zum Pokalspiel, okay?«
»Wunderbar, bring die Fotos vom Fahrrad mit und vergiss deinen Kickers-Schal nicht!«
»Logisch. Tschüss, bis morgen!« Franziska legte auf und überlegte, wie sie ihrem Vater bis morgen den Fahrraddiebstahl verheimlichen konnte, ohne lügen zu müssen. Doch hungrig konnte sie nicht denken. Sie beschloss, zur Bäckerei Kress zu gehen und sich einen mit Vanillecreme gefüllten Kreppel zu holen. Der Schweinebraten musste warten. Als sie aus dem Haus kam, stand Frau Petermann mit dem Pudel am Gartenzaun.
»Ach, Franzi, was ist dir eigentlich gestern beim Tanz passiert?«
Franziska brauchte einen Moment, um Frau Petermanns morgendlichen Hörfehler zu erkennen. »Tschanz, Frau Petermann, nicht Tanz. Und der Tschanz ist tot!«
»Was? Der Tanz ist tot? Na, mir kann’s ja egal sein, aber für euch junge Leute ist es schade …«
Alfred Sival war – im Gegensatz zu seinem Bruder – kein Lebensjongleur. Er hatte Bauschlosser gelernt und Spaß daran gefunden, Metall zu formen. Bördeln, Nieten, Löten und Schweißen wurde zu seinem Lebensinhalt. Die Meisterprüfung war ihm zwar schwergefallen, aber er hatte an den Aufgaben gefeilt, sich in den Stoff hineingebohrt und an sich selbst geschmiedet. An Feiern, Tanzen und Küssen verschwendete er keinen Gedanken. Als nach langer Krankheit sein Vater starb, übernahm er erwartungsgemäß den elterlichen Betrieb. Voller Ehrgeiz hatte er sich der neuen Aufgabe hingegeben, mit maßvollem Auge die Belegschaft vergrößert, Gelände hinzugekauft und innerhalb weniger Jahre den Umsatz verdoppelt. Die Sival GmbH hatte hohes Ansehen in Offenbach und Umgebung erreicht.
Alfred Sival hatte die Todesanzeige an der Kühlschranktür befestigt. Jedes Mal, wenn er etwas essen wollte, fiel sein Blick auf den ominösen Termin: 14. Mai. Zunächst hatte er die Drohung für Unsinn gehalten, für das Werk eines Übergeschnappten, den die Polizei in Kürze festnehmen würde. Bis ihm klar wurde, dass die Polizei gar nichts von den schwarz umrandeten Briefen wusste. Er selbst hätte die Beamten informieren müssen, aber das wollte er nicht. Seine Abneigung gegenüber der Polizei hatte sich nach wie vor nicht gelegt.
Mehrmals war er kurz davor, die Anzeige von der Kühlschranktür zu nehmen und in den Mülleimer zu werfen, aber er schaffte es nicht. Immer wieder fiel sein Blick darauf. Noch elf Tage. War das viel oder wenig? Er konnte sich nicht entscheiden. Die durchschnittliche Lebenserwartung deutscher Männer betrug 78 Jahre, also hätte er noch acht Jahre vor sich. Sein Peiniger wollte ihm nur noch 0,4 Prozent davon gönnen, das hatte er bereits ausgerechnet. Oder sollte er seine bisher gelebten 70 Jahre als Maßstab nehmen? Oder sogar nur den heutigen Tag? Vielleicht verbot sich aber auch jeglicher Vergleich, denn sein Leben war sowieso endlich.