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Ganz Weimar fiebert den Feierlichkeiten zur »Kulturhauptstadt Europas« entgegen. Doch mitten in den Vorbereitungen werden aus dem berühmten Goethehaus wertvolle Exponate gestohlen. Die einzigen Hinweise sind Zitate des Dichters, die der Täter an Stadtrat Kessler sendet. Hendrik Wilmut, Dozent für Literaturgeschichte in Frankfurt am Main und ausgewiesener Goethe-Kenner, wird von Kessler gebeten, diese Zitate zu analysieren. Langsam und geduldig tastet sich Wilmut durch die Literatur und die Psyche des Täters - ohne zu ahnen, dass er damit nicht nur sich selbst in größte Gefahr bringt …
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Seitenzahl: 437
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Bernd Köstering
Goetheruh
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig / Sven Lang, Katja Ernst
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Viola Boxberger / PIXELIO
Karte auf S. 6 wurde gestaltet von: Felix Volpp, www.fevo-design.de
ISBN 978-3-8392-3462-4
Meinem Vater
Bis zu den Ereignissen dieses Sommers hatte ich ganz selbstverständlich angenommen, die Wahrheit sei eindeutig und unbestechlich. Diese Wahrheit, die seit meiner frühen Kindheit feststand wie in Stein gemeißelt, eine unumstrittene Landmarke des Lebens, immun gegen jegliche schizophrene Angriffe.
Alles begann an einem heißen Julitag im Jahr 1998, als ich mit meinem alten, roten Volvo die Reise von Frankfurt am Main nach Osten antrat. Etwa drei Stunden später verließ ich die Autobahn und hielt vor einer roten Ampel. Ich drehte das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen. Stattdessen schlug mir die Mittagshitze entgegen. Eine Klimaanlage wäre jetzt Gold wert gewesen. Ich freute mich auf eine kalte Dusche, doch zuvor stand eine kurze Stadtrundfahrt auf dem Programm. Das hatte ich mir nach der Wiedervereinigung so angewöhnt. Jedes Mal, wenn ich zurückkehrte.
Als die Ampel auf Grün sprang, bog ich ab Richtung Gelmeroda. Ich sah die kleine Verkehrsinsel auf der anderen Seite der Autobahn, auf der zu DDR-Zeiten immer die Volkspolizei gelauert hatte. Noch lange nach der Wende beschlich mich an dieser Stelle ein Gefühl der Unsicherheit.
Hinter Gelmeroda konnte ich rechts durch die Bäume bereits Teile des städtischen Krankenhauskomplexes erkennen, ein paar Minuten später erreichte ich das Ortsschild meiner Stadt. Dieser Augenblick gibt mir jedes Mal innere Ruhe und Zufriedenheit. Warum? Weil dies meine Geburtsstadt ist? Weil ich hier so viele prägende Dinge erlebt habe? Oder einfach nur weil es eine unvergleichliche Stadt ist? Ich weiß es nicht. Aber es ist meine Stadt: mein Weimar.
Nachdem ich den historischen Friedhof erreicht hatte, winkte ich kurz nach links, so, als ob mein Großvater mich noch sehen könnte. Ich fuhr die Berkaer Straße entlang und meine Weimarer Stimmung umfing mich. Geradlinig und beschützend, klare, unverblümte Zeugen jeder Epoche: Goldenes Zeitalter, Silbernes Zeitalter, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Sozialismus und Wendezeit. Weitgehend ohne Bausünden in der Innenstadt, ein von mir hoch geschätzter Vorteil gegenüber den westdeutschen Städten, in denen ich nach dem Verlassen der DDR gelebt hatte.
Ohne anhalten zu müssen, fuhr ich links in die Belvederer Allee hinein. Wenig später öffnete sich der Wielandplatz vor mir. Links an der Ecke gab es immer noch das RTF Radio- und Fernsehgeschäft, das bereits zu meiner Jugendzeit existierte, in der ich regelmäßig die Sommerferien bei meinen Großeltern in Weimar verbrachte. Bei RTF konnte man einen Tuner fürs Westfernsehen kaufen. Wenn man genug Geld hatte – oder Beziehungen. So konnten wir die Fußball-WM 1966 verfolgen, mit dem berühmten Wembley-Tor, Uwe Seeler und allem Drum und Dran.
Ich bog rechts ab in die Ackerwand. Hier wohnten einst die Frau von Stein und Großmutters Putzfrau, beide sind schon längst tot. Ein kurzer Blick auf den Park an der Ilm, und schon ging es Richtung Schloss, auf schwerem Kopfsteinpflaster, fast wie zu Goethes Zeiten. Linkerhand stand das ›Residenz Café‹, im Volksmund ›Café Resi‹ genannt – Jugenderinnerungen an dicke Sahnetorten. Überall erhoben sich Baugerüste, sogar an der Anna-Amalia-Bibliothek und am Residenzschloss. Weimar bereitete sich mit viel Enthusiasmus auf das nächste Jahr vor, um sich 1999 als Kulturhauptstadt Europas zu präsentieren. Ich passierte das Schloss und den Marstall. Kurz vor der Kegelbrücke spürte ich den kühlen Luftzug, der von der Ilm heraufwehte. Ich rollte langsam über die Brücke und atmete tief ein. Gerade als mein Volvo mit dem typischen Dieselgeräusch den kurzen Anstieg zur Jenaer Straße hinaufkroch sprang die Ampel auf Rot. Ich hatte es nicht eilig. Ich saugte die Stadt in mich auf und genoss ihren vertrauten Geruch.
Als die Ampel Grün zeigte, nahm ich die Jenaer Straße stadteinwärts. Am ehemaligen Gauforum bog ich links ab. In der ›Halle des Volkes‹, einem riesigen Betonklotz, sollten einst 20.000 Menschen einem gewissen Adolf Hitler zugejubelt haben. Bei diesem Gedanken schüttelte ich instinktiv den Kopf.
Einen Moment lang war ich versucht, mir in der ›Brasserie Central‹ am Rollplatz einen Milchkaffee zu gönnen. Aber ich wollte noch einige Vorbereitungen für die nächsten Tage treffen, und deshalb zog es mich zunächst in meine Wohnung in der Hegelstraße. Ich war aus mehreren Gründen nach Weimar gekommen. Zum einen hatte mich mein Cousin Benno eingeladen, an seinem privaten Literaturkreis teilzunehmen, und heute Abend sollte ich den anderen vorgestellt werden. Außerdem hatte er mich gebeten, ihm bei einer dringenden Angelegenheit zu helfen, die er nicht näher erklärt hatte und die mir etwas mysteriös vorkam. Ich wusste lediglich, dass es mit seiner Arbeit zu tun hatte. Er war bei der Stadt Weimar beschäftigt. Wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen langweiligen Beamtenkram, doch für Cousin Benno tat ich alles. Weiterhin hatte ich von der ›Frankfurter Presse‹ den Auftrag erhalten, eine Buchbesprechung zu schreiben. Solche Rezensionen sind zwar nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber es ging um Goethes Feinde, und als anerkannter Goethe-Spezialist konnte ich das kaum ablehnen, ohne meinen Ruf zu gefährden. Für solche Aufträge nahm ich mir gerne Urlaub vom Universitätsalltag und zog mich aus dem hektischen Frankfurt ins ruhigere Weimar zurück.
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