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Der Goetheexperte Hendrik Wilmut erfährt von zwei ungeklärten Todesfällen: Marianne S. aus Frankfurt und Elisabeth M. aus Offenbach sind nach Ansicht der Ärzte eines natürlichen Todes gestorben. Doch Kriminalhauptkommissar Richard Volk plagen Zweifel. Als Hendriks Freund Siggi von einem ähnlichen Fall in Thüringen berichtet, hat Wilmut einen unerhörten Verdacht. Er ist sich sicher, gegen einen Serienmörder zu kämpfen. Gelingt es ihm, die bedrohte Christiane S. aus Weimar zu retten?
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Seitenzahl: 379
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Bernd Köstering
Goetheherz
LITERATURKRIMI
Heute stirbst du! Der Goetheexperte Hendrik Wilmut versucht, sein Leben nach dem Mordanschlag auf seine Frau Hanna neu zu sortieren. Dabei erfährt er, dass sein Freund Richard Volk, Kriminalhauptkommissar in Frankfurt am Main, zwei ungeklärte Todesfälle bearbeitet. Sowohl Marianne S. aus Frankfurt als auch Elisabeth M. aus Offenbach sind nach Ansicht der Ärzte eines natürlichen Todes gestorben. Doch Richard Volk plagen Zweifel. Als der pensionierte Kriminalbeamte Siggi Dorst von dem ähnlich gelagerten Fall der Wilhelmine B. aus Jena berichtet, hat Wilmut einen unerhörten Verdacht. Denn alle Frauen tragen einen der Vornamen von Goethes Herzdamen. Aber damit steht er zunächst alleine da und kämpft gegen seine Freunde, einen konservativen Kripochef und eingefahrene Abläufe im Polizeiapparat. Beim furiosen Finale in Goethes Gartenhaus zeigt Wilmut mehr Mut, als er sich selbst je zugetraut hätte. Gelingt es ihm, die bedrohte Christiane S. aus Weimar zu retten?
Bernd Köstering wurde 1954 in Weimar/Thüringen geboren und lebt heute in Offenbach am Main. 2010 gab er sein Debüt als Krimiautor und veröffentlichte seitdem acht Kriminalromane sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Krimirätsel. Er entwickelte zusammen mit dem Gmeiner-Verlag das Genre des Literaturkrimis, in dem ein bekanntes Werk der Weltliteratur den jeweiligen Fall auslöst oder auflöst. Seine Goethekrimis um den Privatermittler Hendrik Wilmut haben unter Fans inzwischen Kultcharakter. Neben dem Schreiben gilt seine Leidenschaft drei Damen und drei Gitarren.
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Personen und Handlung sind frei erfunden.
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sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Katja Ernst
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © franke 182 / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6912-1
Sie hatte zwei Wochen lang geschlafen. Hendrik sah noch einmal auf den Kalender. Tatsächlich, vom 13. September bis heute. Die Ärzte hatten sich sehr distanziert ausgedrückt: »Ihre Frau liegt im Koma.« Hendrik konnte diesen Ausdruck nicht leiden. »Hanna schläft!«, hatte er sich angewöhnt zu sagen und näherte sich auf diese ihm eigene Art dem Wort »Winterschlaf«. Ein Winterschlaf war nichts Beunruhigendes und verhieß ein frohes Erwachen im Frühling.
Die Stationsärztin hatte mehrmals darauf hingewiesen, dass sie nicht wüsste, ob und wann Hanna wieder aufwachte. Sie hatte nie den Mut gehabt, ihm das ins Gesicht zu sagen, murmelte es beiläufig, während sie sich über Hannas Bett beugte, oder erwähnte es in Hendriks Beisein gegenüber einer Krankenschwester – als wenn die es nicht wüsste. Natürlich wusste Hendrik es auch, doch er war ein Freund klarer Botschaften und hätte ein offenes Gespräch geschätzt.
Viele Stunden hatte er in den vergangenen zwei Wochen an Hannas Bett gesessen, leise mit ihr geredet, für sie Gedichte rezitiert oder gesungen. Immer dasselbe Lied. Und viele Nächte hatte er zu Hause auf dem Küchenstuhl zugebracht, am Fenster, mit Blick auf den kleinen Park an der Bodenstedtstraße, lethargisch auf die Uneinsamkeit wartend. Mehr als sonst hatte er darüber nachgedacht, wie es wäre, für immer allein zu sein. Ohne Ansprache, ohne Austausch, selbst wenn es nur ein paar unbedeutende Sätze wären. Ohne gemeinsame Mahlzeiten an einem liebevoll gedeckten Tisch oder locker in der Küche stehend, in einer Hand ein Brötchen, in der anderen ein Bierglas. Ohne die vertrauten Berührungen und das gegenseitige Wärmen unter der Bettdecke. Er hatte sich geschworen, daran zu denken, wenn Hanna aufwachte, wohl ahnend, dass es schwer werden würde. Schnell konnte ihn der Alltag wieder einholen. Der Alltag – dieses harmlos daherkommende Monster, das schon so viel Lebensfreude und Liebeswahrhaftigkeit unter sich begraben hatte.
Natürlich würde Hendrik eines Tages ohne Hanna sein. Bisher hatte er fest daran geglaubt, diesen Planeten vor seiner Frau zu verlassen. Doch dann war das umgekehrte Szenario mit Macht herangerückt, und er merkte, dass ihm seine imaginäre Variante besser gefiel. Er sah sich selbst in einem lichtdurchtränkten Wolkenmeer schweben, und dieses Bild im Gemenge seiner Fantasie behagte ihm mehr als die Vorstellung, ohne Hanna in der mit Gemeinsamkeit gefüllten Wohnung ausharren zu müssen.
Die Dämmerung schlich sich in die Küche wie ein grauer Dieb. Vor zwei Stunden hatte der Professor angerufen und ihm verkündet, dass Hanna aufgewacht sei. Er müsse noch einige neurologische Untersuchungen durchführen, dann könne Hendrik sie besuchen, gegen Abend, er melde sich wieder.
In den Tagen zuvor hatte Hendrik die Dämmerung als willkommenen Gast hereingelassen, war ohne sich zu rühren sitzen geblieben, bis es dunkel geworden war. Jetzt stand er auf und schaltete das Licht ein. Kurz darauf klingelte das Telefon.
*
Sie hatte sich in die Lüfte erhoben, fühlte sich leicht, flog hoch und weit. Die Stadt lag unter ihr, das Land glich dem Garten ihrer Mutter, sie schwebte höher, die Erdkugel sah aus wie ein vergessener Kinderball im Rinnstein. Jemand rief einen Namen. War es ihr Name? Wer rief da? Während sie höher und höher gezogen wurde, spürte sie Angst, tiefe, wahrhaftige Angst. Irgendwann musste das doch aufhören! Dann nahm sie etwas wahr, das einem Schutzschild ähnelte, direkt über ihr. Es erinnerte sie an die Schildkröte ihrer Großeltern. Unter dem Schutzschild blieb sie förmlich hängen, fühlte sich wie ein reifer Apfel, der nicht vom Baum fallen konnte. Sie meinte, eine Stimme zu hören, die eines Märchenerzählers. War das ihre Großmutter? Nein, eine Männerstimme, aber der Großvater hatte ihr nie vorgelesen. Immer wieder die gleichen Sätze, im subtilen Stakkato, so als wollte man ihr etwas einbläuen, ähnlich den Kirchenliedern im Konfirmationsunterricht. Sie wehrte sich zunächst, merkte dann jedoch, dass es ihr guttat, mehrmals dieselben Zeilen zu hören, die Worte zu spüren und einzuatmen. Wieder und wieder.
Endlich gab der Apfelbaum sie frei. Sie fiel nicht langsam, so wie die Dämmerung zu Hause herabsegelte, sondern schnell wie ein Stein, so wie die Dämmerung am Äquator hereinbricht. Sie fürchtete, auf die Erde zu schlagen, wehrte sich mit Händen und Füßen, schrie, sah, dass alles weiß war um sie herum, schrie noch mehr, bis ein älterer, grauhaariger Herr erschien, sich über sie beugte und mit einer sonoren Stimme erklärte, er hieße Professor … – den Nachnamen verstand sie nicht. Daraufhin wollte sie etwas sagen, war sich allerdings nicht sicher, ob sie sprechen konnte. »Lassen Sie sich Zeit!«, sagte der Professor in einer gütigen Art, und langsam, stockend, fast stotternd brachte sie einen Satz heraus: »Pro…fessor … ist ja … ein komischer … Vorname!«
Daraufhin hörte sie einige Menschen lachen und verzog selbst den Mund zu einem leisen Lächeln. Zu mehr reichte es nicht, denn ihr Kopf schmerzte. Sie könne noch etwas schlafen, hieß es, doch das wollte sie nicht, denn sie befürchtete, wieder ins Fliegen zu kommen. Sie sprach nicht, sondern beobachtete, wie der Professor sie abhorchte und seinen Finger vor ihren Augen hin und her bewegte. Irgendwann später spürte sie eine Hand in der ihrigen und sie tat das, was sie am besten konnte: lachen und weinen zur selben Zeit. »Willkommen zurück!«, sagte Hendrik.
Elisabeth Müller
Frankfurt a. M., Montag, den 6. Oktober, abends
Hendrik Wilmut hätte eigentlich ein Literaturseminar für den nächsten Tag vorbereiten müssen. Aber dazu kam es nicht. Stattdessen tigerte er unruhig durch die Wohnung in der Bodenstedtstraße, hatte Hunger, doch der Kühlschrank war leer, suchte ein Restaurant, wollte dort aber nicht allein sitzen. Er überlegte, wen er anrufen konnte.
Sein Freund Richard Volk, der war ein Kandidat. Richard war eigentlich alleinstehend, derzeit bahnte sich jedoch eine Beziehung mit Monika an. Wahrscheinlich würde er lieber mit ihr ausgehen. Oder das Kommissariat 11 im Frankfurter Polizeipräsidium nahm ihn wieder einmal in Beschlag mit einem Verbrechen gegen Leib und Leben. Im Moment des Zauderns fiel Hendriks Blick auf einen Gutschein, der unter einem bunten Kühlschrankmagneten klemmte: ein 2:1-Coupon, mit dem man zu zweit im französischen Restaurant Le Patron am Mainufer speisen konnte, aber nur eines der beiden Hauptgerichte bezahlen musste. Er griff zum Telefon. Richard sagte sofort zu.
Ohne den Gutschein wäre Hendrik wohl nicht auf die Idee gekommen, dort zu essen, denn der Patron rief Preise auf, die weder zum Gehalt eines Hochschuldozenten noch zu dem eines Kriminalhauptkommissars passten.
Sie hatten sich um 19 Uhr vor dem Restaurant verabredet. Hendrik war von seiner Wohnung aus gelaufen, und als er den Treffpunkt erreichte, war es 19.15 Uhr. Richard wartete bereits.
»Sorry, ich musste noch … was erledigen«, sagte Hendrik. »Und als ich auf die Uhr sah, war es plötzlich sieben. Bin sogar gerannt hierher.«
Richard gab ihm die Hand und nickte jovial, so als wollte er dadurch zum Ausdruck bringen, dass er Hendriks Unpünktlichkeit gewohnt war.
Sie nahmen ihre Plätze ein, Richards Stuhl knirschte unter seinem Gewicht, hielt ihm jedoch stand. Sie bestellten das Essen und eine Flasche Rotwein.
»Erzähl von Hanna, Junge, wie geht es ihr?« Richard schien ungeduldig auf Neuigkeiten zu warten.
Hendrik lächelte. »Es geht ihr recht gut. Der Professor meint, in Anbetracht der zweiwöchigen Schlafphase gehe es ihr sogar sehr gut. Die ersten Tage konnte sie kaum sprechen, das lag wohl an dem Beatmungsschlauch. Jetzt ist sie seit gut einer Woche wieder wach. Sie läuft auf der Station hin und her, noch recht matt, aber es wird besser. Übermorgen darf sie nach Hause. Ich …« Hendrik konnte nicht weiterreden.
Richard legte ihm behutsam die Hand auf den Arm. »Ich bin so froh! In erster Linie für Hanna und dich.«
Hendrik nickte.
»Siggi und ich waren an diesem Abend allerdings auch im Café«, fuhr Richard fort. »Und … ich hätte es mir nie verziehen, wenn Hanna …«
Hendrik war zunächst überrascht. Doch dann verstand er. »Ja, ich weiß, was du meinst. Ihr habt nichts falsch gemacht, überhaupt nichts. Dennoch macht man sich Vorwürfe, man glaubt, eine gewisse Schuld zu tragen. Ich kenne das.«
»Du meinst deine … also die Sache mit Nadine Moser?«
»Ja, die verfolgt mich immer noch. Sie macht mir einmal schöne Augen und ich falle sofort drauf rein – was war ich für ein Idiot! Und die Folgen für Hanna …« Hendrik schüttelte den Kopf.
»Stimmt«, sagte Richard. »Aber das hätte vielen Männern passieren können, mir auch. Wir sind da irgendwie … evolutionär benachteiligt.«
Hendrik quälte sich ein kurzes Lächeln ab.
»Außerdem hatte Nadine es auf dich abgesehen«, sagte Richard. »Aus Gründen, die mit Männern und Frauen und der Evolution nichts zu tun haben. Sie wollte dich aushorchen.«
»Ich weiß. Trotzdem quält mich dieses verdammte schlechte Gewissen.«
»Ja«, sagte Richard. »Hab Geduld, die Zeit wird’s richten.«
Hendrik nickte. »Hoffentlich. Nietzsche hat mal gesagt, das schlechte Gewissen baut auf Schmerz. Es wird etwas eingebrannt, das nicht aufhört, wehzutun. Genau so fühle ich mich derzeit.«
Die Kellnerin brachte den Wein und erläuterte mit einem netten französischen Akzent, wo genau aus Burgund der gute Tropfen herkam und in welche Geschmacksrichtung er tendierte. Sie entkorkte die Flasche und goss ein. Die beiden Männer stießen auf Hannas Gesundheit an.
»Kann sie sich eigentlich noch an den 13. September erinnern?«, fragte Richard.
Hendrik wiegte den Kopf hin und her. »Sie sagt nein und die Ärztin hält eine Teilamnesie für möglich. Ich bin nicht sicher, vielleicht erinnert sie sich daran, will es aber verdrängen. Wäre ja verständlich.«
Richard machte eine zustimmende Handbewegung. »Es wird eine Weile dauern, bis sie voll bei sich ist.«
»Das stimmt, aber ich mache mir natürlich Gedanken, wie es weitergehen soll, mit ihr und mit dem Café.«
»Ach so, ja …«
»Momentan läuft alles über Esra, sie war ja schon vorher Hannas große Stütze. Zwei meiner Studenten, Frank und Sascha, die helfen ihr und organisieren regelmäßig Aushilfskräfte. Ich schaue auch ab und zu rein. Das läuft ganz gut … ein paar Wochen, zwei bis drei Monate vielleicht, ist allerdings keine Dauerlösung.«
Richard nickte. »Meinst du, Hanna kann das Café je wieder betreten?«
Hendrik hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Die Szene vom 13. September drängte sich in seine Gedanken, er wollte das nicht, aber die Erinnerung war zu mächtig. Er sah sich selbst im Café stehen und panisch nach Hanna rufen, die in der Küche eine Weinflasche öffnete. Die Weinflasche. Nadine Moser hatte mit einer Kanüle den Korken durchstochen und Gift eingefüllt. Hendrik rannte, Siggi schrie, Richard rief hinter ihm her. Zu spät. Hanna meinte noch, der Wein schmecke gut. Dann sackte sie zusammen. Es fielen Schüsse. Durch die Fenster, er musste sich auf den Boden werfen, konnte Hanna nicht helfen. Nadine Moser war eine gute Schützin, aber Hendrik hatte sie besiegt, mit der List und der Verzweiflung des Liebenden.
»Woran denkst du?«, fragte Richard.
»Ach, nichts!«
Richard nickte. Er wusste wahrscheinlich, worüber Hendrik nachdachte, doch aus Rücksicht auf seinen Freund wollte er es nicht aussprechen.
»Die im Krankenhaus haben eine Reha für sie beantragt«, sagte Hendrik. »Wahrscheinlich in Bad Homburg.«
»Das ist gut! Habt ihr schon einen Termin?«
»Nein, bisher nicht. Übrigens, fürs Wochenende habe ich Siggi und Ella eingeladen. Sie waren ja auch dabei, bei der Schießerei im Café, vielleicht löst ein Wiedersehen Hannas Erinnerung. Hast du Lust, dazuzukommen? Vielleicht am Samstagabend?«
»Gerne, wenn es nicht zu viel wird für Hanna.«
Hendrik lächelte und war froh über Richards offene und unkomplizierte Art. Trotzdem hatte er plötzlich das Gefühl, zu viel von sich und Hanna geredet zu haben. Er mochte es nicht, wenn die Unterhaltung zu einseitig verlief.
»Wie geht’s Monika?«, fragte er.
»Weiß nicht«, brummte Richard. »Sie ist wieder zurückgegangen nach Würzburg.«
»Oh, schade. Was war los? Dein Beruf?«
»Ja, auch, ich hatte einfach zu wenig Zeit für sie. Abgesehen davon sind diese Datingportale definitiv nicht das richtige Medium, um sich kennenzulernen. Schon gar nicht für Ü50-Kandidaten wie Monika und mich. Von wegen alle elf Minuten verliebt sich ein Single … und so weiter.«
Ein Kellner erschien mit den Speisen, die auf einem Servierwagen angerichtet waren.
Während des Essens beobachtete Hendrik seinen Freund. Richards blonde Haare sahen aus, als sei er im Laufe des Tages mehrfach mit ungeduldigen Handgriffen durch sie hindurchgefahren. Die Falten, die von seinen Mundwinkeln schräg nach oben liefen, stachen scharf ins Gesicht.
»Du wirkst etwas – wie soll ich sagen? – rastlos. Monika oder die Arbeit?«
Richard sah ihn an. »Dir kann man nichts vormachen.« Er lächelte gequält. »Mehr die Arbeit.«
»Geheimsache oder kannst du darüber reden?«
»Lass uns erst einmal essen, dann erzähle ich dir davon.«
Hendrik bemerkte, dass Richard seiner Frage nach dem Vertraulichkeitsstatus ausgewichen war, und beschloss, besser nicht nachzuhaken, dafür aber mit den Informationen, die sein Freund im Laufe des Abends preisgeben würde, sehr vorsichtig umzugehen. Schließlich gab es im K11 reichlich Fakten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Das französische Kalbsragout mit getrüffelter Preiselbeermarmelade schmeckte hervorragend. Auch Richard war begeistert von seiner Dorade im Salzteig. Sie waren sich einig, dass der Preis zur Qualität passte. Hendrik zückte sein Smartphone und fotografierte Kalbsragout und Dorade, um sie später Hanna zu zeigen. Er achtete darauf, dass dies fast heimlich geschah, damit es nicht peinlich wurde. Er wollte keiner dieser Hipster sein, die ständig ihr Essen ablichteten und die Bilder in den sozialen Medien teilten. Dann schoss er noch ein Erinnerungsfoto von Richard.
»Pass bitte auf, dass keine anderen Personen aufs Bild kommen! Du weißt schon, das Recht am eigenen Bild!«
»Geht klar, Herr Kommissar!«, sagte Hendrik lachend.
Zum Dessert wollte Richard Sachertorte bestellen, aber die gab es beim Patron nicht, so teilten sie sich eine Tarte Tatin. Anschließend zogen sie an die Bar um.
Die Kellnerin trug ihnen ohne Aufforderung die noch halb gefüllte Rotweinflasche nach.
»Excusez-moi, darf isch nachschenken?«
»Gerne!«, sagte Richard. Und an Hendrik gewandt fuhr er fort: »Den Wein bezahle ich. Als Ausdruck meiner Freude über Hannas Genesung!«
Hendrik lächelte, sie stießen an. Der Patron kam höchstpersönlich vorbei, grüßte und fragte, ob sie zufrieden seien. Es entwickelte sich ein kurzes, herzliches Gespräch, in dem Hendrik und Richard die Kochkünste des Franzosen lobten und versprachen, dass dies nicht ihr letzter Besuch gewesen sei. Der Patron entschwand in die Küche.
»Es geht um eine tote Frau in Offenbach«, sagte Richard Volk unvermittelt. »Gestern Mittag haben die Kollegen vom PPSOH sie gefunden.«
»Vom PP… was?«
»Ach, sorry, die Kollegen vom Polizeipräsidium Südosthessen.«
Hendrik dachte an seine Mutter, die im Offenbacher Hafenviertel wohnte. Sein Gesicht schien diese Sorge zu spiegeln, denn Richard schob sofort hinterher: »Nicht im Hafenviertel, draußen in Bürgel.«
»Aha, gut … und was hast du damit zu tun?«
»Ein Kollege dort, der früher mal im Frankfurter Präsidium war, ein Kumpel, hat mich um Hilfe gebeten. Die meisten seiner Kollegen gehen von einer natürlichen Todesursache aus, auch der Arzt, der die Leichenschau durchgeführt hat. Kreislaufversagen.«
»Aber dein ›Kumpel‹, der zweifelt daran, oder wie?«
»Richtig. Erstens zweifelt er an der Leichenschau und zweitens gibt es Indizien, die auf einen gewaltsamen Tod hindeuten. Mehr darf ich nicht sagen.«
»Schon klar. Und warum zweifelt er an der Leichenschau?«
»Die wurde von einem normalen Hausarzt vorgenommen.«
»Wie bitte?«
»Na ja, es ist nicht vorgeschrieben, dass das ein Rechtsmediziner macht, auch wenn wir Polizisten das natürlich lieber sähen. Oft sind die Spezialisten überlastet, dann werden niedergelassene Ärzte verpflichtet, die kaum Spezialwissen haben und erst recht keine Zeit. Das ist ein unmöglicher Zustand. Wir können derzeit jedoch nichts daran ändern.«
»Gibt es denn in Offenbach nicht wenigstens Pathologen, die das übernehmen können?«
»Doch, natürlich, in den beiden Kliniken, aber am Sonntag kommen wir an die nicht ran. Mein Freund wollte die Staatsanwaltschaft überzeugen, einer Obduktion zuzustimmen, was ihm bisher nicht gelungen ist. Erschwerend kommt dazu, dass in der zuständigen Rechtsmedizin an der Frankfurter Uni zwei Leute fehlen, einer ist krank, eine Planstelle ist vorübergehend gesperrt.«
»Oh, das mit der gesperrten Planstelle kenne ich aus unserem Fachbereich«, sagte Hendrik. »Nur mal zu meinem Verständnis: Schreiben die Ärzte nicht sowieso meistens Herz-Kreislauf-Versagen auf den Totenschein?«
»Vorsicht, das kann man nicht verallgemeinern. Einige geben sich große Mühe, andere drehen den Leichnam nicht einmal um und übersehen eine Stichwunde im Rücken. Immerhin hat der Allgemeinmediziner eine Blutprobe entnommen, die hat nichts Auffälliges ergeben. Der Staatsanwalt hat ihm – also meinem Kumpel – zwei Tage gegeben, um neue Beweise zu finden, wenn nicht, wird der Fall abgeschlossen. Entschuldige, dass ich immer nur von meinem ›Kumpel‹ spreche, besser, du kennst seinen Namen nicht«.
»Verstehe. Probleme zwischen den Präsidien?«
»Ja, genau.«
»Hm.« Hendrik war ratlos, hatte allerdings auch nicht den Anspruch, Richard helfen zu können. Schließlich war er Literaturwissenschaftler und kein Kriminalbeamter, wenngleich er wusste, dass sowohl Richard als auch ihr gemeinsamer Freund Siegfried Dorst seine unvoreingenommene Art der Menschenbetrachtung schätzten. Zumal er bereits in einige Kriminalfälle hineingestolpert war, zwar ohne sein Zutun, aber auch ohne Widerstand. Und er hatte mehr als einmal wertvolle Hinweise geben können.
Die Kellnerin kam, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei und ob sie vielleicht eine weitere Flasche Wein bringen solle. Richard sah Hendrik fragend an, der schüttelte den Kopf.
»Ich denke, eine halbe Flasche für jeden reicht.«
Hendrik bestellte zwei Tassen Espresso und verlangte die Rechnung.
Als sie sich verabschiedeten, sagte die Bedienung an Hendrik gewandt: »Isch hoffe, Sie waren zufrieden, Monsieur …?«
Hendrik musste lächeln. »Wilmut, Hendrik Wilmut. Ja, wir waren sehr zufrieden. Au revoir!«
»Au revoir, Messieurs!«
Als sie vor dem Restaurant standen, kam Hendrik eine vage Idee. Vielleicht hatte die frische Herbstluft seine Gedanken beflügelt. »Richard, mir ist da jemand eingefallen. Almuth Feller.«
»Wer soll das sein?«
»Sie arbeitet in unserer Dekanatsverwaltung und war früher in der Uni Gießen angestellt, im Büro des Instituts für Rechtsmedizin.«
Richard schien zu ahnen, worauf Hendrik hinauswollte. »Hm. Wie gut kennst du sie?«
»So gut, dass ich sie fragen kann.«
»Okay, einen Versuch ist es wert. Falls es klappen sollte, müssen wir noch klären, wie die Leiche nach Gießen kommt. Aber eins nach dem anderen.«
Sie verabschiedeten sich.
»Übrigens, Richard, falls Almuth Feller das wissen will, wie hieß denn die getötete Frau?«
»Das kann ich dir sagen, steht morgen sowieso in allen Zeitungen. Ihr Name ist Elisabeth Müller.«
*
Nikolaj Mestroff
Frankfurt a. M., Mittwoch, den 8. Oktober, vormittags
Hendrik Wilmut warf hin und wieder einen Blick auf seine Frau, die bewegungslos im Wohnzimmersessel kauerte und vor sich hin starrte. Sie hatte ihn gebeten, sie zunächst in Ruhe zu lassen. Sie wollte nichts essen, lediglich Tee trinken. Von Zeit zu Zeit öffnete sie die Balkontür, stellte sich für ein paar Minuten in die Herbstsonne, kam dann zurück und ließ sich erneut in den Sessel fallen.
Es fiel Hendrik schwer, sie nicht anzusprechen, sie nicht zu berühren oder zu umarmen. Dennoch akzeptierte er ihren Wunsch. Sie musste sich offensichtlich erst wieder ans Leben gewöhnen, ans Lebendigsein, an innere und äußere Freiheit. Das verstand Hendrik. Auch wenn er zu gern wissen wollte, was in ihrem Kopf vorging, was sie dachte, was sie fühlte. Und die wichtigste Frage stand bislang aus: War ihr Verhältnis so innig wie zuvor? Einfacher ausgedrückt: Liebte sie ihn noch? Hendrik wollte das nicht in direkte Worte fassen, er war überzeugt, dass er es in den nächsten Tagen spüren würde.
Der Professor hatte ihn ermahnt, sehr vorsichtig mit Hanna umzugehen. Jeder reagiere anders auf solch eine lange Zeit des Unbewusstseins. Manche Menschen seien sofort wieder da, wollten feiern, essen und trinken, andere müssten sich erst finden und wollten zunächst nichts zu sich nehmen, um all die Ereignisse – im wahrsten Sinne des Wortes – zu verdauen. Diese Phase könne Tage dauern, manchmal Wochen. Hendrik hatte ihm klarzumachen versucht, dass er sich verantwortlich fühle für Hanna, auch für die Vorgänge, die dazu geführt hatten, dass sie in den langen Schlaf gefallen war. Und er wolle das wieder gutmachen. Daraufhin hatte ihn der Professor ernst angesehen und gemeint, dass es jetzt nur um seine Frau ginge, nicht um ihn und seine Schuldgefühle. Die müsse er später aufarbeiten. Und übrigens, er solle ihr Hühnersuppe kochen.
Hendrik hatte sich für den Rest der Woche Urlaub genommen. Das war nicht einfach gewesen, da sie sich kurz vor dem Beginn der Vorlesungszeit befanden, da gab es viel zu tun. Aber als er der Dekanin den Hintergrund erläuterte, stimmte sie sofort zu. Er musste viel organisieren, Besprechungen und Seminare verlegen oder Ersatzdozenten finden. Almuth Feller half ihm dabei. Hendrik nutzte die Gelegenheit, sie um einen Gefallen zu bitten, verbunden mit dem Hinweis, die Angelegenheit möglichst diskret zu behandeln. Sie hatte ihm verschwörerisch zugezwinkert und gemeint, das ginge klar. Sie habe gute Verbindungen nach Gießen, er solle ihr einfach die Telefonnummer des ermittelnden Beamten geben, damit sie diese weiterleiten könne. Gesagt, getan.
Er ging in die Küche, schaltete das Radio an, räumte die Spülmaschine ein und erledigte ein paar alltägliche Handgriffe.
Als er eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Hanna im Sessel eingeschlafen. Er hielt sein Ohr nahe an ihren Mund. Sie atmete tief und gleichmäßig. Alles in Ordnung, dachte er und deckte vorsichtig ihre Beine zu. Dann setzte er sich auf die Couch und versuchte, die Zeitung zu lesen. Schnell merkte er, dass er zwar die Buchstaben verfolgte, aber die Bedeutung der Worte nicht aufnahm. Die einzige Meldung, die zu ihm durchdrang, war die Nachricht über den Suizid einer jungen Frau in Wetzlar. Er faltete die Blätter zusammen und legte sie beiseite.
Hendriks Gedanken schweiften zu Elisabeth Müller. Solange Hanna schlief, konnte er nachsehen, was die Medien dazu schrieben. Er ließ einen Espresso durchlaufen, nahm ihn mit ins Arbeitszimmer und fuhr den Rechner hoch.
Die Offenbach-Post berichtete von der 68-jährigen Elisabeth M. aus Bürgel, die am Sonntag gegen 11.20 Uhr von ihrer Tochter Sonja M. tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden war. Die junge Frau war aus Mühlheim herübergekommen, um ihre Mutter zum Mittagessen abzuholen, und sagte aus, dass Elisabeth M. schon länger an einer Herzschwäche, einer sogenannten Herzinsuffizienz, gelitten habe. Sie habe ihr mehrmals geraten, eine Herzkatheteruntersuchung vornehmen zu lassen, aber die alte Dame habe sich nicht dazu durchringen können.
»Sie haben Post!« Ein dicker gelber Balken erschien auf seinem Monitor und verschwand kurz darauf wieder. Die Neugier und der zeitgemäße Zwang, immer auf dem aktuellen Stand der Nachrichtenlage sein zu müssen, bewegten ihn dazu, seinen E-Mail-Eingang zu öffnen.
Sehr geehrter Herr Dr. Wilmut,
Sie haben über die Website www.dealer.by einen illegalen Download des Songs »Spanish Harlem« getätigt und sind uns dafür den Betrag von 5 Euro schuldig. Hinzukommt eine Strafgebühr von 400 Euro, zusammen 405 Euro. Ort: Trient, Hotel Albergo della Rosa. Zeit: Dienstag 9. September um 6.14 Uhr. Falls Sie nicht bis zum 12. Oktober den Betrag auf das unten aufgeführte Konto überweisen, müssen wir unser Inkassounternehmen beauftragen, Sie zu liquidieren. Antworten Sie uns umgehend, ob Sie bereit sind, die Zahlung zu leisten. Es hat keinen Sinn, die Polizei einzuschalten, unser Server steht in Weißrussland und ist von Deutschland aus nicht zu identifizieren.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Nikolaj Mestroff
Hendrik gingen tausend Gedanken durch den Kopf und ebenso viele Gefühle wühlten ihn auf. Wut, Entrüstung, Selbstzweifel, Verunsicherung. Er sah nach dem Absender der E-Mail: [email protected]. Der selbsternannte belarussische Rechtsminister – lachhaft! Natürlich hatte Hendrik dieses Lied nie heruntergeladen. Oder hatte er es aus Versehen doch angeklickt? So etwas konnte bei all den Spam-Mails schon mal passieren. Aber sicher nicht von einem Hotelcomputer aus. Er hatte in Trient ja sein eigenes Tablet dabeigehabt. Und wenn, dann hätte er sicher nicht um 6.14 Uhr morgens im Internet gesurft. Da schlief er in aller Regel. Der Gedanke beruhigte ihn, sein Inneres fuhr auf Normalmodus herunter. Dennoch … es blitzte erneut durch seinen Kopf: Er war tatsächlich in Trient gewesen an diesem Tag. Mit seinem Taxifahrerfreund Eddie. In einem Hotel. Woher wusste dieser Mestroff das? Nicht zu fassen! Seine Gefühlswelt verdichtete sich zu Zorn und Abscheu. Egal, er würde nicht antworten, das war klar, dabei konnte man sich nur einen Virus einhandeln, und er würde erst recht nicht 405 Euro zahlen. Hendrik blockierte den Absender und löschte die E-Mail sowohl aus seiner Inbox als auch aus seinem Papierkorb.
Zurück zur Onlineseite der Offenbach-Post: Dem Artikel über Elisabeth M. war ein Textkasten beigefügt, in dem ältere Patienten ermahnt wurden, wichtige Herzuntersuchungen nicht auf die lange Bank zu schieben. Dazu die Telefonnummer eines Herzspezialisten.
Hendrik überlegte: Eine ältere Dame starb, 68 Jahre, kein hohes Alter, aber bei der von der Tochter genannten Vorerkrankung nicht ungewöhnlich. Dennoch, etwas störte ihn. Wie so oft konnte Hendrik nicht sagen, was es war. Er wusste jedenfalls, dass dieses »Etwas« existierte und ihn noch beschäftigen würde.
Schweren Herzens schrieb er Siggi und Richard eine ausführliche E-Mail, in der er erklärte, dass es keinen Sinn mache, Hanna derzeit zu besuchen. Er fuhr den Rechner herunter und ging ins Wohnzimmer.
Seine Liebste stand auf dem Balkon und starrte hinunter in den kleinen Park. Sie sah schmal aus. Ihre blonden Haare fielen wirr durcheinander. Für Hanna, die sonst immer viel Wert auf ihre Frisur gelegt hatte, war das sehr ungewöhnlich.
Er öffnete die Balkontür einen Spalt breit. »Hallo, Hanna, soll ich dir etwas zu essen machen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Trotzdem wärmte er die Hühnersuppe auf.
*
Marianne Schmidt
Frankfurt a. M., Donnerstag, den 9. Oktober, nachmittags
Obwohl der anwesende Arzt einen natürlichen Tod bescheinigt hatte, war das K 11 hinzugezogen worden. Das waren Routineabläufe der Polizeiarbeit. Kriminalhauptkommissar Richard Volk verließ gegen 14 Uhr an diesem Donnerstagden Aufzug des Mietshauses im Goldbergweg und betrat die Wohnung der Toten im dritten Stock. Sein junger Kollege Kriminalkommissar Pascal Simon empfing ihn. Er war lässig gekleidet und trug eine rote Mütze.
»Tag, Herr Volk. Der Arzt ist noch da, er wird wohl gleich fertig sein. Die Tote heißt Marianne Schmidt, 62 Jahre alt, wohnte allein, keiner im Haus kannte sie, außer einer Nachbarin hier nebenan auf dem Flur. Der Briefkasten von Frau Schmidt ist leer, ihr Papierkorb ebenso. Sie hat keine weiteren Verwandten.«
»Wie lange sind Sie schon vor Ort?«
»Etwa ’ne halbe Stunde.«
»Und in dieser Zeit haben Sie das alles herausbekommen?«
»Äh, ja.«
»Gut, Pascal, das haben Sie gut gemacht!«
Sein Mitarbeiter grinste.
Der Kriminalhauptkommissar nickte dem Arzt zu und blieb vor der Leiche stehen. Der Anblick von Toten bereitete ihm nach all den Jahren keine Schwierigkeiten mehr. Frau Schmidt lag rücklings auf dem Wohnzimmerteppich und sah hinauf zur Zimmerdecke. Sie hatte einen entspannten, fast zufriedenen Gesichtsausdruck. Für Richard Volk war das gleichbedeutend mit einem schnellen Tod, bei dem sie nicht gelitten hatte. In der Hand hielt sie eine Zahnbürste. Er wusste, dass viele ältere Menschen durch Blutgerinnsel starben, die sich durch die Erschütterungen des Körpers beim Rasenmähen, beim Bohren oder eben beim Zähneputzen lösten und zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall führten.
»Todeszeitpunkt?«, fragte er den Arzt, der bereits dabei war, seine Sachen einzupacken.
»Noch nicht lange her. 12 Uhr plus/minus eine Stunde.«
Volk sah auf. »Sicher?«
»Sicher!«
»Sind Sie Gerichtsmediziner?«
»Nein, aber Pathologe.«
Richard nickte ihm zu. Ein Zeitfenster von 11 bis 13 Uhr passte nicht zu der Zahnbürste. Ein Todeszeitpunkt in den Morgenstunden wäre logischer gewesen. Es sei denn, Frau Schmidt hatte sich auch nach dem Mittagessen die Zähne geputzt – möglich, aber unwahrscheinlich.
»Keinerlei Anzeichen für einen gewaltsamen Tod«, sagte der Arzt.
»Okay, danke!«
Wieder eine Frau in den 60ern. Wieder zu früh verstorben.
Pascal Simon riss ihn aus seinen Gedanken. »Die Flurnachbarin hat ausgesagt, dass sie gegen 12.30 Uhr eine Wohnungstür gehört hat, sehr wahrscheinlich die von Frau Schmidt.«
»Sehr wahrscheinlich? Was heißt das?«
»Sie war sich ziemlich sicher. Die beiden kennen sich und ihre Wohnungstüren.«
»Gut, Sie warten auf die Kollegen von der Kriminaltechnik, die sollen nach Fingerspuren auf der Zahnbürste suchen!«
»Auf der Zahnbürste?«
»Ja, wir müssen davon ausgehen, dass …« Sein Mobiltelefon klingelte. Er nahm ab.
»Hier ist Dr. Bergen, Uni Gießen, Rechtsmedizin.«
»Ach, gut, einen Moment bitte …«
Volk gab Simon ein Zeichen, verließ die Wohnung und ging ins Treppenhaus. Das Gespräch dauerte nicht lange. Dr. Bergen war sehr hilfsbereit. Auch die Nachricht, dass es sich inzwischen um die Obduktion von zwei Frauenleichen handelte, schockierte ihn nicht. Richard Volk konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass zwischen Almuth Feller und Dr. Bergen eine besonders gute Beziehung bestand. Er lächelte. Dann rief er Pascal Simon zu, dass er dringend zum Oberstaatsanwalt müsse, und verabschiedete sich.
*
Sebastian Bergen
Gießen, Samstag, den 11. Oktober, morgens
Dr. Sebastian Bergen war ein Mann, den man im modernen Sprachgebrauch durchaus als smarten Typ bezeichnen konnte: 38 Jahre alt, 1,90 Meter groß, dunkles, wild fallendes Haar, kein übermäßig präsenter Vollbart, sportliche Erscheinung. So weit alles in Ordnung. Aber wenn er einer Frau erklärte, dass er in der Rechtsmedizin arbeitete, und die Frage, ob er »Leichen aufschnitt«, bejahte, dann war es meistens vorbei mit dem Interesse. Einmal hatte er sich selbst als »Aufschneider« bezeichnet, in der Meinung, das sei lustig. Die entsprechende Dame hatte jedoch nicht gelacht, sondern sich verabschiedet.
Bei Almuth Feller war das anders gewesen. Sie war einige Jahre älter als er, erfahren und abgeklärt. Ihr auffallend schönes, gewinnendes Lächeln faszinierte ihn. Und als Krönung dieses Lächelns präsentierte sie ihre makellos geformten weißen Zähne. Zudem hatte sie selbst in der Rechtsmedizin gearbeitet, zwar im Verwaltungsbereich, dennoch waren alle Vorgänge im Institut für sie alltäglich gewesen, und sie hatte sich nicht gescheut, ihn ab und zu im Sektionssaal zu besuchen. Leider hatte sie vor einem halben Jahr Gießen verlassen, um ihre kranken Eltern in Kelsterbach zu pflegen. An der Universität Frankfurt hatte sie eine Halbtagsstelle gefunden. Obwohl die Entfernung nicht allzu groß war, hatte sich ihre Beziehung seitdem abgekühlt, sie sahen sich nur noch selten.
Für Dr. Sebastian Bergen bestand kein Zweifel, dass er Almuth den Gefallen tun würde, die beiden toten Frauen zu obduzieren. Voraussetzung war, dass er dies am Wochenende erledigte, wenn der Sektionssaal nicht belegt war. Nachdem Dr. Bergen die Freigabe seines Institutschefs erhalten hatte, teilte er die Entscheidung dem ermittelnden Beamten, Kriminalhauptkommissar Richard Volk, mit. Volk wiederum hatte den Frankfurter Oberstaatsanwalt von einer Obduktion überzeugt, ohne Bergen mitzuteilen, wie ihm das gelungen war. Der Oberstaatsanwalt hatte sich daraufhin mit der Offenbacher Staatsanwaltschaft verständigt, auch die Leiche von Elisabeth Müller zur Obduktion freizugeben. Danach hatte der Hauptkommissar eine ausführliche E-Mail an Dr. Bergen geschrieben. Darin enthalten waren die Informationen zum aktuellen Ermittlungsstand der Kriminalpolizei, insbesondere zur jeweiligen Auffindesituation der Toten. Angehängt waren die Totenscheine des Frankfurter Pathologen und des Offenbacher Allgemeinmediziners sowie die Ergebnisse der Blutuntersuchungen.
Es war 7 Uhr am Samstagmorgen, als Dr. Bergen mit der Obduktion von Marianne Schmidt begann. Er hatte sich einen jungen, wissbegierigen Kollegen dazugeholt, denn eine Obduktion musste – sollte sie als gerichtsverwertbar gelten – von zwei Rechtsmedizinern durchgeführt werden. Zunächst untersuchte Bergen die Hautoberfläche des Leichnams ausführlich Zentimeter für Zentimeter. Sein Tablet lag neben ihm, er diktierte alle Befunde direkt in das Spracherkennungsprogramm. So weit keine Unregelmäßigkeiten, keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod. Dann öffnete er den Mundraum des Leichnams. Dort steckte etwas zwischen den Zähnen: ein Fremdkörper. Dr. Bergen nahm eine Pinzette, justierte seine Arbeitslampe und griff nach dem unbekannten Gegenstand: ein dünner Holzspan, etwa drei Zentimeter lang. Er legte das Fundstück auf einen Objektträger und betrachtete es unter dem Mikroskop. Helles Holz, Buche, Eiche oder Ähnliches, keine Besonderheiten. Doch was machte ein Stück Holz im Mundraum der Frau?
Nach einer kurzen Diskussion mit seinem Kollegen entschied er, den Leichnam ins Röntgenlabor zu fahren. Gern hätte er eine CT-Aufnahme ihres Kopfes gehabt, um sich das Innere schichtweise anzusehen. Das konnten sie jedoch nur mit einer MTA bewerkstelligen und den Wochenenddienst wollte Bergen nicht dafür beanspruchen. Als er die Röntgenaufnahme am Schaukasten befestigte, glaubte er zunächst, seinen Augen nicht zu trauen. Seinem jungen Kollegen schien es ebenso zu gehen. Vom Genick aus zog sich ein dünner Strich quer durch den Kopf bis hin zum Mund. Sie untersuchten erneut die Haut am Hinterkopf, dann wussten sie, wie Marianne Schmidt ums Leben gekommen war. Schon war Dr. Bergen versucht, zum Telefon zu greifen, doch schnell erinnerte er sich selbst daran, die Obduktion vorschriftsgemäß abzuschließen, bevor er sich ein Urteil erlaubte. Er öffnete den Körper, entnahm der Reihe nach alle inneren Organe, sein Kollege wog sie, begutachtete sie und legte sie zurück in den Leichnam. Die Ergebnisse dokumentierte Bergen über seinen Tablet-Computer. Zwei Stunden später griff er zum Telefon.
»Bergen hier, guten Morgen, Herr Volk!«
»Doktor, so früh schon? Wann haben Sie denn angefangen?«
»Um 7 Uhr, für zwei Obduktionen braucht man schon mal den ganzen Tag. Und zur Sportschau möchte ich zu Hause sein.«
»Klar«, sagte Volk. »Ich danke Ihnen. Und?«
»Den ersten Situs habe ich obduziert, Frau Marianne Schmidt. Sie wurde erschossen.«
»Waaas? Sicher?«
»Ganz sicher. Sie wurde durch einen Genickschuss getötet, schwer zu erkennen, schon gar nicht am Tatort. Der Schuss wurde im Genick angesetzt, direkt am Haaransatz, ich habe es bei der äußerlichen Inspektion selbst erst nicht bemerkt. Laut Schusskanal, den ich im Röntgenbild sehe, ist das Projektil durch den Mund wieder ausgetreten. Falls das Absicht war, muss es ein Profi gewesen sein.«
»Puh!«
»Den Durchmesser des Schusskanals konnte ich nicht exakt bestimmen, dazu bräuchte ich ein CT, wahrscheinlich Kaliber .22.«
»Aha. Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
Sebastian Bergen schüttelte den Kopf, obwohl Volk das nicht sehen konnte. »Nein, nach fast zwei Tagen ist das nicht mehr möglich, da sollten wir den Kollegen vertrauen, die vor Ort waren. Aber ich habe den Mageninhalt untersucht, Rindfleisch, Kartoffeln und Erbsen.«
»Sie hat also zu Mittag gegessen?«
»Genau.«
»Verdammt, dann hat der Mörder ihr die Zahnbürste in die Hand gedrückt, um uns glauben zu machen, sie sei am Morgen zu Tode gekommen.«
»Sag ich ja, Profi. Und übrigens, Herr Volk, zwischen Frau Schmidts Backenzähnen linksseitig fand ich einen schmalen Holzspan, Buchenholz, etwa drei Zentimeter lang. Was das zu bedeuten hat, kann ich nicht sagen.«
Stille. Bergen wartete. »Herr Volk?«
»Ja, ich bin noch da. Wissen Sie, ich habe eine … Theorie. Der Täter hat ihr vor dem Schuss ein Stück Holz zwischen die Zähne geklemmt, um mehr Platz für den Austritt des Projektils zu haben. Damit wurde eine sofort erkennbare Austrittswunde vermieden und die Wahrscheinlichkeit, eine Fremdeinwirkung zu entdecken, stark reduziert.«
»Klingt plausibel.«
»Das heißt, wir müssen am Tatort nach dem Projektil suchen, das muss ja irgendwo eingeschlagen sein. Bisher sind wir ja von einem natürlichen Tod ausgegangen.«
»Ich sehe, nicht nur der Täter ist ein Profi, sondern auch der Ermittler!«
Richard Volks Lachen klang durch die Leitung. »Danke. Sie melden sich bitte, wenn Sie mit Elisabeth Müller so weit sind?«
»Klar. Ach, eine Frage noch: Wie haben Sie den Oberstaatsanwalt eigentlich davon überzeugt, einer Obduktion zuzustimmen?«
»Ich habe ihn gefragt, ob er bei Prostatabeschwerden zu einem Orthopäden gehen würde.«
Dr. Bergen brummte zufrieden und legte auf.
*
Wilhelmine Becker
Frankfurt a. M., Samstag, den 11. Oktober, nachmittags
Die Herbstsonne hatte erstaunlich viel Kraft und brannte auf den Main und das Ausflugsschiff »Johann Wolfgang von Goethe« nieder. Hendrik Wilmut vermisste eine Kopfbedeckung. Siegfried Dorst, von seinen Freunden Siggi genannt, schien es ähnlich zu gehen. Er hatte besonders zu leiden, da er die Haare als natürlichen Sonnenschutz komplett verloren hatte. Seine glänzende Kopfhaut war empfindlich gegen zu viel UV-Strahlung. Er hatte sich so gesetzt, dass Richard Volks breiter Körper ihm Schatten spendete. Richard war der einzige der drei Freunde, der vorgesorgt hatte. Er trug eine Baseballkappe.
Sie waren am Eisernen Steg an Bord gegangen und fuhren Richtung Westen. Hendrik und Richard als Frankfurter Lokalmatadoren hatten Siggi überredet, einen »Sauer Gespritzten« zu probieren, Apfelwein mit Sprudelwasser. Siggi sah damit nicht glücklich aus. Gerade hatten sie den Westhafen passiert, der kein Hafen mehr war, sondern ein Wohngebiet für Gutbetuchte.
»Jungs, ich muss mich entschuldigen!«, sagte Hendrik. »Ich dachte, Hanna wäre schon so weit, aber …«
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen«, antwortete Siggi. »Hannas Gesundheit geht vor. Wahrscheinlich weiß keiner von uns wirklich, wie sie sich fühlt. Ich hatte trotzdem Lust auf ein Bier mit euch beiden Chaoten!«
Das ist Freundschaft, dachte Hendrik.
»Ich soll euch übrigens von Ella grüßen«, ergänzte Siggi. »Sie hatte eine anstrengende Arbeitswoche, deswegen ist sie in Weimar geblieben. Ich als Rentner habe es da einfacher.« Er grinste. »Außerdem meinte sie, wir sollten mal einen richtigen Männerabend machen.«
»Tolles Mädel!«, sagte Richard.
»Und hier ist ein Geschenk für Hanna.« Siggi überreichte Hendrik eine Pralinenschachtel.
»Vielen Dank!«
»Ella bat mich, zu fragen, wie es Hanna geht, sie hat ein paarmal versucht, sie anzurufen …«
»Derzeit geht sie nicht ans Telefon«, sagte Hendrik. »Sie hat gestern gemeint, dass es wohl besser sei, mit ihren Mitmenschen nicht über die Zeit vor ihrem Winterschlaf zu sprechen, sondern nur über die Zeit danach. So oder so ähnlich hat sie es ausgedrückt.«
»Meint sie damit auch ihre Freunde?«, fragte Richard. »Also uns?«
»Ja, ich denke schon. Ich vermute, damit möchte sie vermeiden, sich an die Zeit davor zu erinnern. Besser gesagt, ihr Hirn möchte das oder ihr Unterbewusstsein. Ich denke nicht, dass sie das willentlich steuern kann.«
»Gilt das genauso für dich?«, fragte Siggi.
Hendrik hielt sich die Hand über die Stirn, um die Sonne abzuschirmen. »Ich fürchte, ja.«
»Macht es das nicht einfacher?«
»Ja, Siggi, momentan schon. Irgendwann werde ich allerdings mit ihr über die Ereignisse des 13. September reden müssen.«
»Stimmt«, sagte Richard. »Aber wie schon gesagt: Lass ihr Zeit!«
»Ja, du hast recht. Immerhin isst sie inzwischen zweimal am Tag ein paar Löffel Hühnersuppe. Sie hat total abgenommen. Keine empfehlenswerte Diät.«
An der Backbordseite entschwanden gerade die Unikliniken, auf der Steuerbordseite erschien das alte Druckwasserwerk im Gutleutviertel, inzwischen eine angesagte Eventlokalität.
»Ich wollte übrigens auch Eddie einladen zu unserer Schiffstour«, sagte Hendrik. »Aber er befindet sich derzeit in Marokko.«
Richard legte seine Stirn in Falten. »Was macht er denn in Marokko?«
»Hochzeitsreise mit Karla!«
»Ach, wunderbar!«, sagte Richard. »Ich freu mich für die beiden. Letztes Jahr in München hat er ein Riesenglück gehabt, dass Nadine Moder ihn mit den beiden Schüssen verfehlt hat.«
Hendrik nickte.
Unvermittelt wechselte Siggi das Thema: »Mal was anderes, Richard, du hast am Telefon zwei tote Frauen erwähnt.«
Hendrik erschrak. »Was …? Zwei Tote schon?«
»Ja, allerdings wollte ich heute eigentlich nicht mehr über dienstliche Dinge reden, habe nämlich den ganzen Vormittag gearbeitet.«
Siggi legte den Kopf nach links, dann nach rechts. »Sorry, ich wollte dich eigentlich nicht damit behelligen …«
»Mit was?«
»In Jena ist vergangenen Mittwoch eine 77-jährige Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«
»Okay, nicht schön, aber was hat das mit mir zu tun?« Richards Stimmung hatte sich gedreht, er wirkte gereizt.
»Sie war auf der Bundesstraße 7 unterwegs, einer vollkommen geraden Straße durchs Isserstedter Holz, stadtauswärts Richtung Weimar. Hendrik, kennst du die Strecke?«
»Ja, kenne ich. Vor oder nach der Linkskurve?«
»Davor. Deutlich davor. Und keinerlei Bremsspuren. Absolut nichts. Ich hab davon in der Zeitung gelesen. Hab dann meinen jungen Kollegen – na ja, Ex-Kollegen – Kommissar Täntzer angerufen. Er ist manchmal ganz froh, Tipps von mir zu bekommen. Auch er ist skeptisch. Wilhelmine Becker, so hieß die Frau, fuhr einfach gegen einen Baum, ohne erkennbaren Grund. Andererseits konnte nichts gefunden werden, was für Fremdeinwirkung spricht.«
»Na, siehst du, Siggi, das sind doch völlig unterschiedliche Sachverhalte. Ihr habt da einen Verkehrsunfall und ich zwei Morde!«
»Wie bitte?«, rief Hendrik entsetzt.
Die Leute auf dem Oberdeck drehten sich nach ihnen um, am Südufer glitt die Niederräder Maininsel mit dem Licht- und Luftbad vorüber.
Richard sah ihn gequält an. »Das wollte ich dir sowieso noch sagen. Ich konnte den Oberstaatsanwalt überzeugen, einer Obduktion zuzustimmen. Dr. Bergen von der Rechtsmedizin in Gießen hat sich bereit erklärt, sie zu übernehmen.«
»Aha, gut gemacht!«
»Und der Rechtsmediziner hat heute beide obduziert.« Richard fasste das Obduktionsergebnis von Marianne Schmidt mit wenigen Sätzen zusammen.
»Ein Genickschuss?« Plötzlich fror Hendrik trotz der Hitze. »Und das hat man von außen nicht erkennen können?«
»Ich habe mich auch gewundert. Aber nein, es gab keine äußerlichen Anzeichen. Der Schuss war so angesetzt worden, dass die Einschussöffnung vom dichten Haaransatz verdeckt war und das Projektil aus dem Mund austrat. Der Arzt vor Ort hatte natürlich kein Röntgengerät.«
»Und die Frau aus Offenbach?«
»Elisabeth Müller. Der Fall ist noch mysteriöser. Dr. Bergen hat keinen Grund für ihren Tod gefunden. Keinen! Versteht ihr? Das ist eigentlich unmöglich. An irgendetwas muss sie ja gestorben sein, egal ob auf natürliche oder unnatürliche Weise.«
»Kein Herz-Kreislauf-Versagen?«
»Jedenfalls nicht nachweisbar. Sie litt zwar an einer Herzinsuffizienz, die jedoch weit weniger ausgeprägt war, als in der Presse beschrieben. Ihr Herz war leicht vergrößert und die Herzwand etwas dünner als üblich, dennoch weit von einer tödlichen Dimension entfernt. Sie könnte theoretisch an normaler Altersschwäche gestorben sein, gegen diese Theorie spricht allerdings ihr recht guter Allgemeinzustand, ebenso die Aussage der Tochter zu Frau Müllers Befinden in den vergangenen Wochen. Das Einzige, was Dr. Bergen auffiel, ist eine Einstichstelle am Oberschenkel. Er meint, da habe sich ein leichtes Hämatom gebildet, so als habe der Arzt ein wenig unvorsichtig gehandelt. Aber das klären wir noch.«
»Hm«, machte Hendrik.
»Ja, seht ihr, genauso mysteriös ist auch unser Todesfall in Jena«, sagte Siggi.
Das Schiff wurde langsamer, sie hatten die Staustufe Griesheim erreicht. Hier wurde gewendet.
Hendrik sah Richards düstere Gesichtszüge und beschloss, das Gespräch von den toten Frauen wegzulenken. »Okay, dann machen wir uns einen schönen Männerabend, wie von Ella vorgeschlagen. Wie wäre es hiermit: zuerst ein leckeres Essen im ›Luginsland Skyline Restaurant‹, sozusagen ganz oben, mit Blick über die Stadt, danach ins Orange Peel, Blues und Soul im Keller unter der Stadt?«
»Klingt gut«, antwortete Richard. »Aber von den Toten will ich heute Abend nichts mehr hören, klar?«
»In Ordnung!«, sagte Siggi.
*
Sonntag
Hendrik kämpfte gegen eine leichte Übelkeit von den zahlreichen alkoholischen Getränken am Vorabend, insofern kam ihm ein gemütlicher Tag mit Hanna ganz recht. Die beiden beschlossen, einfach nur zu »wohnen«.
Siegfried Dorst fuhr nach Weimar zurück, während seine Freundin Ella einen Spaziergang durch den Ilmpark unternahm, um ihre Kopfschmerzen loszuwerden.
Dr. Bergen wollte sich gern mit Almuth Feller verabreden, doch sie musste sich um ihre Eltern kümmern. Stattdessen verbrachte er ein sportliches Wochenende, hörte die Radioübertragung der Fußball-Bundesliga, las den Zeitungsbericht zu einem Basketballspiel der Gießen 46ers und besuchte ein Handballspiel in der Rittal Arena Wetzlar.
Richard Volk saß vor dem Fernseher in seiner Wohnung im Frankfurter Nordend und versuchte, die beiden toten Frauen aus seinen Gedanken zu verbannen. Doch es gelang ihm nicht. Am Montag würde er seine Kollegen zusammentrommeln und Aufgaben verteilen. Einmal dachte er sogar an Wilhelmine Becker, die im Isserstedter Holz zu Tode gekommen war.
Lotte Schneider
Frankfurt a. M., Montag, den 13. Oktober, morgens
Hendrik Wilmut erwachte um halb sieben. Zu seinem Erstaunen saß Hanna bereits in der Küche. Er stand an der Tür und lächelte.
»Kannst du mir bitte einen Espresso machen?«, fragte sie.
Hendrik stutzte. Bisher hatte sie Espresso nie sonderlich gemocht und schon gar nicht danach gefragt. Cappuccino, ja, oder Latte macchiato, aber nichts ohne Milch. Gerade wollte er eine flapsige Bemerkung loslassen, denn früher hatten sie darüber oft gescherzt – die Schöne und das Espresso-Biest oder Ähnliches. Doch dann merkte er, dass Hannas Wunsch ernst gemeint war und ihrem momentanen Seelenzustand entsprach, über den er besser keine Späße machte.
»Natürlich, gerne!« Er schaltete seine italienische Espressomaschine ein.
Sie hatte sich ihren Bademantel übergezogen, trotzdem schien sie zu frieren.
Hendrik sah auf ihre nackten Füße. »Soll ich dir die Hausschuhe holen?«
Sie nickte, er ging in den Flur, kehrte mit den dicken Puschen zurück, kniete vor ihr nieder und nahm ihren Fuß in die Hand. Er konnte nicht anders, als vorsichtig über ihre Haut zu streichen. Die Füße waren kalt, trotzdem genoss er es. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Vorsichtig streifte er ihr die Hausschuhe über.
Als die Maschine aufgewärmt war, nahm er den Doppel-Siebträger, hielt ihn unter die Kaffeemühle und ließ die voreingestellte Menge Kaffeepulver hineinrieseln. Tamper andrücken, kurz flushen, Siebträger eindrehen, los ging’s.
Zu seinem Erstaunen schien Hanna den Espresso wie ein besonderes Erlebnis zu genießen. War das die »neue« Hanna? Sie kannten sich seit langer Zeit, seit ihrer Jugend. Er überlegte kurz: Damals musste er 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein. Er hatte die Sommerferien bei seinen Großeltern in Weimar verbracht. Hanna Büchler hatte nebenan gewohnt. Etwa 45 Jahre war das her. Füreinander bestimmt waren sie schon immer, so jedenfalls Hendriks Ansicht, aber ein wirkliches Liebespaar wurden sie erst vor 12 Jahren, kurz vor den stürmischen Ereignissen, die sie zwangen, Weimar zu verlassen.