Goethespur - Bernd Köstering - E-Book

Goethespur E-Book

Bernd Köstering

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Beschreibung

Hendrik Wilmut, Literaturdozent an der Universität Frankfurt, fällt aus allen Wolken, als sein alter Freund Eddie darauf beharrt, dass Goethes erste Italienreise in Wahrheit nie stattgefunden hat. Auch Eddies Behauptung, er werde verfolgt, glaubt Wilmut nicht. Erst als ein Attentat auf Eddie verübt wird, beginnt er sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen. Beide reisen auf Goethes Spuren nach Innsbruck und über den Brenner. Tag um Tag, Kilometer um Kilometer kommen sie dem Attentäter näher …

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Bernd Köstering

Goethespur

LITERATURKRIMI

Zum Buch

Dichtung oder Wahrheit   Der erfolgreiche Literaturdozent und Goethekenner Hendrik Wilmut trifft nach Jahren seinen ehemaligen Freund Eddie wieder, eine gescheiterte Existenz. Wilmut ist entsetzt, als dieser behauptet, Goethes erste Italienreise habe nie wirklich stattgefunden. Eddie ist davon überzeugt, dass der berühmte Dichter sich nur versteckt und alle Welt belogen hat. Um diese skurrile Hypothese zu beweisen, begibt er sich auf Goethes Spuren, von Regensburg über München, Innsbruck und den Brenner nach Norditalien. Wilmut weigert sich zunächst, ihn zu begleiten, doch als in München ein Attentat auf Eddie verübt wird, eilt er ihm zu Hilfe. Wer trachtet Eddie nach dem Leben? Und weshalb? Auf der Suche nach dem Täter erhalten sie Hilfe von Wilmuts Frau Hanna aus Frankfurt und seinem Freund Siggi aus Weimar. Tag um Tag, Kilometer um Kilometer kommen sie dem Attentäter näher …

 

Bernd Köstering wurde 1954 in Weimar/Thüringen geboren und lebt heute in Offenbach am Main. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und drei Enkelkinder. Die Romane und Kurzgeschichten des Autors leben von seinem feinen Gespür für die Beweggründe seiner Figuren. Gemeinsam mit dem Gmeiner-Verlag entwickelte er das Genre des Literaturkrimis, in dem ein bekanntes Werk der Weltliteratur den jeweiligen Fall auslöst oder auflöst. Kösterings Goethekrimis um den Privatermittler Hendrik Wilmut haben unter Fans inzwischen Kultcharakter. »Goethespur« ist der vierte Band der Reihe. www.literaturkrimi.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Falkentod (2018, E-Book only)

Mörderisches Oberhessen (2017)

Düker ermittelt in Offenbach (2016)

Falkenspur (2016)

Falkensturz (2014)

Von Bänken und Banken in Frankfurt am Main (2013)

Goethesturm (2012)

Goetheglut (2011)

Goetheruh (2010)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Kartengestaltung: Felix Volpp

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Kreutzfelder / pixabay.com

ISBN 978-3-8392-5960-3

Karte

 

Vorbemerkung

Bis zu den Ereignissen dieses Septembers war Hendrik Wilmut überzeugt, seine Schuldgefühle zu Recht in sich zu tragen.

1 Frankfurt a. M.

Sonntag, 31. August, vormittags

Hendrik Wilmut kannte den Mann, das war ihm sofort klar. Dieser lang gezogene Nasenrücken und die leicht vorgeschobene Mundpartie. Selbst die Haare trug er noch wie damals: blond gefärbtes Deckhaar, strähnig herabfallend, darunter dunkel. Damals – was hieß das? Wann und wo? Es wollte ihm nicht einfallen.

Hendrik musste sich zwingen, in seine Zeitung zu sehen, statt reflexartig immer wieder einen Blick auf das vermeintlich bekannte Gesicht zu werfen. Er saß an einem runden Tisch direkt neben dem Eingang. Hanna kam zu ihm und legte ihre Hand vertraut auf seine Schulter. In ihrem Café war am Sonntag früh kurz nach der Öffnung noch nicht viel Betrieb. In ein bis zwei Stunden würde sich das ändern. »Der Blonde mit der wilden Frisur da hinten«, flüsterte sie, »der schaut immer zu dir rüber, kennst du den?«

»Ich denke schon«, raunte Hendrik ihr zu. »Aber ich weiß nicht mehr woher.«

»Frag ihn doch einfach!«

»Wir könnten ihn auf einen Espresso einladen.«

»Okay, ich mach das.« Hanna ging direkt auf den Fremden zu: »Hallo, Hendrik möchte Sie gern zu einem Espresso einladen.«

Er sah sie leicht belustigt an. »Bei ihm oder bei mir?«

»Bei mir!«, rief Hendrik hinüber.

»Das dachte ich mir.« Der Fremde stand auf und schlenderte auf Hendrik zu.

Jetzt erkannte er ihn. Diese drahtige Figur. Dazu der vorwurfsvolle Gang, als habe sich das gesamte Universum gegen ihn verschworen, den hatte er schon damals, als Student.

Hendrik erhob sich: »Hallo, Eddie!«

Sein Gegenüber nickte. »Aha, kennst mich doch noch.«

Sie gaben sich die Hand und musterten sich neugierig. So wie man sich anschaut nach Jahren verpassten Miteinanders. Natürlich hatten sie sich verändert. Eddie hatte reichlich Erlebnisfalten bekommen. Bei Hendrik war es wohl eher das graue Haar, das vom Leben berichtete. Endlich setzten sie sich. Hanna servierte den Espresso. Die Kaffeesorte hatte Hendrik ausgesucht, speziell für »Hanna’s Wohnzimmer«.

»Deine Freundin, Wilmut?«, fragte Eddie.

»Fast«, antwortete Hendrik. »Meine Frau.«

»Oha, verheiratet!« Er gab Hanna die Hand. »Ich bin Edmund Fahrnholtz, Hendrik und ich haben zusammen studiert. Er mit Erfolg, ich nicht.«

»Hallo, Herr Fahrnholtz!«, sagte Hanna.

»Kannst mich ruhig duzen, in Frankfurt nennen mich alle Eddie.«

Hanna ließ ein leises Okay vernehmen und ging hinaus auf die Terrasse, um die Stühle zurechtzurücken.

»Zufall?«, fragte Hendrik.

Edmund grinste. »Du kommst direkt zur Sache, gefällt mir. Kein Zufall. Ein Kunde hat mir erzählt, dass du ständig hier rumhängst.«

»Ständig im eigentlichen Wortsinn kann wohl nicht sein, aber häufig, das stimmt.«

Eine blonde Haarsträhne fiel Edmund in die Stirn. »So kenne ich dich, immer ein wenig den Oberlehrer raushängen lassen. Aber natürlich hast du recht. Nach über 20 Jahren Taxifahren in Frankfurt schleift sich das gute Deutsch etwas ab.«

»Ach so …«

»Und du?«

»Dozent an unserer alten Wirkungsstätte, Uni Frankfurt. Seit acht Jahren bin ich mit Hanna verheiratet, habe sie in Weimar kennengelernt.«

»In Weimar?«

»Ja, ich war dort einige Jahre regelmäßig wegen eines Forschungsprojekts an der Anna Amalia Bibliothek.«

»Ach, die gute alte Anna Amalia, sehr nobel. Goethe war ja schon im Studium dein Spezialgebiet, heute immer noch?«

»Ja, immer noch.«

»Gut.« Er legte eine kurze Pause ein, und Hendrik fragte sich, ob das »Gut« wirklich gut gemeint war.

»Und, Wilmut, was machen die Kriminalfälle?«

Damit hatte Hendrik nicht gerechnet. »Du hast dich über mich informiert?«

»Das habe ich«, antwortete Edmund ohne eine Spur von Verlegenheit.

»Nein, keine Kriminalfälle mehr. Die gehören zu meiner Weimarer Vergangenheit.« Hendrik hatte plötzlich das Gefühl, zu viel von sich preisgegeben zu haben. Am liebsten hätte er das Gespräch beendet. Aber eins musste er noch fragen: »Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?«

»Wie schon gesagt: in einem Frankfurter Taxi. Und nachts in einem IKEA-Bett in der Wiener Straße.«

»Allein? Ich meine, in dem IKEA-Bett.«

Edmund lachte. Vielleicht dachte er an früher, als sie befreundet gewesen waren und solche Gespräche zum Alltag gehört hatten. »Lange allein«, sagte er. »Seit drei Jahren zu zweit.«

Hendrik nickte.

»Ich will dich nicht langweilen, Wilmut. Ich habe ein großes Projekt, mit dem ich in die Literaturwelt zurückkehren werde. Ich brauche aber noch ein paar Tage, um es vorzubereiten. Ich melde mich wieder. Ich freue mich darauf!«

Hendrik registrierte mit der ihm eigenen grammatikalischen Analytik, dass Edmund die letzten vier Sätze alle mit »Ich« begonnen hatte. »Um was geht es denn?«

»Ach, weißt du, Wilmut, das möchte ich dir erst sagen, wenn alles hieb- und stichfest ist.«

»Und welche Rolle hast du mir dabei zugedacht?«

»Eine wichtige Rolle. Aber auch das erzähle ich dir beim nächsten Mal. Danke für den Espresso!« Er grinste, stand auf und forderte Hendriks Hand.

Hendrik zögerte kurz, doch schließlich streckte er seinen Arm aus. Sie verabschiedeten sich. Edmund verließ das Café und schlenderte über den Affentorplatz. Hanna hatte sich längst in die Küche zurückgezogen.

*

Montag, 1. September, morgens

Hendrik Wilmut hatte Edmund Fahrnholtz schon fast vergessen, zumal eine Menge Gäste seine Aufmerksamkeit gefordert hatten. Soweit möglich, half er sonntags in »Hanna’s Wohnzimmer«. Er war dann der Büfettier, bereitete die Kaltgetränke servierfertig zu und bediente die italienische Espressomaschine, was ihm eine besondere Freude war.

Erst beim Frühstück am nächsten Morgen fragte ihn Hanna nach dem »seltsamen Vogel«, wie sie Edmund nannte. Hendrik lächelte und berichtete ihr aus Studienzeiten, in denen er viele Semester lang mit ihm befreundet gewesen war. Oft hatten sie zusammen gelernt und stundenlang, ohne zu reden, nebeneinander in der Universitätsbibliothek gesessen und gelesen.

Ob dies die Zeit gewesen sei, in der Hendrik mit Gesa zusammen war, fragte Hanna dazwischen.

»Richtig, diese Zeit war das. Meine Gesa-Phase.« Hendrik lächelte. Sein Vorleben war kein Geheimnis für Hanna.

»Eines Tages«, erzählte er, »im letzten Semester, da verschwand Eddie. Es war ein Donnerstag, ich kann mich noch genau daran erinnern. Wir hatten uns zu Wochenbeginn getrennt auf das am Freitag anstehende Examen vorbereitet. Am Mittag wollten wir uns in einem kleinen Studentenlokal an der Bockenheimer Warte treffen, um uns auszutauschen und gegenseitig zu motivieren. Ich wartete vergebens, nicht nur an diesem, auch am folgenden Tag. Bis zur letzten Sekunde stand ich vor dem Prüfungssaal, total aufgeregt, das kannst du dir sicher vorstellen. Aber Eddie kam nicht.«

Hendrik stockte. Er musste sich eingestehen, dass ihn die Erzählung mehr mitnahm, als er gedacht hatte.

»Kann man sagen, dass ihr damals beste Freunde wart?«, fragte Hanna.

»Äh, ja, das kann man sagen.«

Wie so oft brachte Hanna die Zusammenhänge mit wenigen Worten auf den Punkt.

»Jedenfalls habe ich ihn gesucht«, fuhr er fort, »in den Tagen danach, auch später noch, bei Freunden, bei seinen Eltern, in den Kneipen. Vergeblich: Eddie blieb verschwunden. Fast so, als sei er geflüchtet. Ich habe ihn all die Jahre nicht wiedergesehen, bis gestern im Café.«

Sofort begann Hanna, Mutmaßungen anzustellen, warum Edmund sich aus seinem alten Leben zurückgezogen haben könnte. »Vielleicht hatte er Prüfungsangst? Oder Liebeskummer? Eine Krebserkrankung? Depressionen? Tod eines Familienangehörigen? Oder er wollte einfach nur aus dem vorgezeichneten Lebensweg ausbrechen?«

Hendrik lächelte. »Du hast eine enorme Kreativität im Konstruieren von Entschuldigungen. Natürlich kann ich nichts davon ausschließen, aber zugleich sind alle Szenarien äußerst unwahrscheinlich. Ich habe mehrmals mit Eddies Eltern gesprochen, einem Arbeiterehepaar – sie Schneiderin, er Mechaniker –, beide sehr stolz darauf, dass ihr Sohn studierte und ob seines Verschwindens völlig am Boden zerstört. Bei meinem letzten Besuch baten sie mich, die Nachforschungen einzustellen und sie quasi … ihrem trauten Schmerz zu überlassen.«

In dieser Zeit hatte sich Hendriks Einstellung zu Edmund Fahrnholtz geändert. Sorgen wurden zu Anschuldigungen, Nachdenklichkeit zu Ärger und Freundschaft zu Ablehnung.

*

Montag, 1. September, mittags

Hendrik Wilmut hatte seine Vorlesung beendet. Er überquerte den Innenhof des Universitätshauptgebäudes in Richtung Rotunde. Dieser halbkreisförmige Gebäudeteil hatte General Eisenhower in der Nachkriegszeit als Büro gedient, heute war er Teil des Eingangsfoyers. Die milde Spätsommersonne hatte die Luft angenehm erwärmt.

Diesmal erkannte er Edmund sofort. Er lehnte lässig an der Skulptur der Nymphe, die Miss Eisenhower dermaßen anstößig fand, dass sie entfernt werden musste. Aber sie war wiedergekehrt, so wie Edmund Fahrnholtz.

»Hallo, Wilmut, hast du Zeit?«

»Ja.«

»Wollen wir uns setzen?«

»Okay.«

Sie ließen sich auf der Mauer zuseiten der Nymphe nieder. Der allgegenwärtige Travertinstein warf sein fahles Gelb in den Innenhof, ein kühler Geruch stieg aus dem großen Zierteich hoch.

Edmund trug eine alte abgewetzte Lederjacke. Er ließ seinen Blick schweifen. »Damals in Bockenheim sah alles anders aus. Mehr Beton.«

»Das stimmt«, sagte Hendrik.

»Pass auf, Wilmut, ich werde eine Reise unternehmen.«

Hendrik wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Er wartete.

»Ich werde Goethes Italienreise nachvollziehen, ihm nachreisen sozusagen, zumindest teilweise.«

»Aha.« Mehr sagte Hendrik nicht. Das hatten schon viele Goethefans getan, das konnte nicht alles sein.

»Ich werde in Regensburg beginnen.«

»Nicht in Karlsbad?«

»Nein, Tschechien mag ich nicht besonders, den ersten Tag von Goethes Reise kann ich verschmerzen.«

Hendrik nickte. »Und?«

»Ich werde zeigen, dass Goethes Italienreise gar nicht wirklich stattgefunden hat. Alles Fake, würde man heute sagen, gelogen, geschummelt, geschwindelt. Uns alle hat er an der Nase herumgeführt. Und das werde ich beweisen – das ist mein großes Projekt.«

Hendrik lachte nicht. Aus Respekt vor Edmund, dessen Lebenslauf ihm immer noch Rätsel aufgab. »Was soll das? Spinnst du jetzt?«

»Nein, Wilmut, bestimmt nicht. Das ist mein Ernst. Es geht bald los, und ich habe Geld gespart.«

Hendrik musste tief durchatmen. Er war kurz davor, ohne ein weiteres Wort zu gehen.

»Du willst sicher Argumente hören, die meine Theorie unterstützen«, sagte Fahrnholtz.

»Eigentlich nicht«, brummte Hendrik. »Aber bitte, wenn es dich glücklich macht …«

»Das geht schon mit dem ersten Tag seiner Reise los«, sagte Edmund. »Da behauptet Goethe, mitten in der Nacht mit der Kutsche losgefahren zu sein. Wir alle kennen diesen ersten Satz seines Reisetagebuchs: ›Den 3. September früh 3 Uhr stahl ich mich aus dem Carlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen.‹ Gut, er wollte ohne Aufsehen verschwinden, kann man noch verstehen. Aber dann behauptet er, 31 Stunden am Stück unterwegs gewesen zu sein, von Karlsbad über Eger und Weiden bis nach Regensburg. Dort will er am 4. September um 10 Uhr am Vormittag angekommen sein. Das sind auf heutigen Landstraßen über 200 Kilometer. Mit einer Kutsche fuhr man damals circa sechs bis sieben Kilometer pro Stunde, das könnte bei 31 Stunden durchgehender Fahrt also gerade so geklappt haben. Dabei durfte allerdings kein Achsenbruch, kein Deichselschaden und auch kein widerborstiger Postillion die Reise erschweren. Außerdem wurde man wegen der einfachen Blattfedern der Kutsche stark durchgeschüttelt, wodurch die Reisenden manchmal sogar übereinander fielen. Und das 31 Stunden lang, nein, das halte ich bei einem im Grunde faulen Typen wie Goethe für unglaubwürdig.«

»Also pass auf«, entgegnete Hendrik. »Erstens muss ich das nachrechnen, ganz genau habe ich die Reisezeiten nicht im Kopf. Und zweitens, Eddie, den Begriff ›faul‹ in solch pauschaler Weise auf Goethe anzuwenden, das ist unzulässig. Immerhin hat er so viele Texte verfasst und veröffentlicht wie kaum ein anderer Schriftsteller.«

Edmund überlegte einen Moment. »Stimmt, du bringst mich auf den richtigen Weg. Das Wort ›faul‹ passt nicht an dieser Stelle. ›Bequem‹ – das trifft es eher.«

Hendrik wunderte sich über die plötzliche Einsicht.

»Ich sehe das wie folgt, Wilmut: Goethe hat ständig geschrieben, besser gesagt, sehr oft. Ich bin schließlich lernfähig.« Er lachte kurz auf. »Das war wohl eine Art innerer Antrieb, wie bei manchen, die nicht ohne Arbeit leben können, manche nicht ohne Sport und manche nicht ohne Nutella. Mir geht es aber um Goethes alltägliche Lebensumstände, gehätschelt von seiner Mutter – mein Hätschelhans!« Edmund fiel bei dem letzten Wort in einen ironisch überhöhten Tonfall. »Und ähnlich gehätschelt von seiner Fangemeinde, schon in Frankfurt, du weißt ja, die Werther- und Götz-Bewunderer. Dann Herzog Carl August, der ihm Ministerposten, Geld und ein tolles Haus am Frauenplan schenkte, die Diener, die er sich leisten konnte, ganz zu schweigen von all den Frauen, die für ihn schwärmten. Da muss man doch bequem werden, oder nicht?«

Hendrik öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor es ihm gelang, einen Satz zu formulieren, fuhr Edmund fort: »Dabei stellt sich natürlich die Frage, woher er all die detaillierten Reisebeschreibungen haben sollte, ohne selbst in Italien gewesen zu sein. Ich erinnere an die damals sehr bekannten Italienbücher von Volckmann und Riedesel, die er bei sich trug, als er Karlsbad verließ. Bei einem Tagebucheintrag hat er sogar völlig unverfroren auf den Volckmann hingewiesen. Man kann das als genial oder als unverschämt bezeichnen. Ich tendiere zu Letzterem. Dazu kommen die vielen Erzählungen seines Vaters von dessen Italienreise. Und denk an die Kupferstiche mit Italienmotiven in seinem Elternhaus, im Flur, du weißt schon, und an das venezianische Gondelmodell, das Vater Goethe mitgebracht hatte und hegte und pflegte.«

»Sorry, Eddie, aber das ist zu viel!«

»Moment mal, ich bin noch nicht fertig. Wie du weißt, hat Goethe seinen Reisebericht erst 30 Jahre nach der angeblichen Reise niedergeschrieben, er hätte also sogar das Reisetagebuch von Anna Amalia und das noch genauere von ihrer Zofe Luise von Göchhausen mit einfließen lassen können, obwohl die beiden erst nach Goethes angeblicher Italienreise dort waren.«

Hendrik stand auf. »Das muss ich mir nicht länger anhören. Erzähl das irgendjemandem auf der Straße, aber nicht mir. Mach’s gut!«

Edmund Fahrnholtz erhob sich ebenfalls. »Ich möchte dich gern einladen, mich auf dieser Reise zu begleiten.«

»Ha!« Nun musste Hendrik doch lachen. Es war allerdings ein ärgerliches Lachen.

»Ich bezahle dich auch dafür, ich habe genug Geld. Du sollst mein Reiseführer sein, mein Cicerone. Und vor allem mein Berater. Mit deinem Einwand von eben hast du ja bereits damit begonnen.«

»Ha!«

»Ich brauche einen anerkannten Goetheexperten.«

»Aha, ich soll also mit meinem Fachwissen und meinem Ruf deine abenteuerliche Theorie unterstützen?«

»Könnte man sagen, ja.«

»Niemals!«

Edmund sah ihn an wie ein beleidigter Schuljunge. »Schade, ich würde dir 200 Euro pro Tag zahlen. Bei freier Unterkunft und Verpflegung.«

»Woher hast du denn als Taxifahrer so viel Geld?«

»Meine Sache.«

»Egal, das Geld interessiert mich sowieso nicht.«

»Klar, wusste ich, ist auch nur als Trostpflaster gedacht.«

»Niemals!«

»Okay, okay, ich lass dir noch Zeit. Aber nicht zu viel, übermorgen, am 3. September, geht es los.«

»Ach … stilecht, am 3. September, genau wie Goethe.«

»Richtig.«

»Fahr los, wenn du es nicht lassen kannst, aber ohne mich!« Damit drehte sich Hendrik um, ging mit ärgerlichen Schritten auf die Rotunde zu und verließ den Poelzig-Bau. Über dem Eingang stand in kräftigen Lettern: Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. Er warf heute keinen einzigen Blick darauf.

*

Dienstag, 2. September, vormittags

Nachdem Hanna und Hendrik Weimar verlassen hatten, lebten sie fast ein Jahr bei Hendriks Mutter in Offenbach. Hanna brauchte Zeit, um ihr Inneres zu ordnen, um den Tod ihrer Freundin Sophie und all die anderen dramatischen Ereignisse in Weimar zu verarbeiten. Hendrik verstand das, und Hanna war überzeugt, dass auch er diese Regenerationsphase benötigte. Auch wenn er es nicht zugab. Lange Spaziergänge am Mainufer und im Stadtwald klärten Hannas Sinne. Sie gab ihren Job als Pharmaberaterin auf. Es erfüllte sie nicht mehr, Ärzten tagein, tagaus dieselbe Story zu erzählen, sich einen Stempel abzuholen und aufzupassen, dass sie auch wirklich die kürzeste Strecke zum nächsten Kunden fuhr.

Dann wurde ihnen eine schöne Altbauwohnung in der Sachsenhäuser Bodenstedtstraße zur Miete angeboten. Sie griffen zu. Damit begann ein Lebensabschnitt der Zukunftsplanung und des Neuaufbaus. Wenn sie einen Traum habe, meinte Hendrik damals, wenn es etwas gäbe, was sie schon immer hatte tun wollen, wozu sie aber nie gekommen war, sei jetzt die Zeit dafür. Genau jetzt. Ein Café. Das war es. Sie suchte nach Räumen und es dauerte nicht lange, zwei bis drei Wochen nur. Sie sah ein Schild am Affentorplatz mit der Aufschrift »Zu vermieten«, und schon beim ersten Blick durchs Fenster verliebte sie sich in das Café: klein, gemütlich, individuell. Wie ein Wohnzimmer eben. So entstand auch der Name: »Hanna’s Wohnzimmer«. Danach ging alles sehr schnell. Innerhalb weniger Tage unterschrieb sie den Mietvertrag und begann sofort zu planen. Mit Herz und Verstand. Von Beginn an war klar, dass sie zwei freie Tage in der Woche brauchte. Den Montag wollte sie für die betriebliche Versorgung nutzen. Am Dienstag wollte sie leben. Einfach nur leben, sonst nichts. Unabhängig vom Café, unbeeinflusst von Hendrik und weit weg von erzwungenen Terminen. Der Dienstag war ihr Tag – das hatte sie schnell allen Menschen in ihrer Umgebung klargemacht.

Seit Anfang des Jahres besuchte sie nun dienstags einen Yogakurs in Goldstein. Schon vorige Woche war eine neue Teilnehmerin angekündigt worden, Hanna hatte den Namen vergessen, wusste nur noch, dass dieser mit K begann.

Kaum hatte sie den Übungsraum betreten, kam die Neue auch schon auf sie zu und stellte sich vor. Karla heiße sie, Händeschütteln, Zunicken und los ging es. Dass manchmal eine der Frauen unter der Anstrengung einer schwierigen Yogaübung stöhnte, war nichts Besonderes. Karla jedoch stöhnte andauernd. Und teilweise so, als sei sie gerade dabei, Presswehen zu veratmen. Nun ja, dachte Hanna, gib ihr eine Chance. Insgesamt waren die Übungen an diesem Tag recht einfach, vielleicht versuchte Gabi, die Kursleiterin, damit, das Karlastöhnen zu minimieren. Immer wieder betrachtete Hanna die Neue. Aufgespritzte Lippen, eine zu klein geratene Nase und Pausbacken. Vielleicht konnte man an den Haaren noch etwas machen, dachte Hanna, dunkelbraune Allerweltsfarbe, derzeit streng nach hinten gekämmt, unfähig, den prallen Hals zu verdecken.

Kaum war die Stunde zu Ende, stellte Gabi die Neue offiziell vor und erwähnte dabei auch ihren Nachnamen, den Hanna sich jedoch nicht merkte. Sie sei nun ab sofort Mitglied der Gruppe, sagte Gabi. Prinzipiell war jede zusätzliche Mitstreiterin willkommen, denn damit reduzierte sich die effektive Kursgebühr der Volkshochschule für alle anderen. Üblicherweise applaudierten die Teilnehmerinnen bei der Begrüßung einer Neuen. Heute klatschte zunächst niemand. Das ist nicht fair, dachte Hanna. Zögernd begann sie zu applaudieren. Ebenso zögernd folgte die restliche Truppe.

Während Hanna draußen vor dem Bürgerhaus Goldstein noch mit zwei Freundinnen aus der Yogagruppe zusammenstand und über schwierige Familienverhältnisse, Erbschaften und Neidschaften sprach, gesellte sich plötzlich Karla dazu. Hanna hatte sie nicht kommen sehen, mit einem Mal stand sie da, wie aus dem Boden gewachsen. Seltsame Art, dachte Hanna. Und damit nicht genug, kaum hatte Hanna ihr anstandshalber etwas Platz gemacht, klinkte Karla sich nahtlos in die Unterhaltung ein, so als hätte sie schon einige Minuten zugehört. Ihr Freund habe gerade ein Haus geerbt in … irgendwo. Auch dieser Name verschwand in Hannas temporärem Speicher mit extrem kurzer Halbwertszeit. Er wolle das Haus ja gar nicht, berichtete Karla weiter, würde es lieber verkaufen, aber seine Geschwister sähen das anders, sie wollten es behalten, es sei schließlich ihr Elternhaus. Blöde Situation, nicht wahr? Das fragte Karla Zustimmung heischend in die Runde. Alle nickten und gingen dann kommentarlos zu ihren Autos. Bis nächste Woche!

*

Dienstag, 2. September, abends

Hendrik Wilmut stand kurz vor einem gemütlichen Fußballabend in der Bodenstedtstraße, allein mit einer Pizza und zwei Flaschen Ehringsdorfer – ein Weimarer Bier, das es nur bei einem einzigen Getränkehändler in Frankfurt gab. Das erste Champions-League-Spiel von Eintracht Frankfurt stand an. Er wusste nicht, was Hanna vorhatte. Am Anfang hatte er sich Sorgen um sie gemacht, besonders nach Einbruch der Dunkelheit. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, nicht zu wissen, wo sie sich an ihrem freien Tag aufhielt. Oft besuchte sie eine Freundin oder ging abends ins Rebstockbad oder ins Kino.

Hendrik hatte die Pizza bereits bestellt, als das Telefon klingelte. Er nahm ab und meldete sich.

»Guten Abend, Herr Dr. Wilmut, hier ist Prof. Heinrich Wachshauer aus Weimar. Ich bin gerade in Frankfurt.«

Hendrik ahnte, was nun folgen würde. »Herr Wachshauer, was machen Sie denn in Frankfurt?«

»Nun, ich gab heute eine Vorlesung zur Sprachdidaktik der Bronzezeit. Wie Sie wissen, ist das mein Spezialgebiet, da bin ich schon seit …«

»Natürlich, Herr Wachshauer, ich erinnere mich.«

»Sehr gut, Herr Dr. Wilmut, ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen, sind Sie zu Hause?«

»Äh, ja, schon … aber ich habe zu arbeiten, muss für morgen ein Seminar vorbereiten.«

»Es dauert nicht lange, wenn ich schon mal in Goethes Geburtsstadt bin, dann muss ich mit Ihnen reden. Und zwar über ihn.«

»Über ihn? Wen meinen Sie?«

»Goethe natürlich!«

Schon begann es zu kribbeln. Vielleicht konnte er die zweite Halbzeit noch sehen. »Um was geht es denn?«

»Sie werden es nicht glauben, Herr Dr. Wilmut, aber irgendein Wahnsinniger will doch tatsächlich ein Buch verfassen über seine Behauptung, Goethes erste Italienreise habe gar nicht stattgefunden!«

»Ich warte auf Sie!«, sagte Hendrik. Ein Buch? Wollte Eddie sogar ein Buch über seine unselige Theorie schreiben?

Wenig später klingelte es. Prof. Wachshauer musste schon in der Nähe gewesen sein. Er trat ein, grüßte, zog seine Schuhe aus und stellte sie unter die Garderobe im Windfang. Anschließend tappte er in den Flur, besah sich ausführlich alle Bilder, während er fortlaufend seine buschigen Augenbrauen auf und ab hüpfen ließ, bewunderte die gelbe Wand und sagte: »Sie haben einen großen Flur.«

»Ja, das stimmt«, sagte Hendrik. »Hier im Wandschrank stehen zwei Klapptische. Wenn es notwendig ist, stellen wir die auf und können bis zu 16 Gäste bewirten.«

Wie aufs Stichwort klingelte der Pizzabote. Salami, Pilze und doppelt Knoblauch.

»Gehen Sie bitte schon mal ins Esszimmer«, sagte Hendrik. »Hinten rechts!« Er holte Besteck und Gläser aus der Küche, zerteilte die Pizza und platzierte je eine Hälfte auf zwei Tellern.

»Sieh da«, meinte Prof. Wachshauer im Esszimmer, »der grüne Salon!«

Hendrik lächelte. In diesem Moment hörte er Hannas Schlüssel klappern, die Wohnungstür wurde geöffnet.

»Hallo, Schatz, wir haben Besuch!«, rief er in den Flur.

Hanna erschien in der Esszimmertür, ihr blonder Haarschopf schimmerte feucht. »Entschuldigung, mein Fön ist kaputt!«

»Das ist Herr Wachshauer aus Weimar!«, sagte Hendrik.

»Guten Abend, ich bin Hanna!« Sie gab ihm die Hand.

»Prof. Heinrich Wachshauer, ich grüße Sie!«

Hanna warf Hendrik einen irritierten Blick zu, dann sah sie seine halbe Pizza. »Oh, lecker, ich hab total Hunger!«

»Bedien dich. Herr Professor, möchten Sie ein Bier?«

»Sehr gerne.« Er lächelte.

»Ich auch, bitte!«, sagte Hanna.

So viel zu dem gemütlichen Fußballabend.

»Prof. Wachshauer ist ein langjähriges Mitglied der Goethe-­Gesellschaft in Weimar«, erklärte Hendrik in Hannas Richtung. »Wir kennen uns von verschiedenen Fachtagungen. Er wollte seinen Aufenthalt in Frankfurt nutzen, um kurz etwas mit mir zu besprechen.«

»Störe ich dabei?«, fragte Hanna mit vollem Mund.

»Nein, nein«, antwortete Wachshauer, »ich habe schon Ihrem Gatten am Telefon berichtet, um was es geht. Ein wahnsinniger Mensch behauptet doch tatsächlich, dass Goethes erste Italienreise gar nicht stattgefunden habe, dass er sich stattdessen irgendwo versteckt gehalten habe. Und nun will dieser Unglückliche sogar ein Buch darüber schreiben, das er ausgerechnet dem Verlag angeboten hat, der auch meine wissenschaftlichen Aufsätze veröffentlicht. Ich bin nämlich ein Spezialist für die Sprachdidaktik der Bronzezeit, wissen Sie …«

»In Ihrem Verlag, Herr Professor?«, ging Hendrik dazwischen. »Das ist wirklich die Höhe! Wissen Sie denn, wie dieser Mensch heißt?«

»Nein, Herr Dr. Wilmut, ich habe nur den Titel gesehen, zufällig, auf der Projektliste des Verlegers.«

»Zufällig?«, fragte Hanna.

»Nun ja, Verehrteste, das war ohne jede Absicht. Warum lässt der Mann die Liste auch offen herumliegen.«

»Haben Sie denn eine Ahnung, wie der Verblendete auf solch eine Idee kam?«, fragte Hanna mit einem versteckt süffisanten Unterton, den nur jemand bemerken konnte, der zehn Jahre mit ihr verheiratet war.

»Keine Ahnung, meine Liebe, deswegen bin ich hier. Genau das wollte ich Ihren Gatten fragen.« Damit wandte er sich Hendrik zu.

»Na ja«, sagte Hendrik nachdenklich. Sein Magen knurrte vor Hunger. »Es gibt schon einige Ungereimtheiten in Goethes Reisetagebuch, aber die gesamte Theorie dieses Mannes ist unhaltbar. Er behaup… Also ich meine, er wird sicher behaupten, Goethe sei viel zu verwöhnt gewesen für solch eine anstrengende Reise.«

»Unsinn!«, rief Wachshauer. »Goethe ist viel gewandert und hat allein zu Fuß den Brocken bestiegen, bei schlechtem Wetter. Von bequem kann da keine Rede sein.«

»Das sehe ich wie Sie«, sagte Hendrik. »Ganz zu schweigen von den vielen Freunden, die er in Italien traf, Tischbein, Angelika Kauffmann, Karl Philipp Moritz, Hackert, Bury, Kniep und so weiter. Auch deren Lebenslauf wäre ja dann gefälscht.«

»Korrekt, Herr Dr. Wilmut. Guter Einwand. Außerdem müssten sich Generationen von Wissenschaftlern, die sich mit Goethe beschäftigt haben, wie Idioten vorkommen!«

»Das würde mich weniger stören, aber sie hätten Goethes angeblichen Husarenstreich in den vergangenen fast 200 Jahren sicher schon aufgedeckt, insofern sehr unwahrscheinlich.«

»Gut, Herr Dr. Wilmut, ich will Sie nicht länger bei Ihrer Pizza stören, wollte nur mal Ihre Meinung hören. Wenn ich nicht schon 75 Jahre alt wäre, würde ich hinfahren und den unverschämten Kerl züchtigen. Auf Wiedersehen!« Er stand auf und gab Hanna die Hand. »Verehrteste! Vielen Dank, ich finde allein hinaus.«

Damit schritt er entschlossen durch den gelben Saal, seinen Schuhen entgegen. Kurz darauf fiel die Wohnungstür ins Schloss.

Hendrik seufzte. »Ich hab Hunger. Und Durst.«

»Oh!« Hanna hatte soeben den letzten Bissen der Pizza hinuntergeschluckt. »Hast du denn nichts von … dem hier gegessen?« Sie zeigte auf ihren Teller.

»Nein!«, sagte er. Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.

»Das tut mir leid«, antwortete Hanna. »Ich mach dir schnell ein Brot, okay?«

Hendrik nickte versöhnlich. »Danke!«

Auf dem Weg in die Küche rief sie: »Du hast übrigens nichts verpasst, es war viel zu viel Knobi auf der Pizza!«

»Na so was!« Er sammelte die Teller ein und folgte ihr.

»Das mit der angeblich gelogenen Italienreise«, fragte Hanna, »ist das Eddie?«

»Was, äh … wie kommst du darauf?«

»Du hast dich einmal versprochen, so als wüsstest du bereits, wie der angeblich wahnsinnige Mensch argumentiert. Hast du ihn heute getroffen?«

»Dir kann ich wirklich nichts vormachen!«

Sie lächelte.

»Ja, es stimmt«, sagte er. »Eddie war heute an der Uni, wir haben gesprochen. Er will Goethes Reiseroute nachfahren und beweisen, dass der Geheimrat gar nicht in Italien war. Und stell dir vor, Eddie bildet sich sogar ein, dass ich ihn begleite!«

Hanna sah ihn an. »Aber das wirst du nicht tun.«

»Natürlich nicht, das ist totaler Unsinn.«

»Übrigens«, sie zögerte, »dieser Wachshauer ist ziemlich … speziell, oder?«

»Ja, ja«, nuschelte er und biss in sein Käsebrot. Saint Agur, sein Lieblingskäse mit Blauschimmel. Hanna stellte ihm ein Glas Bordeaux dazu und schaltete die Espressomaschine ein. So langsam gerieten Pizza und Bier in Vergessenheit. »Was mich irritiert, ist seine Wortwahl: wahnsinniger, unverschämter Kerl, den er am liebsten züchtigen möchte – unglaublich!«

»Solche Ausdrücke muss man vielleicht nicht zu ernst nehmen«, meinte Hanna.

Hendrik schüttelte den Kopf. »Bei ihm schon, er ist Sprachwissenschaftler, er weiß genau, was er sagt, und ist sich der Wirkung solcher Worte bewusst. Züchtigen. Das bedeutet: körperlich bestrafen. Das war kein Spaß.«

*

Mittwoch, 3. September, mittags

Edmund Fahrnholtz betrachtete sein altes Taxi. Der Auspuff hing fast auf dem Asphalt, so schwer beladen war der Mercedes Kombi. Doch das musste er aushalten. Karla stand vor der Haustür. Auf ihre Frage, wie lange er wegbleiben wolle, antwortete Edmund nicht. Er hatte ihr schon viele Male erklärt, dass er es selbst nicht wisse, eine Ewigkeit werde es sicher nicht dauern. Und jedes Mal hatte sie geantwortet, dass Goethe das auch gesagt habe, zu Charlotte, zu Fritz und zu Carl August, doch dann sei er zwei Jahre in Italien geblieben. »So lange werde ich sicher nicht auf dich warten!«, schob sie diesmal hinterher.

Edmund nickte. Er musste aufpassen. Eigentlich war ihm Karla seit einiger Zeit gleichgültig, manchmal sogar lästig. Sie achtete nicht auf sich, vernachlässigte ihre Arbeit und riskierte damit ihre Entlassung, sie stopfte ungezügelt Kuchen in sich hinein, wodurch ihr Gesicht und ihr Hals immer kräftiger wurden. Edmund hatte Letzteres bisher noch nie bei einer Frau gesehen. Viele nahmen an den Hüften zu, an den Oberschenkeln – ja, vielleicht noch am Bauch. Aber am Hals? Nein, das kannte er nicht. Er wollte sich jedoch nicht von ihr trennen, zum Teil aus Gewohnheit, aber auch, weil er sie als Heimatpol für seine Reise benötigte. Karla musste sich um die Post und das Geld kümmern. Er erinnerte sie nochmals an ihre Vereinbarung: Alle Briefe sollten ungeöffnet auf seinem Schreibtisch liegen bleiben, es sei denn, eines der Schreiben käme vom Verlag Bergmann & Kiebler aus Kassel. Dann musste sie den Brief öffnen und ihn sofort anrufen. Außerdem wies er sie an, jeden zweiten Tag bei seinem Anwalt in Dortmund nachzufragen, was mit der Erbschaft sei. Ja, murrte sie, das habe er schon zehnmal gesagt, sie sei schließlich nicht blöd, und was denn eigentlich mit diesem Henrik sei – »Hendrik, mit d in der Mitte«, warf Edmund sofort ein –, na gut, also, was mit Hend…rik sei, ob der ihn gar nicht begleiten würde. Edmund hatte keine Lust zu antworten und brummte etwas Unartikuliertes vor sich hin, woraus Karla entnehmen sollte, dass Hendrik nicht mitkam und sie nicht mehr danach fragen sollte.

Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er ein Erbstück seiner Mutter im Kleiderschrank versteckt hielt, eine Bernsteinkette mit Goldverschluss. Seine Schwester Inge hatte kein Interesse daran und die Kette passte gut zu Karlas vorwiegend erdfarbener Kleidung. Mit dem Geschenk traf er ins Schwarze. Karla war begeistert, legte die Kette sofort um, ein bisschen eng am Hals, aber ansonsten sah sie wirklich gut aus.

Er winkte ihr zu. Noch ein letzter Blick auf seine Armbanduhr: Mittwoch, der 3. September, 13.05 Uhr. Zufrieden lächelnd startete er den Motor. Der alte Diesel tuckerte los, langsam, aber zuverlässig. Edmund verließ den Stadtteil Oberrad und fuhr auf die Autobahn. Einige Minuten später hatte er das Offenbacher Kreuz erreicht und bog auf die A 3 in Richtung Regensburg ein. Sein Inneres jubelte vor Freude.

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Mittwoch, 3. September, mittags

Etwa zur gleichen Zeit saß Hendrik Wilmut in »Hanna’s Wohnzimmer« vor einem Espresso und einer wunderbaren