5,49 €
»Sehnsucht ist besser als Erfüllung.« Hans Fallada (1893–1947), ist einer der bedeutendsten sozialkritischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er zählt zu den modernen Klassikern der deutschen Literatur und ist einer ihrer – auch international – meistgelesenen Autoren. Karl-Heinz Göttert und Günter Wallraff haben Falladas Romane früh für sich entdeckt – Wallraff als eine Art Vorbild für perfekten Sozialrealismus, Göttert als kleinen Protest gegen Fachroutinen. Gemeinsam unternehmen sie einen vergnüglichen Gang durch das Gesamtwerk – in Ausschnitten aus Romanen, Erzählungen und Briefen Falladas.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 149
Reclam
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Coverillustration: Nikolaus Heidelbach
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962011-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014258-5
www.reclam.de
Karikatur
Vorwort
I Bewerbungen zwecklos – dank Lügen erfolgreich
II Das schwierige Leben in der Welt – und das bessere im Kittchen
III Milliarden auf den Geldscheinen – und nichts zu bekommen
IV Wettrennen mit Pferden – nie zu gewinnen
V Die Quangels machen sich frei – für den Untergang
VI Verliebt, verheiratet – und fast kein Zimmer
VII Ein Weihnachtsbaum für die Tiere – nicht nur von Kindern
VIII Glückliche Jugendzeit – direkt neben den Falladas
IX Versuche mit der Imkerei – nicht sehr erfolgreich
X Was Nationalsozialisten fürchten – und wie sie Erfolg suchen
XI Von Anfängen in der Schriftstellerei – und endlichem Können
XII Über die Liebe – und das Schreiben darüber
Zeittafel
Textnachweise
Verzeichnis der Abbildungen
Hans FalladaKarikatur von e. o. plauen, 1943
Hans Fallada wurde 1893 als Rudolf Ditzen in Greifswald geboren.1 Man kann von großbürgerlichen Verhältnissen sprechen. Vater Wilhelm, selbst aus einer Juristenfamilie stammend, war Landgerichtsrat, schlug eine Professur für Strafrecht aus, wurde Kammergerichtsrat in Berlin, dann Reichsgerichtsrat in Leipzig. Der kleine Rudolf besuchte auf diesen Stationen beste Schulen, erlebte Demütigungen, musste wechseln, durchlief eine schwierige Pubertät, war kränklich, machte kein Abitur. Am Tiefpunkt verabredete er mit einem Freund einen Doppelselbstmord, ausgeführt als Duell. Den nur leicht Getroffenen erschoss er auf dessen Wunsch, richtete dann die Pistole auf die eigene Brust – und überlebte. Die Anklage wegen Totschlags endete mit einer Strafunmündigkeitserklärung und anschließender Einweisung in die Psychiatrie. Es sollte nicht die einzige bleiben. Falladas Leben entwickelte sich als eine Folge von Abstürzen. Alkohol, Nikotin (150 Zigaretten am Tag), Morphium, Kokain – anschließend die Berliner Charité oder die Privatklinik eines ehemaligen Schulkameraden.
Die Abstürze kamen nicht von ungefähr. Sie standen stets im Zusammenhang mit enormen Arbeitsleistungen, mit dem Leben als Schriftsteller. Als mit finanzieller Unterstützung der Familie der erste, noch rein expressionistische Roman entsteht, verlangt der Vater eine Veröffentlichung unter Pseudonym – wegen der freizügigen Darstellung von Erotik und Drogenkonsum. Da greift Rudolf auf sein Faible für Märchen zurück, entnimmt den neuen Vornamen »Hans im Glück«, den Nachnamen unter Hinzufügung eines zweiten l der »Gänsemagd« bzw. dem sprechenden Pferdekopf Falada, der die falsche Prinzessin entlarvt – »Hans Fallada« war geboren. Ein Entlarver im Glück oder einer, der nur glücklich sein kann, wenn er zeigt, wie das Leben wirklich ist?
Der junge Goedeschal, wie der Debütroman heißt, entsteht noch langsam, während des Ersten Weltkriegs, unterbrochen von gescheiterter Liebe, Depressionen, die wieder einmal zu einem Selbstmordversuch führen, ehe die Arbeit in der Landwirtschaft etwas Ruhe bringt. Verleger ist Ernst Rowohlt, der spätere Freund und Förderer. Die Auslieferung beginnt 1920, in mehr als schwierigen Zeiten, der Verkauf läuft mäßig. Auch ein zweiter Roman, Anton und Gerda (1923), wird kein wirklicher Erfolg. Über Wasser hält sich Fallada jetzt als Rendant auf einem Gut in Schlesien. Aber der Drogenabhängige braucht viel mehr Geld, als er verdient, unterschlägt hohe Summen, wird verurteilt, geht 1924 nach Greifswald ins Gefängnis, erhält danach wieder eine Stelle, nimmt abermals Geld aus der Kasse, muss dafür für fast zwei Jahre ins Gefängnis Neumünster. Fallada bekommt dort keine Schreiberlaubnis, prägt sich aber die Umstände seines Lebens im Arbeitsdienst genauestens ein, um es in Wer einmal aus dem Blechnapf frißt literarisch zu verarbeiten. Auch sonst besteht die Stärke seiner Erzählkunst in der Wiedergabe von Selbsterlebtem, so zum Beispiel seiner Kokainabhängigkeit in der Novelle Die Kuh, der Schuh, dann du.
Dann die Wende. In Hamburg, wo Fallada in einem Hilfsverein für entlassene Gefangene aufgenommen wird, tritt er dem Guttemplerorden bei, einer international engagierten Organisation, die Suchtkranken Hilfe bietet. Dort hält er Vorträge, lernt vor allem die Frau fürs Leben kennen, Anna Issel, seine »Suse«. Die Lageristin in einer Großhandlung für Putzmacherbedarf übernimmt die Führung in diesem ungleichen Duett, auch in schwierigsten Zeiten mit ständig neuen Klinikaufenthalten. Suse und »ihr Junge« schreiben sich fast täglich Liebesbriefe – einer der eindringlichsten Briefwechsel in der deutschen Literatur.
Vorläufig aber geht es nach oben, nicht gleich steil, dafür alsbald vielleicht zu steil. Nach der Hochzeit 1929 wird Fallada Abonnenten- und Annoncenwerber beim General-Anzeiger in Neumünster, betätigt sich als Lokalreporter. Zufällig begegnet er in Sylt erneut Ernst Rowohlt, der ihn zum Leiter der Rezensionsabteilung im Berliner Verlag macht, wohlweislich eine Halbtagsstelle, die zum Schreiben Zeit lässt. Falls es ein Kalkül war, geht es auf. 1931 erscheint Bauern, Bonzen und Bomben, ein Roman über den Protest der Landvolkbewegung mit brutaler Unterdrückung durch Politik und Polizei. Fallada selbst spricht in einem Beitrag über sein Idol Ernest Hemingway von »Details über Details«, vom »Weglassen aller Gefühle«, ja vom Fehlen eines Autors – die Wissenschaft wird dafür die Schublade »Neue Sachlichkeit« erfinden. Kurt Tucholsky, ebenfalls Rowohlt-Autor, nennt das Werk in seiner Rezension den »besten deutschen Kleinstadtroman«. Robert Musil lobt die Dialoge, Siegfried Kracauer die Tatsache, dass es »keine offenkundige Tendenz« gebe.
Ein großer Erfolg im Feuilleton, aber nicht beim Publikum. Noch dazu wird der Rowohlt-Verlag insolvent, Fallada erhält keine Honorare mehr, sitzt mittlerweile auf Schulden. Da kommt im nächsten Jahr der Erfolg als Lawine: mit Kleiner Mann – was nun? Im Mittelpunkt steht das Scheitern eines »Anständigen« in schwierigen Zeiten, aber auch das Hohelied auf »Lämmchen«, hinter dem sich niemand anderes als Suse verbirgt. Vorabdrucke in Zeitungen bereiten das Feld, die UFA meldet sich (und wird mit Theo Lingen und anderen damaligen Stars eine verkitschte Fassung bieten, deren Premiere Fallada enttäuscht fernbleibt), der mittlerweile gerettete Rowohlt bietet einen Generalvertrag. Hermann Hesse lobt die »Wahrhaftigkeit«, Robert Musil die »Natürlichkeit«, Thomas Mann wird treuer Fallada-Leser. Aber das äußerst rasche Schreiben, Schwerpunkt zwischen drei und sieben Uhr morgens, fordert seinen Tribut. Der bislang Sparsame mutiert mit dem wahren Geldsegen zum Verschwender, es folgen Depressionen und erneute Abstürze durch exzessiven Drogenkonsum.
Fallada und seine Frau »Suse« (Anna Ditzen), 1932
Mittlerweile hat sich in Deutschland die Politik dramatisch verändert. Nach Weimar folgt die Hitler-Diktatur. Der Kleine Mann verschwindet aus den öffentlichen Bibliotheken, Fallada wird denunziert, kommt in Haft. Aber daraus entsteht wieder Literatur, die auch die frühen Greifswalder Erfahrungen einbezieht: der Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frißt, 600 Seiten in drei Monaten. Im Zentrum steht der Häftling Willi Kufalt, dessen Wiedereingliederung in die Gesellschaft dramatisch scheitert – die Haftanstalt wird ihm zum einzigen vertrauten Rettungsort. Die Veröffentlichung 1934 wird erst möglich, nachdem der Autor eine Einleitung hinzugefügt hat, die alles Unheil der »Systemzeit«, also der »überwundenen Demokratie«, zuweist – Thomas Mann wird von einer Verleugnung der »humanen Gesinnung« sprechen. Es ist nur der Anfang eines nicht endenden Kampfes, bizarr auch deshalb, weil Fallada in Goebbels einen Fürsprecher besitzt, der jedoch vom Amt Rosenberg, der Dienststelle für Kulturpolitik und Überwachungspolitik des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg, ständig überspielt wird.
Zwischen 1933 und 1944 erscheinen insgesamt 20 weitere Romane, 15 zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht. Sie sind sehr unterschiedlich. Wir hatten mal ein Kind (1934) schildert den Verlust einer Tochter, weicht von den sonst beherrschenden Dialogen ins Erzählerische ab, beschreibt die Landschaft in Rügen, wo ein dem Alkohol verfallener Held den Hof verkommen lässt – Autobiographisches liegt dem mittlerweile mit seiner Familie auf einem Gut im mecklenburgischen Carwitz Ansässigen nicht fern. Fallada, in Geldnöten nicht zuletzt aufgrund der teuren Klinikaufenthalte, versucht es mit Illustriertenromanen wie Altes Herz geht auf die Reise (1936), weiter mit Kinderbüchern à la Erich Kästner, mit Hoppelpoppel – wo bist du? 1937 kommt Wolf unter Wölfen heraus, mit über 600 Seiten in zwei Monaten geschrieben. Der Roman schildert Not und verzweifelten Überlebenskampf während der Inflationszeit in der Weimarer Republik. Er erhält wieder einmal das Lob von Goebbels und die Verurteilung des Amtes Rosenberg. Die für Kinder geschriebenen Geschichten aus der Murkelei (1938) vermeiden alles Politische, aber der Erfolg bleibt aus, ja wird verhindert.
Dann kommt ein neuer Bestseller trotz aller Widrigkeiten. Emil Jannings, damaliger Schauspielstar, schlägt einen Fall aus dem Jahre 1928 zur Verfilmung vor: die dank Unterstützung durch die Presse umjubelte Fahrt des Droschkenkutschers Gustav Hartmann mit Pferd Grasmus von Berlin nach Paris und zurück, um sich gegen die aufkommenden Automobile zu wehren. Fallada legt wieder einmal in weniger als drei Monaten 738 Seiten der Buchausgabe unter dem Titel Der eiserne Gustav vor, herausgekommen 1938. Goebbels ist begeistert, presst dem Autor aber einen neuen Schluss mit dem Eintritt von Hartmanns Sohn in die NSDAP ab – den »Nazi-Schwanz«. Und der Film, geplant unter dem Titel Der weite Weg, wird nach umfangreichen Vorarbeiten verhindert, weil das Amt Rosenberg erneut querschießt. So wie bei einer Reihe anderer Filmprojekte auch. Nur Kleiner Mann, großer Mann – alles vertauscht, als Roman 1940 erschienen, kommt unter dem Titel Himmel, wir erben ein Schloß 1943 in die Kinos.
Zwischenzeitlich ist Fallada zum »unerwünschten Autor« erklärt worden. Er macht sich Gedanken über seine Emigration, zumal ein Angebot zum Drehbuchschreiben in Hollywood vorliegt. Nach kurzem Schwanken bleibt er. Die Deutsche Verlagsanstalt, der er nach dem Verbot des Rowohlt-Verlags mittlerweile angehört, trägt ihm einen Stoff für einen Roman an: die »Jud Süß-Geschichte« nach einer Novelle von Wilhelm Hauff aus dem frühen 19. Jahrhundert. Lion Feuchtwanger hat sie als Demonstration ausgearbeitet, wie der Hass auf Minderheiten instrumentalisiert werden kann, 1940 erschien die unüberbietbar antisemitisch-hetzerische Filmfassung von Veit Harlan. Fallada versucht sich an dem Kunststück, »einen nicht antisemitischen antisemitischen Roman« zu schreiben, der jedoch rasch in den Mühlen des Regimes stecken bleibt. Dafür kommen zwei Bücher zum Druck, die als eigenartig literarisch verfremdete Autobiographien zu verstehen sind: die Beschreibung der Jugend als Damals bei uns daheim 1942 sowie der Zeit in Carwitz als Heute bei uns zu Haus 1943.
Fallada bei der Arbeit. Es wird viel Kaffee getrunken
Ein einziger Kampf ums Schreiben, so wie es ein einziger Kampf mit der Sucht wird – und beides hängt miteinander zusammen. 1944 geht das Familienleben in Carwitz zu Ende, Fallada trennt sich von seiner Suse, heiratet die junge Unternehmerwitwe Ursula Losch, die selbst Morphinistin ist und mit ihm zusammen abstürzt. Ein Schuss, den er volltrunken auf Suse abgegeben hat, führt ihn kurzfristig ins Untersuchungsgefängnis. Das Tagebuch, das er dort geheim und verschlüsselt führt, wird zur Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, allerdings nach der Befreiung auch zur Selbstrechtfertigung als Zuhausegebliebener. Den Roman Der Trinker, eine Studie zur Pathologie des Trinkens ebenso wie zum unmenschlichen Entmündigungsverfahren, bringt er dagegen nicht zur Veröffentlichung – viele werden die spätere Verfilmung mit Harald Juhnke kennen. Für seine Tochter »Mücke« schreibt er als Weihnachtsgeschenk die Erzählung Fridolin der freche Dachs.
Dann nimmt das Schicksal seinen Lauf. Fallada, zwischenzeitlich in einer geschlossenen Abteilung für »geisteskranke Kriminelle« untergebracht, übersteht das Ende der Nazizeit mitsamt Bombenkrieg in Berlin, findet mit seiner neuen Frau eine neue Bleibe in einer vom Krieg verschonten Villa im »Pankower Ghetto«. Der Dichter und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher hat ihm das Haus besorgt und spielt ihm auch einen neuen Romanstoff in die Hände: Gestapo-Papiere über den Fall eines Widerstands in der NS-Zeit. Das Ehepaar Hampel (im Roman: Quangel) hatte Karten mit Anklagen gegen das Regime in Treppenhäusern ausgelegt, war aufgeflogen und zum Tode verurteilt worden, ohne dass ihrem Wunsch, gemeinsam zu sterben, stattgegeben worden wäre. So entsteht Jeder stirbt für sich allein, von den neuen kulturellen Dienststellen abgelehnt, aber vom Aufbau-Verlag durchgesetzt und für eine Verfilmung vorgesehen. Fallada hält viel von diesem Roman (»seit Wolf unter Wölfen wieder der erste richtige Fallada«2). Das letzte Werk entsteht dann als eine »Auftragsarbeit« für seinen Sohn Uli, für dessen literarischen Club an seiner Schule: Wie ich Schriftsteller wurde, sein literarisches Vermächtnis.
Aber die Zeit nach dem Krieg ist eine einzige Krise, Fallada verbringt die meiste Zeit in Kliniken bzw. Entzugsanstalten. Am 5. Februar 1947 stirbt er mit 53 Jahren. In der »Ostzone«, seit 1949 der Deutschen Demokratischen Republik, wird nicht zuletzt dank der Initiative von Johannes R. Becher sein Erbe bewahrt. Der Aufbau-Verlag startet unter der Leitung von Günter Caspar ab 1956 eine zehnbändige Auswahl – nicht ohne Eingriffe im Sinne der neuen Staatsführung. Aber auch international ist der spätere Erfolg enorm. Fallada wird in Feuilletons US-amerikanischer Zeitungen und mehr noch weltweit als literarische Wiederentdeckung gefeiert, die englischsprachige Ausgabe von Jeder stirbt für sich allein (Alone in Berlin) 2009 ein Bestseller, den man in Supermärkten kaufen kann. Das Gefängnistagebuch, nun unter dem Titel In meinem fremden Land, bringt es in Israel zum Bestseller. Nach und nach erscheinen auch unbearbeitete Originalfassungen, Der eiserne Gustav ohne »Nazi-Schwanz« 2019.3
Ob man ein Fazit ziehen kann? Fallada selbst hat in einem Brief an einen Leser 1932 das Stichwort von der »Anständigkeit« ins Spiel gebracht,4 von einer »Bewahrung von Humanität« oder auch »Zivilisiertheit« angesichts der »Unerbittlichkeit des Lebens«, der »sozialen und politischen Katastrophen«. So stößt man immer wieder mitten in den Brutalitäten des »Milieus« auf Verweigerungshaltung und Widerstandsgeist. Die Leser haben es Fallada immer gedankt, sich mitreißen lassen von der unerhörten Fülle des Erzählens, die mit ihrer Detailsättigung die dramatischen Zeiten von der Weimarer Republik bis zur Nazidiktatur und der Befreiung davon wie in einem Brennspiegel bündelt und plastisch vor unserem Auge erstehen lässt.
Fallada, Schach spielend
Dieses Büchlein verantworten zwei Autoren, die sich seit frühesten Kindheitstagen kennen und nach 70 Jahren gelegentlich wieder zusammen Schach spielen wie früher. Der fünf Monate ältere Günter Wallraff wurde Deutschlands bekanntester Enthüllungsautor, Karl-Heinz Göttert Germanistikprofessor. Beide wohnen in Fahrradentfernung in Köln. Bei ihren Gesprächen kam einmal beiläufig eine Gemeinsamkeit heraus: Sie waren früh Leser von Hans Falladas Romanen, für Wallraff eine Art Inspiration für Sozialrealismus, für Göttert ein kleiner Protest gegen Fachroutinen. So fiel es nicht schwer, alte Vorlieben noch einmal neu zu hinterfragen.
Aus Teil II: »Berlin«, Kapitel »Jachmann lügt, Fräulein Semmler lügt, Herr Lehmann lügt, und Pinneberg lügt auch, aber jedenfalls bekommt er eine Stellung und einen Vater obendrein«: Johannes Pinneberg hat seine Freundin, die Verkäuferin Emma »Lämmchen« Mörschel, geheiratet und wird kurz vor der Geburt des gemeinsamen Kindes arbeitslos. Inmitten einer verlogenen Gesellschaft führt eine Bewerbung nur mit sehr viel Glück zum Erfolg.
Vor dem Schaufenster »Knaben- und Jünglingsbekleidung« von Mandel hat Herr Jachmann Pinneberg erwartet.
»Also da sind Sie ja. Sehen Sie nur nicht so besorgt aus. Alles in schönster Ordnung. Ich habe dem Lehmann ein Loch in den Bauch geredet, nun ist er ganz wild auf Sie. – Haben wir Sie heute Nacht sehr gestört?«
»Ein bisschen«, sagt Pinneberg zögernd. »Wir sind es noch nicht gewöhnt. Aber vielleicht war es auch von der Reise. Muss ich jetzt nicht zu Herrn Lehmann rein?«
»Ach, lassen Sie doch den dussligen Lehmann warten! Der ist froh, wenn er Sie kriegt. Ich habe ihn natürlich auch hübsch ansohlen müssen – wer stellt denn heute einen Menschen ein? Wenn er was von Ihnen wissen will, wissen Sie eben gar nichts.«
»Vielleicht sagen Sie mir, was Sie ihm erzählt haben? Ich muss doch Bescheid wissen.«
»I wo, keine Bohne! Warum müssen Sie denn?! Sie können doch gar nicht lügen, das sieht man doch. Nee, Sie wissen von nichts. – Kommen Sie noch ein bisschen rüber ins Café …«
»Nein, ich möchte jetzt nicht …«, beharrt Pinneberg. »Ich möchte jetzt Gewissheit haben. Es ist doch für meine Frau und mich so wichtig …«
»Wichtig! Zweihundert Mark Gehalt … Na ja, na ja, gucken Sie bloß nicht so, böse habe ich es nicht gemeint. Hören Sie, Pinneberg«, sagt der große Jachmann und legt dem kleinen Pinneberg ganz sanft die Hand auf die Schulter. »Ich steh ja hier nicht umsonst und red Unsinn, Pinneberg …«, sagt Jachmann und sieht Pinneberg sehr an, »es stört Sie doch nicht, dass ich mit Ihrer Mutter befreundet bin?«
»Nein, nein …«, sagt Pinneberg sehr gedehnt und wäre lieber woanders.
»Sehen Sie«, sagt Jachmann, und seine Stimme klingt wirklich sehr nett. »Sehen Sie, Pinneberg, ich bin so, ich muss über alles reden. Andere hätten vielleicht vornehm geschwiegen und hätten gedacht, was gehen mich die jungen Drecker an! Ich seh ja, es stört Sie. Muss Sie nicht stören, Pinneberg, sagen Sie das auch Ihrer Frau … Nee, ist nicht nötig, Ihre Frau ist anders wie Sie, habe ich gleich gesehen … Und wenn Pinneberg und ich Krach miteinander haben, dann denken Sie sich nichts dabei, das gehört bei uns dazu, ohne das ist es langweilig … Und dass Pinneberg hundert Mark für die Mottenkammer von Ihnen haben will, das ist Unsinn, geben Sie ihr bloß nicht das Geld, das verjuxt sie nur. Über die Abendgesellschaften dürfen Sie sich auch nicht den Kopf zerbrechen, das ist so und bleibt so, wenn die Dummen nicht alle werden … Und noch eins, Pinneberg …«, und jetzt ist der große Schwadroneur ganz liebevoll und Pinneberg trotz aller Abneigung entzückt und begeistert, »noch eins, Pinneberg. Sagen Sie Ihrer Mutter nicht so bald, dass Sie ein Kind erwarten. Ihre Frau natürlich, meine ich. Das ist für Ihre Mutter das Schlimmste, schlimmer noch als Ratten und Wanzen, hat sicher keine guten Erfahrungen mit Ihnen gemacht. Sagen Sie nichts. Leugnen Sie. Hat ja noch Zeit. Ich will sehen, dass ich es ihr beibringe. – Die Seife klaut er doch noch nicht beim Baden?«
»Wieso? Die Seife?«, fragt Pinneberg verwirrt.
»Nun …«, grinst Jachmann. »Wenn der Sohn beim Baden rauslangt und der Mutter die Seife aus der Wanne klaut, dann geht es nämlich bald los. – Auto! He, Auto!«, brüllt der Riese plötzlich. »Ich muss ja seit einer halben Stunde auf dem Alex sein, die Brüder werden mir zeigen, wie viel Zinken die Harke hat.« Schon im Wagen: »Also zweiter Hof rechts. Lehmann. Sagen Sie gar nichts. Und Hals- und Beinbruch. Und Handkuss für die junge Frau! Weidmannsheil!«
Zweiter Hof rechts. Alles ist Mandel. Ach Gott, das ist ein großes Warenhaus, noch nicht ein Zehntel so groß war je ein Betrieb, in dem Pinneberg bis dato gearbeitet, noch nicht ein Hundertstel vielleicht. Und er schwört sich zu, zu schuften, tüchtig zu sein, alles zu ertragen, nicht aufzumucken, o Lämmchen, o Murkel!