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Alle um sie herum scheinen das Bilderbuch-Familienglück zu haben - nur Brautmodendesignerin Jenny nicht. Also kehrt Jenny Manhattan den Rücken und in ihre Heimatstadt zurück. Vielleicht färbt das perfekte Familienleben ihrer Schwester auf sie ab, vielleicht findet Jenny eine neue Liebe? Ein Sommer voller Geheimnisse und Lügen, der Versuchungen und Offenbarungen liegt vor den Schwestern - aber auch ein Sommer des wahren Lebensglücks. "Ein Buch, wie ich es liebe - funkelnde Charaktere, ein schneller Plot und Dialoge, bei denen ich laut aufgelacht habe." Susan Elizabeth Phillips, New York Times-Bestsellerautorin "Diese emotionale Reise zweier Schwestern ist erfüllt von Drama, Lachen und Tränen und herzerwärmenden Momenten. Es sollte auf jedem Nachttisch liegen!" Robyn Carr, #1 New York Times-Bestsellerautorin "Die Star-Liebesromanautorin Higgins bewegt sich mit dem emotionalen Sog dieser Geschichte geschmeidig und ergreifend zur Frauenunterhaltung." Kirkus Reviews "Higgins ist die Queen der Sommerlektüre mit dem gewissen Etwas. Ihre witzigen Figuren, die oft die Liebe finden und sie auch manchmal verlieren, lassen den Leser nicht mehr los." Library Journal "Die perfekte Mischung aus Humor und Herzschmerz - ein Buch, über das man gern mit seinen Freunden spricht" Romantic Times Magazin
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Seitenzahl: 607
Zum Buch:
Während die eine Schwester vom perfekten Familienglück träumt, steckt die andere mittendrin – mittendrin in Windelbergen und Strichzeichnungen ihrer drei kleinen Töchter, die zwar das Wort „24-Stunden-Bereitschaft“ noch nicht kennen, aber genau das von ihrer Mutter erwarten. Rachel würde zu gern wieder mal ein paar zärtliche Stunden mit ihrem Mann genießen – das scheint er sich jedoch woanders zu gönnen … Nichts ist so schön wie zunächst von außen betrachtet, das finden die zwei so unterschiedlichen wie lebensechten Schwestern bald heraus. Und auch, dass fast perfekt oft viel besser ist als nur perfekt.
„Ein Buch, wie ich es liebe – funkelnde Charaktere, ein schneller Plot und Dialoge, bei denen ich laut aufgelacht habe.“
Susan Elizabeth Phillips, New York Times-Bestsellerautorin
Zum Autor:
Kristan Higgins‘ Bücher haben die Bestsellerlisten von New York Times, Publishers Weekly, USA TODAY und Wall Street Journal im Sturm erobert. Zudem ist sie zweifache Gewinnerin des RITA-Awards. Mit ihrem Ehemann, einem heldenhaften und toleranten Feuerwehrmann, und ihren beiden Kindern lebt Kristan in ihrer Heimatstadt in Connecticut.
Lieferbare Titel:
Lieber rundum glücklich als gar keine Kurven Mit Risiken und Nebenwirkungen Der Gute liegt so nah …
Kristan Higgins
Fast perfekt ist gut genug
Roman
Aus dem Amerikanischen von Tess Martin
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
If You Only Knew
Copyright © 2015 by Kristan Higgins erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Books II. B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Daniela Peter
Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München / kkymek / vergasova / narloch-liberra
ISBN eBook 978-3-95649-534-2
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Für Shaunee, Jennifer, Karen und Huntley mit innigem Dank für das Gelächter, den Wein und ganz besonders für die Liebe
Und schon wird mir mal wieder klar, dass es ein Riesenfehler war, mit meinem Exmann befreundet zu bleiben.
Ich bin auf der Babyparty von Ana-Sofia, Owens Frau und meiner Nachfolgerin. Tatsächlich sitze ich sogar neben ihr, habe den Ehrenplatz im Kreis der strahlenden Gratulantinnen bekommen, und wahrscheinlich strahle ich genauso sehr wie alle anderen. Mehr noch, ich habe mein „Mensch, ist es nicht wunderbar, wie sie von innen leuchtet“-Lächeln aufgesetzt, das ich in meinem Beruf oft brauche, zumal die Bräute immer zickiger, ihre Mütter immer kritischer und ihre Brautjungfern immer neidischer werden. Aber dieses Lächeln jetzt, dieses Babyparty-Lächeln … also das ist geradezu übermenschlich, ganz ehrlich.
Dass ich heute hergekommen bin, ist unglaublich erbärmlich, das weiß ich, keine Sorge. Ich wollte einfach nicht, dass man mich für verbittert hält, weil ich nicht auftauche – was ich höchstwahrscheinlich bin, ein wenig zumindest. Schließlich wollte ich immer Kinder haben. Doch jedes Mal, wenn ich davon anfing, sagte Owen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei und ihm unser Leben genau so gefiele, wie es war.
Tja. Nun. Das hat sich dann ja als nicht ganz zutreffend herausgestellt, doch wir sind Freunde geblieben. Heute hier zu sein ist jedoch … erbärmlich.
Andererseits bin ich heute Morgen halb verhungert aufgewacht, und hier wird es fantastisches Essen geben, das wusste ich. Ana-Sofia inspiriert Menschen. Ich ziehe bald weg aus New York, weshalb ich seit drei Wochen versuche, alles Essbare in meiner Wohnung entweder aufzuessen oder wegzugeben. Zudem ist mir einfach keine Entschuldigung eingefallen, die man mir auch abgenommen hätte. Besser hier rumsitzen und angestarrt werden, statt zu Hause im Selbstmitleid zu versinken und eine Schachtel Wheat Thins undefinierbaren Alters zu mampfen.
Ana-Sofia öffnet mein Geschenk, das ich, obwohl bereits April ist, in Weihnachtspapier gewickelt habe. Liza, die Gastgeberin, schaut finster; die rot-grünen Kakao schlürfenden Weihnachtsmänner stören das Ambiente, das Liza auf den Einladungen extra erwähnt hat.
Um ein schönes und harmonisches Ambiente für Ana-Sofia zu kreieren, haltet euch bei Kleidung und Geschenkverpackung bitte an das Farbschema Apricot und Salbei.
So was gibt’s nur in Manhattan, Leute. Ich trage ein lila Kleid, um Liza auf diese Weise den Stinkefinger zu zeigen, die mal meine Freundin war, jetzt aber täglich bei Facebook postet, dass sie mit ihrer ABF, ihrer allerbesten Freundin Ana-Sofia herum-LOL-t.
„Oh! Ist das hübsch! Danke, Jenny! Seht mal alle her. Wie wunderschön!“ Als Ana-Sofia mein Geschenk in die Höhe hält, schnappen die Gäste nach Luft und murmeln und rufen, dass es wirklich das hübscheste von allen wäre, allerdings fange ich mir auch ein paar böse Blicke ein. Ich sehe die Neider mit hochgezogener Augenbraue an. Was sagt ihr jetzt, Schlampen? Das Geschenk habe ich gestern Nacht noch auf den letzten Drücker genäht, weil ich vergessen hatte, eines zu kaufen, aber das brauchen sie ja nicht zu wissen.
Es ist eine weiße Babydecke aus Satin mit aufgenähten Blättern und Bäumen und Vögeln. Hey. Dafür habe ich nur zwei Stunden gebraucht. Musste nichts von Hand nähen, also kein großes Ding. Nähen ist mein Beruf. Ich entwerfe Hochzeitskleider. Die Ironie ist mir sehr wohl bewusst.
„Hättest du nicht einfach wie jeder normale Mensch ein Kuscheltier mitbringen können?“, murmelt jemand links von mir. Andreas – eigentlich Andrew –, mein Assistent und der einzige Mann hier. Schwul natürlich – oder würde ein heterosexueller Mann jemals in einem Brautmodengeschäft arbeiten? Außerdem hasst und fürchtet er Kinder, weshalb er unter den gegebenen Umständen der perfekte Begleiter für mich ist. Ich brauche einen Verbündeten.
Habe ich erwähnt, dass die Party in der Wohnung stattfindet, in der ich früher mit Owen gelebt habe? Wo wir beide, wie ich dachte, extrem glücklich waren? Ja. Liza ist zwar die Gastgeberin, doch in ihrer Wohnung ist der Strom ausgefallen, was sie den ungeschickten Handwerkern zu verdanken hat, die bei ihr neue Glasarbeitsplatten einbauen – Granit ist ja so was von letztes Jahrzehnt –, und deswegen sind wir hier. Liza ist verschwitzt und laut und zu Recht besorgt darüber, wie ihre Fähigkeiten als Gastgeberin beurteilt werden. Dies ist immerhin die Upper East Side. Wir sind alle ganz groß im Beurteilen.
Die Geschenke – meines eingeschlossen – grenzen schon ans Lächerliche. Auf der Einladung – von Crane’s geprägt – bitten die künftigen Eltern um Spenden für Ana-Sofias Stiftung – Gushing.org. Auch wenn der Name so was wie Heraussprudeln bedeutet und einen so eher an eine besonders unangenehme Menstruationsphase denken lässt, sammelt sie damit Geld für Brunnen in Afrika. Genau. Deswegen haben wir alle dicke Schecks ausgestellt und obendrein versucht, die anderen geschenkemäßig auszustechen. Ein Alexander-Calder-Mobile. Eine Ausgabe von Mutter-Gans-Geschichten aus dem Jahr 1918. Ein Steiff-Teddybär aus Mohair, der ungefähr so viel kostet wie eine Monatsmiete meines bald ehemaligen Apartments im Village.
Ich lasse den Blick durch die inzwischen äußerst geschmackvoll eingerichtete Wohnung schweifen. Als ich hier wohnte, war es gemütlicher, mit mehr Boho-Schick – große, bequeme Möbel, Dutzende Fotos von meinen drei Nichten, hier und da etwas Wandschmuck von Target, dieser Mittelklasse-Bastion der Farbe und des Frohsinns. Jetzt ist die Einrichtung unglaublich elegant mit afrikanischen Masken an den Wänden, damit wir ja nicht vergessen, was Ana-Sofia beruflich macht, und Originalgemälden aus der ganzen Welt. Die Wände sind in diesen langweilig neutralen Farben mit aufregenden Namen gestrichen – Oktobernebel, Birmingham-Creme, Eiszapfen.
Dort ihr Hochzeitsbild. Sie haben nur zu zweit geheiratet, daher musste ich zum Glück nicht dabei sein – oder, Gott behüte, auch noch das Kleid nähen, was ich natürlich getan hätte, wäre ich gefragt worden. Ich bin nämlich nach wie vor ziemlich schwach, was Owen betrifft, und weiß einfach nicht, wie ich ihn aus meinem Herzen verbannen soll. Obwohl das Foto von einem Friedensrichter in Maine aufgenommen wurde, ist es perfekt. Braut und Bräutigam lachen, leicht von der Kamera abgewandt. Anas Haar weht in der Meeresbrise. Das Foto war sogar in der sonntäglichen Hochzeitsbeilage der New York Times abgebildet.
Die beiden sind wirklich das perfekte Paar. Früher waren Owen und ich eines, und obwohl ich gar keine Perfektion erwartet habe, fand ich uns zusammen ziemlich großartig. Wir haben nie gestritten. Meine Mom war der Ansicht, dass Owen als Halbjapaner eine bessere Partie war als „diese Einfaltspinsel“, mit denen ich zuvor zusammen war – und von denen ich jeden Einzelnen irgendwann zu heiraten gehofft hatte, angefangen bei Nico Stephanopolous in der achten Klasse. „Japaner halten nichts von Scheidung“, sagte Mom, als ich ihr Owen vorstellte. „Stimmt’s, Owen?“
Er nickte, und ich kann noch immer sein ständiges süßes Lächeln sehen, sein Dr.-Perfect-Lächeln, wie ich es nenne. Das ist sein normaler Gesichtsausdruck – sicher sehr beruhigend für seine Patienten. Owen ist plastischer Chirurg, einer von denen, die Gaumenspalten in Ordnung bringen und Muttermale entfernen und das Leben ihrer Patienten verändern. Er hat Ana-Sofia, die aus Peru kommt und fünf Sprachen spricht, elf Wochen nach unserer Scheidung kennengelernt, als er seinen jährlichen Abstecher mit Ärzte ohne Grenzen in den Sudan machte, wo sie gerade Brunnen grub.
Und ich entwerfe Hochzeitskleider, wie ich wahrscheinlich schon erwähnt habe. Moment, das ist nicht so oberflächlich, wie es klingt. Ich lasse Frauen so aussehen, wie sie es sich für den glücklichsten Tag ihres Lebens immer erträumt haben. Ich sorge dafür, dass sie beim Blick in den Spiegel zu weinen beginnen. Ich gebe ihnen das Kleid, über das sie viele Jahre nachgedacht haben, das Kleid, das sie tragen werden, wenn sie ewige Treue schwören, das Kleid, das sie eines Tages ihren Töchtern weitergeben werden, das Kleid, das Ausdruck all ihrer Träume und Hoffnungen von einer glücklichen, funkelnden Zukunft ist.
Verglichen mit Owens Arbeit und der seiner zweiten Frau mag das allerdings etwas seicht wirken.
Theoretisch müsste ich die beiden hassen. Nein, er hat mich nicht mit ihr betrogen. Dazu ist er viel zu anständig.
Doch er liebt sie. Natürlich könnte ich ihn dafür hassen, dass er sie liebt und nicht mich. Und machen wir uns nichts vor – ich war am Boden zerstört. Aber ich kann Owen nicht hassen und Ana-Sofia auch nicht. Die beiden sind viel zu nett, was ich ziemlich rücksichtslos von ihnen finde.
Owens beste Freundin zu sein ist jedenfalls immer noch besser, als ihn ganz und gar zu verlieren.
Der Quilt hat die Runde gemacht, um von allen bewundert zu werden, und jetzt ist er wieder bei Ana gelandet. Sie streichelt ihn zärtlich, dann sieht sie mich mit Tränen in den Augen an. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet.“
Ach, halt die Klappe, möchte ich sagen. Ich habe vergessen, dir ein Geschenk zu kaufen und das Ding hier gestern Nacht aus ein paar Satinresten zusammengenäht. Keine große Sache.
„Hey, kein Problem“, sage ich. In Ana-Sofias Gegenwart benehme ich mich oft gehemmt und blöd. Andreas reicht mir noch einen Windbeutel. Vielleicht sollte ich ihm eine Gehaltserhöhung geben.
„Ich bin so begeistert von deinem neuen Laden“, fährt Ana fort. „Owen und ich haben erst gestern Abend darüber gesprochen, wie unglaublich talentiert du bist.“
Andreas wirft mir einen vielsagenden Blick zu und verdreht die Augen. Ihm fällt es nicht schwer, Ana-Sofia und Owen zu hassen, was ich wirklich zu schätzen weiß. Lächelnd trinke ich noch einen Schluck von dem Mimosa-Cocktail aus Blutorangensaft und wirklich gutem Sekt.
Sollte ich je schwanger werden – auch wenn die Chancen darauf stündlich zu sinken scheinen –, werde ich wohl, wenig beneidenswert, aussehen, als hätte ich mich versehentlich auf einen Druckluftschlauch gesetzt, so wie meine Schwester, als sie die Drillinge ausbrütete. Da war kein Leuchten. Da war Akne. Da waren Dehnungsstreifen, die sie aussehen ließen, als sei sie von einem Bengalischen Tiger angegriffen worden. Sie kaute ununterbrochen Magentabletten und musste ständig rülpsen, aber typisch Rachel: Sie beschwerte sich nie.
Ana-Sofia leuchtet. Ihre perfekte olivfarbene Haut ist ohne Makel oder auch nur eine sichtbare Pore. Ihre Brüste sehen fantastisch aus, und obwohl sie im neunten Monat schwanger ist, ist ihr Babybauch dezent und perfekt gerundet. Sie hat nicht mal geschwollene Fesseln. Das Leben ist so unfair.
„Wir haben gerade festgestellt, dass ein Schulfreund unserer Tochter ihr Halbbruder ist“, sagt die größere Frau von Lesben-Paar Nummer 1. Eine von ihnen ist gerade in Owens Praxis Partnerin geworden, aber ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern. „Stellt euch bloß vor, wenn wir das nicht erfahren hätten! Vielleicht hätte sie sich am Ende in ihren Halbbruder verliebt! Hätte ihn geheiratet! Die Kinderwunschklinik hat vierzehn Samenspenden von ein und demselben Mann herausgegeben. Die werden wir verklagen.“
„Immer noch besser als Adoption“, sagt eine andere Frau. „Meine Schwester und ihr Mann mussten ihren Sohn zurückgeben, weil er vier Mal hintereinander ihr Wohnzimmer in Brand gesteckt hat.“
„Das ist ja nicht so schlimm. Mein Cousin hat ein Baby adoptiert, und dann kam seine richtige Mutter aus der Entzugsklinik und hat das Sorgerecht zurückbekommen. Nach zwei Jahren wohlgemerkt.“
Auf der anderen Seite der Runde scheint eine Debatte darüber entbrannt zu sein, wessen Geburt am grausamsten war. „Ich bin fast gestorben“, verkündet eine Frau stolz. „Ich habe meinen Mann angeguckt und ihm gesagt, dass ich ihn liebe, und dann kann ich mich nur daran erinnern, dass der Rettungswagen da war …“
„Ich lag vier Tage in den Wehen“, erklärt eine andere. „Hab mich wie ein wildes Tier ins Leintuch verkrallt.“
„Notfallkaiserschnitt acht Wochen zu früh, keine Narkose“, sagt die nächste stolz. „Meine Tochter hat neunhundert Gramm gewogen. Siebenundfünfzig Tage im Brutkasten.“
Und wir haben eine Gewinnerin! Die anderen Mütter werfen ihr missgünstige Blicke zu. Danach sprechen sie über Nahrungsmittelallergien, Impfungen, Familienbetten und den erschreckenden Mangel an Angeboten für hochbegabte Vorschüler.
„Wie amüsant“, flüstere ich Ana-Sofia zu.
„Allerdings“, sagt sie. Ironie ist nicht ihre Stärke. „Ich freue mich so, dass du hier bist, Jenny. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast! Du hast bestimmt viel mit dem Umzug zu tun.“
„Du ziehst um?“, fragt eine ihrer ungeheuer schönen und gebildeten Freundinnen. „Wohin?“
„Cambry-on-Hudson“, antworte ich. „Dort bin ich aufgewachsen. Meine Schwester und ihre Familie sind …“
„Oh mein Gott, du verlässt Manhattan? Musst du dir dann etwa ein Auto zulegen? Und gibt es dort überhaupt Restaurants? Ich jedenfalls könnte ohne Zenyasa-Yoga nicht leben.“
„Du machst noch immer Zenyasa?“, fragt jemand. „Hab ich längst abgehakt. Jetzt gehe ich zum Bikram-Hot-Yoga. Da habe ich letzte Woche Neil Patrick Harris gesehen.“
„Ich mache gar kein Yoga mehr“, sagt eine blonde Frau, während sie eingehend eine Himbeere mustert. „Ich bin jetzt drüben auf der Amsterdam in einem Trampolinstudio. Davon hat mir Sarah Jessica Parker erzählt.“
„Und was ist mit Brunch?“, fragt mich jemand mit sorgenvoll gerunzelten Augenbrauen. „Wo willst du brunchen, wenn du die Stadt verlässt?“
„Ich glaube, Brunch ist außerhalb von Manhattan illegal“, antworte ich todernst. Niemand lacht. Wahrscheinlich glauben sie, ich hätte die Wahrheit gesagt.
Zugegeben, ich liebe Manhattan. Frei nach dem Song: Wenn du es hier schaffst, dann ist der Rest der Welt ein Kinderspiel. Und ich habe es hier geschafft. Ich habe für die Besten gearbeitet – sogar für Vera Wang. Meine Arbeit, von der ich seit fünfzehn Jahren leben kann, wurde bei Kleinfeld Bridal verkauft. Auf der Parsons School hat man mich zur Designerin des Jahres gewählt. Ich war nicht nur auf einer, sondern sogar auf zwei Partys von Tim Gunn. Er hat mich mit Namen begrüßt – und ja, er ist so nett, wie er immer wirkt.
Aber so sehr ich die Stadt auch liebe, ihr Lärmen, ihre Gebäude und Gerüche, die Subways und die Skyline – tief im Herzen sehne ich mich nach einem Garten. Ich möchte meine Nichten öfter sehen. Ich möchte dieses Glücklich-bis-ans-Lebensende-Gefühl, das meine Schwester hat und das mein Exehemann und seine viel zu nette Frau gerade kennenlernen.
Ich hoffe, dass ich auf etwas zusteuere und nicht vor etwas weglaufe. Die Wahrheit ist nämlich, dass mich meine Arbeit in letzter Zeit ein wenig langweilt.
Cambry-on-Hudson ist eine hübsche kleine Stadt, ungefähr eine Stunde nördlich von Manhattan gelegen. Es gibt mehrere hervorragende Restaurants dort – von denen manche schockierenderweise sogar Brunch anbieten. Im Zentrum gibt es ein Kino, blühende Bäume, einen Park und einen Williams-Sonoma-Laden. Es handelt sich also keineswegs um ein Dritte-Welt-Land, egal, was diese Frauen denken. Und der neueste Laden heißt Bliss. Maßgefertigte Hochzeitskleider. Mein Baby, anstelle eines menschlichen.
Mein Telefon piept leise. Eine SMS von Andreas, der sich Stöpsel in die Ohren gesteckt hat, um die Geschichten über Milchstau und blutende Brustwarzen auszublenden.
Guck dir mal die Nase der Großtante an. Ich hoffe, das Baby erbt sie.
Ich lächle ihn dankbar an.
„Habt ihr von dem Geburtshelfer gehört, der neunundfünfzig Kinder gezeugt hat?“, fragt jemand.
„Das war eine Folge von Law & Order.“
„Aber eine wahre Geschichte“, murmelt eine andere. „Eine Nachbarin von mir war seine Patientin.“
„Oh. Ach Gott“, sagt Ana-Sofia.
Ich drehe mich zu ihr um. Sie wirkt etwas erschrocken. „Es stimmt wahrscheinlich nicht“, beruhige ich sie.
„Nein … ich denke … Ich glaube, meine Fruchtblase ist geplatzt.“
Erst herrscht Stille, dann folgt ein kollektiver Aufschrei.
Ich erspare Ihnen die Details. Es sei nur so viel gesagt, dass Ana-Sofia, obwohl hier jede Menge Frauen sind, die alle schon Kinder zur Welt gebracht haben und sich um die besten Plätze drängeln, meine Hand umklammert. „Oh, Jenny, es geht los“, sagt sie. „Ich spüre etwas.“ Ihre schönen braunen Augen sind angstvoll geweitet. Ich drücke sie sanft auf den Boden und hocke mich zwischen ihre noch immer schlanken Schenkel – wirklich, es ist, als ob sie damit prahlen wollte. Ich schiebe ihren Tanga hinunter – nur zur Info: Ihre Bikinizone ist noch immer perfekt gewachst – und heilige Mutter Gottes, ich kann den Kopf sehen.
Ich durchwühle meine Handtasche nach der Reisetube Desinfektionsmittel (wenn man jeden Tag mit der U-Bahn fährt, trägt man so etwas bei sich) und reibe mir die Hände damit ein. „Holt Handtücher und beruhigt euch!“, fahre ich die anderen Gäste an. Mit Notfallsituationen kann ich ziemlich gut umgehen. Liza reicht mir einen Stapel Handtücher – die sehr weich sind und gleich von dem, was während der Geburt so aus einer Frau rauskommt, ruiniert sein werden.
„Lass mich dir helfen“, jammert Liza. Das wäre natürlich ein toller Facebook-Eintrag. Hab soeben das Baby meiner ABF zur Welt gebracht, LOL! – das Baby von Ana-Sofia Marquez-Takahashi.
„Ich muss pressen“, stöhnt Ana, und das tut sie, einmal, zweimal, ein drittes Mal, und ein Gesicht erscheint – ein Baby! Da gleitet ein Baby in meine Hände! Noch ein Pressen, und dann halte ich es, schleimig, mit weißer Schmiere und etwas Blut bedeckt und unglaublich schön.
Dunkles Haar, riesige Augen. Ein Wunder.
Ich ziehe sie ganz heraus und lege sie auf Anas Brust. „Es ist ein Mädchen“, sage ich und bedecke das Baby mit einem Handtuch.
Nur wenige Sekunden später stürmt die New Yorker Feuerwehr herein, und ich ergehe mich in einer schnellen und zutiefst befriedigenden Fantasie – Der Chef der Feuerwehrmänner ist schwer beeindruckt von meiner Klugheit, mustert mich und lädt mich mit dem niedlichsten Brooklyn-Akzent, den man sich nur vorstellen kann, zum Abendessen ein. Er lässt die Muskeln an seinen Oberarmen spielen, und am Ende der Verabredung, ja, hebt er mich hoch, um mir zu demonstrieren, wie leicht es für ihn wäre, mir das Leben zu retten, und ein paar Jahre später haben wir drei starke Söhne und einen Dalmatiner, Zwillingstöchter sind unterwegs.
Doch nein, die Aufmerksamkeit der Feuerwehrleute ist komplett bei Ana-Sofia – so wie es sein sollte, schätze ich, auch wenn es nett wäre, wenn wenigstens einer von ihnen mich etwas genauer unter die Lupe nehmen würde. Jemand durchtrennt die Nabelschnur, Ana vergießt wunderschöne Tränen auf ihre Tochter, und Liza drückt ihr das Telefon ans Ohr, damit mein Exmann seine Liebe und Bewunderung für seine Frau herausschluchzen kann, die gerade den Geburten-Geschwindigkeitsrekord gebrochen hat.
Ich lausche dem bewundernden Gemurmel der Gäste, während die muskelbepackten Feuerwehrleute Ana beteuern, wie unglaublich sie war und wie wunderschön ihre Tochter ist. Durch den Flur kann ich Andreas in dem geschmackvoll eingerichteten Badezimmer trocken würgen hören.
Es scheint, dass ich New York gerade zum richtigen Zeitpunkt verlasse.
Als mein Mann und ich das letzte Mal Sex hatten, bin ich eingeschlafen.
Nicht danach. Währenddessen.
Nur eine Sekunde lang. Adam hat es nicht einmal bemerkt; vermutlich glaubte er, dass mir in diesem Moment des großen Finales einfach die Leitungen durchgebrannt waren.
Aber es war so. Ich bin eingeschlafen. Und es hat sich so gut angefühlt. Der Sex auch … aber Schlaf! Dieses sanfte, schwebende Gefühl, die dahintreibenden Gedanken, der warme, tröstliche Geruch meines Mannes, der schaukelnde Rhythmus, und nur eine Sekunde lang war ich … weg.
Was mir ziemliche Sorgen bereitet. Als ich es Jenny erzählte, hat sie Tränen gelacht. Ich auch, aber ich habe daran gedacht, wie ich mir geschworen habe, niemals diese Art Frau zu werden. Die Art Frau, die zu müde für Sex ist. Die Art Frau, für die Sex nur eine weitere Routine an den sich endlos aneinanderreihenden, immer gleichen Tagen darstellt.
„Jetzt sei nicht so streng mit dir“, sagte Jenny und tätschelte meine Hand. „Du bist eine unglaublich gute Ehefrau. Aber um Himmels willen, du musst Adam sagen, dass du ab und zu ein Nickerchen brauchst. Oder bitte ihn das nächste Mal, dir stattdessen eine Massage zu geben.“
Nur will ich nicht zu den Ehefrauen gehören, die eine Rücken-massage Sex vorziehen, obwohl ich wahrscheinlich vor Dankbarkeit in Tränen ausbrechen würde, wenn Adam mich massieren würde. Vierzehn Stunden am Tag Kinder herumtragen, Gurte von Kindersitzen festschnallen, Spielzeug aufheben, auf dem Boden sitzen, Windeltüten schleppen, weil Charlotte noch nicht aufs Töpfchen gehen will … Natürlich habe ich Rückenschmerzen.
Aber das ist ein vergleichsweise geringer Preis. Unsere Mädchen sind so hübsch, so fantastisch und süß und wunderbar, ich kann kaum glauben, dass sie meine Kinder sein sollen.
„Mama!“
Meine mittlere Tochter, die eine Minute nach Grace und eine Minute vor Rose zur Welt kam, reißt mich aus meinen Gedanken. Charlottes runder kleiner Oberkörper ist mit Farbe beschmiert – ungiftige, ökologische Naturfarben … Wenn man erst einmal weiß, dass es solche Produkte gibt, kann man sie unmöglich ignorieren, und die Fraktion perfekter Mütter hier in Cambry-on-Hudson, New York, sorgt immer dafür, dass man genau erfährt, welche Farbe ihre Kinder benutzen.
Wir haben mit den Fingern gemalt, und dafür ziehe ich Charlotte und Rose immer bis auf die Unterwäsche aus, Charlotte bis auf ihre Sesamstraßen-Windel, Rose bis auf ihre winzige geblümte Unterhose. Rose malt statt auf ihrem Pappkarton jetzt auf dem Küchenboden, aber das ist in Ordnung. Den Boden schrubbe ich später. Grace hingegen ist komplett angezogen, weil sie mit dreieinhalb schon sehr ordentlich ist. Sie hat die kleine Stirn gerunzelt und malt sorgfältig auf ihrem Papier. Mein ernsthaftes Baby. Nicht zum ersten Mal mache ich mir Gedanken darüber, ob sie vielleicht ein wenig zum Asperger-Syndrom neigt; sie ist zu sauber, zu penibel. Andererseits reduziert sich dadurch mein Putzaufkommen um ein Drittel.
„Was ist los, Charlotte?“ Ich streichle ihre blonden Locken.
„Ich habe Kacka gemacht, Mama. Mein Popo ist heiß.“ Sie schiebt eine Hand in die Windel, zieht sie dann wieder hervor, um sie mir zu zeigen. „Klebt.“
Wo ist dieses Kapitel in den Erziehungsratgebern zu finden, hm? „Ist schon gut, Liebling. Komm, wir machen dich sauber.“
Ich sehe mich in der Küche um; alle Schubladen und Schränke haben Sicherheitsschlösser, außerdem sind die Mädchen und ich von Babygittern umgeben. „Rose, Grace, ich gehe mit Lottie ins Badezimmer, okay? Ihr bleibt hier.“
„Nein! Ich mit, Mama!“, bestimmt Rose. Sowohl Rose wie auch Charlotte hinken Grace, was das Sprechen betrifft, noch etwas hinterher, was für Mehrlinge ganz normal ist, wie der Kinderarzt mir versichert hat. Trotzdem. Ich mache mir ein wenig Sorgen.
„Grace, kannst du einen Moment allein bleiben?“, frage ich.
„Ja, Mama. Ich male Kreise.“
„Die sind wunderschön, Schatz.“
Ich nehme Rose auf den Arm und halte Charlotte so, dass sie mit ihrer beschmutzten Hand nichts anfassen kann, dann gehe ich mit ihnen den Flur entlang zum Badezimmer. Verdammt. Irgendwie ist es Charlotte gelungen, ihre Hand an meinem Bein abzuwischen, also muss ich mich wieder umziehen. Nun, so ist das Leben mit drei Kindern. Jeden Tag Wäsche waschen. Außerdem wollte ich mich sowieso umziehen, bevor Adam nach Hause kommt.
In der Drillingsgruppe, in die die Mädchen und ich hin und wieder gehen, gibt es Mütter, die fünfzehn Jahre älter aussehen, als sie sind. Die zentimeterbreite graue Haaransätze haben, die Klamotten ihrer Ehemänner tragen und nach abgestandener Milch und Erbrochenem riechen, die weinerlich und erschöpft sind. Sie machen mir Angst, weil ich an manchen Tagen das Gefühl habe, nur ganz knapp davon entfernt zu sein. Aber meine Mädchen sollen nicht denken, dass sie mich aussaugen; sie sind die Liebe meines Lebens. Ich bin die Mutter, die ihre Kinder tatsächlich vermisst, wenn sie dreimal die Woche für vier Stunden in der Vorschule sind. Vollzeitmutter zu sein ist alles, was ich jemals wollte.
„Zeit, die Hände zu waschen, Lottie“, sage ich jetzt, setze Rose ab und drehe den Wasserhahn auf. „Rose, musst du auf die Toilette?“
„Nein“, sagt sie. „Danke sön, ich gut.“ Sie lächelt, und mein Herz zerfließt vor Liebe. Das muss ich unbedingt auf eine meiner Notizkarten schreiben, damit ich Adam davon erzählen kann. Danke sön, ich gut. Ich versuche, diese kleinen Momente für ihn festzuhalten, weil er immer so lange arbeiten muss. Außerdem ist mein Gedächtnis auch nicht mehr das, was es mal war.
Ich wasche Lottie die Hände, dann nehme ich ihr die Windel ab und mache sie sauber.
„Ich noch mehr Kacka“, sagt sie.
„Okay.“ Ich setze sie auf das Töpfchen. Rose und ich warten. Charlotte grunzt, und ihr Gesicht wird rot. „Kein Kacka!“, verkündet sie bedeutungsvoll, und wir drei fangen an zu lachen.
Ich liebe das Muttersein so sehr, es wundert mich, dass mein Herz noch in meine Brust passt. Adam und ich haben diese perfekten Mädchen gemacht, darüber komme ich einfach nicht hinweg. Mein Leben lang hatte ich mit Schüchternheit zu kämpfen. Ich bin noch immer schüchtern, manchmal sogar Adam gegenüber. Sie wissen, wie das ist … wenn ich Verdauungsprobleme habe, benutze ich das Gästebadezimmer. Und wenn wir zu einer Party gehen, muss ich mir vorher selbst Mut zureden.
Doch während ich noch immer schnell erröte und mich in der Öffentlichkeit manchmal unwohl fühle, habe ich das hier, das Wissen, dass meine Mädchen mich anhimmeln; als Mutter weiß ich genau, wer ich bin und was ich mache. Meine Erinnerungen an die Zeit als Grafikdesignerin bei Celery Stalk, einer Firma, die Computerspiele für Kinder herstellt, sind nur noch schemenhaft, aber ich habe nicht vergessen, wie anstrengend es war, mit all den Leuten zu reden und mir nicht ständig über alles Gedanken zu machen. Dass es nach Feierabend immer noch eine Stunde gedauert hat, bis meine Schultern endlich wieder herabsanken.
Das hier … dafür bin ich gemacht.
Wir waschen noch einmal die Hände, alle drei. Der Seifenspender ist neu, die Mädchen sind davon noch immer fasziniert. Ich ziehe Charlotte eine frische Windel an, und wir können gehen.
Gerade als wir das Badezimmer verlassen, hockt Rose sich hin und pinkelt auf den Boden, durch ihre Unterhose hindurch.
„Huch“, sage ich.
„Schuldidung, Mama.“
Der Stapel Papiertücher liegt nicht wie sonst unter dem Waschbecken. Verflixt. „Nein, das ist schon okay, Schatz. Mach dir keine Gedanken.“ Ich sehe den Flur hinunter. „Grace? Wie geht es dir, Liebling?“
„Gut.“
Ich erkenne an ihrer Stimme, dass es ihr nicht gut geht.
„Was machst du, Liebling?“ Ich gehe in die Küche, Rose an der Hand. Sie tröpfelt, was bedeutet, dass ich den Flurboden auch wischen muss.
„Nichts“, sagt Grace. Dann höre ich, wie etwas herunterfällt.
Cheerios – überall auf dem Küchenboden. Diese Dinger können erstaunlich weit rollen. „Nicht die Cheerios runterwerfen, Schätzchen. Das ist unser Essen.“
„Ich wollte mehr Kreise“, sagt Grace und leert den Rest der Schachtel aus. „Ich will alle Kreise anmalen.“
Charlotte zertritt die Cheerios und zermalmt sie zu feinem Puder, was Grace wütend aufschreien lässt. Rose zögert, dann stampft sie mit. „Ganz ruhig, Mädchen“, sage ich und hebe Grace auf den Arm.
„Meine Kreise! Meine Kreise!“, heult sie und drückt ihren Rücken so weit durch, dass ich sie beinahe fallen lasse.
Zeit für den Mittagsschlaf. Was für ein herrliches Wort. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass meine Töchter so gut schlafen.
Zwanzig Minuten später steckt Rose in sauberen Kleidern, weint aber, weil ich sie nicht das Putzmittel trinken lasse, mit dem ich ihre Pipi aufgewischt habe. Grace ist wütend und hat ihren Schwestern mit versteinertem Gesicht erklärt, dass sie sie hasst, was mich zusammenzucken ließ: Ich glaube nicht, dass Jenny und ich jemals so etwas zueinander gesagt haben. Keine Ahnung, woher die Mädchen das Wort hassen kennen, speziell in Bezug auf andere Menschen.
Charlotte macht wieder ihr angespanntes Ich-muss-groß-Gesicht.
„Mama, mehr Kacka“, bestätigt sie mir.
„Super“, sage ich. „Kein Problem.“
Es ist 13 Uhr 34. Noch sechs Stunden bis zur Schlafenszeit.
Aber nein, so schlimm ist es nicht. Es ist nur … nun, es ist einfach anstrengend, drei Kinder auf einmal zu haben. Die Leute sagen mir immer, was für ein Glück ich habe, und wirklich, das weiß ich auch. Vier Jahre lang haben wir es versucht, drei davon mit Hormonen, vier künstliche Befruchtungen … vier Jahre voller Hoffnung und Sehnsucht … Adam und ich haben einiges durchgemacht, um diese Familie zu gründen.
Was aber nicht bedeutet, dass es nicht manchmal anstrengend ist.
„Ich nicht schlafen“, verkündet Charlotte. „Ich hasse schlafen. Ich hasse! Ich hasse!“ Graces Wut scheint sie angesteckt zu haben.
„Schlafen ist etwas Wunderschönes.“ Ich küsse sie auf den Kopf. Sie reibt ihre Augen und schaut mich trotzig an, aber sie wird die Erste sein, die einschläft. Und Grace die Letzte. Sie wird außerdem, wenn sie aufwacht, mit roten Wangen und verwirrt, gute zwanzig Minuten lang kuscheln wollen. Rose streckt bereits ihren kleinen Hintern in die Luft, den Daumen im Mund. Sie lächelt mich an, etwas Sabber läuft heraus, und sie schließt die Augen.
Ihr Zimmer ist mein Lieblingszimmer in unserem wunderschönen Haus, gelb und grün mit Mobiles, die ich selbst gebastelt habe, mit einem vollgestopften Bücherregal und drei kleinen Hängematten für die Stofftiere. Im Gegensatz zu vielen Kinder-zimmern, die ich gesehen habe, ist dieses nicht zu Ausstellungszwecken eingerichtet, nicht so, wie Erwachsene denken, dass ein Kinderzimmer aussehen sollte, mit vier geschmackvollen Stofftieren und Büchern, die nach Größe geordnet sind. Nein. Dieser Raum ist echt und schön, sonnig und hell und luftig. Diese Bücher werden gelesen. „Schlaft gut, meine Babys.“ Ich schließe die Tür.
Charlotte tritt ein paarmal gegen die Wand, aber das hat Tradition. Ich habe jetzt eineinhalb Stunden „Zeit für mich“, wie Adam es nennt.
Die Zeit für mich verbringe ich damit, Staub zu saugen und den Küchenboden zu wischen, das Badezimmer zu putzen, die Deckel wieder auf die Farbtöpfchen zu schrauben, die Pinsel auszuwaschen, getrocknete Farbe vom Tisch zu kratzen, Graces Bild an den Kühlschrank zu hängen. Dann putze ich das Spülbecken und schaue auf den Speiseplan, den ich am Wochenende gemacht habe. Man sollte gut organisiert sein, wenn man mit drei Kleinen einkaufen gehen muss. Heute Abend gibt es Lachs mit Couscous und gerösteten Mandeln und Brokkolisalat. Ich lege eine Flasche Sauvignon Blanc in den Kühlschrank, nehme den Brokkoli und den Rotkohl heraus, zögere dann kurz und blicke zum Computer.
Das wird nur eine Sekunde dauern.
Ich google „Fünf-Sterne-Hotels, New York City“ und scrolle durch die Liste. Das Surrey – nee, zu abgehoben. Das Peninsula – das habe ich mir erst letzte Woche angesehen. Alles Mögliche mit Trump – nein danke, zu übertrieben.
Aha. Das Tribeca Grand. Nachdem ich mir die Suiten angesehen habe, rufe ich an. „Hi, ich würde gern eine Suite für ein Wochenende im September buchen“, erkläre ich der Frau, die einen umwerfenden Akzent hat. Schweizerisch, beschließe ich, nicht, dass ich es wüsste. „Nein, nur für eine Person … Geschäftlich mit ein bisschen Freizeit … Ja, das Zimmer schaue ich mir gerade an, aber ich bin nicht sicher, ob es groß genug ist. Ist denn das Penthouse am 21. frei? … Ja? Fantastisch. Und die Dachterrasse … die ist nur für Penthouse-Gäste, richtig?“
Der Geschirrspüler springt an, als die Frau mir den Preis nennt, von der Ausstattung und dem Restaurant erzählt, und ich stelle mir vor, wie ich auf einer Chaiselongue auf der Terrasse liege und auf die Stadt sehe, wie ich in das riesige Bett schlüpfe, das aufregende Gefühl der Chintzbettwäsche an meiner Haut. Ich bestelle mir an der Bar einen Martini; einen ganz besonderen Martini, keinen aus der Getränkekarte, sondern einen, den der Barkeeper speziell für mich zubereiten soll.
Dann sehe ich auf die Uhr, stelle fest, dass ich nur noch vierzig Minuten „Zeit für mich“ habe, bedanke mich bei der Schweizerin und kümmere mich um die Wäsche.
Als Adam kurz vor sieben nach Hause kommt, trage ich saubere Kleidung – während die Mädchen auf dem Badezimmerboden mit meinen Make-up-Bürstchen gespielt haben, konnte ich kurz duschen. Das Haus ist aufgeräumt, ich habe es sogar hinbekommen, ein paar Blumen in eine Vase zu stellen – nachdem ich den Kopf einer Tulpe aus Roses Mund gezogen und die Giftnotrufzentrale angerufen hatte, um mich zu vergewissern, dass ihr nichts passieren kann. Das Abendessen steht im Ofen, der Wein im Eiskübel, der Tisch ist gedeckt, die Mädchen sind gefüttert und gebadet und so süß in ihren kleinen Schlafanzügen, wie sie vor Begeisterung auf und ab hüpfen, als sie ihren Vater durch die Tür kommen sehen.
„Prinzessinnen!“, ruft er und kniet sich hin, um sie zu umarmen. Er lächelt zu mir hinauf.
Gott, ich liebe ihn.
Er sieht immer noch unglaublich gut aus. Besser sogar, er hat so ein jungenhaftes Gesicht, das in den zehn Jahren, die wir uns kennen, immer attraktiver geworden ist. Sein schwarzes Haar wird langsam grau, und er hat Lachfältchen um die Augen. Sein Gewicht hat sich seit unserer Hochzeit nicht verändert. Meines auch nicht, obwohl ich darum kämpfen musste, und ein paar meiner Körperteile sind nicht mehr ganz genau dort, wo sie einmal waren. Aber Adam hat sich fast nicht verändert.
„Tut mir leid, dass ich so spät bin.“ Er steht auf, um mich zu küssen.
„Ist schon gut“, sage ich. „Wir können essen, wenn sie im Bett sind.“ Wir versuchen, abends alle zusammen zu essen, doch manchmal klappt das nicht. Und ehrlich gesagt: Wie schön das sein wird! Ist fast wie ein Date. Hoffentlich kommt Grace nicht die ganze Zeit aus dem Bett gekrabbelt, denn dann wird Rose es ihr nachmachen.
„Daddy! Daddy! Daddy!“, singt Charlotte.
„Rose, stell das ab, Schatz“, sagt er, als sie versucht, seine Aktentasche zu tragen. „Rach, ich bringe sie ins Bett, wie wäre das?“
„Das wäre toll. Das wird ihnen gefallen.“
Viele Leute aus unserer Gegend arbeiten in Manhattan. Zwei meiner Freundinnen haben Apartments in der Stadt, und der Mann der einen wohnt dort unter der Woche. Viele kommen nicht vor zwanzig oder einundzwanzig Uhr von der Arbeit. Aber Adam hat immer schon hier gearbeitet, in Cambry-on-Hudson, seit er den Abschluss auf der Georgetown gemacht hat, und auch dafür bin ich sehr dankbar. Er verbringt mehr Zeit mit den Mädchen als die meisten Männer, die ich kenne. Er gehört zu den Vätern, die mit ihren Töchtern Teepartys machen, sie viel zu hoch schaukeln lassen und ihnen zum vierten Geburtstag einen Hund versprechen.
In Cambry-on-Hudson ist es normal, als Mutter zu Hause zu bleiben. In den hübschen Vierteln gibt es jede Menge schlanke, blond gesträhnte Mütter in Cross Country Volvos und Geländewagen von Mercedes, Moms, die sich zum Kaffee bei Blessed Bean treffen und zusammen Kleider für die neueste Benefizveranstaltung einkaufen.
Ich mache bei manchen Dingen mit – dem Mutter-Kind-Schwimmkurs im Country Club, dem wir beigetreten sind, was mir etwas unangenehm ist. Adam meint, wir brauchen diese Mitgliedschaft, um Kontakte für seinen Job als Wirtschaftsanwalt zu knüpfen. Aber ich fühle mich dort immer noch unwohl. Zugleich weiß ich, dass ich unglaubliches Glück habe.
Adam zieht sein Jackett aus und hängt es über das Treppengeländer. „Märchenstunde!“, verkündet er, dann hebt er alle drei Mädchen hoch und trägt sie nach oben. Graces dunkle Stimmung ist verflogen, Charlotte kreischt vor Begeisterung, Rose schmiegt den Kopf an seine Schulter und winkt mir zu.
Automatisch nehme ich Adams Jackett und stecke es in die Tüte für die Reinigung im Wandschrank am Eingang, dann gehe ich in die Küche und schenke mir ein Glas Wein ein. Der Lachs braucht noch fünfzehn Minuten. Von oben kann ich Adam „Baby Beluga“ singen hören.
Diese kleinen stillen Momente sind ein Geschenk. Ich sehe mich in der Küche um, die ich liebe. Ich liebe unser gesamtes Haus, ein großes Gebäude von 1930, das man keinem bestimmten Baustil zuordnen kann, doch es ist freundlich und gemütlich und interessant. Jenny zieht mich immer damit auf, dass ich eine Art Fossil sei, und es stimmt, ich stehe auf diesen ganzen häuslichen Kram – Backen und Gärtnern und Dekorieren. Unser Elternhaus war, bis unser Vater starb, fast perfekt, und Mom und Dad waren so glücklich, so zuverlässig, sie passten so gut zusammen … und genau das will ich, seit ich denken kann, auch haben.
Aus dem Wandschrank höre ich ein Telefon piepen. Offenbar hat Adam sein Handy in der Jackentasche gelassen. Er darf es keinesfalls verlieren, denn wie bei den meisten Menschen heutzutage ist es für ihn praktisch ein Fortsatz seiner selbst. Ich nehme das Telefon heraus und sehe aufs Display.
Die SMS ist von einer unbekannten Nummer. Nur ein Anhang. Keine Nachricht.
Oben singt Adam noch immer „Baby Beluga“.
Das Telefon piept erneut, ich zucke zusammen. Wieder eine unbekannte Nummer, doch diesmal mit einer Nachricht.
Gefällt dir das?
Ich öffne den Anhang. Es handelt sich um ein leicht verschwommenes Bild, doch was es darstellen soll, weiß ich nicht genau. Einen … einen Baum vielleicht, obwohl er nicht besonders gesund aussieht. Vielmehr kränklich, feucht und weich. Da ist ein kleines Astloch, schleimig und krank. Was immer das sein soll, ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand so etwas an Adam schicken sollte. Er kennt sich mit Bäumen überhaupt nicht aus.
Eine Vene in meinem Hals beginnt zu pulsieren. Die Vampirvene. Vielleicht ist es auch eine Arterie. Ich weiß es nicht.
Baby Beluga, Baby Beluga …
Das wurde Adam bestimmt irrtümlich geschickt. So muss es sein, denn sonst wäre diese Person ja in seiner Kontaktliste. Sein Handy ist immer auf dem neuesten Stand. Er hat es letzte Woche erst verloren und ist auf der Suche danach ein bisschen durchgedreht. All diese Kontakte, hat er gesagt. All diese gespeicherten SMS und Apps und Kalendereinträge und alles das, was ich bei meinem Handy nicht brauche. Ich benutze es nur, um ihn oder Jenny anzurufen oder SMS zu schreiben oder für den Fall, dass jemand aus der Vorschule mich erreichen muss.
Ich denke, es ist ein Baum. Ich bin mir fast sicher.
Aber Adam kennt sich mit Bäumen überhaupt nicht aus. Die Nachricht war wahrscheinlich für … für … einen Förster gedacht oder so was.
Baby Beluga … Baby Beluga …
Ich leite das Foto an mich selbst weiter.
Dann lösche ich es von seinem Handy.
Diese pulsierende Ader verursacht mir Übelkeit. Ich stecke das Handy zurück in seine Jackentasche, lege die Jacke wieder in die Tüte, dann gehe ich in die Küche und trinke einen großen Schluck Wein. Und dann noch einen.
Oben wird die Kinderzimmertür geschlossen. Adam bringt die Mädchen immer schneller zum Schlafen als ich.
Ich höre, wie er die Treppe hinunterstapft. „Babe“, sagt er. „Hast du mein Handy gesehen?“
„Nein“, lüge ich. „Aber ich habe gerade dein Jackett in die Reinigungstüte gelegt. Vielleicht ist es in der Jackentasche?“
„Richtig.“ Er geht zum Wandschrank, nimmt das Telefon heraus, mustert es und lächelt mich dann an. „Was gibt’s zum Essen? Es riecht einfach fantastisch.“
„Lachs.“
„Mein Lieblingsessen.“
„Ich weiß.“ Und dann lächle ich auch, obwohl ich nicht sicher bin, wie mein Gesicht tatsächlich aussieht, und schenke ihm Wein ein.
Mir fällt wieder ein, was ich ihm erzählen wollte. Danke sön, Mama, ich gut.
Ich erzähle es ihm nicht. Behalte es für mich.
Als wir ein paar Stunden später ins Bett gehen, schaut Adam auf sein Telefon, küsst mich auf die Schläfe und ist innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Normalerweise schlafen wir freitagabends miteinander, weil Adam am Samstag nicht so früh aufstehen muss. Er sagt, ich könnte auch ausschlafen, die Mädchen seien groß genug, um für eine Stunde oder so in ihrem Zimmer zu spielen, und er hat sogar angeboten, mit ihnen zusammen aufzustehen. Doch er hört sie nie, also wache ich sowieso auf, wecke ihn, und dann kann ich nicht mehr einschlafen, wenn ich sie herumlaufen und reden höre.
Aber an diesem Freitagabend – nichts. Ein Kuss auf die Schläfe. Kein erwartungsvolles Lächeln, kein Schmusen, kein „du siehst wunderschön aus“ oder „du riechst fantastisch“, seine traditionellen Eröffnungsworte, wenn es um Sex geht.
Vielleicht hat er beim letzten Mal doch gemerkt, dass ich eingeschlafen bin. Vielleicht will er einfach nur rücksichtsvoll sein.
Oder vielleicht ist es etwas anderes.
Die Fahrt von Manhattan nach Cambry-on-Hudson könnte ich im Schlaf absolvieren. COH ist meine Heimatstadt, der Ort, den meine Schwester nur zum Studieren verlassen hat, und der Ort, den ich mindestens zweimal im Monat besuche.
Aber hierherzuziehen ist etwas anderes. In vielerlei Hinsicht ist es perfekt, weil ich sowieso nie für immer in Manhattan bleiben wollte. COH ist eine hübsche Stadt am Ufer des Hudson und durch seine Nähe zu New York City und dank wirklich kluger Stadtbauplanung kein bisschen deprimierend. Vor Jahren wurde die Uferstraße restauriert, in den sanierten Backsteingebäuden befinden sich Boutiquen und Einrichtungsgeschäfte, eine Bäckerei mit Café, eine Kunstgalerie und ein paar Restaurants und Kneipen.
Und Bliss.
Dort, in der Mitte der Straße, ist mein neuer Laden, der Name steht in Edelstahl-Buchstaben über der Tür. Rachel hat mir das Logo entworfen, ein schlichter Kirschblütenzweig, und vor drei Tagen haben wir das Schaufenster in Angriff genommen – rosa Kirschblüten aus Seide, die an weißen Bändern hängen. Der Innenraum ist blassrosa, der Boden dunkle Kirsche, frisch geschliffen und poliert.
Im Fenster ist ein schulterfreies Peau-de-Soie-Kleid mit einem feinen Overlay und winzigen in die Chantillyspitze gewebten Rosenknospen ausgestellt.
Cambry-on-Hudson beheimatet auch drei Country Clubs, einen Reitclub und einen Yachtclub – wir befinden uns ja direkt an der Grenze zu Westchester County. Jede Menge Veranstaltungsorte für Hochzeiten also, zudem sehr viele Leute mit dicken Brieftaschen, weshalb Bliss bestimmt gut laufen wird. Und vielleicht kommt irgendwann auch das alte Kribbeln zurück, wenn ich nicht länger von den ganzen Erinnerungen an Owen umgeben bin.
Ich werde die Stadt vermissen, muss jedoch zugeben, dass ich auch etwas erleichtert bin wegzukommen. Es ist nicht so leicht, dort zu leben – der ständige Lärm, die vielen Menschen, die Abgase, der Asphalt und der seltsam süßliche Dampf, der aus den U-Bahn-Gittern steigt. Man muss schon Opfer bringen: ständig auf hohen Absätzen laufen, sich durch Menschenmengen drängen, Haltestangen in der U-Bahn und Treppengeländer anfassen, die Tausende Hände zuvor berührt haben. Und meine Freunde und Kollegen fanden es zwar in Ordnung, dass ich zu Besuch nach COH fuhr, führten sich aber jedes Mal auf, als ob ich mich auf den Weg zu meiner eigenen Exekution machen würde. So sind die New Yorker nun mal.
Also ja. Es ist der richtige Schritt, ich habe ihn ein Jahr lang vorbereitet, und jetzt kann ich es kaum erwarten, hier anzufangen. Mein Leben wird ruhiger werden. Einfacher. Ich ziehe nicht nur wegen Owen und der Scheidung um. Ehrlich nicht.
Von der Uferstraße fahre ich den Hügel hinauf, auf dem sich ein Block sanierter alter Reihenhäuser an den nächsten reiht. Ein Teil der Gegend ist etwas heruntergekommen, und jenseits vom Broadway wird es sogar ein bisschen schäbig, weil wir hier eben doch nicht so wohlhabend sind wie in Westchester County. Riverview hingegen, wo meine Schwester lebt, ist richtig nobel mit großen ausgedehnten Häusern und Blick auf den Hudson.
Doch die Magnolia Avenue, wo ich bald wohne, ist hübsch, ohne versnobt zu sein. Hier leben echte Menschen, Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen.
Ich halte vor der Nummer 11, und mein Telefon klingelt.
Ich ahne schon, dass mein hart erarbeiteter Optimismus gleich eine schallende Ohrfeige verpasst bekommen wird. Es ist der Todesengel, auch bekannt als meine Mutter, Lenore Tate, seit vielen Jahren leidende Witwe und professionelle Pessimistin.
Ich sollte besser rangehen, sonst ruft sie sofort die Polizei.
„Hi Mom.“ Ich bemühe mich, vergnügt zu klingen.
„Ich wollte nur mal hören. Schatz, es tut mir so leid für dich. Schrecklich, dass du umziehen musst“, sagt sie in ihrem üblichen Ton – traurig und ein klein wenig blasiert.
„Ich muss nicht, Mom, sondern ich will es.“
„Du klingst deprimiert. Nun, wer könnte es dir verdenken?“
Mein Auge zuckt. „Ich bin nicht deprimiert. Ich bin wirklich glücklich. Ich werde näher bei dir wohnen und bei Rachel und …“
„Ja, aber die Umstände sind ja nun wirklich nicht die besten, oder? Du solltest mit Owen zusammen sein, und nicht Ana-Sofia. Obwohl sie wirklich sehr hübsch ist. Das Baby auch. Hab ich dir erzählt, dass ich letzte Woche bei ihnen eingeladen war?“
„Ja. Das erwähnst du bereits zum neunten Mal.“
„Oh, du zählst mit. Armes Ding. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer es für dich war, dieses Baby zur Welt zu bringen, das eigentlich deines hätte sein sollen …“
„Okay, ich lege jetzt auf.“ Ganz falsch ist es nicht, was sie sagt, und das weiß sie auch. So funktioniert ihre teuflische Macht nun mal.
„Ich komme vorbei und helfe dir beim Auspacken. Hast du Pfefferspray? Deine Nachbarschaft ist ziemlich heruntergekommen.“
Als ich aufs College ging, ist Mom einen Staat weiter gezogen, in eine schnieke kleine Stadt in Connecticut, und seitdem ist COH für sie ungefähr so schlimm wie die Slums von Kalkutta. Was ziemlich nervt, aber wenigstens wohnt sie somit nicht allzu nah bei uns.
„Mom, die Nachbarschaft ist großartig.“ Ich spreche in dem Tonfall, mit dem ich sonst meine Bräute beruhige.
„Nun, es ist nicht mehr so wie damals, als dein Vater noch gelebt hat. Wenn er nicht gestorben wäre, könnte man dort vielleicht immer noch ganz gut leben.“
Das ist eine dieser typischen unlogischen Aussagen meines lieben Mütterchens, über die man nicht streiten kann. Westchester County kann man wirklich nicht gerade als kriminellen Hot-spot bezeichnen. Und selbst wenn, hätte Dad als Zahnarzt wohl wenig dagegen ausrichten können.
„Du hättest nach Connecticut ziehen sollen, Jenny. Hedgefield wäre einfach perfekt für deinen kleinen Kleiderladen. Ich verstehe noch immer nicht, warum du nicht hierherkommen willst.“
Weil du dort wohnst. „Ich muss los, Mom. Bitte komm nicht vorbei. Ich lade dich diese Woche mal zum Essen bei mir ein, okay?“
„Ich kann keine Milchprodukte mehr essen, sonst bekomme ich schrecklichen Durchfall. Ana-Sofia hat übrigens köstliche Empanadas gemacht. Vielleicht könntest du sie um das Rezept bitten, da du ja nicht gerade die beste Köchin bist.“
Tief atmen, ganz tief atmen. „Sonst noch was?“
„Na ja, keine Ente bitte. Ente lehne ich moralisch ab. Weißt du, was sie diesen Enten auf einer Entenfarm antun? Diese Grausamkeit. Es ist barbarisch. Aber ich esse gern Kalb. Könntest du Kalb machen? Oder ist das zu schwierig für dich?“
„Ich werde etwas Köstliches kochen, Mom.“ Werde ich nicht. Ich werde etwas Köstliches kaufen.
„Dann bin ich in ein paar Stunden da.“
„Nein, nein. Bitte komm nicht. Ich werde gar nicht da sein. Ich muss mich um eine Braut kümmern.“ Das ist gelogen, aber anders lässt sich ein mütterlicher Besuch kaum abwehren.
„Schön. Vielleicht rufe ich Ana-Sofia an. Sie braucht einen Tipp, wie sie das Baby dazu bringen kann, Bäuerchen zu machen, also …“
„Okay, tschüs.“ Bestimmt drücke ich die Auflegtaste. Aus dem Zucken ist ein heftiges Pochen geworden.
Ich würde ja gern sagen, dass Mom es nur gut meint, aber das entspräche nicht der Wahrheit. Wenn alles in Ordnung ist, schaut sie nicht auf das Gute, sondern sucht nach den kleinen Fehlern, die dieses vergiften könnten. Wenn es dann schlecht läuft, beginnen ihre Augen zu glänzen, dann hält sie sich aufrechter und ihr Leben ist mit Sinn erfüllt. Meine Ehe habe ich ihrer Ansicht nach wie erwartet in den Sand gesetzt – sie hat immer schon angedeutet, dass Owen zu gut für mich wäre. Mein Umzug ist der Beweis, doch habe ich ihr damit auch den Fehdehandschuh hingeworfen. Denn falls es mir nach meiner Scheidung besser geht – privat und beruflich –, könnte man daraus schließen, dass sie sich endlich auch zusammenreißen sollte.
Nun, über verschüttete Milch sollte man nicht weinen. Über verschütteten Wein hingegen schon. Jedenfalls muss ich noch eine Menge auspacken und will endlich loslegen, doch leider ist vom Umzugswagen weit und breit nichts zu sehen. Luis hat gesagt, er würde den Weg kennen, trotzdem sind sie zu spät, und das obwohl sie nur eine Sekunde nach mir losgefahren sind.
Dies wird hoffentlich mein letzter Umzug sein – was ich übrigens auch dachte, als ich zu Owen zog. Er war der vierte Mann, mit dem ich zusammenlebte, und ihm hatte ich mehr Durchhaltevermögen zugetraut als den anderen. Aber im Ernst, dieser Umzug könnte mein letzter sein, weil die neue Wohnung wirklich sehr schön ist. Die Immobilienmaklerin meinte, dass das Haus nächstes Jahr vielleicht sogar zum Verkauf stünde; der jetzige Eigentümer hat es spontan erworben, und mein Mietvertrag gilt nur für ein Jahr – was ihr zufolge auf Verkaufsabsichten hindeuten könnte.
Also wäre es möglich, dass ich für immer hier leben werde, und warum auch nicht? Das Haus ist gleichzeitig elegant und gemütlich, ein dunkelgraues vierstöckiges Backsteinhaus mit schwarzen Fenster- und Türrahmen und einer kirschroten Haustür. Eiserne Halterungen für Blumenkästen hängen vor sämtlichen Fenstern, und in ein paar Wochen werde ich Efeu und rosa und lila Blumen pflanzen. Die Bäume in der Straße sind saftig grün, die Magnolie auf der anderen Seite blüht in ihrer ganzen cremeweißen und rosa Pracht.
Meine Wohnung erstreckt sich über die beiden mittleren Stockwerke – Wohnzimmer, Esszimmer, eine kleine Küchenzeile und ein Gästebad im ersten Stock, drei kleine Schlafzimmer und ein großes Bad, wenn man die breite Holztreppe hinaufgeht. Die viktorianische Badewanne mit Klauenfüßen ist einfach umwerfend. Es gibt hinten einen winzigen Garten mit einer Terrasse aus Schieferplatten, den ich benutzen darf, und einen kleinen Vorgarten, der zum Erdgeschoss gehört, wo der Hausmeister wohnt – Pied-à-terre hat die Maklerin das genannt, was sehr schick und europäisch klingt. Den vierten Stock nutzt der Hausbesitzer als Lagerraum. Das Licht ist dort dank der drei Dachfenster bestimmt fantastisch. Wenn das Haus mir gehören würde, könnte ich mir das gesamte obere Stockwerk als Heimatelier einrichten. Oder als Kinderzimmer für meine hübschen und fröhlichen Kinder.
Ein Mann kommt mit einem schönen Golden Retriever die Straße hinunter auf mich zu.
Er sieht in meine Richtung, und unsere Blicke treffen sich. Er wohnt gleich nebenan in dem herrlichen Sandsteinhaus, und er ist unverheiratet, stellen Sie sich das mal vor, ein Küchenchef, der gerade einen Vertrag unterschrieben hat, damit eine französische Firma ihr Luxuskochgeschirr künftig unter seinem Namen verkaufen darf. Seine Schwester ist verlobt, und wer entwirft ihr Brautkleid? Jenny Tate ist diejenige welche! Was für eine kleine Welt! Die Hochzeit findet in der Weihnachtszeit in der St. Patrick’s Cathedral statt, ich trage ein weinrotes Samtkleid und er einen Smoking. Wir tanzen zusammen, er steckt mir einen Verlobungsring an und fällt auf die Knie, und seine Schwester – in ihrem fantastischen seidenen A-Linien-Kleid mit grüner Samtschärpe – ist ganz aus dem Häuschen. Tatsächlich hat sie vorher Bescheid gewusst und vergießt Freudentränen. Wir heiraten und kaufen ein charmantes Bauernhaus mit Blick auf den Hudson, damit unsere Zwillingssöhne und unsere kleine Tochter herumtollen können, während wir biologisch angebautes Gemüse aus unserem Garten ernten, unser treuer Golden Retriever bekommt Junge, und unsere Kinder werden Jahrgangsbeste und gehen nach Yale.
Der Mann versäumt es, Blickkontakt mit mir aufzunehmen. Stattdessen brüllt er etwas über „deine bescheuerte Schwester“ in sein Telefon, weshalb ich ihn voller Bedauern von meiner Liste potenzieller zweiter Ehemänner streiche.
Owen hat nie gebrüllt. Einer seiner vielen Vorteile. Nie, niemals habe ich gehört, dass er seine schöne Stimme erhoben hat.
Ich warte, bis der Typ vorbeigegangen ist – nur falls es sich bei ihm um einen Serienkiller handelt, wie meine Mutter zweifellos vermuten würde –, dann steige ich aus dem Auto, werfe meine fröhlich getupfte Handtasche über die Schulter und betrachte mich selbst im Fenster. Bäh. Andreas und ich haben gestern Abend die letzten beiden Flaschen von Owens Wein gekillt, während wir, um unseren Augen was Gutes zu tun, Thor 1 und 2 angeschaut haben. Teil der Scheidungsvereinbarung war, dass ich die Hälfte von Owens kleiner, aber feiner Weinsammlung bekam, wogegen ich nichts einzuwenden hatte.
Ein Bild aus unserer Ehe trifft mich wie ein Blitz – Owen und ich vor ein paar Jahren bei einem Picknick in Nova Scotia, Händchen haltend. Er pflückte ein Gänseblümchen und kitzelte mich damit am Ohr, die Sonne spiegelte sich so stark auf seinem tiefschwarzen Haarschopf, dass es beinahe in den Augen wehtat. Sein Haar war – ist – anbetungswürdig, es scheint der Erdanziehungskraft zu trotzen, so wie es immer in die Höhe steht, als wäre er gerade erst aufgewacht. Das macht ihn auf beinahe kindliche Weise anziehend. Kein Wunder, dass seine Patienten immer ganz vernarrt in ihn sind.
Am schlimmsten ist die Ratlosigkeit. Das wird in all den Artikeln über Scheidungen nie erwähnt. Es geht immer um Wut und Einsamkeit und darum, dass man sich auseinandergelebt hat und neu anfangen muss und dass man sich etwas Gutes tun sollte, aber da steht nichts von diesem schwarzen Loch, in das einen die Warum-Frage stürzen lässt. Warum? Was ist anders geworden? Wann? Warum hast du mich geheiratet, und auf einmal genüge ich dir nicht mehr?
Aber ich möchte diesen neuen Lebensabschnitt nicht mit Ratlosigkeit beginnen. Leck mich, Owen, denke ich, was mich merkwürdig aufheitert.
Ich bin mit dem Hausmeister verabredet, damit er mir die Schlüssel übergeben kann. Nachdem ich meinen Pferdeschwanz festgezogen habe, setze ich ein Lächeln auf und gehe durch das Gartentor zu seiner Tür. Mit ein paar Blumen und einem kleinen Gartentisch könnte der Vorgarten bezaubernd sein, doch momentan steht da nur ein schäbiger Liegestuhl, der schon bessere Tage gesehen hat … Er ist aus Aluminium mit einer Sitzfläche aus kratzigem Nylon. Sofort taucht vor meinem inneren Auge das Bild eines fetten, unrasierten Mannes mit schlecht sitzendem Bowling-Shirt auf, der mit einer Hand seinen Bauch kratzt und in der anderen eine Bierdose hält, einen räudigen Hund an seiner Seite.
Aber nein. Keine negativen Gedanken! In zehn Minuten werde ich in meiner schönen neuen Wohnung meine Sachen auspacken. Ich kann den Wasserkessel auf den Herd stellen, denn, obwohl ich keinen Tee mag, ist die Vorstellung davon an solch einem kalten, feuchten Tag sehr gemütlich. Rotwein wäre sogar noch gemütlicher.
Vielleicht werde ich den Hausmeister einladen, ein Glas mit mir zu trinken. Oder auch nicht, wenn er wie der Typ aussieht, den ich mir gerade vorgestellt habe. Hat die Immobilienmaklerin erwähnt, ob es ein Mann oder eine Frau ist? Ich kann mich nicht erinnern. Besser wäre, wenn ein Nachbar vorbeikäme – nicht der wütende Golden-Retriever-Typ, sondern ein anderer Nachbar. Vielleicht ein älterer Mann mit einer guten Flasche Wein in der Hand. Ich habe den Umzugswagen gesehen, wird er sagen, und wollte Sie in unserer Straße willkommen heißen. Ich unterrichte italienische Literatur an der Barnard. Haben Sie heute Abend schon etwas vor? Zufällig habe ich gerade einen Braten im Ofen. Andererseits: Welcher Single-Mann macht einen Braten? Streichen Sie das. Mir fällt noch etwas Besseres ein.
Fröhlich klopfe ich an die Tür – im Flohwalzerrhythmus.
Niemand öffnet. Ich klopfe erneut, weniger fröhlich und etwas lauter. Noch immer nichts. Ich presse mein Ohr an die Tür, höre aber nichts als Stille. Noch einmal klopfen.
Nichts.
Ich gehe zurück zum Auto und rufe die Maklerin an, erreiche aber nur die Mailbox. „Hi! Hier ist Jenny Tate. Ähm, der Hausmeister scheint nicht da zu sein, und der Umzugswagen kommt jeden Moment … also, vielleicht könnten Sie ihn anrufen? Vielen Dank. Bye!“
Wie aufs Stichwort klingelt mein Telefon, aber es ist nicht die Maklerin.
Es ist Owen.
„Hi“, sage ich.
„Hey Jenny.“ Seine Stimme ist dunkel mit diesem Timbre, das die Eltern seiner Patienten oft genug auf die Idee bringt, ihr nächstes Kind Owen zu nennen, egal ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Es kommt auch bei Frauen gut an. Dieses Timbre und das ewig leichte Lächeln geben einem immer das Gefühl, er wolle einem gleich ein Geheimnis anvertrauen, eines, das er niemandem sonst erzählen kann. Frauen werden in Dr. Owen Takahashis Nähe ein bisschen schwachsinnig. Er könnte sagen: „Hey, ich habe vor, ein paar Kätzchen zu erwürgen, bist du dabei?“, und man würde antworten: „Darauf kannst du wetten! Wann wollen wir loslegen?“
„Bist du gut angekommen?“, fragt er jetzt.
„Ja. Alles prima.“ Ich betrachte das Haus. „Ich kann es kaum erwarten, dass du und Ana-Sofia es sehen. Und das Baby! Wie geht es ihr? Ich finde ihren Namen toll! Natalia, einfach umwerfend!“
Wir sind seit fünfzehneinhalb Monaten geschieden. Bald, so hoffe ich, wird dieses Bedürfnis, bei ihm immer übertrieben munter zu klingen, nachlassen.
„Sie ist so wunderschön. Jenny, ich kann dir gar nicht genug danken.“
„Nein!“, singsange ich, und verdrehe über mich selbst die Augen. Wenn Andreas hier wäre, würde er mir einen ordentlichen Klaps verpassen. „Es war eine Ehre.“ Keinen Klaps, sondern einen Schlag ins Gesicht.
„Also, hör zu, Jenny. Wir wollen sie mit zweitem Namen Genevieve nennen, nach dir.“
Oh Gott. „Ähm, also, das ist nicht mein Name“, sage ich. Aus irgendeinem Grund wollte Mom mich einfach nur Jenny nennen. Nicht mal Jennifer.
„Ja, ich weiß“, sagt er mit seiner „Ich-habe-ein-Geheimnis“-Stimme, die bei mir sofort Erinnerungen an Sonntagvormittage im Bett heraufbeschwört. „Aber trotzdem.“
Weißt du was, Owen? Tu’s nicht. Okay? Ich möchte nicht, dass dein Baby nach mir benannt wird. Also bitte!
„Das ist sehr … nett. Danke.“
Einen Moment herrscht Schweigen. Ein Regentropfen platscht auf die Windschutzscheibe, aber nur einer, einsam und nutzlos.
„Du wirst immer ein besonderer Mensch für mich sein“, sagt Owen sanft.
Ich beiße die Zähne zusammen. Was er damit meint, ist: Tutmir leid, dass ich aufgehört habe, dich zu lieben und mein Glück bei Ana-Sofia gefunden und entdeckt habe, dass ich unbedingt Vater sein möchte – ich musste einfach die richtige Frau dafür treffen. Ich lebe gerade meinen Traum, und zwar dank deiner geschickten Hände und der unglaublichen Gebärmutter meiner perfekten Frau, die das Baby innerhalb von Minuten hinausgepresst hat. Nichts für ungut, ja?
„Nun“, sage ich wieder mit dieser idiotisch munteren Stimme. „Du bist für mich auch ein besonderer Mensch! Offensichtlich! Immerhin habe ich dich mal geheiratet, nicht wahr? Ich meine, du und Ana, ihr seid beide was Besonderes für mich. Und Natalia auch! Richtig? Ich meine, wie oft holt man schon ein Baby auf die Welt? Das war lustig.“
Er lacht, als ob ich die entzückendste Person der Welt wäre (was er sogar mal behauptet hat, wenn ich es mir recht überlege). „Ich vermisse dich jetzt schon. Wir sehen uns nächste Woche zum Abendessen, oder?“
„Aber klar.“ Denn nächsten Freitag bin ich bei ihnen zu einer Dinnerparty eingeladen. Wie zivilisiert! Wie großstädtisch! Wir sind ja so was von New York! In Idaho könnte man dieses Theater nicht abziehen, das kann ich Ihnen sagen. Wahrscheinlich sind die Leute dort einfach ehrlicher. „Grüß Ana-Sofia und das Baby von mir.“
Bevor ich noch etwas Dummes oder Feiges oder Irres oder alles zusammen sagen kann, lege ich auf, umklammere das Lenkrad und zerre daran. „Musst du so eine rückgratlose Idiotin sein?“, schreie ich. „Musst du, Jenny? Hm? Wie wäre es mal mit ein bisschen Würde, hm? Ist das denn zu viel verlangt?“
Mein Handy piept.
Eine SMS von Mom:
Ich habe dir eine Trillerpfeife gekauft. In deiner Straße gab es letzte Woche einen Bandenmord.
„Nein, gab es nicht, Mom!“, kreische ich und umklammere das Lenkrad noch energischer. „Es gab keinen Bandenmord!“
„Hey. Alles in Ordnung, Charlie Sheen?“, ertönt eine Stimme. Ich werfe mich gegen die Tür und greife instinktiv nach dem Griff, um meinem potenziellen Vergewaltiger oder Bandenmörder zu entkommen. Ein Mann beugt sich hinunter und blickt mich durch das Beifahrerfenster an.
„Äh … kann ich dir helfen?“, krächze ich.
„Du hast geschrien. Also bist du es wohl, die Hilfe braucht.“ Er wirkt gequält, als wäre ich bereits die neunzehnte verrückte Person, die er heute getroffen hat.
„Ich … das war … ich habe mit mir selbst gesprochen. Ich arbeite überwiegend allein. Berufsrisiko. Wie auch immer. Tut mir leid.“ Ich versuche, mich daran zu erinnern, dass ich ein toller und kreativer Mensch bin, der eine beeindruckende Karriere in einer äußerst wettbewerbsstarken Branche vorzuweisen hat. Nichtsdestotrotz komme ich mir wie eine Idiotin vor. „Hi.“
„Hi.“