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Eigentlich ist Fay ganz zufrieden mit ihrem Leben. Sie hat eine kleine Wohnung, einen Job, der genug zum Leben abwirft, einen Kater und viele Bücher - mehr braucht es doch nicht, oder? Eines Tages kommt sie mit Hans ins Gespräch, einem etwas skurrilen Kaffeehausbesitzer, der in seiner Freizeit als Schamane wirkt. Dieser lädt Fay auf eine spannende Reise ein, eine Reise zu sich selbst. Nach einigem Zögern tritt Fay diese an. Und je weiter sie diese Reise führt, desto lauter erklingt eine Stimme in ihrem Innern: 'Hattest du nicht mal Träume und ganz andere Vorstellungen von deinem Leben?' Endlich begibt sich die junge Frau auf die Suche nach ihren verlorenen Träumen. Und sie entdeckt, dass es neben der normalen noch eine ganz andere Welt gibt: die Anderswelt.
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Seitenzahl: 487
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Sabrina Dengel
Fay und die andere Welt
Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-8434-6120-7
© 2013 Schirner Verlag, Darmstadt
1. E-Book-Auflage 2014
Umschlag: Murat Karaçay, Schirner,
unter Verwendung von # 37299109 (claraveritas)
und # 51371219 (fotoknips) www.fotolia.de
Lektorat: Dirk Grosser
Redaktion: Claudia Simon, Schirner E-Book-Erstellung: HSB T&M, Altenmünster
www.schirner.com
Inhalt
Widmung
Vorwort
Die Begegnung
Wer ist Fay?
MaPa – oder Das große Geheimnis
In Fays Wohnung
Die kleine, graue Raupe
Ist der Schüler bereit, zeigt sich der Lehrer
Im Sumpf der vergessenen Träume
Die Welten verschmelzen
Auf der Lichtung
Die Anderswelt wirkt
Bei den vier Freunden
Routinen brechen
Edith, das Eichhörnchen
Im Büro
Abschied
Vollmond und Karfreitag
In der Höhle
Großmutter Gaia
Sarah erwacht in ihrer Kraft
Hausaufgaben
Schneller als gedacht
Die Reise
Der edle Ritter
Heimkehr
Letzte Vorbereitungen
Der Garten und Fays Nachbarn
Wenn Schmetterlinge fliegen
Keine Reise
Die Hütte
Widerstände
In den Bergen
Die Vision
Nachwort
Danksagung
Widmung
Fays Geschichte widme ich meinen Lehrern in der Menschenwelt: Antara, Jeanne, Georg, Heidi, Buckshoot und Ben – danke fürs Erinnern und für euer Sein.
Funnys und Lanas Geschichte widme ich meinen Verbündeten und allen anderen Bewohnern der Anderswelt. Solange es euch und uns gibt, wird jede Welt lebendig sein.
Vorwort
Eine fantastische, schamanische Geschichte und mehr …
Liebe Leserin, lieber Leser, herzlich willkommen in der Anderswelt!
Was tun unsere Verbündeten wie zum Beispiel unser Krafttier in der Anderswelt, wenn wir gerade nicht hinsehen? Diese und weitere daraus resultierende Fragen kamen auf, als ich einen Stammtisch für schamanisch arbeitende Menschen in Augsburg besuchte.
Gibt es dort, in dieser nichtalltäglichen Wirklichkeit, vielleicht Wellnessoasen für gestresste Krafttiere? Eine Bar, in der sich die Lehrer aus der Anderswelt auf einen Drink treffen? Eine Arbeitsvermittlung für Aufträge von Menschen, die bereit sind, die Anderswelt zu erforschen? Wie sähe diese Vermittlungsstelle wohl aus? Ausgebuchte und überarbeitete Wölfe, Bären und Büffel, während Ameisen, Mäuse und Stinktiere eher selten einen Auftrag erhielten? Gibt es dort in der Anderswelt Therapieangebote für vernachlässigte Verbündete?
Aus diesen Gedanken heraus – die zugegebenermaßen lustig klingen, aber dennoch einen ernst gemeinten Hintergrund haben – ist die folgende Geschichte entstanden.
Begleiten Sie die drei Seelenessenzen Lana, Funny und Sarah auf ihrer Reise durch die Anderswelt zurück zu ihrem inkarnierten Menschen Fay. Treffen Sie Kurt, die Raupe – ein ganz besonderes Krafttier. Lernen Sie dort auch Edith, das Eichhörnchen, den Kater Sir Samtpfote und Edward, den edlen Ritter, kennen. Erfahren Sie auf unterhaltsame Art und Weise, wie Seelenrückholung funktionieren kann.
Schritt für Schritt erkennt Fay in dieser Erzählung die Zusammenhänge der Welten und findet ihren ganz persönlichen Weg. Ein Weg, der sie zu ihrem wahren Selbst und zu ihrer Lebensaufgabe führt.
Die Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig und nur in wenigen Fällen, die ich jedoch nicht verraten werde, auch beabsichtigt. Zwischen den Zeilen der Erzählung finden Sie wertvolle Hinweise und Übungen für Ihr eigenes Leben.
Sie werden sehen: Alles ist miteinander verwoben. Gerade in diesem Moment wird ein neues Netz gesponnen. Ein Netz, das Sie, lieber Leser, mit der Anderswelt verbindet. Beantworten Sie für sich selbst die Fragen, die sich Fay auf ihrer Reise stellt – und das Lesen dieser Geschichte wird auch für Ihre Seele ein Abenteuer!
Fay nimmt Sie mit auf eine Reise in die Anderswelt, die Ihr Leben verändern kann. Heilung geschieht in jedem Moment. Können Sie es fühlen?
Herzlichst Sabrina Dengel
PS: An alle schamanisch tätigen Kollegen und Kolleginnen: Zweifellos ist die Seelenrückholung ein sehr ernstes Thema der schamanischen Arbeit. Diese Ernsthaftigkeit möchte ich mit diesem Buch keinesfalls infrage stellen. Die Geschichte von Fay soll einzig dem unerfahrenen, am Schamanismus interessierten Menschen die schamanische Arbeit auf humorvolle Weise näherbringen und ein Verständnis dafür erwecken, dass alle Welten miteinander verwoben sind. So bitte ich euch, ihr Schamanen und Schamaninnen: Lest dieses Buch mit den Augen eines Kindes, lasst die Freude und den Schalk sich in euch entfalten. Vielleicht hat bei diesem Buch ja Meister Kojote, der Trickser, seine Finger im Spiel. Und vielleicht hat mir den einen oder anderen Satz auch ein heiliger Narr eingeflüstert – wer weiß?!
Die Begegnung
Es war ein ganz besonderer Moment, als sich Lana und Funny in der Anderswelt begegneten. Funny stolperte beinahe über Lana, die sich gerade auf einer wunderschönen Blumenwiese in der lauen Nachmittagssonne der Anderswelt ausruhte. Sie erkannten sich augenblicklich als das, was sie waren: zwei Seelenessenzen, die zu ein und derselben auf der Erde inkarnierten Menschenseele gehörten.
Sprachlos schauten sie sich an, bis Funny als Erste ihre Stimme wiederfand: »Unglaublich, ich hätte nie gedacht, dass mir so was mal passiert! Ich habe ja schon davon gehört, dass sich hier in der Anderswelt zwei verwandte Seelenessenzen begegnen können. Aber dass mir das passiert … Das ist einfach genial! Wer bist du denn?« Bevor Lana antworten konnte, sprudelte es weiter aus Funny heraus: »Ich bin Funny, die Lebensfreude und der Spaß im Leben. Sag schon, wer bist du?«
Nun fasste sich auch Lana wieder. »Ähm, ja, ich bin Lana, die Ruhe*. Hallo, Funny.«
»Lana. Die Ruhe …« Funny grinste verschmitzt. »Und was tust du so, Lana, die Ruhe?«
»Nun, ich bin die Essenz der Erholung, des Rückzuges nach innen. Mithilfe meiner Kraft kann sich ein Mensch auf den Weg zu sich selbst machen. In sich selbst zu ruhen ist ein Zustand der Zufriedenheit und des Wohlbefindens. Dieser Zustand wirkt sich positiv auf das ganze Leben dieses Menschen aus. Das ist es, was ich tue, wenn ich bei meinem Menschen bin: Ich helfe ihm, in diese Ruhe zu kommen.«
»Moment mal«, legte da die stets impulsive Funny wieder los, »mit meiner Essenz der Lebensfreude kann sich der Mensch auf den Weg zu sich selbst machen! Durch mich hat er doch erst die Energie, die Kraft und die Freude, sich auf den Weg zu machen. Dann kann er Erfahrungen sammeln, daran wachsen und sich an seinem Selbst erfreuen. Ich zeige ihm die Schönheit eines jeden Augenblicks in seiner irdischen Inkarnation!«
»Ja, da gebe ich dir recht«, antwortete Lana. »Dennoch ist es für einen Menschen wichtig, sich auch Zeiten der Ruhe zu gönnen. Daraus kann er die Energie und Kraft schöpfen, um mit deiner Lebensfreude seinen Weg zu gehen.«
»Du meinst also, dass wir beide uns ergänzen …«, meinte Funny nachdenklich.
»Ja, genau so ist es«, sagte Lana und bekräftigte es mit einem Kopfnicken.
»Sag mal, Lana, wie alt bist du eigentlich? Ich habe das Gefühl, wir beide sind beinahe gleich alt.«
»Ich bin elf. Als mein Mensch in diesem Alter war, musste er erleben, wie sich seine Eltern getrennt haben. Es war keine einfache Trennung. Die Zeit danach, als mein Mensch bei seiner Mutter lebte, war dann auch alles andere als schön. Ich habe gespürt, wie mein Mensch immer mehr den Kontakt zu mir, der Ruhe, verlor. Statt Ruhe zu finden, wurde mein Mensch von diesem Zeitpunkt an von Angst und dem verzweifelten Versuch, alles richtig zu machen, beherrscht. Die Eltern haben sich oft gestritten. Alkohol und Tabletten waren an der Tagesordnung. Gewalt kam immer öfter vor. Diese Umstände haben meinen Menschen immer mehr in Bedrängnis gebracht. Da war kein Platz mehr für Ruhe. Das Kind musste lernen, stets aufmerksam zu sein und seine Eltern genau zu beobachten, um abschätzen zu können, wann eine Situation zu eskalieren drohte. Dann kam die Angst, und es zog sich zurück. Auch durch diesen Rückzug konnte es mich, die Ruhe, nicht mehr finden. Obwohl ich immer da war. Irgendwann hat mein Mensch mich dann vergessen gehabt. Seitdem bin ich hier in der Anderswelt.«
»Ich erinnere mich an dich«, sagte Funny zu Lana. »Du warst oft da, wenn ich mit meinem Menschen einen besonderen Augenblick erlebt habe. Dann konnte ich neben meiner Essenz der Lebensfreude auch tiefe Ruhe und Zufriedenheit spüren. Ich bin übrigens acht. Mein Mensch hat es geliebt, im Sand zu spielen. Wir haben in einem alten Bauernhaus am Waldrand gelebt. Mein Mensch ist auf die höchsten Bäume geklettert, und kein Bach war ihm zu nass. Wir waren Entdecker, Abenteurer und Piraten. Dann sind die Eltern meines Menschen in eine Siedlung mit vielen hohen Häusern gezogen. Wir haben ein graues Zimmer in einem Wohnblock bekommen. Mein Mensch war ein zartes Kind, das von anderen gehänselt wurde. Oft waren die anderen Kinder grob zu ihm. Bald schon hat es sich immer öfter in seinem Zimmer verkrochen. Dort fand es noch ein wenig von meiner Essenz, wenn es in Büchern stöberte. An meine Stelle sind dann die Essenzen der Ernsthaftigkeit, der Perfektion und der Korrektheit in das Leben meines Menschen gekommen. Alles Eigenschaften, die für ein Leben sicher wichtig sind. In dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem sich mein Mensch befand, waren das sehr geschätzte Essenzen. Nur ohne mich, die Lebensfreude, sind sie in sich selbst erstarrt. Tja, irgendwann habe ich mich dann hier in der Anderswelt wiedergefunden.«
Beide schwiegen für einen Moment und schauten über die Blumenwiese hinweg in die Ferne.
»Weißt du, Lana, ich überlege mir gerade, was unser Mensch wohl gerade macht – so ohne uns. Ob er uns vermisst? Vielleicht weiß er gar nicht, dass wir ihm fehlen. Ich würde zu gerne wissen, wie es meinem Menschen geht.«
Funny stand auf und begann, lachend über die Wiese zu tanzen. Dabei sang sie laut vor sich hin: »Mensch, wie geht es dir? Hier bin ich nur für dich – deine Lebensfreude. Ich warte auf dich!«
»Du hast recht, Funny, das ist ein interessanter Gedanke. Diese Idee ist mir bisher noch nie gekommen. Je länger ich hier mit dir rede, desto deutlicher wird das Bild von meinem Menschen, an das ich mich noch erinnere … Ich sehe das Gesicht, die Bewegungen … Ich erinnere mich an die Stimme. Ein Mädchen, ein kleines Mädchen mit dem Namen Fay. Ja, Fay …« Lana machte eine nachdenkliche Pause. »Ich frage mich, was das zu bedeuten hat«, fuhr sie dann fort. »Erst begegnen wir beide uns. Hier, in dieser riesigen, endlosen Anderswelt. Wir erinnern uns an unsere Ankunft an diesem Ort und an das, was uns aus dem Leben unseres Menschen verdrängt hat. Dann erinnere ich mich an Fay. Und jetzt breitet sich eine tiefe Sehnsucht nach unserem Menschen, nach Fay, in mir aus.«
»Fay … Ich kann ihren Namen in mir klingen hören. Ich erinnere mich auch«, antwortete Funny. Sie begann, den Namen Fay zu singen. Ein zauberhafter Klang ertönte, glockenhell, süß und rein. Lana lauschte entzückt Funnys Stimme. Sie ruhte ganz in sich selbst und genoss voller Hingabe den Gesang. Fay, der Name ihres gemeinsamen Menschen. Lana spürte, dass die nächste Zeit spannend werden würde. Funny war in ihrem Tanz und ihrem Gesang pure Lebensfreude. Auch sie spürte, dass sich etwas verändern würde. Es wäre sicherlich interessant zu sehen, wie es Fay heute geht, darin waren sie sich beide einig.
* Lana ist ursprünglich ein hawaiianischer Name, der übersetzt Ruhe bedeutet.
Wer ist Fay?
Geschafft! Fay atmete laut hörbar aus. Endlich war sie mit ihrer Arbeit fertig. Sie stand von ihrem Bürostuhl auf und streckte sich. Ihre Gelenke knackten. Im Nacken, im Rücken, in den Handgelenken. Na prima, dachte sie, noch keine 30, aber spröde im Gebälk wie eine Achtzigjährige.
Fay arbeitete als Kundenbetreuerin in einer Firma für Werbung und Marketing. Beschwerden aufnehmen – telefonisch, per E-Mail und per Post. Offene Rechnungen einfordern, Mahnungen schreiben, Aufträge entgegennehmen und abwickeln. Und was sonst noch zu tun war im Kontakt mit den Kunden. Ihre Abteilung bestand aus 13 Mitarbeitern. »Dienstleistungsgewerbe« wurde das genannt. Ja, dienen lernte sie hier wirklich. Zwar auf eine andere Art als in ihrem erlernten Beruf als Kellnerin, aber dennoch dienen.
Wie so oft schon hatten ihre Kollegen auch diesmal wieder jede Menge Arbeit auf ihrem Schreibtisch abgeladen. Es hatte sich so eingespielt. Am Ende jeder Woche landete sämtliche liegen gebliebene Arbeit aus dem Büro auf ihrem Tisch. Meist begleitet von einem freundlichen Lächeln und den Worten: »Du kannst das viel besser als ich, Fay.« Was zur Folge hatte, dass sie oft nach 20 Uhr noch im Büro saß, während alle anderen bereits seit Stunden ihren Feierabend genossen. Zumindest bekam sie wegen dieser Überstunden ein bisschen Aufmerksamkeit. Manchmal lag auch eine Schachtel Pralinen auf ihrem Schreibtisch, wenn sie nach dem Wochenende wieder ins Büro kam. Zu den üblichen Verabredungen und Treffen ihrer Kollegen nach der Arbeit wurde sie jedoch nie eingeladen. Außer natürlich zu der alljährlichen Weihnachtsfeier, da wurde jeder eingeladen. Aber daran hatte sie sich gewöhnt. Wie an so vieles in ihrem Leben.
Schon in der Schule war sie immer übersehen worden. Naja, mit ihrer altmodischen Hornbrille und den aschblonden Haaren war sie auch nicht gerade die Schönheit in Person gewesen. Im Turnunterricht war sie alles andere als eine Sportskanone gewesen. Beim Völkerball war sie immer als Letzte gewählt worden. Einzig ihr Perfektionismus, der sich im Werkunterricht zeigte, war öfter einmal gelobt worden. Und zuweilen waren ihre Korrektheit sowie ihr Sinn für Gerechtigkeit positiv aufgefallen. Wobei dieser Sinn für Gerechtigkeit auch so eine Sache gewesen war. Mehr als einmal hatte sie von den anderen Kindern Prügel bezogen. Wenn sie ein schwächeres Kind verteidigt hatte, war am Ende sie selbst das nächste Opfer gewesen. Die anderen waren meistens zahlenmäßig überlegen und auch stärker gewesen. Selten war ihr jemand zu Hilfe gekommen.
In dieser Zeit hatte sie begonnen, sich immer mehr zurückzuziehen. Bücher wurden ihre Welt. Andere Länder und fremde Völker hatten sie schon immer interessiert. Bücher von Menschen, die Geschichten von ihren Abenteuern bei anderen Kulturen erzählten. Anfangs waren es vor allem Bücher mit vielen Bildern gewesen. Große, bunte Bilder. Diese Bücher waren ihr am liebsten gewesen. Stundenlang hatte sie sich in diese Bilder hineinträumen können. Später, als sie beschloss, ihre Legasthenie zu besiegen, begann sie zu lesen. Je dicker das Buch, desto besser. Lesen machte ihr Spaß. Beim Schreiben verdrehte sie allerdings weiterhin die Buchstaben. Das hinderte sie auch daran, eine Fremdsprache richtig zu lernen. Reden war kein Problem, aber die Grammatik und die schriftlichen Tests waren ein Graus.
Irgendwann hörte sie damit auf, für andere Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht gab ich damals auch die Verantwortung für mich selbst ab, überlegte Fay. Woher kam dieser Gedanke plötzlich? Ich bin doch eine durchwegs verantwortungsvolle Person, dachte Fay. Das ist ja schon alleine an der Tatsache zu sehen, dass ich bis jetzt im Büro bin.
Ja genau, flüsterte eine Stimme in ihr – schön verantwortungsvoll bist du, Fay – nur immer allen alles recht machen – dann ist alles gut. Braves Mädchen.
Ein bitteres Lächeln umspielt ihren Mund. Stimmt, wenn ich immer allen alles recht machte, werde ich wenigstens in Ruhe gelassen, erwiderte sie trotzig in Gedanken.
Insgesamt arbeiteten über 200 Menschen bei Fays Arbeitgeber, der Werbeagentur Babylon.
Babylon – unsere Werbung bringt sie hoch hinaus.
Fay erinnerte sich an diese Geschichte aus der Bibel. Der Turmbau zu Babel. Schlussendlich ist dieser Turm eingestürzt. Ob dieses ganze System aus künstlich erzeugten Bedürfnissen und Dingen, die kein Mensch braucht, auch irgendwann einstürzen wird? Und damit auch diese Firma, die sich darauf spezialisiert hatte, diese Bedürfnisse zu wecken und all die unnötigen Dinge zu bewerben? Komisch, woher kamen denn plötzlich diese ungewöhnlichen Gedanken über Verantwortung und den Turm zu Babel? Sie sollte doch froh sein, in dieser Firma zu arbeiten. Immerhin hatte sie einen Job. Das war in der heutigen Zeit auch keine Selbstverständlichkeit mehr. Von nichts kommt nichts, und Arbeit ist kein Zuckerschlecken – das hatte sie schon als Kind gelernt. Immer dranbleiben und schuften. Du weißt ja nie, was morgen kommt. Sei dankbar, wenn du Arbeit hast, selbst wenn du die Toiletten putzen musst, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Immer noch besser, als keine Arbeit zu haben.
Während sie kopfschüttelnd darüber nachdachte, packte sie ihre Sachen zusammen und schob alle Utensilien auf ihrem Schreibtisch an den richtigen Platz. Ordnung ist die halbe Arbeit.
An der Tür angekommen drehte sich noch einmal um und ließ ihren Blick über das große Büro mit seinen Schreibtischen schweifen. Obwohl alle Geräte ausgeschaltet waren, glaubte sie, ein leises Summen zu hören. Der Strom, war ihr erster Gedanke. Oder vielleicht auch die unzähligen Informationen, die den ganzen Tag über von den 21 Computern im Raum verarbeitet wurden. Für einen Moment meinte Fay, Stimmen zu hören. Sie schüttelte verwirrt den Kopf über diese verrückte Idee. Seit wann ist Strom zu hören? Oder die Informationen aus den Computern … Das ist ja lächerlich!
Sie löschte das Licht, zog die Tür hinter sich zu und trat auf den langen Gang. Auch hier hörte sie das Summen. Es musste wirklich der Strom sein. Aber gut, hier im Gang waren ja auch die Deckenleuchten noch eingeschaltet. Das hatte sie schon einmal gelesen: Wenn ansonsten keine anderen Geräusche vorhanden sind, kann ein Mensch das Fließen des Stromes hören. Sie war alleine hier in diesem Teil des Hauses. Alle anderen waren schon weg. Freitagabend …
Am Freitag sind die meisten Menschen froh, wenn sie so früh wie möglich nach Hause kommen. Die einen freuen sich auf das Wochenende mit ihren Familien. Die anderen freuen sich auf ein Wochenende mit Freunden und Partys. Ja, heute war Freitag, Freitag der 13. Fay verzog das Gesicht. Ab heute ist jeder Freitag der 13. mein Glückstag, beschloss Fay aus einer Laune heraus. Ein guter Tag, das Leben zu ändern …
Genau das war der Augenblick, in dem in der Anderswelt Funny beinahe über Lana stolperte.
Fay seufzte auf. Niemand hatte ihr jemals gezeigt, wie sich eine junge Frau richtig anzog und zurechtmachte. Immerhin hatte sie sich inzwischen etwas gemausert – das empfand Fay sogar selbst so: Anstatt der dicken Hornbrille ihrer Kindheit trug sie heute Kontaktlinsen. Sie hatte ein braunes und ein blaues Auge. Diese waren leicht schräg gestellt – ein bisschen wie Katzenaugen. Als Kind war sie wegen ihrer verschiedenfarbigen Augen oft gehänselt worden. Heute fand sie selbst, dass gerade diese Augen etwas Besonderes waren. Ihre schmale Nase verlieh ihrem Gesicht einen edlen Zug. Ihre Haare waren mit der Zeit nachgedunkelt und schimmerten in einem schönen Haselnussbraun. Manchmal konnte sie diese Schönheit an sich selbst sehen. Doch meistens fühlte sie sich nach wie vor wie eine graue Maus. Als Mauerblümchen. Unsicherheit begleitete sie seit jeher wie ein Schatten. Dazu passte auch ihr eigentlicher Name: Friederike hatten ihre Eltern sie getauft. Friederike … Wie das schon klang … Schmallippig, farblos, irgendwie bieder. Das war ihr großes Aufbegehren in der Kindheit gewesen: Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie sich selbst Fay genannt. Und das mit einer solchen Konsequenz, dass ihre Eltern schließlich dazu übergegangen waren, sie ebenfalls so zu nennen. Sie hatte dann auch bei ihrer Einschulung – und von da an überall und jederzeit – ganz selbstverständlich diesen Namen verwendet. Sie hatte keine Ahnung, wo sie ihn aufgeschnappt hatte. Sie wusste nur, dass sie ihn wie ein Lieblingskleidungsstück empfand, während ihr Taufname ihr wie ein kratziger Rollkragenpulli erschien. Sie war Fay, nicht Friederike – das war ihr klar. Doch dies blieb ihre einzige Rebellion. Bald fingen die Probleme in ihrer Familie an, und sie verlegte sich darauf, es allen recht zu machen, nicht aufzufallen und sich im Hintergrund zu halten.
Nun war sie eine schüchterne, junge Frau. Während andere sich durchs Leben lächelten, hielt sie den Blick gesenkt. Wenn das Leben über eine unbeleuchtete Ecke verfügte, dann war diese ihre natürliche Heimat geworden. Nie hatte sie sich wie all die anderen Mädchen getraut, mit den Jungs zu flirten. Fay konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es jemanden gäbe, der sich ernsthaft für sie interessierte. Abgesehen von drei eher kurzen Affären war sie immer alleine gewesen. Diese drei »Beziehungen« – wenn man sie denn so nennen wollte – hatten ihr das Gefühl gegeben, von den Männern benutzt zu werden.
Scheinbar aus dem Nichts kamen die Gedanken an ihre Kindheit. Damals, als ihre Eltern ständig stritten …
Sie war gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt, als alles anfing, aus dem Ruder zu laufen. Erst verlor Papa seine Arbeit. Dann begann er zu trinken. Mama begann, bei anderen Leuten putzen zu gehen, um wenigsten ein bisschen Geld zu verdienen. Sie war kaum noch zu Hause. Und wenn, dann hatte sie keine Zeit, sondern musste den Haushalt machen. Papa fand keine neue Stelle. Mama wurde immer gestresster und begann irgendwann, Tabletten zu nehmen. Das hatte Fay erst viel später erfahren. Schlaftabletten, um überhaupt noch zur Ruhe zu kommen, und Aufputschmittel, um den Tag zu überstehen. Dazu noch sogenannte Glücklichmacher – also Antidepressiva. Als Kind merkte Fay einfach nur, dass ihre Mama und auch ihr Papa sich immer weiter von ihr entfernten. Sie veränderten sich immer mehr, bis Fay nicht mehr wusste, wie es früher gewesen war. Oft hatte Fay das Gefühl, dass die beiden sie völlig vergessen hatten. Irgendwann stritten sie sich beinahe täglich. Immer öfter kam es auch zu Handgreiflichkeiten. Oh, wie Fay diese Situationen damals hasste. Wie sehr sie von Angst erfüllt gewesen war …
Die drei Männer, mit denen Fay so etwas wie eine Beziehung versuchte hatte, hatten sie an ihren Vater erinnert. Einer der drei trank öfter einmal über den Durst. Der andere war jähzornig und konnte recht schnell auch handgreiflich werden. Der dritte sah in einer Frau eine ergebene Dienerin, die nach seiner Pfeife zu tanzen hatte. Sie war froh, dass sie sich von allen dreien getrennt hatte. Klar, als sie noch jünger gewesen war, hatte auch sie von dem Prinzen auf dem weißen Pferd geträumt. Welches Mädchen tut das denn nicht? Aber von diesen Prinzen gab es anscheinend zu wenige auf der Welt. Oder die anderen Mädchen hatten sie alle bekommen. Jedenfalls hatte Fay diesen Prinzen nie getroffen. Inzwischen lebte sie mit ihren 28 Jahren recht gut, auch allein.
Sie freute sich auf ein Wochenende mit ihrem schwarzen Kater Pfötchen. Ein edler, schwarzer Kater, der eigentlich Sir Samtpfote hieß, was aber kein besonders alltagstauglicher Name war. Eigensinnig und verschmust war er. Eine Katze, wie sie im Buche stand. Mit ihm würde sie in ihrer kuscheligen Zweizimmerwohnung am Stadtrand die freien Tage verbringen.
Pfötchen war ihr kurz nach ihrem Einzug in die Wohnung zugelaufen. Sie hatte damals alle Nachbarn befragt, doch niemand hatte gewusst, wohin er gehörte. So blieb er einfach, als hätte er schon immer bei ihr gelebt. Sogar ein kleines Fleckchen Erde hatte sie vor ihrem Wohnzimmerfenster. Ein Gärtchen, vier Meter breit und fünf Meter lang. Besser als nichts, dachte sie immer wieder.
Jedes Jahr nahm sie sich vor, ein Beet mit Blumen anzulegen, oder noch besser, Kräuter für die Küche anzupflanzen. Vielleicht würde sie dann ja auch einmal für sich selbst kochen. Fay ernährte sich zu Hause vorwiegend von Sandwiches und Fertigsalat. Schokolade und Chips waren immer im Schrank zu finden. Was sollte sie auch für sich alleine groß kochen?! Außerdem lebte sie ja schon fast im Büro. Dort gab es eine Mikrowelle und Fertiggerichte aus der Tiefkühltruhe zum Personalpreis. In der Not frisst der Teufel auch Fliegen – ein Spruch ihrer Mutter, an den sie sich plötzlich erinnerte. Bei dem Gedanken an die Tiefkühlkost konnte sie verstehen, was ihre Mutter damit ausdrücken wollte. Erdbeeren wären auch eine Idee für ihren winzigen Garten. Doch sie hatte es in keinem der sieben Jahre, in denen sie nun hier wohnte, geschafft, auch nur irgendetwas anzupflanzen. Jedes Jahr wucherten auf ihrem Fleckchen Erde vor allem Gras, Brennnesseln und jede Menge Blumen, die sie nicht kannte. Zwei- oder dreimal im Jahr lieh sie sich von ihrem Nachbarn den Rasenmäher und kürzte das Grün auf ihrer kleinen Parzelle. So einen Wildwuchs brauchen die Schmetterlinge, redete sie sich dann selbst ein. Jedes Jahr hoffte sie, einen Schmetterling zu sehen, aber die schienen hier in der Stadt Mangelware zu sein.
Einer der wenigen, wenn nicht der einzige Höhepunkt in ihrem Leben war das Café in der Nähe ihrer Wohnung. Kurz nachdem Fay in die Stadt gekommen war, hatte sie das Café entdeckt. Nun ging sie jeden Samstagvormittag, wenn sie freihatte, dort frühstücken. Meistens saß sie dann am Abend noch an ihrem angestammten Tisch.
Das Café wirkte wie ein kleines Museum. Sein Besitzer, Herr Vindermann, führte es alleine. Jedenfalls hatte Fay bisher außer Herrn Vindermann nie jemand anderen dort arbeiten sehen. Das Café befand sich im Erdgeschoss eines Stadthauses aus dem 16. Jahrhundert. Herr Vindermann hatte das Haus geerbt. Seit sieben Generationen befand es sich im Besitz seiner Familie. Noch unter seinem Vater war es eine Apotheke gewesen, doch Herr Vindermann hatte wenig Lust verspürt, eine Apotheke zu führen. Er reiste lieber in der Welt umher und studierte fremde Völker, Kulturen und Sitten. Als einziges Kind hatte er das Haus geerbt und war mit 49 Jahren zurück in die Stadt gekommen, nur ein paar Monate bevor Fay hierher gezogen war. Kurz darauf hatte er das Café eröffnet.
In den Regalen, in denen früher die Medikamente gestanden hatten, stapelten sich heute Bücher. Gemütliche Ecken waren mit Ohrensesseln und bequemen kleinen Sofas eingerichtet. An den Wänden hingen geschmackvolle Mitbringsel aus den unterschiedlichsten Ländern der Erde. Masken aus Afrika, Wandteppiche aus Südamerika, Instrumente und Gefäße, deren Herkunft und Gebrauch wohl nur Herr Vindermann erklären konnte. Alles zusammen wirkte wie eine edle, stimmungsvolle und vor allem ganz besondere Komposition. Die unterschiedlichsten Dinge, die dennoch irgendwie zusammenpassten, erschufen gemeinsam einen wundervollen Zauber im Raum.
Fay hatte ihren Stammplatz im Café – ein großer kuscheliger magentafarbener Ohrensessel, der in einer Ecke stand. Darauf lag ein weißes Schaffell. Daneben stand eine Stehlampe mit perfektem Leselicht. Auf einem Beistelltischchen servierte Herr Vindermann Getränke und kulinarische Kleinigkeiten.
Herr Vindermann war immer sehr freundlich und um eine ruhige, gemütliche Atmosphäre in seinem Café bemüht. Die Regale waren gut gefüllt mit Büchern aus allen möglichen Themengebieten. Alle Bücher hatten jedoch auf die eine oder andere Art und Weise mit Menschen und deren unterschiedlichen Lebensweisen zu tun. Es gab keine Romane oder Unterhaltungsliteratur, doch dafür Bildbände über andere Länder und deren Bewohner, Berichte über fremde Völker und deren Riten, Bücher über Schamanismus, Engel, Quantenphysik und noch viele spannende Themen mehr. Fay schätzte, dass die Bibliothek, die Herr Vindermann über die Jahre in seinem Café zusammengetragen hatte, weit über 2 000 Bücher umfasste. Genug jedenfalls, um sie noch viele Samstage zu beschäftigen.
Am Samstag waren meist nur wenige Leser hier. Oft war Fay alleine im Café. Sie liebte diese Tage, wenn sie in die Bücher eintauchte, in die Geschichten, die andere Menschen in fremden Ländern erlebt hatten.
Inzwischen war Fay bei der Bushaltestelle angekommen. Ein Auto besaß sie nicht. Wofür auch? Sie konnte alles ohne einen eigenen fahrbaren Untersatz erledigen. Selbst der Einkauf für eine Person war ohne Auto leicht zu bewältigen. Wenn sie doch einmal weiter weg fahren wollte, konnte sie das ja immer noch mit dem Zug machen. Das hatte sie aber noch nie getan. Die weiteste Reise in ihrem Leben war der Umzug aus ihrem Heimatdorf in die 40 km entfernte Stadt, in der sie jetzt lebte, gewesen. Wenn sie etwas über fremde Länder wissen wollte, konnte sie es ja nachlesen. Das war gewiss ebenso aufregend, dafür sicherer und kontrollierbarer.
Während Fay auf ihren Bus wartete, ging sie noch einmal verwundert ihre Gedanken der letzten Viertelstunde durch. Ihre Eltern und ihre Schulzeit, daran hatte sie schon ewig nicht mehr gedacht. Dann dieser komische Einfall mit dem Turm von Babylon und der Eigenverantwortung. Ihre drei gescheiterten Beziehungen – auch schon einige Zeit her. Strom, der zu hören war. Oder waren es doch die Informationen aus den Computern? Welch seltsamer, schräger Gedanke. Wurde sie verrückt? Das wäre ja auch kein Wunder, dachte sich Fay, ich rede ja auch mit meinem Kater beinahe schon mehr wie mit Menschen. Wenn die Telefonate mit den Kunden nicht wären, hätte er gute Chancen, bald mein einziger Gesprächspartner zu sein.
Irgendetwas rührte sich in Fay. Sie konnte es nicht beschreiben. Fast war es, als ob tief in ihr eine Melodie auftauchte. Irgendetwas sang ihren Namen. Wie ein ferner Ruf oder ein Echo erschien es ihr. In ihrer Herzgegend fühlt sie ein Ziehen, das sie so noch nie empfunden hatte. Als hätte sie etwas verloren, was sie dringend brauchte. Etwas, was nach ihr rief. Eine tiefe Sehnsucht breitete sich in ihr aus.
Der Bus hielt vor ihr, und Fay stieg ein. Eine Gruppe Jugendlicher, die wohl auf eine Party unterwegs waren, unterhielten sich lautstark. Sie setzte sich auf einen Fensterplatz, und der Bus fuhr wieder an. Während sie aus dem Fenster schaute, zogen mit den Häusern draußen auch ihre Gedanken dahin, und das Gefühl, diese Sehnsucht in ihrer Herzgegend, verschwand wieder, ohne dass es Fay wirklich bewusst wurde.
MaPa – oder Das große Geheimnis
Diesmal war es Lana, die als Erste zu sprechen begann: »Hör mal, Funny, glaubst du, es gibt noch mehr von uns Seelenessenzen hier in der Anderswelt, die zu Fay gehören?«
»Das habe ich mich auch gerade gefragt«, erwiderte Funny. »Wenn es noch mehr von uns gäbe, dann wäre es sicher spannend, sie zu finden … Was meinst du, Lana?«
»Sicher, aber wie sollen wir das anstellen? Wo willst du sie denn suchen? Denkst du, es funktioniert, wenn wir sie rufen? Die Anderswelt ist so groß, so vielschichtig, dass es Äonen dauern würde, um alles zu durchsuchen. Lass uns in aller Ruhe darüber nachdenken«, meinte Lana.
»Ich hab´s«, jubelte Funny, »fragen wir doch MaPa! Es weiß alles!«
»Wer bitte ist MaPa?«, fragte Lana erstaunt. »Und warum weiß es alles?«
»MaPa ist das große Geheimnis, die Schöpferkraft, Gott oder Göttin, auch Manitu oder Allah genannt«, erklärte Funny. »Ich habe es so getauft, weil ich mich nie entscheiden kann, ob es mehr Mutter oder mehr Vater ist. Es ist beides in einem, Mama und Papa – darum MaPa.«
Lana schmunzelte. »Ich kann mich erinnern, dass Fay, als sie noch sehr klein war, vielleicht drei Jahre alt, auch nach MaPa rief. Sie konnte sich nicht entscheiden, wen sie gerade lieber bei sich haben wollte. Oft, vor allem am Abend, kamen damals beide, herzten sie und kuschelten mit ihr auf dem Sofa. Dann las ihre Mama aus einem Kinderbuch vor, und sie lag zwischen ihren Eltern. Sie fühlte sich pudelwohl in diesen Momenten.«
Funny sprang auf. Aufgeregt hüpfte sie von einem Fuß auf den anderen. »Ja, genau, jetzt fällt es mir wieder ein! MaPa rief sie auch, wenn sie draußen im Garten Verstecken oder Fangen spielte! Stimmt, als sie drei war. Das machte damals richtig Spaß! Weißt du noch, der Garten, Lana? Hinter dem Haus die Obstbäume und rechts und links davon Gemüse und die Spielwiese. Da waren eine Schaukel und ein Sandkasten. Ich kann mich wieder an das Gefühl erinnern, wie es war, mit beiden Händen im Sand zu graben. Und an den Spaß, den ich mit Fay hatte, wenn wir auf der Schaukel immer höher und höher schwangen.«
»Die Obstbäume, ja, an die erinnere ich mich auch.« Lana lächelte verträumt. »Bei den Obstbäumen hat Fay oft meine Essenz erfahren. Als sie noch kleiner war, schlummerte sie am liebsten unter einem alten Apfelbaum. Als sie größer wurde, kletterte sie in einen Walnussbaum. Da gab es eine Astgabel, in die sie sich hineinlegen konnte. Es war beinahe wie ein Liegestuhl. Dort oben lag sie dann und träumte vor sich hin. Träume und Ruhe sind zwei Essenzen, die sehr eng zusammenwirken. Um gut träumen zu können, muss ein Mensch in der Ruhe, in seiner Mitte, sein. Fay konnte das als Kind ziemlich gut, bis sie etwa sechs Jahre alt war.« Lana und Funny erinnerten sich an immer mehr aus Fays Leben. Ein Leben, von dem sie selbst ein Teil, eine Essenz, waren.
»Sag mal, was glaubst du: Warum erinnern wir uns plötzlich an all diese Einzelheiten aus Fays Kindheit?«, fragte Funny.
»Ich glaube, es ist wirklich Zeit, dass wir MaPa aufsuchen.« Lana musste unwillkürlich schmunzeln, als sie diesen Namen aussprach. MaPa klang wirklich originell, dachte sie bei sich.
»Gut, lass uns MaPa rufen … Los geht´s!«, antwortete Funny. Mit aller Kraft wünschten sich die beiden MaPa, das große Geheimnis, um Rat fragen zu dürfen. All ihre Energie zentrierte sich auf diesen einen Gedanken und folgte Lanas und Funnys Aufmerksamkeit. So konnten sie mit MaPa in Kontakt treten.
Schon nach kurzer Zeit empfanden beide ein Gefühl der Liebe und des Friedens. Alles um sie wurde noch ein Hauch lichter und klarer. Die Blumen begannen zu leuchten, und ein leichter Wind kam auf. Dann war MaPa präsent. Lana und Funny konnten es mit all ihren Sinnen wahrnehmen. Einen Augenblick später erschien vor den beiden ein Wesen, das so unglaublich schön und leuchtend war, dass es dafür keine Worte gab. Dieses Wesen lächelte die beiden an, und eine Stimme, die klang wie die schönste Musik im Universum, begann zu sprechen. »Hallo, Lana, hallo, Funny. Wie ich sehe, habt ihr beiden euch kennengelernt. Das ist schön. Ihr habt ein großes Abenteuer vor euch. Ich denke, ihr habt ein paar Fragen an mich – so intensiv, wie ihr mich gerufen habt.«
Funny und Lana waren durchflutet von Liebe und Vertrauen. Das machte es ihnen leicht, ihre Fragen an MaPa zu stellen. »Wie kommt es, dass wir beide uns begegnet sind, MaPa?«, fragte Lana.
»Ihr beiden seid euch begegnet, weil es an der Zeit ist, zurück zu Fay, eurem inkarnierten Menschen, zu gehen. Sie ist jetzt in einer Lebensphase, in der es notwendig ist, neue Wege zu beschreiten, um ihre Lebensaufgabe erfüllen zu können. Sie ist dazu bereit, aber noch weiß sie nichts davon. Eure Aufgabe wird es sein, Fay dabei zu begleiten, wenn sie Schritt für Schritt ihr wahres Selbst findet.«
Aufgeregt hüpfte Funny wieder von einem Bein auf das andere. »Heißt das, wir können zurück zu ihr? Wieder ganz bei Fay sein? Oh ja, bitte jetzt gleich! Ich möchte wieder schaukeln und im Sand spielen!«, jauchzte sie.
MaPa lachte. Es war ein fröhliches Lachen, das die beiden anderen ansteckte. Dann sprach MaPa zu Funny: »Du und Lana werdet zu Fay zurückkehren, aber noch nicht jetzt. Du musst auch wissen, dass Fay nun eine erwachsene Frau ist. Im Moment hat sie vergessen, wie viel Spaß es macht, zu schaukeln oder auf der Erde zu knien und in ihr zu graben.«
Funny blieb stehen und schaute verwundert. »Sie hat es vergessen? Wie kann etwas, das so viel Spaß macht, einfach vergessen werden?«
»Nun ja«, antwortete MaPa, »so, wie ihr bis zu diesem Moment vergessen hattet, dass ihr Essenzen eines inkarnierten Menschen seid, so hat auch Fay vergessen, was Lebensfreude ist. Sie hat dich ebenso vergessen wie du sie, liebe Funny.«
»Ja, das stimmt«, überlegte Funny, »ich habe mich erst wieder an Fay erinnert, als ich beinahe über Lana gestolpert bin. Wir begannen, uns zu unterhalten, und erkannten, dass wir zu Fay gehören. Aber warum ist es so, MaPa, dass wir uns jetzt wieder erinnern?«
MaPa sprach lächelnd weiter: »Wenn ein Mensch in seinem Leben Seelenessenzen verliert, dann vergisst er, dass sie ein Teil seiner selbst sind. Andere Essenzen treten dann in den Vordergrund. Wie du selbst schon herausgefunden hast, sind es bei Fay vor allem die Essenzen der Korrektheit, der Ernsthaftigkeit und der Perfektion, die sie verstärkt zu leben begann, nachdem du aus ihrem Leben verschwunden warst. Manchmal gibt es Momente in ihrem Leben, in denen erinnert sie sich für den Bruchteil einer Sekunde an dich. Aber es ist nur ein Echo deiner Essenz. Ohne dich kann sie ihre Lebensfreude nicht mehr ganz entfalten. Es bleibt bei den kleinen Momenten, die zu wenig Kraft haben, um sie wirklich zu nähren. Sie sind wie ein Lufthauch, der schon vorüber ist, wenn er über die Haut streift. Andererseits habt auch ihr beiden, du und Lana, eure Fay vergessen. Ihr seid aus dem Leben eures Menschen verschwunden, als dieser eure Essenz immer weniger lebte. Ihr wisst ja: Energie folgt der Aufmerksamkeit. Wird eine Essenz immer mehr vernachlässigt, zieht sie sich zurück, und irgendwann verschwindet sie ganz aus dem Leben des Menschen. Das ist der Moment, in dem die Seelenessenz in die Anderswelt eintritt. Hier in der Anderswelt kann sich die Essenz entfalten. Ihr Alter entspricht dem ihres inkarnierten Menschen zu dem Zeitpunkt, als sie ihn verließ. Auch die Seelenessenz vergisst hier in der Anderswelt den Schmerz und die Trauer, die sie erlebt hat, als es zur Trennung kam. Die Erinnerung kehrt erst wieder, wenn es an der Zeit ist zurückzukehren. In der Phase dazwischen kann die Essenz sich erholen und Kraft sammeln. Diese braucht sie, wenn der Mensch sich zu erinnern beginnt. Irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, an dem der Mensch seine Essenz zurückhaben möchte. Das ist oft ein schwieriger Prozess für beide. Der Mensch und die Seelenessenz sind in ihrer ganzen Kraft gefordert, diese Rückkehr zu vollbringen. Manchen Menschen gelingt es in ihrer aktuellen irdischen Inkarnation nicht, alle ihre Seelenessenzen wieder einzusammeln. Die Seele findet diese fehlenden Essenzen allerdings in dem Moment wieder, in dem ihre Inkarnation auf der Erde beendet ist. Die Seelenessenzen warten hier in der Anderswelt auf ihre Seele. Hier, in meinem Zentrum, in der Mitte der Schöpfung, wo Geburt und Tod ein und dieselbe Tür sind, ist jede Seele vollkommen und heil.«
Nachdenklich schaute Lana zu MaPa. »Kannst du uns sagen, wie dieses Zurückkehren zu unserem Menschen funktionieren kann?«
»Liebe Lana, es hat für euch beide schon begonnen. Auch wenn es noch eine Weile dauern wird, bis ihr wirklich wieder bei eurer Fay sein werdet. Ihr beide seid euch begegnet. Fay hat zur selben Zeit einen Impuls von euch empfangen. Funny hat mit so viel Freude ihren Namen gesungen, dass Fay für einen kurzen Augenblick eine tiefe Sehnsucht in sich wahrgenommen hat. Sie spürte, dass ihr etwas fehlt. Noch kann sie es nicht fassen, nicht erklären, was es ist, aber es hat bereits begonnen. Ihr müsst wissen, dass jeder inkarnierte Mensch eine Lebensaufgabe hat. Diese kann er aber nur erfüllen, wenn er voll und ganz in seiner Kraft ist. Jeder Mensch weiß zum Zeitpunkt seiner Geburt genau, was seine Aufgabe ist. Er ist vollkommen eins mit sich, möchte seine innerste Sehnsucht leben und seine Aufgabe erfüllen. Auf der Erde lebt der Mensch in einer Welt der Gegensätze und der Glaubensmuster. Nicht immer entspricht das Umfeld auf den ersten Blick dem, was der Mensch sich wünscht, um seinen Lebensplan zu entfalten. Doch alles ist gut. Jede Begegnung und jedes Erlebnis im Leben eines Menschen hat einen Sinn. Es lässt ihn wachsen und Fähigkeiten entwickeln, die für seine Aufgabe wichtig sind. Oft erkennt der Mensch das erst viel später. Manchmal verzweifeln Menschen aber auch an den Umständen in ihrem Leben. Sie geben sich selbst auf, verlieren immer mehr ihrer Energie, ihrer Essenz. Sie vergessen vollkommen, dass sie Geschöpfe der Liebe und der Kraft sind. Dann kann es sein, dass ihre irdischen Körper in der materiellen Welt erkranken. Auch diese Krankheiten gehören zum Lernprozess. Oft erinnern sich die Menschen in dieser Situation wieder an ihren vollkommenen Ursprung und verändern ihr Leben komplett. Dann kann Heilung geschehen. Nicht immer werden Menschen krank, und dennoch sind sie unglücklich oder unzufrieden. Wenn sie beginnen, ernsthaft nach dem Sinn in ihrem Leben zu forschen, werden sie über kurz oder lang erfahren, was ihnen fehlt, um glücklich zu sein. Das ist der Moment, in dem die Tore sich öffnen. Der Mensch beginnt, sich nach mehr zu sehnen. Die Suche nach seinem wahren Selbst beginnt. Diese Sehnsucht ist es, die den Menschen wieder auf seinen ursprünglichen Weg bringen kann. Manch einer ertränkt diese Sehnsucht in Alkohol oder betäubt sie mit anderen Drogen. Das lässt die Sehnsucht nach Liebe und Glück für die Dauer des Rausches verschwinden. Doch sie kommt zurück, sobald die Wirkung nachlässt. Sehnsucht – der Mensch sehnt sich nach etwas, er sucht nach seiner Seele, nach sich selbst. Um dieses Selbst wiederzufinden, braucht der Mensch seine Spiritualität. Jeder Mensch ist ein spirituelles Wesen. Er ist Energie, die sich in einem Körper verdichtet hat. Ein geistiges Wesen in einem menschlichen Körper. Egal, ob der Mensch seine Spiritualität in einer der großen Religionen wiederfindet oder in seiner Beziehung zur Natur: Wichtig ist nur, dass der Mensch begreift, dass er niemals von irgendetwas gänzlich getrennt ist. Einer der vielen Wege, die ein Mensch gehen kann, ist der Schamanismus. Ein für menschliche Vorstellungen sehr altes und überaus gut funktionierendes, spirituelles System der Heilung. Eure Fay interessiert sich sehr für andere Kulturen und deren Lebensweise. Sie liebt die Erzählungen von Menschen, die bei anderen Völkern lebten. Die Berichte über Geisterwelten, Verbündete, Heilungen durch Schamanen und Kräuterfrauen berühren sie in ihrem Innersten. Noch weiß sie nicht, dass es dieser Weg ist, auf dem sie wieder ganz heil werden kann. Sie wird erfahren, dass alles, was sie in den Büchern gelesen hat, auch für sie selbst erlebbar ist. Und ihr beide werdet ihr dabei helfen.«
»Wie sollen wir ihr denn dabei helfen«, warf Funny ein, »wenn sie sich nicht mal mehr an uns erinnert? Ja, klar, sie spürt eine Sehnsucht, weiß aber nicht, was sie sucht. Du hast gesagt, sie hat mich in ihrem Inneren singen gehört, aber sie hat mich nicht erkannt! Wie also sollen wir ihr helfen können, wenn sie uns nicht wahrnimmt?«
»Genau da könnt ihr Fay helfen. Sie braucht einen Brückenbauer. Jemanden, der sich in der Anderswelt auskennt. Ein Mensch, der seine Lebensaufgabe darin gefunden hat, zwischen den Welten zu vermitteln. Ein Erinnerer. Jemand, der gelernt hat, die Anderswelt wahrzunehmen und zu bereisen. So ein Mensch kann Fay dabei helfen, sich wieder an euch zu erinnern. In ihrem Leben gibt es einen Menschen, der mehr ist, als es auf den ersten Blick scheint. Er kann euch und auch Fay dabei unterstützen, wieder eins zu werden. Ich werde euch nun ein Bild von diesem Menschen zeigen, damit ihr ihn erkennt, wenn ihr ihm auf eurer Reise begegnet.«
Vor Lana und Funny öffnete sich plötzlich ein Fenster, das einfach so im Raum schwebte. Durch dieses Fenster sahen sie in die Welt der Menschen. Sie erblickten ein kleines Café, das bereits geschlossen hatte. Herr Vindermann hatte alles aufgeräumt und befand sich in einem Zimmer hinter dem Gästeraum. Er saß auf einer Decke am Boden, vor sich eine Muschel, aus der Salbeirauch aufstieg. Er hatte die Augen geschlossen und wiegte sich zum Klang seiner Trommel. Es war der Rhythmus eines Herzschlages, den er spielte. Lana und Funny bemerkten beinahe gleichzeitig einen Wanderfalken an der rechten Seite von Herrn Vindermann. In dem Moment, als die beiden dem Falken in die Augen schauten, wussten sie, dass er ein Bewohner der Anderswelt war. Auch der Falke konnte sie sehen.
Höflich stellten die beiden sich vor. Der Wanderfalke nickte freundlich mit dem Kopf und sagte: »Mein Name ist Skulan. Ich bin die Essenz des Reisens für meinen Menschen. Mit meiner Kraft ist es ihm möglich, in die Anderswelt zu reisen. Er ist gerade unterwegs und besucht einen seiner Lehrer. Ebenso bin ich ein Botschafter für ihn. Ich kann ihm Nachrichten aus der Anderswelt überbringen. Ich bin eines seiner Krafttiere. Aber nun sagt mir, warum ihr uns hier begegnet, meinem Menschen und mir.«
»Also, das ist so«, sprudelte Funny heraus, »wir sind gerad bei MaPa und …«
»Bei wem?«, fragte Skulan und schüttelte schmunzelnd seinen Kopf.
Lana lächelte und antwortete: »MaPa, das große Geheimnis, Mama und Papa von allem, was ist.«
»Ach so, jetzt verstehe ich«, nickte Skulan. »Mutter Erde und Vater Himmel mit all ihren Kindern.«
»Ja, genau!« Funny hüpfte vor Aufregung auf und ab wie ein Gummiball. »Bei MaPa eben. Und MaPa hat ein Fenster geöffnet zu euch beiden. Dann hat MaPa auch noch gesagt, dein Mensch könne uns helfen, zurück zu unserem Menschen zu kommen. Weil unser Mensch, Fay … Sie … Sie braucht uns.« Mit diesen Worten beendete Funny atemlos ihren Satz.
Skulan schaute sie erstaunt an. »Ganz schön viel Temperament hast du kleines Seelchen für dein Alter. Das gefällt mir. Ihr beide seid also Seelenessenzen von Fay, und ihr wollt zu ihr zurück. MaPa hat euch gesagt, dass wir, mein Mensch und ich, euch helfen können«, fasste Skulan zusammen.
»Genau so ist es«, bestätigte Lana.
In diesem Moment öffnete MaPa ein weiteres Fenster, durch das Fay zu sehen war. Alle drei, Lana, Funny und Skulan, beobachteten still, wie Fay in ihrem Lieblingsstuhl mit dem weißen Schafwollfell saß und ein Buch las …
Herr Vindermann stand hinter der kleinen Theke und schaute zu Fay hinüber. Vor sieben Jahren war diese junge Frau zum ersten Mal zu ihm ins Café gekommen. Damals war sie ein Mädchen gewesen, vielleicht 20 Jahre alt. Es war ein Samstag gewesen, als sie sein Café das erste Mal betreten hatte. Seither hatte es keinen Samstag ohne sie gegeben. Meistens ging sie erst am Abend wieder, fünf Minuten bevor er das Café schloss. Fay war ihr Name, das wusste er. Er lächelte. Ja, sie sah auch aus wie eine Fee. Sie hatte einen ganz besonderen Zauber. Auf den ersten Blick schien sie völlig unauffällig. Das Einzige, was man sofort bemerkte, waren ihre Augen – ein braunes und ein blaues. Aber da war noch etwas anderes an ihr, das sie in diesem Moment leuchten ließ.
Herr Vindermann bemerkte, dass er Fay zum ersten Mal wirklich anschaute. Er hatte auch noch nie wirklich mit ihr gesprochen. In sieben Jahren nie mehr als die üblichen Höflichkeiten. Verwundert schüttelte er den Kopf und begann, die Bücher von der Theke in die Regale zu ordnen. Ein Café sollte ein Ort zum Verweilen sein. Er konnte es sich leisten, dieses Café zu führen. Er hatte während seiner langen Zeit unterwegs um die ganze Welt nicht nur vieles gelernt, er hatte auch Touristenführungen in entlegene Gegenden organisiert und begleitet und damit gutes Geld verdient. Einige Male hatte er auch Fotos verkaufen können – vorwiegend Naturaufnahmen. Er hatte bei Ureinwohnern in Südamerika, in Nordamerika, in der Mongolei und auch in Afrika gelebt, jeweils für mehrere Monate. Immer wieder hatte er diese Orte und die Menschen dort besucht und dabei tiefe Freundschaften geschlossen. Er hatte die Möglichkeit genutzt, in die Gedankenwelt und in die Spiritualität der verschiedenen Völker, bei denen er lebte, einzutauchen. Sein Lebensstil war immer sehr bescheiden gewesen. So hatte er einiges ansparen können. Das und sein Erbe erlaubten es ihm, in seiner bescheidenen Art gut zu leben. Das Café war seine Leidenschaft. Seine große Liebe. Die gesammelten Geschichten seines Lebens.
Damals, als er von zu Hause weggegangen war, war er ein zutiefst verletzter junger Mann gewesen. Er hatte sich ungeliebt gefühlt. Niemals hatte er den Ansprüchen seiner Eltern genügen können. Die Schulnoten waren immer zu schlecht, und Klavierspielen mit seinen beiden linken Händen war unmöglich gewesen. Musik war definitiv nicht sein Talent. Dabei hätte es sich seine Mutter so sehr gewünscht, dass er ein Instrument lernte. Chemie und Physik – welch ein Horror! Doch von ihm wurde erwartet, genau in diesen Fächern gut zu sein. Als zukünftiger Erbe einer Apotheke. Einer Apotheke, die seit Generationen von seiner Familie geführt wurde. Die Tradition weiterzuführen – dieser Anspruch hatte stets schwer auf ihm gelastet. Seine Interessen galten damals schon der Welt und ihren Geheimnissen, der bildenden Kunst und der Literatur. Später auch der Musik, jedoch nur die, die andere Menschen zum Besten gaben. Fremde Völker, andere Lebensweisen, Kunsthandwerk aus aller Welt. Das war es, was ihn interessierte. In Geschichte und alten Sprachen war er gut. Er hatte davon geträumt, Archäologie zu studieren. Mit 19, kurz nach seinem Abitur, war er von zu Hause ausgezogen und hatte ein Studium der Archäologie und der Ethnologie begonnen. Kunst nahm er als Nebenfach noch dazu. Sein Studienplatz war gute 700 km von seiner Heimatstadt entfernt gewesen. Das war ihm nur recht gewesen. Seine Eltern hatten bis zuletzt versucht, ihm seine Entscheidung auszureden. Sein Vater hatte mehrere Wutausbrüche gehabt. Er hatte ihn als Nestbeschmutzer, als Habenichts beschimpft. »Wie will einer denn von so was leben! Eine Schande für die Familie bist du! Ich werfe dich raus, ich enterbe dich!«, hatte er getobt. Seine Mutter war furchtbar emotional geworden. Sie weinte und wurde richtig dramatisch, als würde ihre Welt in einem Abgrund versinken. War das alles seine Schuld, war die Frage, die er sich damals gestellt hatte. Diese Frage und das Gefühl dabei, diese Wut in ihm. Eine Wut, die ihm sagte: »Sei, was du bist. Befreie dich, und suche dein Selbst.« Diese Wut war es, die ihn auf seine große Wanderschaft geführt hatte.
Später verstand er, dass diese Wut ein Teil von ihm war. Eine Essenz, die, wenn sie gewandelt und kultiviert wurde, pure Lebenskraft darstellte. Lebenskraft, darüber hatte er auf seinen Reisen viel gelernt. Er lächelte vor sich hin. Ja, es war gut zu wissen, dass es sie gibt, die Lebenskraft. Noch besser war es zu wissen, wie sie funktionierte. Und dies hatte er auf seinen Reisen und bei seinen Freunden gelernt.
Es war lange her, dass er an seine Jugendzeit gedacht hatte. Es war damals ein langer Weg gewesen, bis diese Wut verwandelt war. Aber es hatte sich ausgezahlt. Als die Wut verschwunden war, hatte ihn ein Gefühl der Freiheit und des Friedens durchströmt. Er war schon 42 Jahre alt gewesen, als er seinen Eltern verzeihen konnte. Erst da verstand er, dass ihr Widerstand ihm gegenüber ein Ausdruck ihrer Liebe gewesen war. Erst in diesem Alter erkannte er die aufrichtige Sorge um ihn und sein Leben. Auch die Angst seiner Eltern vor einer Änderung dessen, was immer funktioniert hatte, musste er verstehen lernen. Sie hatten in jeder Situation ihres Lebens das Bestmögliche getan. Nachdem sie sich ausgesprochen und versöhnt hatten, erlebte Herr Vindermann noch einige schöne Jahre mit seinen Eltern …
MaPa schloss nun dieses Fenster wieder. Herr Vindermann und Fay verschwanden aus der Wahrnehmung der drei Beobachter.
»Das war, in der Zeitrechnung der Menschen, letzten Samstag«, erklärte MaPa. »Ihr seht also, die beiden kennen sich schon. Jetzt liegt es an euch, eine Möglichkeit zu finden, die beiden zusammenzuführen. Das wäre der erste Schritt für Fay, um ihr Leben zu ändern. Womit sie den Weg der Heilung wählen würde. Was sie wiederum näher an ihre Lebensaufgabe brächte. Wenn ein Mensch seine Lebensaufgabe wirklich lebt, so ist das eine Kraft, die von innen strahlt. Ein Licht, das den Menschen wahrhaft leuchten lässt. Herr Vindermann hat letzte Woche einen kleinen Impuls bei Fay wahrgenommen. Ein Leuchten. Er hat sich Gedanken über sie gemacht. Er hat Fay Aufmerksamkeit geschenkt. Weil er mit seiner Aufmerksamkeit wirklich bei ihr war, konnte er das Leuchten erkennen. Er hat gelernt, die Lebensenergie wahrzunehmen. Dieses Feld, das auch Aura genannt wird. Fay hat in dem Moment etwas gelesen, was ihrer Lebensaufgabe entspricht. Das brachte in ihr diese Essenz, die eigene Aufgabe im Leben, zum Leuchten. Sie ging in Resonanz mit dem, was sie las. Es berührte sie in ihrer Seele. Die Essenz der Lebensaufgabe ist immer bei ihrem Menschen. Sie geht nie ganz verloren. Ein Teil von ihr wird immer im Leben präsent sein. Oft neigt ein Mensch jedoch dazu, diese Lebensaufgabe zu vergessen. Was dann verloren geht, ist die Kraft, die Essenz der Träume und Visionen. Alles andere scheint dann für diesen Menschen wichtiger zu sein. Eure Fay wohnt in einem Umfeld, in dem Geld, materieller Reichtum und Macht herrschen. Viele Menschen sind damit beschäftigt, Geld zu verdienen, um sich Dinge zu kaufen, die schon in dem Moment unwichtig sind, in dem sie sie in Besitz nehmen. Sie suchen das Glück und die Zufriedenheit in Dingen. Sie geben dem Umfeld die Schuld, wenn es ihnen schlecht geht. Anstatt in sich hineinzuhorchen, haben sie Fernseher und Radios, mit denen sie ihre eigenen inneren Stimmen übertönen. Die Natur holen sie sich auf großen Bildern in ihre Häuser. Sie haben vergessen, dass sie selbst ein Teil der Natur sind. Sie sind Natur in ihrem ganzen Sein.
Erde ist dein Körper,
Wasser ist dein Blut,
Luft dein Atem,
Feuer deine Seele.
Mensch, du bist Natur.
Eure Fay ist bereit. Herr Vindermann ist in der Menschenwelt jetzt genau der richtige Lehrer für sie. Ich wünsche euch viel Erfolg bei eurer Reise.«
Mit der sanften Geste einer Umarmung verabschiedete sich MaPa von Lana, Funny und Skulan. Letzterer war jetzt bei Lana und Funny auf der Blumenwiese. Da in der Anderswelt Raum und Zeit aufgehoben sind, war das für Skulan kein Problem. Er war ebenso auf dieser Blumenwiese, wie auch weiterhin an der Seite seines Menschen, Herrn Vindermann.
Die drei schauten sich an. Jeder begann, für sich zu überlegen, wie sie Fay und Herrn Vindermann zusammenführen konnten.
Skulan hob sein Haupt und sagte: »Mein Mensch ist ein guter Reisender. Er fühlt sich sicher, wenn er in der Anderswelt unterwegs ist. Er beherrscht auch die Fähigkeit, die Traumwelten zu bereisen. Wir können ihn in einen Traum eurer Fay schicken. Ich werde ihn darum bitten.«
»Das ist eine geniale Idee«, rief Funny voller Freude. »Fay wird träumen, Fay wird träumen«, trällerte sie vor sich hin.
Lana nickte bedächtig, und somit war es beschlossen: Skulan würde Herrn Vindermann bitten, in Fays Träumen mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Skulan war seit langer Zeit ein Verbündeter seines Menschen. Gemeinsam hatten sie schon einigen Menschen geholfen. Aus Erfahrung wusste Skulan, dass bei sehr rationalen, kopflastigen Menschen, wie Fay es zu sein schien, der Weg der Kontaktaufnahme überraschend sein sollte. In einer Weise, die ihren analytischen Verstand austrickste. Ein Traum war da perfekt geeignet.
In Fays Wohnung
Der Bus hatte inzwischen die Randbezirke der Stadt erreicht. Dort, wo Fays Wohnung war, hatte sich früher einmal das Zentrum einer mittelalterlichen Stadt befunden. Ein kleiner Teil davon war heute noch erhalten. Dazwischen standen Wohnhäuser aus den 70er-Jahren. Das gab dem Viertel ein etwas skurriles Aussehen. Mittelalterliche Fassaden, Rundbögen. Hinterhöfe und Gässchen. Daneben graue, quadratische Betonbauten mit riesigen, teilweise mehrstöckigen Schaufenstern. Inzwischen hatte sich das lebendige Zentrum der Stadt mit den Firmen, den modernen Einkaufszentren, Bars und Restaurants weiter nach Süden verlagert. Dorthin, wo die Schnellstraße durch das Tal führte. Fay war das nur recht. So war es in ihrem Viertel ziemlich ruhig – und das gefiel ihr.
Abgesehen von den Touristen, die im Sommer durch die kleinen, verwinkelten Gässchen schlenderten, gab es hier wenig zu sehen. Hauptsächlich lebten hier am Stadtrand Rentner und Pensionäre. Ein paar Künstler hatten sich auch eingefunden. Die Wohnungen waren hier draußen günstiger. Fay mochte die Künstler, auch wenn sie nie mit ihnen redete. Sie mochte es, wenn sie im Sommer die Musik und ihr Lachen von der Straße hörte. Weiter draußen, noch mehr im Grünen, lagen die Villen der Reichen, die in der Stadt ihr Geld verdienten und es sich leisten konnten, in einem Haus auf dem Land zu leben.
Von der Bushaltestelle musste Fay noch bis ans Ende der Straße laufen. Das letzte Haus auf der linken Seite. Es war einer dieser Betonklötze. Drei Etagen übereinander, wobei ihre Wohnung im Erdgeschoss lag. Dritte Türe links.
Die Straße trug den Namen »Am Goldbrunnen«, und ihr Haus hatte die Nummer drei. Laut einer Legende soll es in dieser Gasse einmal eine Quelle gegeben haben, deren Wasser Heilkräfte besessen haben soll. Daher hatte die Straße ihren Namen. Niemand wusste mehr, wo die Quelle gewesen sein soll. Die Legende erzählt, dass die Stadtbewohner durch den Segen dieser Quelle zu unglaublichem Reichtum kamen. Sie waren nie krank, und von überall pilgerten die Menschen zu ihnen. Sie begannen, das Wasser der Quelle in Krüge abzufüllen und an die Menschen zu verkaufen. Mit der Zeit wurden sie immer überheblicher. Sie begannen, das Wasser immer teurer zu verkaufen, und bald konnten es sich nur noch die Wohlhabenden leisten. Daraufhin versiegte die Quelle. Sie verschwand über Nacht und wurde nie wieder gefunden. Das Städtchen versank in Vergessenheit und erlangt erst lange Zeit danach wieder an Bedeutung, als in der Nähe Kohle gefunden wurde.
Jetzt war Fay bei ihrem Haus angekommen. Sie spitzte ihre Lippen und pfiff eine kleine Melodie. Schon kam Pfötchen, ihr Kater, um die Ecke gesaust.
»Na, du Herumtreiber«, sagte Fay liebevoll, »hattest du einen schönen Tag?« Wenigstens einer von uns ist ein Freigänger, dachte sie sich. Pfötchen schmiegte sich an ihre Füße und miaute leidenschaftlich. Fay lachte und ging die letzten Schritte zur Türe mit einem sich anschmiegendem Pfötchen zwischen den Beinen. Das hatten sie schon so oft geübt, es war ein allabendliches Spiel zwischen ihnen. Fay sperrte die Türe auf und betrat das Treppenhaus. Von den neun Parteien im Haus kannte sie niemanden wirklich. Kinder gab es hier keine, soweit sie wusste. Auch in ihrem Haus lebten vorwiegend Menschen im Ruhestand. Am Wochenende kamen zwar ab und an deren Kinder mit den Enkeln zu Besuch, sodass wenigstens ein bisschen Leben im Haus herrschte, aber da war Fay schon früh im Café und las.
Elternbesuch, das sollte sie auch wieder einmal machen. Ihre Mutter lebte noch immer in dem Dorf 40 km entfernt, in das sie beide nach der Scheidung ihrer Eltern gezogen waren. Zumindest soweit Fay wusste, denn sie hatte schon lange Zeit keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter gehabt. Diese hatte irgendwann, nachdem Fay schon ausgezogen war, eine Entziehungskur gemacht und anschließend angefangen, in einer Gärtnerei zu arbeiten. In ihrer Freizeit leitete sie eine Selbsthilfegruppe für Frauen, deren Ehemänner tranken und die zu Gewalt neigten. Das hatte sie ihr bei einem der letzten Telefonate erzählt. Fay fand das zwar großartig von ihrer Mutter, aber wirklich freuen konnte sie sich darüber nicht. Sie fühlte sich um ihre Kindheit betrogen, um die Zeit, in der ihre Mutter süchtig gewesen war. Diese Trauer hielt sie davon ab, ihre Mutter zu besuchen. Jedes Jahr zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten bekam sie einen Brief von ihr. Sie hatte diese Briefe ungeöffnet gesammelt. Sie lagen alle in ihrem Schrank, zusammen mit den vielen anderen Dingen, die sie irgendwann einmal erledigen wollte. Dort befanden sich auch die wenigen Fotos aus ihrer Kindheit und der Jugend, mit denen sie irgendwann einmal ein Album füllen wollte … Schon wieder diese Gedanken an früher – woher kamen die alle plötzlich? Fay war irritiert. Ihr früheres Leben schien sie einzuholen. Eine Woche vor ihrem 21. Geburtstag war sie bei ihrer Mutter ausgezogen. An diesem Tag hatte sie beschlossen, ihre Vergangenheit aus ihrem Leben zu streichen. Bis zum heutigen Tag hatte sie das auch erfolgreich praktiziert.
Fay bemerkte, dass sie immer noch im Gang stand. Pfötchen miaute inzwischen immer lauter und forderte ihre Aufmerksamkeit. Fay hörte den Strom summen. Sie schüttelte sich, und es war ihr, als ob sie aus einem Traum erwachte. Was war nur mit ihr los? Verwundert ging sie zu ihrer Wohnungstür und wollte aufschließen. Im Türrahmen steckte ein Umschlag. Sie nahm ihn heraus und erkannte die Schrift ihres Vaters. Keine Briefmarke. Er war also hier gewesen … Fay fiel der Wohnungsschlüssel aus der Hand. Pfötchen sprang erschrocken zur Seite und warf den Schirmständer, der neben der Tür stand, scheppernd zu Boden. Fay entfuhr ein Laut, den sie selbst nicht einordnen konnte. Ihr Herz machte einen Satz und begann, wie wild zu rasen. Das letzte Mal hatte sie mit ihrem Vater Kontakt gehabt, als sie 15 war. Mit dem Brief in der Hand bückte sie sich nach dem Schlüssel. Ihre Hände zitterten.