Federscherben - Jana Beek - E-Book

Federscherben E-Book

Jana Beek

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Beschreibung

Sie ist navigationsunfähig, sie ist hochfunktional, sie ist auf einer wichtigen Mission, um den Kontinent zu retten. Merkwürdige Wesen, manche davon leben in ihrem Kopf, andere außerhalb ihres Kopfes, begegnen ihr dabei und stellen sie vor ungeahnte Herausforderungen.

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Inhaltsverzeichnis

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

26. Kapitel

Orientierungslos und hektisch atmend saß sie aufrecht in ihrem Bett und schaute zuerst auf die Uhr. 1.56 Uhr. Schon wieder war sie mitten in der Nacht wach geworden und wusste nicht, wo sie sich befand. Gerade eben war sie noch in diesem Traum durch einen Schacht gekrochen, der immer enger wurde.

Sie knipste die Nachttischlampe an und nahm sich gleich ihr Notizbuch zur Hand. Dort musste stehen, was der letzte Stand der Dinge in ihrem Leben war und welche Fäden sie wieder aufnehmen musste. Sie blätterte mit zitternden Händen zum letzten Eintrag. Da. Fremde Schriftzeichen schauten ihr entgegen. Primitive Hieroglyphen, die sie unmöglich entziffern konnte. War das ein selbst erfundener Geheimcode oder eine echte andere Sprache? Was sollte sie jetzt damit anfangen?

Sie blätterte in dem Buch herum und stieß auf jede Menge Kauderwelsch in den verschiedensten Sprachen und Schriften, auch auf Abschnitte, die sie entziffern konnte, die ihr aber inhaltlich nichts sagten. Schlug das Buch zu.

Ich muss hier raus, schoss es ihr durch den Kopf, dieses Zimmer ist zu klein, ich ersticke. Sie griff sich an den Hals und zerrte an den Ausschnitt ihres T-Shirts. Rannte hinaus auf die Straße. Der Asphalt war nass unter ihren Füßen. Ein vereinzelter Bombeneinschlag durchschnitt die Luft. Das ist der Krieg aus dem benachbarten Stadtteil, dachte sie sofort. Ein Hinweis. Sie war in dieser Stadt, genau. Aber warum? Sie begann zu rennen, die Straßen waren menschenleer.

27. Kapitel

„Guten Morgen allerseits“, tönte es vom vordersten Pult in die Runde.

Sinija blickte auf. Sie musste kurz weggenickt sein. Die Nacht war wahrscheinlich wieder kurz gewesen, so genau wusste sie das nicht. Und ausgerechnet jetzt Teamsitzung. Es ging schon los.

„Wichtigste Frage, wie geht die Arbeit am 37. Friedensvertrag voran?“, fragte Go und begann in den Unterlagen zu wühlen.

„Die Arbeitsgruppe hat letzte Woche keinerlei Fortschritte erzielt“, stammelte Anne und blickte sich hilflos um.

Sinija hoffte einfach, dass sie nicht angesprochen wurde und versank möglichst tief in ihrem Stuhl.

“Okay, ich habe hier noch die Bilanzen des letzten Monats vorliegen“, Go rollte herum und verteilte dabei Zettel mit Zahlen drauf, „berücksichtigt das bitte für eure finanziellen Planungen.“

„Ich kann so nicht arbeiten, schon wieder eine Kürzung!“, empörte sich Schmidt und schwebte ein paar Zentimeter über seinem Stuhl, um seine Position zu unterstreichen. „Wie soll ich da Zielvorgaben erreichen, das ist doch Schikane!“

Aus seinem transparenten Kopf stiegen kleine Rauchwölkchen auf.

„Was schlägst du denn vor?“, fragte Go und die Öffnungen für seine Augen weiteten sich mit einem leisen „klick“.

„Meine Windkraftanlagen sind viel wichtiger als der Friedensprozess, der sowieso nichts bringt. Wir sollten diese ganzen Anstrengungen, den Konflikt zu klären fürs Erste begraben“, antwortete Schmidt und begann wild auf einem Taschenrechner zu tippen.

Go verdrehte die Augen und stieß einen Seufzer aus.

„Gestern Nacht gab es wieder drei Tote und sechs Verletzte bei Ausschreitungen, der Konflikt um die Biogasanlage hält die Stadt im Atem, die Bürger verlangen nach einer Lösung…“, ratterte er emotionslos runter.

„Immer dieselbe Leier, wie lange geht das schon so? Seit Monaten, Jahren? Die Besetzer werden nicht nachgeben, dafür steht für sie zu viel auf dem Spiel, das alles bringt nichts“, erwiderte Schmidt.

Es begann eine wilde Diskussion und alle redeten durcheinander.

Sinija versuchte den Überblick zu behalten und sich eine Meinung zu dem Thema zu bilden. Es waren so viele Stimmen, Handbewegungen, Papiere flogen herum, es wurde gepiept, gerattert, Haare gerauft, Türen geknallt. War die Teamsitzung aufgelöst, wie so oft wegen dieses Konflikts? Sinija nahm ihre Unterlagen und schlich sich aus dem Konferenzraum. Draußen auf dem Flur war ein neues Stimmengewirr der anderen Mitarbeiter, die sich dieses Spektakel zum Glück ersparen konnten.

„Hast du schon die Übersetzung für mich gemacht?“, raunte ihr plötzlich Svea von der Seite zu und rollte sich vor sie. Ihre roten Augen funkelten.

„Ich bin fast fertig“, erwiderte Sinija und schielte an ihr vorbei zu ihrem Büro, in das sie schnell verschwinden wollte. „Bekommst du heute Nachmittag, okay?“, rief sie und hechtete an ihr vorbei zu ihrem Zufluchtsort.

Rechts und links drangen die verschiedensten Stimmen an sie heran.

„Hast du schon den Abschlussbericht fertig?“

„Ich mache heute keine Mittagspause.“

„Nein, das wird nicht klappen.“

„Nächste Woche ist gut.“

„Peter hat mir seine Akten noch nicht gebracht.“

Sinija navigierte sich durch die Gespräche hindurch und ließ sich auf den Bürostuhl vor ihrem Bildschirm fallen. Vor der offenen Tür rauschte es unablässig weiter. Lachen, Schritte, Telefonklingeln, Husten, Stimmen verschmolzen zu einem Pulsschlag der Organisation.

Fünf Stunden später zuckte Sinija zusammen. Jemand hatte ihr auf die Schulter getippt.

„Die Besprechung, wir warten auf dich“, sagte Peter mit einem strengen Blick.

Sinija sprang sofort auf, holte die Unterlagen aus der Schublade und stolperte beim Aufstehen fast über den Drucker. Wie konnte sie nur das Treffen vergessen. Was hatte sie bloß den ganzen Tag über gemacht, es war mal wieder alles wie im Nebel.

Im zweiten Stock schlüpfte sie in das Besprechungszimmer. Diesmal war die Stimmung eine ganz andere. Neben ihr und Peter saßen Birte und Klaus und blickten sich schweigend an.

„Wir dürfen keine weitere Zeit mehr verlieren“, sagte Klaus betrübt. „In zwei Wochen soll die Expedition starten und bis dahin müssen wir top vorbereitet sein.

Sinija schluckte. Sie würde nicht teilnehmen. Sie würde fliehen. In eine andere Stadt, wieder untertauchen, sich verstecken. Versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Aber auf keinen Fall würde sie dort hingehen.

„Sinija, hörst du mich?“, fragte Klaus und sie schreckte auf.

„Es tut mir leid, ja, ich bin dabei“, murmelte sie.

„Du bist unser wichtigstes Mitglied. Ohne dich geht es nicht. Du weißt, was alles von dieser Mission abhängt? Die Zukunft unseres Kontinents. Ab heute bist du von deinen anderen Aufgaben freigestellt und fängst mit den Vorbereitungen an. Das heißt, du konzentrierst dich erstmal auf die Sache mit dem Fliegen“, erklärte Klaus mit ruhiger Stimme.

Fliegen. Bei diesem Stichwort setzte ihr Gehirn aus. Niemals. Sie wollte schreien. Ihr ganzer Körper wehrte sich gegen diese Vorstellung, ihr war als würde sich ihre Haut vor Aversion nach außen stülpen. Sie rannte raus.

Zu Hause überprüfte sie nochmals ihren Kontostand und den Betrag, den sie bisher gespart hatte. Es musste einfach reichen. Damals, als sie in der Stadt ankam, hatte sie sich sofort einen Kostenvoranschlag von diesem Arzt, der eingewilligt hatte, es zu machen, eingeholt. Es musste sofort geschehen, sie hielt es keinen Tag mehr aus.

Sie nahm ihre Tasche und erschrak vor einem Schuss. Es dauerte kurz, aber dann war ihr klar, die Kämpfe gingen wieder los.

Draußen dämmert es. War es Abend? Der Tag war wie immer zerteilt in unzusammenhängende Abschnitte, in denen die Zeit mal elend langsam, dann wieder ungeheuer schnell verging und kein Mensch wusste, was da eigentlich los war.

Sinija holte ihr Buch, da waren immer Anhaltspunkte notiert, um nicht auf dem offenen Meer verloren zu gehen. Sie steckte es ebenfalls in die Tasche und hastete die Treppe so schnell runter, als würde alles hinter ihr in Flammen aufgehen.

„Der Arzt hat jetzt keine Sprechstunde mehr“, sagte eine Stimme hinter ihr.

Klaus stand an die Hauswand gelehnt und hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben.

„Was machst du hier?“, fragte sie ihn.

„Dich zur Vernunft bringen. Du stürzt dich kopfüber in dein Unglück“, er drehte den Kopf und schaute sie direkt an.

Sie wich seinem Blick aus.

„Das sagst du nur, weil dein ach so wichtiges Projekt ohne mich in sich zusammenfällt. Ihr müsst euch jemand neues suchen, ich bin raus“, erwiderte sie und wollte weiter gehen.

Er stellte sich ihr in den Weg.

„Das stimmt nicht. Ohne dich läuft alles wie bisher, ich muss dich da leider enttäuschen. Vielleicht nur weniger durchdacht, weniger präzise, aber es wird laufen. Was mir gerade nur Sorge macht, ist, dass du dich mit deinem Vorhaben unglücklich machst. Diese OP wird keins deiner Probleme lösen, sie wird alles nur noch schlimmer machen.“

„Du hast gut reden“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, „du weißt nichts darüber wie es ist, in einem deformierten Körper zu stecken. Du hast einen perfekten Androiden-Körper bei dem du nach Belieben jedes Teil so austauschen kannst, wie es dir gerade passt. Was weißt du schon über mich?“

Sie lief an ihm vorbei auf die Straße.

„Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Für mein Baujahr wird auch immer weniger produziert und irgendwann fällt die Wartung ganz weg, dann stehe ich da“, rief er hinter ihr her.

„Klingt ja furchtbar“, murmelte Sinija und versuchte ihn mit schnellen Schritten abzuschütteln.

Eine Gruppe von lachenden jungen Frauen kam ihr entgegen. An einem Kiosk packte ein Mann Flaschen in seinen Rucksack. An der nächsten Kreuzung rannte Sinija fast gegen einen Spinnenmenschen und merkte, dass sie in die falsche Richtung unterwegs war. Sie blickte sich um. Es war schon dunkel geworden. Straßenbahnen fuhren piepend an ihr vorbei, Leuchtschilder blinkten, zwischendurch das Rattern eines Maschinengewehrs in der Ferne.

Sie musste sich jetzt orientieren. Bog in eine Seitenstraße ein und setzte sich in den erstbesten Eingang auf die Stufen. Holte ihr Notizbuch heraus.

Der letzte Eintrag war von vorheriger Nacht. Er handelte davon, dass sie wieder auf der Brücke saß und sich nicht überwinden konnte zu springen. Sie ärgerte sich über sich selbst und ihre Unfähigkeit, irgendeinen Plan durchzuziehen. Ihr Leben war gepflastert von den Überresten abgesagter Vorhaben und unvollendeter Aufträge. Natürlich hatte sie jetzt Angst vor den Schmerzen und einem noch erbärmlicheren Zustand. Jeder Weg war wie eine Sackgasse. Sinija klappte das Buch zu und ging nach Hause.

28. Kapitel

Am nächsten Morgen war sie noch vor allen anderen im Büro und machte sich daran, den Stapel auf ihrem Schreibtisch endgültig abzuarbeiten. In einem Verwendungsnachweis war eine Zelle noch fehlerhaft berechnet, sie machte sich auf die Suche nach den Belegen, um die Beträge zu überprüfen. Beim Ausdrucken der Auszahlungsanordnung stellte sie fest, dass noch ein falsches Datum verwendet wurde und schon musste alles neu gemacht werden.

In einer anderen Akte wurde das Budget überschritten, sie schrieb eine Nachricht an die Abteilung, um über die Kürzung zu informieren. So ging es Akte um Akte und Schriftstück um Schriftstück, bis der Trubel um sie herum wieder anwuchs und die normale Betriebsamkeit erreichte.

Sinija blickte auf und registrierte erst jetzt das lebhafte Geschnatter der Menschen und Geratter der Geräte. Sie war jetzt fertig. Was für ein gutes Gefühl, diese Arbeit abschließen zu können. Es verschaffte ihr bedingungslose Genugtuung den Schreibtisch leer zu sehen, alles andere ordentlich verräumt zu haben. Jetzt konnte sie sich ihrer neuen Aufgabe zuwenden. In diesem Moment spürte sie zu hundert Prozent, dass das der richtige Weg war, ein ihr vorbestimmter Pfad, den sie nur zu gehen brauchte und dann würde alles in Ordnung sein.

Sie holte schnell ihr Notizbuch heraus und hielt ein paar dieser Gedanken fest. Sie waren wichtig, um nicht wieder in den Strudel zu geraten.

Und dann war es schon Zeit für das Meeting mit Klaus, Peter und Birte. Mit Schwung nahm sie die Treppe nach unten. Ihr Kopf war schon lange nicht mehr so klar gewesen. Sie fühlte sich energiegeladen, selbstsicher und ausgeruht. Auf dem Flur kam ihr Klaus aus dem Aufzug entgegen. Sie strahlte ihn an und spürte ein flaues Bauchgefühl vorbeihuschen.

„Ich habe oben schnell noch alles abgearbeitet, damit nichts liegen bleibt. Habt ihr schon jemand neues für meine alte Stelle? Wenn ja, könnte ich denjenigen einarbeiten“, sprudelte es aus ihr heraus und sie erreichten gemeinsam das Besprechungszimmer.

„Ähh…“, sagte Klaus bloß und seine Augäpfel huschten hin und her.

„Perfekt!“, strahlte ihnen Peter entgegen und drückte ihnen gleich Zettel in die Hände. „Wir legen auch schon los.“

Sinija überflog das Blatt und scannte es nach den wichtigsten Schlagwörtern ab. Sie setzten sich, Birte war auch schon da.

„Ihr wisst ja, der Plan steht“, sagte Peter und kritzelte noch irgendwas auf Papieren herum. „Wir müssen ja nicht nochmal alles im Detail durchgehen.“

„Was ist mit den Solaranlagen, wir haben immer noch keine Lösung für das Problem“, warf Birte ein. „Ihr wisst, wenn die Energielieferungen einbrechen, ist nicht nur unser Kontinent in Gefahr. Das wirtschaftliche Gleichgewicht auf der ganzen Welt…“

„Langsam“, unterbrach Peter sie und machte eine entsprechende Handbewegung. „Ich habe ein Team auf das Problem angesetzt. Ich bin mir sicher, dass es eine Lösung geben wird.“

Birte guckte skeptisch.

„Was soll ich machen, was schlägst du vor?“, rief Peter jetzt energischer. „Es ist ein Dilemma. Entweder trocknet alles aus oder wir haben nicht genug Strom.“

„Wenn wenigstens der Streit um die Biogasanlage…“, warf Birte ein.

„Oh nein, nicht das Thema schon wieder“, Peter winkte ab. „Zur Sache. Was ist sonst noch unklar?“

„Flugstunden“, sagte Klaus und blickte unsicher zu Sinija rüber.

„Ich kümmere mich darum“, sagte Birte im neutralen Tonfall.

Peter warf Sinija einen besorgten Blick zu, den sie so gut es ging ignorierte.

„Sprache?“, fuhr Klaus fort.

„Ich hab meine Kenntnisse aufgefrischt, das müsste reichen“, erklärte Sinija.

„Gut. Also den weiteren Zeitplan findet ihr auf dem zweiten Blatt“, sagte Peter, „aber das wichtigste, verliert das bitte nicht aus den Augen. Wir brauchen eine handfeste Kooperation. Egal, wie diese aussehen wird, es muss eine gemeinsame Basis geben.“

„Du weißt, das kann dir niemand garantieren“, erwiderte Klaus und klickte mit seinem Kugelschreiben herum. „Alles, was wir über die wissen lässt uns vermuten, dass wir mit massivem Widerstand rechnen müssen. Wer weiß, vielleicht züchten wir uns im schlimmsten Fall einen neuen Krieg heran.“

„Glaub ich nicht“, rief Peter, „die sind ja noch nicht einmal militarisiert und mit ein paar Bogenschützen werden wir schon fertig. Nein, ich hab das im Gefühl, Sinija wird das schon hinbekommen“, er zwinkerte ihr zu.

Und er fing wieder an die Unterlagen zusammen zu schieben.

„Wir bleiben in engem Kontakt, bis es losgeht. Ich möchte über alles genauestens informiert werden. Es darf nichts schief gehen, wir haben nur diesen einen Versuch, alles klar?“, Peter erhob sich.

Sinija und die anderen nickten.

Kurze Zeit später betrat sie den Aufzug. Schmidt war ebenfalls auf dem Weg nach unten.

„Du kannst dir nicht vorstellen, mit was für Dilettanten ich es zu tun habe“, legte er los und schwebte näher zu Sinija.

Sie hob fragend die Augenbrauen.

„Dieser neuer Mitarbeiter, der angeblich aus der Verwaltung der Windkraftwerke kommt, hat schon wieder auf das falsche Konto gebucht!“, empörte er sich und sein grau-braun durchsichtiges Gesicht zog sich zusammen als hätte er in eine Zitrone gebissen.

„Du hast zu hohe Ansprüche“, merkte Sinija an, holte einen Apfel aus ihrer Tasche und biss hinein. „Wie soll irgendein normaler Mensch dem gerecht werden?“

„Du schaffst es“, postulierte er und hob seinen spitzen Zeigefinger. „Bei dir hatte ich nichts zu meckern. Diese Präzision, Sorgfalt, Detailtreue…“, schwärmte er und schloss die Augen als würde er träumen. „Und jetzt nehmen sie dich uns weg für dieses angeblich wichtige Projekt“, erzürnte er sich wieder theatralisch.

Sinija lachte. „Hör auf. Ich hab es genauso gut gemacht wie alle anderen. Wir haben halt alle nicht die Erfahrung, die ein tausend Jahre alter Geist aus der Verwaltung mitbringt.“

„Tausend Jahre alter Geist“, äffte er sie nach. „Ich kann es nicht mehr hören. Das hat nichts damit zu tun. Und glaub mir, ich erkenne, wer Talent hat und wer nicht. Du kommst doch wieder, oder?“, und machte einen Abgang.

Sinija schaute ihm länger hinterher bis sich die Tür wieder schloss. Notierte schnell in ihrem Buch: Kontakt mit anderen Menschen, nein, Lebewesen, ist gut, um nicht im Nebel zu verschwinden.

29. Kapitel

„Wir machen heute einen Probeflug“, sagte Birte in der alten Lagerhalle.

Ihre Stimme hallte durch den riesigen Raum, in dem früher alle möglichen Teile einer Geothermieanlage untergebracht waren.

Sinija merkte wie ihre Atemwege sich zuzogen. Ihre Füße gingen auf Birte zu und ihre Augen und ihr Mund fingen an mit ihr über Flugtechniken zu sprechen, aber ihre Gedanken schweiften weit, weit weg.

Zurück in die Vergangenheit, in die Dorfgemeinschaft, aus der sie kam. Nein, eigentlich waren sie und ihr Vater dort totale Außenseiter gewesen, er lebte schon vor ihrer Geburt etwas abseits in seinem eigenen Bauernhaus mit seiner Ziege und dem Kartoffelacker. Nachdem Sinija geboren, nein, geschlüpft war, und er sie allein aufzog, verschärfte sich die Situation. Sie hatte sich schon immer für ihr Aussehen geschämt, auch wenn ihr Vater ihr das nie vermittelt hatte, aber sie wusste, dass sie den anderen ein Dorn im Auge war.

„Wir sollten erst einmal ein paar Trockenübungen machen“, sagte Birte und Sinija hatte Mühe, sich auf die verschiedenen Ebenen in ihrem Kopf zu konzentrieren, sie auseinander zu halten.

„Ich bin falsch, weißt du“, erwiderte Sinija mit ruhiger Stimme, „du denkst ich bin die richtige für das Projekt, aber ich bin eine Schwindlerin, eine Hochstaplerin, eine falsche Person. Falsch geboren, falsch aufgewachsen, ein falsches Leben. Ich hätte dort bleiben sollen und mich vereinnahmen lassen, sie wollten mich essen, weißt du?“

Sinija dachte an das Tribunal, an dem über ihr Schicksal entschieden wurde und sie starrte in die gierigen Augen der Ältesten, ihre zahnlosen Münder, die knochigen Hände, an denen manche Fingergelenke fehlten. Es war dieser Moment, an dem sie wusste, dass sie nicht bleiben und nicht sterben wollte, dass sie fliehen musste. Auch wenn sie mit dieser Entscheidung nie ihren Frieden finden würde.

Birte schaute hilflos herum und stammelte irgendwas davon, dass Kulturen ja so unterschiedlich sein konnten. Sinija lief vorsichtig durch die Halle und ließ ihren Blick über alte Metallgestelle, abgeplatzte Farbe und Bauschutt gleiten.

„Die Vogelmenschen stürzen sich in den Abgrund, wenn sie nicht mehr fliegen können, wusstest du das?“, fragte sie Birte.

Die Kollegin drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf.

„Ihr Leben ist dann sinnlos geworden. Demzufolge habe ich erst recht keine Daseinsberechtigung, nie eine gehabt. Bin aber zu willensschwach, um die Konsequenzen zu ziehen. Zu wehleidig. Zu verkopft. Das Schlechteste von allen Welten.“

„Sinija, das stimmt nicht“, sagte Birte. „Du bist nicht hier, weil du feige geflohen bist. Mach dir ihre Sichtweise nicht zu eigen, das bringt nichts. Das ist Selbstsabotage. Du hast als einzige den Mumm gehabt, denen den Rücken zu kehren, auf Integration und Anerkennung zu verzichten, auf alles zu verzichten. Und nun denk mal logisch, wir haben darüber gesprochen, das Training…“

„Ich weiß, ich weiß“, Sinija kratzte sich am Hinterkopf. „Ich bin voll auf Kurs. Wenn meine Gedanken nur nicht so herumspringen würden.“

„Bist du später auch auf der Verabschiedung von Daniel?“, fragte Birte.

Sinija nickte.

„Okay, dann lass uns noch ein paar Sachen besprechen und dann fahren wir hin, okay?“

30. Kapitel

„Er meinte, er will auf seine alten Tage in die Bücherstadt reisen und ihr Geheimnis lüften“, sagte Svea und schenkte den anderen Sekt ein.

„Das darf er nicht, das ist lebensgefährlich“, entrüstete sich Schmidt und fuchtelte mit den Händen.

„Ach Schmidt, das war doch nicht ernst gemeint“, erwiderte Svea und verdrehte die Augen. „Du bist immer so humorlos.“

„Darüber macht man keine Scherze. Da sind schon Hunderte umgekommen“, erklärte Schmidt und rückte seine Brille zurecht.

„Falsch. Nicht zurückgekommen“, ergänzte einer, dessen Namen Sinija nicht kannte.

Sie wartete eigentlich nur noch auf eine passende Gelegenheit, um sich unauffällig zurückzuziehen und die Veranstaltung unbemerkt zu verlassen. Vielleicht war jetzt ein guter Moment, alle schienen in ein emotional aufgeladenes Gespräch über die Bücherstadt vertieft. Sinija überlegte, dass es nicht schlecht wäre, so zu tun, als würde sie sich beim Buffet nochmal was holen, denn gleich rechts davon war die Ausgangstür und dahinter die Garderoben.

Sie schlich dorthin und ließ ihren Blick über die Teller und Servierschalen wandern, so als würde sie sich noch nicht entscheiden können, was sie nehmen sollte.

„Entschuldigung“, sagte eine Stimme neben ihr und sie zuckte unwillkürlich zusammen.

„Ich wollte mich kurz vorstellen, ich bin De, seit heute offiziell dein Nachfolger“, sagte ein junger Mann und reichte ihr die Hand.

Sinija schüttelte diese und schaute nur nach unten auf den abgenutzten Parkettboden. Sie wusste nicht, was sie sonst machen sollte.

Nach einer kurzen Pause entfernten sich die Hände wieder voneinander und keiner sagte etwas. Sinija dachte an ihre Fluchtpläne und wusste jetzt nicht mehr wohin mit sich.

„Vielleicht…“, stotterte ihr Gegenüber, „kannst du mir ja bei Gelegenheit ein paar Handgriffe zeigen. Ich komme noch nicht so gut zurecht und alle schwärmen davon, wie du die Abrechnung abgewickelt hast.“

„Ja, gerne“, Sinija nickte etwas übertrieben und dann quetschte sich jemand zwischen sie, der zum Buffet wollte.

Das Gemurmel der anderen schwoll jetzt wieder an, umhüllte sie. Es wurde gelacht und geschäkert und eine Gruppe von Leuten schwemmte sich und Sinija nach draußen. Sie stellte fest, dass es dunkel geworden war und betrachtete die Schwärze, durch die ein paar graue Schleier zogen.

„Ich glaube, ich seile mich langsam mal ab“, kündigte Sinija an.