Stadtunterwelt - Jana Beek - E-Book

Stadtunterwelt E-Book

Jana Beek

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Beschreibung

Der scheue Gesellschaftswissenschaftler Juri bereitet die Eröffnung des Stadtmuseums der selbstorganisierten und freien Stadt Mela vor - sein lange geplantes Projekt. Doch dann gerät er unfreiwillig in die Schlagzeilen und es beginnt eine Hetzjagd auf ihn. Juri weiß nicht anders damit umzugehen, als in die Unterwelt von Mela zu flüchten. Als dabei sein Bezug zur Realität ins Schwanken gerät, droht er alles zu verlieren: seine Familie, seinen Partner und seinen Verstand.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

-1-

„In fünfzehn Minuten bin ich da“, las Juri auf seinem Taschencomputer und steckte diesen wieder ein.

Bald würde Marc, ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung Mela, vor der Tür stehen, damit sie besprechen konnten, wie es mit dem Stadtmuseum weiterging. Juri lief unruhig in der Sammlung auf und ab. Er wusste nicht, ob er sich auf dieses Treffen freuen sollte oder nicht. Einerseits konnte er es kaum erwarten dieses Projekt, welches seit zehn Jahren auf Sparflamme kochte, wiederzubeleben und ihm die Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken, die es verdiente. Andererseits kannte er diesen Marc nicht und konnte nicht wirklich abschätzen, ob sie bezüglich dieses Projektes auf einer Wellenlänge waren und ob Juri die notwendige Zeit im Rahmen seiner familiären und beruflichen Verpflichtungen aufbringen konnte.

Er seufzte und setzte sich halb auf eine Tischkante. Das Stadtmuseum war eine Angelegenheit; da waren noch seine beiden Kinder, auch wenn diese schon etwas älter waren, seine Lehrverpflichtung für die Universität in Mela, die ehrenamtliche Betreuung der alten Bibliothek und schließlich die bevorstehende Konferenz, die er zwar nicht federführend organisierte, aber dennoch intensiv daran beteiligt war. Das waren alles Herzensangelegenheiten und Juri war froh, seine Finger überall im Spiel zu haben, auch wenn die Koordination manchmal nicht so einfach war und manches liegen blieb. So wie dieses Museum. Aber das sollte sich ja jetzt ändern.

Juri schreckte auf, als die Tür des Ladens, in dem das Museum sich vorübergehend befand, aufgerissen wurde und ein jüngerer Mann hereinstürzte. Das musste wohl Marc sein. Von ihm tropfte es von allen Seiten und er wischte sich genervt durch seine kurzen braunen Haare, um das Wasser darin loszuwerden. Juri stand auf und ging durch den länglichen Raum, der früher eine Werkstatt gewesen war, auf ihn zu.

„Hey“, sagte Juri und blieb vor dem Besucher stehen. „Du musst Marc sein. Ich bin Juri“, sie schüttelten sich die Hände und Juri versuchte sich ein Bild von seinem Gegenüber zu machen.

Marc trug Turnschuhe, eine Jeans und eine dunkelblaue Jacke aus Segelstoff, die er auszog und in der Hand hielt. Darunter zeigte sich ein T-Shirt in anthrazit. Er musste etwa Mitte dreißig sein und hatte eine lockere Aura um sich, nicht wie die klassische Riege von Stadtangestellten, die aber auch immer weniger wurden. Letztes Jahr hatte er Neev kennen gelernt, sie war wohl Marcs Kollegin, und sie war ebenfalls ganz sicher nicht die althergebrachte Erscheinung einer Sachbearbeiterin.

„Lass mich deine Jacke auf die Heizung hängen“, Juri nahm ihm das Kleidungsstück ab und lief nach hinten. „Hier sind wir auch schon gleich mittendrin“, rief Juri über seine Schulter und drapierte die Jacke über dem Heizkörper. Es war immerhin erst Februar und Juri wollte nicht, dass Marc sich später in der Kälte den Tod holte. „Hier ist die ganze Sammlung, etwas chaotisch, aber ich habe mir fest vorgenommen, die Sachen endlich in einen präsentablen Zustand zu bringen“, Juri machte eine weitreichende Handbewegung über die vielen Regale, Kisten und Haufen, die sich in dem Raum verteilten.

Juri drehte sich wieder um und schaute Marc fragend an. Es war das erste Mal, dass sie sich beide bewusst in die Augen schauten. Juri konnte nicht genau sagen, was er in denen seines Gegenübers sah. Marc hatte eine natürliche Autorität an sich, ein angenehmes Einnehmen des Raumes und der Leute um sich. Es ging etwas von ihm aus, das Juri spüren ließ, dass Marc gerne die Sachen in die Hand nahm und federführend wirkte. Nicht auf eine arrogante und prahlerische Art und Weise, sondern mit Kollegialität, Fachkompetenz und Selbstsicherheit.

„Ich habe bereits einen Blick in die Liste mit den leerstehenden Gebäuden und Ladenflächen geworfen und habe mir ein paar Objekte herausgeschrieben“, Marc holte einen Stift und Zettel aus seiner Hosentasche und faltete den letzteren auseinander. „Erzähl mir mehr über dieses Projekt und wir können zusammen überlegen, welche Räume die richtigen dafür sind.“

„Gerne“, Juri rieb sich die Hände. „Willst du einen Tee?“

„Ja, gerne. Schwarz ohne alles.“

Juri ging nach hinten in die kleine Küche und ließ das Wasser aufkochen. Tausend Gedanken schwirrten in seinem Kopf und er fühlte eine angenehme Unruhe in sich aufsteigen. Natürlich, er wollte Marc beeindrucken und nicht wie ein verwirrter Sachensammler dastehen. Aber er wollte es auch nicht übertreiben und vorgeben, jemand zu sein, der er nicht war. Marc sollte ein realistisches Bild von der Lage des Museums bekommen.

„Bitte sehr“, er drückte Marc die Tasse in die Hand und ihre Finger berührten sich dabei kurz.

„Erzähl mir doch mal, was du dir für dieses Vorhaben so vorstellst und wie wir als Stadtverwaltung dich dabei unterstützen können“, Marc setzte sich auf einen der Tische und umfasste die Tasse mit beiden Händen.

Juri suchte sich einen Platz gegenüber von ihm und lehnte sich an einen Pfosten. „Es gibt nicht viel zu erzählen“, er schob seine Brille hoch und strich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe, „ich habe vor über zehn Jahren, kurz nachdem ich hierhergekommen bin, angefangen Artefakte und Überbleibsel aus der Entstehungszeit von Mela zu sammeln und aufzubewahren. Dabei hatte ich immer die Vision, diese für ein Stadtmuseum zu verwenden. Nachdem mein Partner kurz darauf gestorben war und ich mich allein um unsere beiden Kinder kümmern musste, rückte das Projekt immer mehr in den Hintergrund, leider. Wie so einiges…“, Juri räusperte sich.

„Das tut mir leid“, sagte Marc mit belegter Stimme.

Juri winkte ab und stieß sich von dem Pfosten ab, lief durch den vollgestellten Raum. „Seit dem Neujahrsfest lässt mich der Gedanken nicht mehr los, dieser Sammlung ein besseres Zuhause zu geben. Eigentlich hat mich Neev darauf gestoßen.“

„Ach ja?“, ein Lächeln umspielte Marcs Lippen. „Ich kann mir vorstellen, warum.“

„Hm?“

„Sie pflegt eine besondere Leidenschaft für Mela, besonders für die verlorenen Orte hier. Wie habt ihr euch kennengelernt?“

„In der alten Bibliothek, auch so eine Leidenschaft von mir. Sie ist eines Tages mit Theo dort aufgetaucht und dann sind wir uns immer wieder über den Weg gelaufen.“

Marc nickte und stellte seine Tasse neben sich ab, verschränkte die Arme vor sich. „Sie hat dich auch in ihrer Graphic Novel erwähnt.“

„Oh ja, jetzt wo du es sagst. Stimmt, du kommst auch darin vor.“

Juri konnte sich noch gut daran erinnern, wie Neev Marc gezeichnet hatte. Nachdenklich, als Gesprächspartner, als Vertrauensperson, als Gleichgesinnten. Sie mussten sich sehr nahe stehen. Eine Freundschaft, um die sie Juri beneidete. In dem Trubel seines Lebens hatte er nur seine KollegInnen und Bekannte als Kontakte außerhalb seiner Familie, auch wenn viele davon ihm sehr ans Herz gewachsen waren.

Marc stand auf und lief ein bisschen herum.

„Ich hab jetzt einen ganz guten Eindruck von dem Umfang und der Richtung des Museums, es würde ganz gut zu den Läden passen, die ich herausgesucht habe. Also würde ich vorschlagen“, er kratzte sich an seinem Dreitagebart, „dass wir uns in den nächsten Tagen ein paar Objekte anschauen und dann entscheiden, wie es weitergeht. Was denkst du?“

„Gute Idee.“

„Hier habe ich die Adressen der leerstehenden Räume“, Marc zeigte auf seinen Zettel und Juri kam dazu, um da drauf zu schauen. „Was hältst du davon, wenn wir uns morgen gleich hier treffen“, Marc zeigte auf die erste Adresse.

„Morgen, beziehungsweise diese Woche würde noch gehen. Das Semester fängt erst nächste Woche an. Also gut, morgen dann dort“, Juri steckte den Zettel in seine Jacketttasche.

-2-

„Heute ist Elternsprechtag“, Lea kaute auf ihrem Brot herum und schaute zu Juri rüber. In ihrem übergroßen grauen Pullover, mit schwarzen verblassten Sternen, der an einigen Stellen durchlöchert war, und den grünen Strähnen in den Haaren sah sie wie immer sehr verwegen aus.

„Hab ich nicht vergessen“, erwiderte dieser und lächelte. „Ich werde da sein. Und bei dir Petr, was steht an?“

„Das übliche, Unterricht und dann Vorbereitungen auf die Abschlussprüfung in zwei Monaten“, erwiderte er, ohne von seinem Taschencomputer aufzuschauen. Im Gegensatz zu Lea war Petrs Pullover schwarz und makellos, seine dunklen Haare lagen in einer so ordentlichen Kurzhaarfrisur, die Juri neidisch werden ließ.

„Dann sehen wir uns später beim Mittagessen?“, fragte Juri und trank seine Teetasse leer.

„Jo, bis dann“, seine Tochter sprang vom Stuhl auf, schnappte sich ihre Tasche und verschwand aus dem Haus. Petr folgte ihr wenig später.

Juri räumte noch etwas die Küche auf und sondierte die Lebensmittelvorräte, machte sich ein paar Notizen, um nicht zu vergessen Kartoffeln, Salz und Brot zu besorgen. Noch war etwas Zeit, um zum Treffen mit Marc aufzubrechen. Juri schaltete seinen großen Computer ein und überflog die Listen mit den Studierenden, die sich für das nächste Semester bei ihm angemeldet hatten, es waren um die fünfzig und das war eine gute Zahl. Dann beantwortete er eine Anfrage von der internationalen Konferenz, an der er Ende nächster Woche teilnehmen würde. Er hatte seinen Vortrag dazu natürlich schon längst eingereicht, wurde aber noch angefragt, ob er an einer Diskussion teilnehmen wollte. Wollte er. Es war immer gut, Sichtbarkeit herzustellen, vor allem, wenn er für eine so abseitige Uni arbeitete wie die in Mela.

Als nächstes registrierte Juri die Nachrichten von O-lena, seiner Schwägerin. Er musste sich bei ihr melden, aber dafür brauchte er mehr emotionale Reserven, als er heute zur Verfügung hatte, also verschob er eine Antwort abermals auf einen anderen Tag.

Schließlich zog er sich sein übliches nachtblaues Jackett über das hellgraue Hemd und machte sich auf den Weg, um aus seinem Stadtteil Bergen in die Innenstadt zu fahren und einen neuen Ort für das Stadtmuseum auszukundschaften. Die autonome Bahn fuhr in dieser Gegend, die als eine der wenigen in der unabhängigen Stadt Mela von Einfamilienhäusern geprägt war, nicht so oft wie in den dichter besiedelten Stadtteilen, aber es reichte für Juri aus, um mit dem Rest der Welt verbunden zu sein. Er stieg ein, sobald die Bahn vor ihm hielt und schlug drinnen sofort den neuen Artikel seines Kollegen Steege auf dem Minicomputer auf, um ihn zu überfliegen.

Es ging dort wie so oft auch um den globalen Konflikt, der letztes Jahr ausgebrochen war und an dem vor allem die Großkonzerne aus den verschiedenen Kontinenten beteiligt waren. Seitdem stritten auch die WissenschaftlerInnen um den richtigen Umgang mit den verschiedenen Positionen und der Frage, ob und wie man sich auf eine Seite schlagen konnte und was das für Konsequenzen hatte. Mela hatte unter dem Konflikt ordentlich gelitten, seit die Versorgung mit Strom und anderen lebenswichtigen Produkten, die in der Stadt nicht hergestellt werden konnten, zum Erliegen gekommen war.

Juri wollte so etwas nicht noch einmal erleben, es hatte sie alle in ihren Grundfesten erschüttert. Steege hatte natürlich eine andere Perspektive auf die Angelegenheit, er lebte und arbeitete in der Ostebene, in der generell eine strengere Sicht auf die Dinge gängig war. Dort und auf anderen Kontinenten wurde Mela – das wusste Juri, auch wenn es nicht offen ausgesprochen wurde – als eine Ansammlung von Hippies angesehen, die sich ihre eigene Insel aufgebaut hatten, aber dennoch vom Kuchen der Großen etwas abhaben wollten. Dies hatte Steege ihm noch nie ins Gesicht gesagt, aber er ließ es durchblicken, auch in dem Artikel. Trotzdem, fand Juri, konnten sie sich auf einer gemeinsamen Ebene verständigen und pflegten einen fruchtbaren Austausch nicht nur auf der wissenschaftlichen, sondern auch persönlichen Ebene. Es hatte wohl viel mit dem zutun, woher Juri selbst kam.

Kaum war er in seinen Gedanken versunken, da hielt die Bahn schon an seiner Haltestelle und Juri sprang heraus. Es dauerte etwas, bis er sich in den eng bebauten Gassen mit den vielen umfunktionierten Ladengeschäften orientiert hatte und an den richtigen Ort kam. Schließlich stand er vor einem zweistöckigen Haus aus der Gründerzeit von Mela und schaute sich um. Hier in der Nähe war die neue Bibliothek und der Markplatz, auf dem zwei Mal die Woche die Erzeuger des Umlandes ihre Waren anboten, Supermärkte und andere Geschäfte waren in der wirtschaftlichen Konzeption von Mela nicht vorgesehen und somit obsolet.

Juri überquerte die Straße, dabei ging sein Blick zuerst nach unten, er kam an einem Kanaldeckel vorbei. Die Kanalisation Melas hatte schon immer eine merkwürdige Faszination auf ihn ausgeübt. Klar, sie war schmutzig und düster, aber symbolisierte sie nicht auch das Unterbewusste, das Verdrängte, das nicht beachtete? Alles Dinge, die Juri magisch anzogen.

Als nächstes ging sein Blick nach oben und im obersten Geschoss entdeckte er große Fensterreihen, die viel Licht durchließen und durch die Lage an einem Eckhaus eine interessante Innenlandschaft versprachen.

Die Tür unten war offen, also trat Juri hindurch und lief die Treppenstufen nach oben. Dort angekommen sah er eine weitere Tür, die angelehnt war. Er schob sie mit einem Quietschen vorsichtig auf und trat ein. Vor ihm erstreckten sich lichtdurchflutete, wenn auch lange schon nicht gereinigte Fenster, davor ein leerer Raum, nur durch Marc ausgefüllt, der mit dem Rücken zu ihm davor stand.

Juri atmete tief ein und lief ein paar Schritte, stellte sich neben ihn.

„Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich mehrere Vorschläge für den Standort des Museums habe, aber eigentlich ist das hier der einzige Ort, der meiner Meinung nach in Frage kommt“, erklärte Marc, immer noch mit Blick nach vorne.

„Ach ja?“, erwiderte Juri und drehte sich zu ihm.

„Hmm“, Marc schaute ihn an und lächelte. „Hier ist eine der wenigen Stellen, an denen man etwas über die Stadt schauen kann“, er streckte den Arm aus und zeigte auf den Ausblick vor ihnen, bei denen ein paar Häuserreihen und dahinter der Stadtpark zu sehen waren, es war wirklich ungewöhnlich für Mela. Wenn man nicht gerade auf einer Erhöhung stand, dann sah man meistens nur bis zum nächsten Haus. „Darüber hinaus wollte ich deiner Sammlung einen besonderen Ort geben. Das hier war mal eine Kunstgalerie, etwas Einzigartiges, das es sonst nirgends in Mela gibt. Diese Fensterfront, diese Helligkeit, diesen großen Raum, den gibt es sonst nirgends. Ich verwalte die Räume und war sicherlich in jedem alten Supermarkt und jeder Garage und jeder Werkstatt. Aber natürlich ist es deine Entscheidung, du musst dich hier wohlfühlen.“

Juri löste sich von Marc und lief durch den leeren Raum, der locker doppelt so groß war wie der bisherige Ort. Der helle Holzboden war weich und ansprechbar, wenn auch ein Abschliff sicher nicht schaden würde. Die Wände waren bis auf ein paar Abnutzungen weiß und hoch, an den Decken befanden sich mehrere Lampen, die sicher ein dezentrales Licht verbreiteten, wenn sie eingeschaltet waren. Waren es die richtigen Räume? Juri hatte die Befürchtung, dass Marc sich zu viel versprach, dass diese schöne Galerie zu gut war für das, was er da hobbymäßig zusammengetragen hatte.

„Also, was denkst du?“, Marc stand plötzlich hinter ihm.

„Ich weiß nicht“, Juri drehte den Kopf und nahm kurz Augenkontakt auf, drehte sich dann weg, lief ein paar Schritte auf und ab. „Du hast die Sachen gesehen? Vieles davon ist in einem erbärmlichen Zustand, verstaubt, unsortiert, halb zerstört…“

„Hey“, unterbrach ihn Marc und berührte ihn kurz am Ellenbogen, „du kannst dir das ruhig gönnen, wenn es dich anspricht. Ich habe das hier schon seit Jahren für einen besonderen Anlass zurückgehalten. Ich denke, der ist jetzt gekommen. Ich würde mich freuen, wenn du diesem Ort neues Leben einhauchen würdest.“

„Okay“, nickte Juri.

„Sicher? Du kannst auch noch eine Nacht drüber schlafen, ich wollte dich nicht drängen…“

„Nein, es ist eigentlich perfekt…“, Juris Blick glitt abermals durch den großen Raum, der so viel Platz bot. „Es liegt zentral, etwas erhöht. Ich wollte das Museum endlich aus der dunklen Ecke der Stadt holen und es dort ansiedeln, wo viele Menschen vorbeikommen und darauf aufmerksam werden, weißt du?“

„Hmm.“

„Meinst du…“, Juri drehte sich wieder zu Marc um.

„Was?“, Marc legte seinen Kopf schief und schaute ihn eindringlich an.

„Dass…“, Juri suchte nach den richtigen Worten. „Dass es das richtige für die Stadt ist, dass die Leute es anschauen wollen? Vielleicht habe ich auch deshalb so lange damit gewartet, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil es eine Schnapsidee war… Vielleicht will niemand mehr etwas mit der langweiligen Vergangenheit zu tun haben? Vielleicht…“

„Juri“, Marc lächelte und schüttelte den Kopf. „Das sehe ich überhaupt nicht so. Und ich habe mit meinen KollegInnen von den zentralen Diensten gesprochen, wir sind alle Feuer und Flamme, ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein wunderbarer Beitrag für die Stadtkultur ist. Und falls es dich beruhigt: wir werden ab jetzt die Aufgaben auf vielen unterschiedlichen Schultern verteilen, dann musst du nicht alles allein machen. Du hast natürlich die Federführung. Ist das okay für dich?“

Juri atmete aus und spürte einen Ballast von sich abfallen. Woher wusste Marc nur, dass es genau das war, was er jetzt brauchte? Juri nickte und konnte ihm nicht in die Augen schauen, zu viel Fragilität schwirrte durch seinen Kopf und er hatte Angst, dass sie aus ihm herausfließen würde.

„Prima“, Marc klopfte ihm auf die Schulter und holte seinen Taschencomputer heraus. „Lass uns eine Liste von Dingen machen, die wir besorgen müssen, um das hier fertig zu machen für das Museum.“

„Gute Idee.“

Sie setzten sich in den Schneidersitz auf den Boden gegenüber voneinander und Marc begann pausenlos auf seinem Computer zu tippen.

„Ich denke, als erstes sollten wir den Boden hier einmal abschleifen“, murmelte er vor sich hin, „und die Wände einmal streichen. Ich lasse die Elektronik überprüfen.“

„Das ist bestimmt viel Arbeit“, warf Juri ein, „hat die Stadt diese Ressourcen, es gibt doch so viel anderes, das bestimmt dringender ist…“

„Das ist ein Tag Arbeit, das bekommen wir hin“, winkte Marc ab. „Dann brauchen wir neue Regale. Möchtest du die Sachen in Vitrinen präsentieren?“

„Nein, das käme mir komisch vor…“, sinnierte Juri, „das wäre mir zu abgehoben.“

„Gefällt mir“, nickte Marc, „aber wenn die Leute alles abfassen, nutzen sich die Dinge schnell ab.“

„Okay“, Juri zuckte mit den Schultern, „besser sie haben eine Verbindung dazu aufgebaut als dass sie nur durchlaufen und nichts hängen bleibt, weißt du? Vielleicht würde ich besondere Objekte wie das erste Grundgesetz von Mela hinter Glas stecken.“

„Hört sich vernünftig an. Wie ist es sonst mit einem Konzept, ich meine, gibt es einen Kinderbereich, Stationen zum Ausprobieren… oh, wir sollten so eine Art Quiz machen mit Klappen, hinter denen die richtigen Antworten sind, was denkst du?“

„Guter Einfall, an sowas habe ich noch gar nicht gedacht. Je experimenteller, desto besser. Kinderbereich ist auch ein Muss. Wenn ich da an meine Kids denke…“

„Ja, meine Nichten und Neffen brauchen sowas auch“, lächelte Marc. „Ich habe da schon ein paar Ideen… Was hältst du davon in den nächsten Tagen zu uns in die Teamsitzung zu kommen, dann können wir mit meinen KollegInnen noch mehr Brainstorming betreiben?“

„Hmm, das ist eine phantastische Idee, ich würde sie gerne kennen lernen. Neev ist auch dabei, nicht? Aber jetzt ist schon Donnerstag und nächste Woche Montag fängt das Semester an, es ist noch so viel zu tun bis dahin. Und dann steht auch gleich eine große internationale Konferenz an… Ich würde mich morgen spontan melden, ob ich kurz reinschneien könnte, okay?“

„Kein Problem“, nickte Marc und machte sich noch ein paar Notizen.

Sie tauschten noch Ideen aus und packten schließlich zusammen.

„Wir sehen uns dann die Tage“, lächelte Marc ihm zu und sie verließen das Haus, gingen ihre getrennten Wege.

-3-

Zu Hause angekommen erfasste Juri eine angenehme Aufregung. Er liebte Aufbruchstimmung und das hier war sie in ihrer reinsten Form. Alles schien möglich zu sein. Vorher hatte er nicht zu sehr an sich und das Museum geglaubt, aber jetzt war es wie eine Quelle von Erlebnissen, Ideen, Geschichten, die er den BewohnerInnen und BesucherInnen von Mela erzählen konnte über diese wunderbare Stadt.

Er musste sich gegen seinen eigenen Willen eingestehen, dass er es sich auch wünschte, einmal das Scheinwerferlicht der Stadt auf sich zu spüren. Natürlich, er tat das ständig im Rahmen seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. Das war sein Beruf und er ging ihm gerne nach. Aber das mit dem Museum… das wäre eine Möglichkeit in der Stadt einmal als ganze Person mit seinem eigenen Projekt in Erscheinung zu treten und vielleicht auch etwas an die Stadt zurückzugeben, dafür, dass sie ihn vor zwölf Jahren hier aufgenommen und ihm eine Bleibe und eine Heimat gegeben hatte zu einem Zeitpunkt, an dem er nicht mehr daran geglaubt hatte, irgendwo jemals eine für sich zu finden.

Mit der neuen Energie im Schlepptau bereitete Juri in Windeseile seine erste Vorlesung für Montag vor, beantwortete noch Dutzende von Nachrichten und überflog die Neuerscheinungen auf seinem Gebiet, notierte sich diejenigen Publikationen, die seine Neugier geweckt hatten oder für sein Gebiet relevant waren. Der Nachmittag war ausgefüllt mit Tätigkeiten im Haushalt und mit dem Erledigen von Schulangelegenheiten seiner Kinder.

Am nächsten Morgen, bevor der Tag ihm zwischen den Fingern zerrann, konnte er natürlich nicht an sich halten, und eilte zum Verwaltungsgebäude in der Innenstadt. Zuvor hatte er mit Marc abgeklärt, dass er um acht Uhr morgens in seiner Abteilung aufmarschieren würde. Nachdem er in den fünften Stock gestiegen war, blieb er vor der großen Glastür stehen. Erinnerungen an seine Einbürgerungszeremonie von vor ungefähr zwölf Jahren durchfluteten ihn plötzlich. Er mit seinem Ehemann Ilja und den beiden kleinen Kindern, Lea war erst zwei Jahre alt, Petr ungefähr sechs, stand kurz vor der Einschulung. Nach einer langen Reise waren sie endlich hier angekommen, mit nichts außer zwei Koffern und vielen Hoffnungen. Sie wurden von den MitarbeiterInnen der Stadt herzlich aufgenommen und mit allem Nötigen versorgt, konnten bald ihren beruflichen Tätigkeiten nachgehen. Trotzdem, so verletzlich wie Juri sich an diesem Tag gefühlt hatte, das wollte er nicht nochmal erleben und das musste er hoffentlich auch nicht.

Nachdem er die Glastür geöffnet hatte, sah er, dass Marc und Neev weiter weg im Flur standen und sich unterhielten. Marc wirkte hier, in seiner Umgebung, noch kompetenter und vertrauenserweckender. Überhaupt hatten sie beide sehr schnell einen Draht zueinander gefunden und Juri fragte sich, wohin diese erste Verbindung sie noch führen würde.

Er ging auf die beiden zu und sie drehten sich um.

„Juri, es freut mich so sehr, dass du zu uns gekommen bist“, strahlte Neev ihn an und Juri bewunderte ihre androgyne Erscheinungsform sehr.

In seinem Heimatland wären solche Ausgestaltungen dessen, was als weiblich oder männlich angesehen wurde, nicht möglich gewesen.

„Nicht?“, stimmte Marc ihr zu. „Ich dachte, es würde uns allen mal zur Abwechslung Spaß machen, sich mit diesem Projekt zu befassen und nicht nur mit dem üblichen Verwaltungskram.“

„Also, dann auf“, Neev ging vor und sie folgten ihr.

Sie kamen in einem Büro an und setzten sich zu sechst in eine Runde.

„Darf ich vorstellen, das hier sind noch Serg, Kora und Ben“, Neev zeigte auf die ihm unbekannten Gesichter.

An Sergs Gesicht blieb Juri länger hängen. Sein Name verriet ihm, dass er wahrscheinlich wie er selbst aus dem nordöstlichen Kontinent Jaku kam, sein Gesicht war rau und kantig mit einem Bart und buschigen Augenbrauen und Juri fragte sich, welche Geschichten sich dahinter verbargen. Er interessierte sich immer für die Hintergründe der MigrantInnen, denn meistens war keine Geschichte wie die andere.

„Ich finde, Marc, du hast exzellente Räumlichkeiten für das Museum ausgesucht“, begann Kora und warf Marc einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Danke“, er nickte.

„Wie hast du dir die Aufteilung vorgestellt, Juri, du hast ja den besten Überblick über das vorhandene Material?“, fragte Kora.

„Ich denke, wir haben die Sachen, die vor der Gründung von Mela stammten“, Juri nahm sich die Brille ab und schaute aus dem Fenster. „Als die Stadt leer stand, weil sie wirtschaftlich nicht mehr relevant war. Dem würde ich eine Station einräumen. Dann alles aus der Gründerzeit, inklusive der Kämpfe und Auseinandersetzungen. Und schließlich die aktuellen Entwicklungen.“

„Das ist doch eine saubere Aufteilung, daran sollten wir uns orientieren“, nickte Kora.

„Vielleicht wäre eine große Karte sinnvoll, auf der die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen im Wandel der Zeit abgebildet werden könnten?“, schaltete sich Ben ein und alle fingen an, durcheinander zu reden, um die einzelnen Elemente einer solchen Karte zu diskutieren.

„Wir könnten ein Quiz für Jugendliche und junge Erwachsene von einer Schulklasse entwickeln lassen, ich kenne eine Lehrer, der sich bestimmt gerne dafür einspannen lassen würde“, warf Neev ein und wieder entbrannte eine Diskussion über die Richtung, die das Quiz nehmen sollte.

„Wir sollten überlegen, ob wir den schwierigen Bereichen besondere Aufmerksamkeit schenken sollten“, meldete sich schließlich Marc zu Wort. „Mentale Gesundheit, Gesundheitsversorgung, Abhängigkeit von Kooperationspartnern, der Krieg zwischen Maana und Neu! letztes Jahr, in den Mela verwickelt wurde. Es wäre schön, wenn das Dargestellte nicht nur statisch die Vergangenheit abbildet.“

„Ich bin ganz deiner Meinung“, Juri warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. „Das macht das Museum dynamisch und zeigt auch offene Enden und ungelöste Knoten auf“, er wirbelte mit seinen Händen herum.

„Leute, Kunst und Kultur“, Neev schlug sich mit der Hand auf das Knie. „Was wären wir ohne? Unser Haupt-Exportschlager. Wie wäre es mit einer Station mit Kopfhörern, an der man Musik aus Mela hören kann, dann eine Zusammenstellung mit den interessantesten Kunstwerken in so einem Buch zum Blättern und so weiter.“

„Wir sollten deine Graphic Novel ausstellen, das handelt schließlich von Mela“, bemerkte Ben.

„Nicht nötig, es gibt so viele andere, die bessere Bücher produziert haben…“

„Doch“, brummte Serg.