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Neev hat sich damit abgefunden, allein zu sein und sich vorwiegend ihrer einzigen Passion, der abstrakten Kunst, zu widmen. Dafür hat sie sich die ungewöhnlichste Stadt auf dem Planeten ausgesucht: Mela. Nur dort wird Selbstverwaltung und Fragilität so gelebt, dass Neev sich mit ihrer queeren und genderfluiden Identität wohlfühlen kann. Nachdem Theo neu in der Stadt ankommt und Neev es sich zur Aufgabe setzt, ihm alle verlassenen Orte ihrer neuen Heimat zu zeigen, wird sie mehr denn je herausgefordert, aus sich herauszugehen. Und plötzlich ist der Sonderstatus Melas durch einen aufbrodelnden globalen Konflikt dermaßen in Gefahr, dass Neev sich einschalten muss, um die Unabhängigkeit und Freiheit der Stadt zu bewahren.
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Neev hasste es, den Berg mit dem Fahrrad zu bezwingen, aber seit der Sperrung der Bahnstrecke, die ihren Stadtteil Maifeld mit dem Zentrum verband, blieb ihr nichts anderes übrig, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kommen wollte. Also quälte sie sich notgedrungen immer weiter, bis schließlich die vier großen Wohnhäuser in Sicht kamen, die in einer ruhigen Straße in einer Reihe standen. In dem zweiten davon war ihre Wohnung. Neev stieg ab und schob die letzten Meter. Ihr Herz klopfte wie wild hinter ihren Rippen und sie fürchtete kurz zu kollabieren. Nichts derartiges geschah, da war nur der Frust über das Brückenteil, welches vor vier Monaten an der Schienenstrecke instabil geworden war. Sie nahm sich wie jeden Tag vor, sich umgehend um eine fachmännische Überprüfung und Instantsetzung zu kümmern und ärgerte sich gleichzeitig, dass die Abteilung Verkehr mal wieder überhaupt nichts in die Richtung unternommen hatte. Das Ganze hatte wohl keine hohe Priorität und es waren so viele Sachen, die in der Stadt zu erledigen waren, manches blieb einfach immer liegen. Verdammt.
Sie schloss ihr Fahrrad im Hinterhof an und lief in den ersten Stock zu ihrer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung. Streifte ihre Schuhe ab und stellte ihren Rucksack auf den Boden. Trank ein Glas Wasser und ließ sich auf das Bett fallen, um die Anstrengung des Berges auszuatmen. Dabei war heute erst Montag. Neev legte ihre Armbeuge über die Augen und versank in ihren Gedanken. Sie hätte heute eigentlich noch einkaufen gehen sollen, auf dem Nachhauseweg. Dann hätte sie jetzt etwas zu essen zu Hause. Morgen war die Begrüßung der Neuankömmlinge und das war immer ein besonders vollgepackter Tag, weil es so viel zu erledigen gab. Also war da auch nichts mit einkaufen.
Wie sollte diese Woche nur werden. Und natürlich war ihr Terminkalender voll mit wichtigen Aufgaben, aber sie hatte sich immer noch nicht mit Nil verabredet, obwohl sie es ihr schon mehrmals versprochen hatte, dann war da noch die ausstehende Sitzung mit Ari und das Treffen der Bewegungsgruppe, das sie schon die letzten Male hatte sausen lassen. Die Nachrichten ihrer Mutter hingen unbeantwortet in ihrem Posteingang. Das war alles nicht gut. Sie musste sich aufraffen und Menschen sehen, andere Menschen als ihre Nachbarn und Kollegen. Auch wenn gegen diese absolut nichts einzuwenden war. Aber wenn sie sich in ihr Schneckenhaus zurückzog, dann wurden Dinge nur schlimmer und soweit wollte sie es nicht kommen lassen. Das war bereits einmal schief gegangen. Schon sehr oft, wenn sie ehrlich war. Es war immer dieselbe Bewegung des Lebens, zu den Menschen hin, von den Menschen weg. Und damit natürlich auch zu sich selbst hin, von sich selbst weg. Ein permanenter Tanz, durch den sie ungelenk stolperte, statt ihn gut zu beherrschen. Aber nicht heute, heute hatte sie für nichts mehr Kraft übrig.
Sie raffte sich auf, suchte ein paar Essensreste in der Küche zusammen, aß und las ein paar Seiten des zeitgenössischen Romans, in dem es um die Reisen einer einsamen Seele ging, starrte eine Stunde aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Wolken, hörte danach das neuste Album einer Post-Rock-Band und räumte dabei ihre Wohnung auf, schleppte sich schließlich ins Bad und zog sich aus, um zu duschen. Ließ das warme Wasser über ihre durchsichtig-graue fahle Haut, die knochigen Körperteile und die staubgrauen Haare, die sie seit ihrer Kindheit hatte, laufen und rubbelte sich schließlich mit dem Handtuch ab.
Die graue Haut bekam davon rötliche Flecken und Neev fühlte sich damit fragiler und fremdartiger als sowieso schon. Es war nicht nur ihre Haut und die Haare. Sie war eine weibliche Person, aber ihr Oberkörper hatte nie diese Memo bekommen und war androgyn geblieben. Neev hatte nie gewusst, was sie daraus machen sollte. Fest stand, sie trug alles zusammen genommen eine besondere Art von Abnormalität mit sich, die für sie und andere nie mit Attraktivität verbunden sein konnte. Oder Freude. Oder einem liebevollen Blick. Es war ok. Sie hatte gelernt damit zu leben, mit ihrem merkwürdig aus der Welt und Zeit gefallenen Körper. Solange sie anderen Menschen damit nicht zu nahe kam. Solange sie nicht in die Versuchung kam, andere zu berühren oder berührt zu werden. Das hatte in der Vergangenheit nicht funktioniert. Aber das würde nicht noch einmal passieren, sie war nun vorsichtiger. Denn aus dem Zusammensein mit einem anderen hatte sie gelernt, dass Scham ein starkes Gefühl war. Sie wollte es so selten wie möglich empfinden. Lange, schlabberige Kleidung war eine Maßnahme, um die Blicke von sich abzulenken. Ihre Hände und ihr Gesicht blieben unbedeckt, egal wie warm es war. Aber jetzt fing der Herbst gerade erst an, da war dies sowieso kein Thema.
Neev zog sich bequeme Kleidung an und lief in ihr Schlafzimmer, das auch gleichzeitig Wohnzimmer war. Gegenüber von ihrem Bett stand ein kleiner Tisch, auf dem eine rechteckige Leinwand aufgebaut war, die über die Tischplatte weit herausragte. Neev nahm Pinsel und Ölfarbe und machte dort weiter, wo sie gestern aufgehört hatte. Es war fast fertig, es fehlten nur noch ein paar Pinselstriche. Neev spürte in ihren Händen, wie das Bild sich immer mehr schloss, das bedeutete, das Ende war nah. Vielleicht würde sie es heute oder morgen abschließen, dann würde es trocknen und sie könnte es endlich verschicken. In alle Welt und auch zu anderen Planeten, der Handel mit Kunst war groß und florierte, es gab keinen Mangel an Abnehmern. Sie malte noch eine Weile, bis ihre Augen müde wurden, und ging schließlich schlafen.
„Herzlich willkommen in Mela, wir freuen uns, dass ihr euren Weg zu uns gefunden habt“, begrüßte Kora, Neevs Kollegin, die zehn neuen BürgerInnen und fuhr mit weiteren Erklärungen darüber fort, was die Neuen jetzt erwarten würde.
Neev hielt sich solange im Hintergrund, Ansprachen vor vielen Leuten waren nicht ihr Ding, das überließ sie anderen. Das gab ihr auch die Gelegenheit, die Leute zu mustern. Zwei ältere Männer hörten sehr konzentriert zu und runzelten die Stirn, ein junges Mädchen trat von einem Bein auf das andere, eine Mutter mit ihrem Kind hatte einen besorgten Gesichtsausdruck, eine junge Frau schien mit ihren Gedanken woanders zu sein, zwei jüngere Männer kauten Kaugummi, eine ältere Frau schaute sehr streng und der letzte, ein Mann in ihrem Alter, zwischen 25-35 Jahre alt schaute neugierig, freundlich, wohlwollend. Neev betrachtete seine schulterlangen dunklen Haare, die er offen trug. Seine Statur war schmal, aber gerade und präsent. Sein Blick schweifte durch den Saal, in dem die offizielle Begrüßung mit den VertreterInnen der Verwaltung, stattfand und ihre Blicke trafen sich. Neev konnte nicht anders, als ihm zuzulächeln, sein Gesicht strahlte positive Energie aus, aber auch vermischt mit etwas anderem. Ein paar dunkle Farben waren durchaus dabei. Sie hielten den Blickkontakt zu lange, sodass Neev schließlich ihren Kopf senkte. Ihr war ganz warm und sie hatte unbewusst die Luft angehalten.
Kora beendete ihre Ansprache, es wurde geklatscht und sie gingen zu dem Teil der Veranstaltung über, in dem den Neuen die Adressen ihrer vorübergehenden Unterkünfte gereicht und die wichtigsten Abläufe der Stadt erklärt wurden. Dinge, die sie bestimmt schon wussten, wenn sie sich bewusst dafür entschieden hatten, hierher zu ziehen.
„Euer Konto ist heute aktiviert worden“, verkündete Kora gerade mit einem breiten Lächeln, „die Abzüge von euren Einnahmen für die Instandhaltung der Stadt werden automatisch vorgenommen, sobald ihr Einnahmen generiert….“
„Hey“, hörte Neev hinter sich und drehte sich abrupt um.
Sie stand dem Typen mit dem netten Lächeln gegenüber und spürte sofort, wie ihr warm wurde und sie sicherlich Flecken auf ihrem Gesicht bekam. Komische Flecken, für die sie sich maximal schämte. Er hielt sie bestimmt für einen Freak und bereute es jetzt schon, sie angesprochen zu haben. Sie könnte ihn einfach ignorieren und so tun, als müsste sie etwas Dringendes erledigen, so könnten sie beide das Gesicht wahren und aus dieser für sie beide unangenehmen Situation verschwinden als wäre nichts gewesen…
„Ich bin Theo“, sagte er und unterbrach ihren Gedankengang, streckte ihr die Hand entgegen und sie nahm sie zögerlich. Diese war ausgesprochen warm, aber wahrscheinlich nur, weil Neev eher kaltblütig war. Bestimmt dacht er jetzt, sie wäre ein Reptil ohne temperatur-regulierende Fähigkeiten, ein Echsenmensch.
„Ich bin so froh, hier zu sein“, fuhr er fort und sie ließen die Hände los.
Neev war noch ganz in ihrem Gedanken verstrickt und betrachtete seine feinen dunklen Augenbrauen, die nachtblauen Augen, seinen schmalen Mund, wie er sich nervös am Ohr kratzte und dabei die Haare nach hinten strich, seine etwas schiefe Nase, die unregelmäßigen Bartstoppeln.
„Ich…“, Neev fiel zu spät auf, dass sie etwas sagen sollte.
Ihr Gehirn war wie blank gefegt, wie immer, wenn sie reizüberflutet war. Theo hatte ziemlich exakt die gleiche Größe wie sie. Er war schmal gebaut wie sie. Sie hatten wahrscheinlich dasselbe Alter. Warum ihr Kopf diese Beobachtungen hervorhob, wusste sie nicht. Statt sich mit ihm zu unterhalten, dachte sie über alles und nichts nach.
„Ich bin Neev“, brachte sie schließlich hervor und Theo nickte, lächelte wieder. Ihre Augen trafen sich immer wieder, aber Neev blickte nervös in alle Ecken des Raums.
„Kannst du mir bei diesen Unterlagen helfen?“, sagte Theo schließlich und holte seinen Minicomputer aus der Hosentasche.
Darin war Neev gut. Sie scrollten zusammen durch die Anmeldungen zum Stadtportal, den offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt, durch die Straßenkarten, das Nahverkehrssystem, das Nachrichtenportal und vieles mehr.
„Woher kommst du?“, fragte Neev zwischendurch und blickte sich um. Um sie herum waren ihre KollegInnen ebenfalls damit beschäftigt, den Neuen alles zu erklären und Fragen zu beantworten. Der erste Tag war für alle immer sehr aufregend.
„Westlicher Kontinent. Ja, die mit den großen Software-Firmen und dem Forschungssektor, den Metropolen“, erzählte Theo.
„Wow, das war ein weiter Weg. Aber wir haben ja einige aus dem Bereich. Die meisten von ihnen haben einen Burnout oder ähnliches, aber alle gut qualifiziert, das können wir hier gut gebrauchen.“
„Das freut mich natürlich. Ich weiß nur nicht, ob ich in meinem alten Job noch arbeiten kann…“, Theos Gesicht wurde nachdenklich und auch etwas traurig.
Aber bevor Neev noch etwas sagen konnte, kam ihr Kollege Marc zu ihr und das Gespräch mit Theo riss ab, die Neuen packten ihre Sachen zusammen, Theo und Neev verabschiedeten sich, winkten sich zu und alle Beteiligten gingen ihres Weges.
Etwas verwirrt suchte Neev ihr Büro auf und setzte sich hinter den Schreibtisch. Atmete tief ein und aus. Neue Leute willkommen zu heißen, verlor auch nach Jahren nicht an Aufregung und Anspannung. Statt sich in den Gedanken darüber zu verlieren, machte Neev sich an den Ablagestapel und begann, die Aufgaben, die sich darin gesammelt hatten, abzuarbeiten. Sie entwarf Sitzungsvorlagen, schrieb Vermerke, Verfügungen und Dienstanweisungen, überprüfte Verkehrs- und Hygienekonzepte, schickte Unterlagen zuständigkeitshalber weiter an andere Abteilungen, heftete vieles einfach nur ab und machte sich Notizen über Vorgänge, die sie erst noch recherchieren musste.
Als sie wieder aufblickte, war es schon dunkel draußen. Neev staunte darüber und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Sie hatte die Zeit ganz vergessen. Die meisten KollegInnen waren schon nach Hause gegangen. Und sie musste mit ihrem Rad noch den Berg hoch. Wenn nur diese Brücke endlich auf ihre Stabilität hin überprüft werden könnte, dann wäre alles viel besser.
Neev verließ ihr Büro und lief die Treppenstufen nach unten. Im Hof, bei ihrem Fahrrad, traf sie auf Marc, der dort auf seinem Taschencomputer herumtippte.
„Hey“, sagte Neev und schloss ihr Fahrrad ab.
„Hey“, Marc packte das Gerät ein und sie liefen zusammen los.
„Warum bist du so spät noch hier?“, fragte Neev und sie bogen vom Hof in die Straße ein.
„Hing noch in der Finanzplanung fest, und du?“
„Das Übliche“, seufzte Neev und zog sich die Ärmel ihres dünnen Mantels über die Hände. Es war kühl geworden.
„Weißt du, an solchen Tagen werde ich immer ganz sentimental und denke an meinen ersten Arbeitstag in der Verwaltung, es ist schon fast über zwanzig Jahre her“, er wischte sich über das Gesicht. „Ich war noch so jung…“
„Du bist immer noch jung“, schnaubte Neev. „Du bist neununddreißig Jahre alt.“
„Vierzig. Aber das meine ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam. Wie viele Probleme die Stadt hat. Und dann der ganze Ballast, den ich mit mir rumschleppte. Ich kam völlig ahnungslos hier reingestolpert, mein erster Job mit Anfang zwanzig. Und weil ich in Mela geboren wurde, dachte jeder, ich weiß über alles Bescheid. Das Gegenteil war der Fall. Ein Wunder, dass ich das alles überhaupt überlebt habe“, er schüttelte ungläubig den Kopf.
Neev legte den Arm um ihn und zog ihn zu sich heran. „Wir sind heilfroh dich zu haben. Ohne deine Fähigkeiten zur Kalkulation und deinen Überblick über die Wohnraumverteilung würde die Abteilung ganz sicher zusammenbrechen. Und ganz zu schweigen von deinen Fähigkeiten an der Gitarre. Hoffentlich gibt es bald wieder ein Konzert von euch“, sie zwinkerte ihm zu und Marc schmunzelte, „aber das Beste ist, dass du so ein toller Mensch bist.“
„Das war nicht immer so…“, wandte er ein.
„Ich weiß, aber du hast dich da herausgearbeitet…“
„Es ist immer noch Arbeit“, Marcs Schultern fielen kurz in sich zusammen.
„Ich weiß, ich wünschte auch, dass ich…“, Neev wusste nicht, wie sie den Satz beenden wollte. Dass sie ein besserer Mensch wäre? Nicht mehr so viele Probleme hatte? Sich mehr entspannen und das Leben genießen konnte? Irgendwie von jedem etwas.
„Wie war es bei dir, als du ankamst?“, fragte Marc, als sie in eine kleinere Straße abbogen, die komplett ausgestorben war. Um diese Uhrzeit unter der Woche war in der gesamten Stadt kaum noch jemand unterwegs.
„Puh“, Neev atmete geräuschvoll aus und nahm ihren Arm von Marcs Schulter, um ihr Fahrrad zu stabilisieren. „Furchtbar?“, sie lachte. „Vor sieben Jahren war ich orientierungslos, hatte keinen Plan, wo ich arbeiten wollte, hatte in meinem Heimatland Ostebene keinen Beruf erlernt, den ich hier einbringen konnte, war kurz davor mich von irgendeiner Klippe in die Tiefe zu stürzen, hasste die Welt und das Leben, hatte keinen Plan wie ich mit anderen Menschen connecten konnte…“
„Und trotzdem bist du hierhergekommen?“
„Hmm“, summte Neev und ihre Augen glitten über die dunklen Mehrfamilienhäuser vor sich, „wohl ein Überlebensinstinkt. Entweder würde ich hier eine andere Art von Leben lernen oder nirgends, weißt du?“
„Zum Glück hast du so gedacht“, Marc blieb stehen und schaute ihr intensiv in die Augen, jedenfalls dachte sie das in dem schwachen Licht, was von den Fenstern um sie herum kam. „Es gibt hier keine Klippen, von denen du dich stürzen könntest.“
„Aber Hochhäuser.“
„Würdest du nicht mehr machen.“
„Nein.“
„Aber wir vermissen dich beim Training. Komm nächste Woche, du weißt wie wichtig das ist.“
„Du hast recht“, seufzte Neev und strich sich angestrengt über die Augenbrauen.
„Also, wir sehen uns morgen“, lächelte Marc und sie klatschten sich ab.
„Ciao“, erwiderte Neev, ihre Wege trennten sich hier.
„Wasserrohrbruch in Steinhausen“, las Neev ein paar Tage später auf ihrem Taschencomputer, nachdem sie die Augen aufgemacht hatte.
„Shit“, murmelte sie und schlug die Decke zurück, um schleunigst aufzustehen.
„Ist jemand schon vor Ort?“, fragte sie im Gruppenchat ihrer KollegInnen und putzte sich die Zähne. Heute war auch noch Freitag. Würden die Leute, die in dem Viertel davon betroffen waren, das ganze Wochenende ohne Wasser bleiben? Neev rieb sich die Augen und fluchte still vor sich hin.
Dreißig Minuten später stand sie frierend am Straßenrand und schlug die Arme um ihren Oberkörper. Neben Marc und Kora war Serg schon da, um den Schaden zu begutachten.
„Wasserschaden“, sagte Serg in seiner üblichen einsilbigen Art und lief die Straße auf und ab, tippte dabei in seinen Computer.
Von außen war zwar nichts zu sehen, aber unter ihnen hatte mal wieder ein altes Rohr den Geist aufgegeben.
„Wann können wir das hier aufgraben?“, fragte Neev in die Runde und ratterte in ihrem Kopf einen möglichen Zeitplan ab, bis der Schaden behoben werden konnte.
„Die notwendigen Baumaschinen sind bis Mittwoch nächster Woche auf einer anderen Baustelle“, verkündete Marc und verzog das Gesicht.
„Mittwoch?“, rief Neev aus und wäre fast nach hinten umgefallen.
„Ist korrekt“, bestätigte Serg, der wieder zu ihnen gestoßen war.
„Und wir haben momentan keinen Fachkundigen für Tiefbau, der einzig verfügbare ist für längere Zeit erkrankt“, eruierte Marc, „bei den neuen ist zwar eine dabei, aber sie ist noch nicht eingearbeitet…“
„Verdammt“, stieß Neev aus und fuhr sich durch die Haare, „diese Stadt ist ein einziger chaotischer Haufen, es ist nicht zu glauben. Hier funktioniert nichts, alles geht schief und es kommen jeden Tag neue Katastrophen hinzu, wie soll man es da schaffen, eine Ordnung reinzubringen. An allen Ecken und Enden hapert es an Material, Personal, Knowhow…“
„Hier, ich habe dir Tee mitgebracht“, Kora drückte ihr einen Thermobecher in die Hand.
„Danke“, grummelte Neev und nahm das warme Getränk an sich. „Das wäre nicht nötig gewesen.“
„Diese Stadt wurde auf Chaos errichtet von Leuten, die keinen Plan vom Leben haben, also Leuten wie uns“, schmunzelte Kora und warf ihr einen mitfühlenden Blick zu.
„Wie soll man das aushalten?“, fragte Neev und trank ein paar Schlucke, lief ein paar Schritte auf und ab und schüttelte den Kopf. „Die BewohnerInnen werden auf die Barrikaden gehen und das zu Recht. Ein Großteil von Steinhausen hat keine Wasserversorgung mehr…“
„Wir werden alle Hebel in Bewegung setzen, um die Sache in den Griff zu bekommen“, warf Marc ein.
„So wie mit der Straßenbahn?“, bemerkte Serg spöttisch.
Marc verdrehte die Augen und Neev fragte sich wie so oft, wieso sie sich ausgerechnet für diesen Job entschieden hatte. Vielleicht konnte sie schnell noch auf Klärwerkmitarbeiterin oder Garten- und Landschaftsbau umschulen.
„Du wirst sehen“, Kora legte den Arm um sie und sie machten sich alle auf den Weg zu ihrem Verwaltungsgebäude, um von dort aus die weiteren Maßnahmen zu koordinieren, „es renkt sich alles wieder ein.“
„Du bist eine unverbesserliche Optimistin“, murmelte Neev und trank noch mehr Tee. Wenigstens das hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. „Ich kann aber nicht so denken. Dinge können schief gehen und Dinge werden schief gehen. Menschen können sterben. Menschen, für die wir als urbane Organisation Verantwortung übernommen haben, wir haben uns verpflichtet, die grundlegende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Die BewohnerInnen müssen sich darauf verlassen können, sonst kann nichts funktionieren.“
„Hmm“, summte Kora und Neev wusste, dass sie sie nicht ernst nahm.
„Ich…“, setzte Neev an, wusste aber nicht, was sie sagen wollte. Ihr Brustkorb zog sich zu und eine altbekannte Panik machte sich breit. Überforderung, Ohnmacht, ziellose Wut vermischte sich zu einer unheilvollen Melange. Sie wollte am liebsten nach Hause und sich die Bettdecke über den Kopf ziehen. Mit niemandem mehr sprechen. Nichts mehr hören. All die ungelösten Aufgaben ihrer Kommune stiegen plötzlich an die Oberfläche und drohten, sie zu erdrücken. Dabei war sie noch nicht einmal alleinzuständig für diese Probleme. Sie waren ein großes Team. Aber das änderte nichts an dem Gefühl, dass nie etwas besser wurde, sondern die alten Probleme immer und immer wieder neu aufgelegt wurden, statt gelöst zu werden.
Den Rest des Tages verbrachten sie alle damit, Schadensbegrenzung zu betreiben und wenigstens eine provisorische Wasserversorgung für die betroffenen Haushalte zur Verfügung zu stellen. Neev fühlte sich am Ende des Arbeitstages wie betäubt und hatte keine Kraft, den Berg mit dem Fahrrad zu bezwingen. Sie schob den ganzen Weg und fiel mit ihrer Kleidung, so wie sie war in ihr Bett und rührte sich nicht mehr.
„Ein halbes Kilo Kartoffeln bitte“, sagte Neev und starrte mit leerem Blick über den Markt, der jeden Samstag und Mittwoch in der Stadtmitte stattfand.
Es wimmelte überall nur so von Leuten, es wurde geschwatzt und gehandelt. Die Erzeuger, welche im Umland wohnten, waren Männer und Frauen mit einer gesunden Gesichtsfarbe und Händen, die nach Arbeit aussahen. Neev verstaute ihre Einkäufe in dem Rucksack und einer Stofftasche, die sie an den Lenker ihres Fahrrads hängen konnte.
Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt das Haus zu verlassen und wollte einfach nur das ganze Wochenende an die Decke ihres Schlafzimmers starren. Aber die leeren Schränke in der Küche und der Überlebensinstinkt hatten sie herausgetrieben.
„Habt ihr schon von dem Wasserrohrbruch gehört?“, schnappte sie irgendwo auf und verdrehte innerlich die Augen.
Die Nachrichten sprachen sich immer schnell rum, auf dem Portal der Stadt gab es schon die wildesten Diskussionen. Neev hatten davon in der Chatgruppe ihrer KollegInnen gehört. Selbst hielt sie sich selbstverständlich fern davon.
Sie zog mit ihren Taschen zu einem anderen Stand und besorgte sich Milch und Eier. Die Kunst war es jetzt aus dem Gewimmel herauszufinden. Sie schob sich an weinenden Kindern, klapprigen älteren Leuten, vollbepackten Männern und Frauen vorbei und versuchte ihren Weg zum Fahrrad zu bahnen. Dabei hörte sie die Leute quatschen, lachen und schimpfen.
„Diese Marmelade ist sehr köstlich…“
„Meinen Sie? Kürbis ist nicht so mein Fall…“
„Wir sollten morgen zusammen Kaffee trinken, haha!“
„…das Konzert ist leider ausgefallen…“
„… ich bekomme sie nicht verkauft…“
„Hat sie das wirklich gesagt?“
„Nein, sie wird ihre Tabletten nicht mehr nehmen…“
„Warte mal, Moment!“
Neev sah schon das Ende des Menschenhaufens und freute sich wieder auf Bewegungsfreiheit und mehr Luft um sich. Endlich hatte sie sich freigeschält und steuerte ihr Fahrrad an.
„Hey, warte“, hörte sie wieder hinter sich, fühlte sich aber nicht angesprochen. Sie kam an ihrem Fahrrad an und legte den schweren Rucksack auf dem Gepäckträger, um ihn dort zu sichern. Zwei Stofftaschen hängte sie vorne dran.
„Hey“, jemand tippte sie an der Schulter an und Neev drehte sich abrupt um.
Theo stand ihr gegenüber. Dann passierten mehrere Sachen gleichzeitig.
Hinter ihm rief jemand: „Theo, wir gehen weiter, wir sind hier fertig“.
Er drehte sich um und erwiderte: „Moment mal, ich bin gleich da“.
Eine Frau neben ihnen ließ ihre Tasche fallen und Dutzende von Äpfeln kullerten über den Boden. Ein Apfel rollte zu ihren Füßen und Neev hob ihn auf.
„Du bist hier“, sagte Theo plötzlich und nahm ebenfalls einen Apfel.
„Ja“, erwiderte sie und brachte den Apfel zu der Frau zurück.
„Wir machen gerade eine Stadtführung“, erklärte Theo mit leuchtenden Augen.
Neev durchforstete ihr Gehirn, um etwas erwidern zu können, aber es fielen ihr nicht mehr als belanglose Floskeln wie „gefällt dir die Stadt?“, „hast du dich schon eingelebt?“ ein und solche Gespräche hasste sie.
„Du solltest dir die Industrieruinen anschauen“, sagte sie schließlich und wusste gar nicht genau, warum.
„Zeigst du sie mir?“, Theo lächelte und ihre Augen trafen sich für einen kurzen Moment, Neev schaute gleich weg.
„Hm?“, Neev runzelte die Stirn.
„Morgen, oder so“, Theo lief rückwärts, da seine Gruppe sich immer weiter entfernte und er sonst den Anschluss verlieren würde.
„Ja, okay“, murmelte Neev und kratzte sich am Kopf.
Auf dem Nachhauseweg, mit dem schweren Gepäck auf dem Fahrrad, spielte Neev mehrere Szenarien durch, was sie stattdessen zu Theo hätte sagen können. Etwas, das sie im besseren Licht hätte dastehen lassen. Leider war Spontanität nicht ihre größte Stärke. Unvorbereitet in soziale Situationen geworfen, fühlte Neev sich unbeholfen und unfähig, hatte Mühe die richtigen Worte zu finden. Bestimmt hielt er sie für minderbemittelt und unfreundlich. Neev hielt kurz an und fuhr sich durch die Haare. Sie freute sich auch, ihn wiederzusehen.
Am Abend fing sie ein neues Bild an, auch wenn sie sich das am Morgen nicht hätte vorstellen können. Dafür nahm sie die Farben Gelb und Orange und trug dünne und kurze Pinselstriche auf, die sich wie Regen über die obere rechte Ecke verteilten.
Später, als sie im Dunkeln unter der Bettdecke lag und noch ein paar Meldungen studierte bekam sie eine Nachricht von Theo.
„Wo und wann sollen wir uns morgen treffen?“
Sie überlegte und spürte, wie Aufregung in ihr hochblubberte. Welches Wetter sollte morgen überhaupt werden? Nicht, dass sie im Regen durch die Gegend stapften.
„Wie wäre es an der Haltestelle ‚Papierwerk‘ um 10 Uhr?“, erwiderte sie.
War das zu früh? Wollte überhaupt irgendjemand an einem Sonntag so früh irgendwo unterwegs sein? Und was war, wenn sie zu viel versprochen hatte? Wenn diese Ruinen stinklangweilig und öde waren?
„Prima, das passt“, antwortete er.
„Wo wohnst du? Ist es für dich ein langer Weg?“
„Klartal. Ich muss mal schauen, wie ich da hin komme…“
Das lag neben ihrem Stadtteil Maifeld, dort, wo auch Marc wohnte.
„Das ist etwas umständlicher. Du musst mit der Bahn erst ins Stadtinnere zur Haltestelle ‚Zentrum‘ und dann eine halbe Stunde auf die nächste Verbindung warten“, schrieb Neev mit Blick auf die Fahrpläne. „Sollen wir es doch anders machen?“
„Nein, kein Problem, das passt.“
„Und wenn es regnet?“
„Ich finde eine Lösung :-)“
„Okay, wenn noch etwas ist, dann schreib mich an.“
„Alles klar. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“
Nachdem Neev die Straßenbahnhaltestelle „Zentrum“ erreicht hatte, stieg sie in einiger Entfernung von ihrem Rad und beobachtete Theo, wie er auf dem Bänkchen saß und auf seinem Taschencomputer las. Neev schloss ihr Fahrrad an einen Laternenmast an und näherte sich ihm langsam. Theo hatte seine dunklen, fast schwarzen Haare nach hinten gebunden und trug eine blaue Jacke aus Segeltuch. Sein Blick war hochkonzentriert und angestrengt. Neev fragte sich, ob es ein Fehler war, hierher zu kommen statt zur Station Papierwerk, wo sie sich eigentlich verabredet hatten. Es fröstelte sie und sie zog den Mantel enger um sich.
„Hey“, sagte sie schließlich und setzte sich neben Theo.
Er blickte auf. „Was machst du denn hier?“, sein Gesicht hellte sich auf.
„Kann dich doch nicht allein hier sitzen lassen“, grinste Neev.
Sie schauten sich eine Weile an und nestelten an ihren Jacken und Taschen.
„Das Angebot an Aktivitäten ist überwältigend“, bemerkte Theo mit Blick auf seinen Bildschirm.
Neev beugte sich zu ihm rüber. „Ich würde dir empfehlen am Anfang nicht zu viel zu machen, sonst bist du schnell ausgelaugt und gehst dann nirgends hin. Ist einfach so ein Erfahrungswert, den wir bei den Neuen gesammelt haben“, Neev zuckte beiläufig mit den Schultern. Sie wollte nicht, dass Theo dachte, dass sie ihn für unfähig hielt. „Weißt du schon, in welche Richtung du dich orientieren willst?“
„Hm“, er klappte seinen Computer zu und steckte die Hände in die Taschen. „Ich hab noch keine Idee, in welchem Bereich ich arbeiten könnte“, unsicher blickte er zu Neev.
„Ich meine nicht die Arbeit, das wird sich schon klären, ich meine die Therapieangebote und so weiter, wegen dieser bist du bestimmt hierhergekommen, oder?“
Theo nahm einen Faden seiner Jacke und wickelte ihn um den Zeigefinger. Er sagte länger nichts und Neev konnte seine Gedanken neben sich rattern hören. Um sie herum erwachte die Stadt zum Leben, Neev liebte diese Momente. Ein paar Radfahrer zogen lautlos an ihnen vorbei, Leute führten ihre Hunde aus, andere stellten sich ebenfalls schon an die Haltestelle und starrten verträumt in den grau verhangenen Himmel, ein paar Tauben stolzierten vorbei.
„Mein Bruder ist vor einem Jahr gestorben“, sagte Theo urplötzlich und Neev zuckte kurz zusammen, weil sie vergessen hatte, dass noch eine Frage unbeantwortet war. „Ich hätte ihm helfen können, aber…“, er schüttelte den Kopf, „…es hat nicht ausgereicht“, er sank in sich zusammen. „Naja, auf jeden Fall“, er räusperte sich und richtete sich wieder auf, „habe ich ein Jahr lang versucht wieder die Kurve zu kriegen und es hat nicht geklappt, es ist immer nur schlimmer geworden“, sein leerer Blick verlor sich auf dem schmutzigen Asphalt vor ihnen.
„Das tut mir leid“, sagte Neev und legte ihren Arm um ihn. Mehr brachte sie nicht heraus. Formeln wie ‚wird schon wieder‘, ‚ist nicht so schlimm‘, ‚Zeit heilt alle Wunden‘ oder ähnliches kamen ihr sicherlich nicht über die Lippen.
Wieder verging einiges an Zeit, als sie für sich ihren Gedanken nachhingen. Neev konnte nicht wissen, wie es war, ein Familienmitglied zu verlieren. Sie stand ihren Eltern und Geschwistern nicht nahe und hatte noch nie eine enge Bindung zu ihnen gehabt. Jetzt wohnten sie in einem anderen Land, sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen, es gab nur hin und wieder telefonischen Kontakt.
Später kam die autonom fahrende Straßenbahn endlich und sie setzten sich ans Fenster, einander gegenüber. Außer ihnen waren es noch drei andere Leute, die in die Richtung fuhren.
„Wie war es bei dir? Oder bist du hier geboren?“, fragte Theo und lächelte wieder.
„Nein, ich bin vor sieben Jahren hierhergekommen“, erzählte Neev und fuhr mit ihrem Finger die Fensterisolierung nach. „Die ersten Monate bin ich orientierungslos durch die Stadt gestolpert, dann habe ich mich endlich aufgerafft und habe mich gezwungen ein paar der Angebote zu besuchen. Gesprächstherapie, Sport, Selbsthilfegruppen. Das war ein ganz guter Anfangspunkt. Es dauerte nicht lange, dann habe ich mich entschieden in die Verwaltungsarbeit einzusteigen. Obwohl ich davon keine Ahnung hatte, es war abenteuerlich“, Neev lächelte bei der Erinnerung an das erste halbe Jahr dort, „und dann habe ich jemanden kennen gelernt“, Neevs Blick wurde wieder ernst. „Es ist nicht gut ausgegangen, sagen wir es mal so“, sie räusperte sich, „seitdem oszilliere ich zwischen Missionieren und Verkriechen“, ihr Blick wanderte wieder zu Theo, der aufmerksam zuhörte.
„Darf ich fragen, woher du ursprünglich kommst?“
„Ostebene. Ingenieurwesen und Landwirtschaft wird da ganz groß geschrieben, aber mit beidem habe ich nie etwas zu tun gehabt. Meine ganze Familie ist dort in einem riesigen Unternehmen tätig, meine Eltern und Geschwister. Ich habe damals mit ihnen in der Hauptstadt gewohnt, die einzige Metropole, sie ist riesig mit Millionen von Einwohnern, also nichts im Vergleich zu hier. Bin mit achtzehn ausgewandert. Mela ist meine neue Heimat. Es ist keine besonders schöne Stadt“, sie zeigte nach draußen. Graue Wohnblocks zogen an ihnen vorbei und Neev dachte voller Sorge an den Wasserrohrbruch und die tausend anderen Baustellen, um die sie sich morgen kümmern musste, „aber es ist… unsere Stadt, nicht? Aber vielleicht denkt man das auch erst nach ein paar Jahren. Für dich muss noch alles neu und ungewohnt sein.“
„Mela ist meine letzte Rettung“, murmelte Theo und sein Blick verlor sich in den vorbeiziehenden Straßen.
„Natürlich. Sie ist für die Leute, die“, Neev dachte an einem Flyer, den sie mal gesehen hatte und zählte an den Fingern ab, „noch genug Energie aufbringen, um aus eigener Motivation hierher zu kommen, die nicht zu kaputt sind, um an ihren Problemen zu arbeiten, die gerne in einer großen Gemeinschaft leben und diese mitgestalten wollen, in politischer Selbstorganisation einem Chaos beim Brodeln zusehen können und ihre kreative Energie dort reinbringen. Ja, Mela ist für die meisten von uns die letzte Rettung.“
Sie schauten sich an und jeder von ihnen versank wieder in seinen Gedanken. Neev beobachtete, wie die Straßen sich ausdünnten und in ein Industriegebiet übergingen, welches schon seit über hundert Jahren brach lag. Es war einer der verlorenen Orte, die nicht rekultiviert wurden, sondern einfach nur sich selbst überlassen waren. Viele der unwirklich hohen Gebäude waren schon längst in sich zusammengefallen und waren nichts mehr weiter als Ruinen. Andere Konstruktionen waren noch standhaft und trotzten der Witterung und dem Grünzeug, das sich den Raum Stück für Stück zurückeroberte.
An der Endhaltestelle stiegen sie als einzige aus und Neev wurde plötzlich etwas nervös. Sie hatte eine Führung versprochen, irgendetwas Sensationelles. Wie sollte sie dem gerecht werden, wenn das hier ein überwucherter Müllplatz war, über den es nicht viel zu erzählen gab.
„Was weißt du über die Entstehung von Mela? Ich will dich nicht mit Wiederholungen langweilen“, fing Neev an und lief vor Theo her an den überwucherten Schienen entlang, die nicht mehr benutzt wurden.
„Oh Gott“, seufzte Theo und kratzte sich an der Schläfe. „Es war eine Geisterstadt, als sie nach den letzten globalen Unruhen vor sechzig Jahren neu besiedelt wurde.“
„Exakt“, stimmte Neev ihm zu und zeigte auf ein Eisengestell neben sich, dessen Funktion nicht mehr ergründet werden konnte. Efeu wuchs daran hoch und seine Farbe war ein angenehmes rotbraun. „Das sind die Überreste der alten Zivilisation. Die Stadt wurde aufgegeben, weil sie so abseits von allem lag und gammelte vor sich hin. Das hier ist eigentlich eine Art Flächendenkmal.“
Sie verließen die Schienen und Neev kletterte vorsichtig über zerbrochene Betonteile, aus denen spitze Stahlstangen herausragten, um weiter in das Herz des Industriegebiets vorzudringen.
„Jahrzehnte interessierte sich niemand für diesen urbanen Raum, es gibt diese Geisterstädte überall auf der Welt“, fuhr Neev fort und inspizierte die Überreste einer Maschine, dessen Funktion nicht mehr eruiert werden konnte, „bis dann die sozialen Unruhen in dieser südwestlichen Region begannen, nicht?“
Sie schaute nach hinten zu Theo, der aufmerksam zuhörte und ihr folgte.
„Menschen, die sich nicht in der Lage sahen, mitzukämpfen und die weltweite politische und ökonomische Situation als ausweglos betrachteten, schlossen sich zusammen und gründeten eine Insel, vielleicht eine Utopie“, Neev schaute nach oben zu einem Schornstein, der immer noch nicht aufgegeben hatte. „Ich denke manchmal ihr Grundsatz war ‚hier funktioniert nichts, aber das ist okay, lass uns stattdessen Yoga machen‘.“
Theo lachte laut auf, es war ein schönes Geräusch.
„Okay, der offizielle Grundsatz war sowas wie ‚wir lieben Fragilität, wir hassen ökonomische Effizienz, wir machen Kunst, der Rest wird sich zeigen‘. Nein, das stimmt auch nicht“, Neev grinste vor sich hin. „Es ist auch egal“, winkte sie ab, „schau dir lieber dieses alte Becken an, ist es nicht wunderschön?“
Sie beugten sich gemeinsam über ein überirdisch großes Loch vor ihnen, das mit Müll, Beton- und Eisenteilen und Pflanzen gefüllt war, als wäre es ein Topf mit Allerlei oder so. Es war sicherlich hundert Meter breit und hatte wohl irgendwann mal irgendeinen industriellen Zweck erfüllt.
„Das hier ist wie ein Spiegel der Welt“, murmelte Neev, „hier drin ist alles versammelt, wie ein mehrschichtiges Gemenge, chaotisch und wunderbar, miteinander verwoben und undurchdringlich. Mehr gibt es nicht. Einfach einen Haufen Schrott, aufgehäufte Überreste, die sich zu einem Ganzen verbinden.“
Sie drehte ihren Kopf und sah, dass Theo traurig nickte.
„Das ist wunderschön“, sagte er schließlich. „Danke, dass du mir das gezeigt hast.“
„Es ist einer meiner Lieblingsorte in Mela. Wenn das dein Vibe ist, kann ich dir noch andere zeigen. Sie stehen in keinem Reiseführer.“
„Gerne“, nickte Theo.
Sie blieben noch eine Weile in den Industrieruinen und machten sich schließlich wieder auf den Heimweg.
Am nächsten Tag war Montag und Neev hatte nicht gut geschlafen, da sie sich vor den sich auftürmenden Aufgaben in ihrem Büro fürchtete. Nachdem sie in ihrem Verwaltungstrakt angekommen war wurde sie immer wieder in Gespräche mit ihren KollegInnen über das Wochenende verwickelt und man kam von einem zu nächsten. Kaum hatte sie sich versehen, da redeten sie über den Weltfrieden, ihre Schulzeit, die aktuellen Lebensmittelpreise, die globalen Warenstrukturen der Konzerne und Neev wollte nirgends lieber ihre Zeit verbringen als bei diesen ihr wohlvertrauten und sympathischen Leuten.
„Ich habe gerade erfahren, dass die Arbeiten an dem Wasserrohrbruch doch schon heute beginnen“, platzte Marc plötzlich in ihr Büro rein und strahlte über das ganze Gesicht.
„Wie geht das?“, wunderte sich Neev.
„Keine Ahnung, Serg hat gerade angerufen, er hat wohl umdisponiert“, Marc zuckte mit den Schultern.
„Manchmal wundere ich mich, wie die Dinge sich entwickeln“, dachte Neev laut nach.
Hatte sie sich mal wieder zu viele Sorgen gemacht? Oder war es so, dass je stärker sie sich den Kopf zerbrach, desto wahrscheinlicher war es, dass das Problem sich in Luft auflöste, so wie ein heimliches Weltprinzip? Das wäre schlimm, denn dann wäre sie in einer permanenten Spirale von Grübeleien gefangen. Wenn sie das nicht sowieso schon war.
„Was machst du jetzt?“, Kora riss sie aus den Gedanken und Neev schaute zu ihrer Kollegin rüber, die auf ihrem Besprechungstisch saß und die Beine baumeln ließ.
„Weißt du was“, verkündete Neev und zeigte mit dem Kugelschreiber auf sie, „ich werde mich jetzt um diese verdammte Brücke kümmern. Diese Straßenbahn muss wieder fahren, koste es was es wolle. Der Winter kommt und ich werde doch nicht durch den Schnee den Berg hochradeln, das muss jetzt erledigt werden.“
„Oh, das wäre fantastisch, wenn das klappt. Wenn du meine Hilfe brauchst, ich bin nebenan“, Kora sprang auf und lief in ihr Büro.
Den ganzen Tag über telefonierte, kalkulierte, beratschlagte, schrieb und grübelte Neev über dem Problem mit der einsturzgefährdeten Brücke. Der Ehrgeiz hatte sie gepackt. Jetzt oder nie, auch wenn sie drei Tage brauchen würde, sie war fest in die Vorstellung verbissen, diese Sache wenn nicht zu lösen, aber wenigstens in Bewegung zu bringen. Schließlich kam sie zu der Entscheidung, dass wenn das Bauwerk schon nicht erneuert werden konnte, sie drum herum eine Konstruktion bauen lassen würde, die die alten Strukturen stützen könnten.
Am späten Nachmittag war es soweit, sie hatte die Sache soweit vorangebracht, dass noch diese Woche die Arbeiten beginnen würden. Neev nutzte den Auftrieb und fuhr direkt nach der Arbeit zum großen Stadtpark, wo um fünf Uhr das Treffen ihrer Gruppe für Körperarbeit stattfinden würde.
Als sie ankam standen die zehn Leute, darunter war auch Marc, in einem vagen Kreis und zogen sich um, tranken noch einen Schluck Wasser, verschickten eine letzte Nachricht oder machten ein paar Lockerungsübungen. Neev suchte sich einen Platz und grüßte in die Runde. Sie stellte ihren Rucksack ab, holte eine kleine Matte heraus und faltete sie auf. Entledigte sich ihres Mantels und der Schuhe. Danach hielt sie inne und nahm die Umgebung in sich auf.
Der große Stadtpark lag im Gegensatz zu den anderen Parks sehr zentral, direkt neben dem Marktplatz und wurde den ganzen Tag über von den BewohnerInnen sehr intensiv genutzt, meistens zum Joggen, Hunde ausführen, Picknicken, Spielen und Ausruhen. Heute hingen wie an den meisten Tagen in diesem Herbst graue Wolken am Himmel, die sich kaum zu bewegen schienen und stattdessen an Ort und Stelle einfach immer nur neue Grautöne produzierten. Es wehte kein Wind und die Umgebung schien dadurch wie stehen geblieben, entschleunigt. Die hohen Bäume mit den bunten Blättern thronten über ihr, im Hintergrund bewegten sich sehr langsam einzelne Menschen, die Wohnhäuser, die dazwischen zu sehen waren, rührten sich sowieso nicht, eine Straßenbahn zog lautlos und mit gemäßigter Geschwindigkeit durch die nahegelegene Straße.
Ein Blick in die Runde sagte Neev, dass es losging. Marc und sie lächelten sich kurz zu. Irgendeiner fing an und zusammen streckten sie ihre Arme nach oben durch. Neev versuchte sich auf das Gefühl in ihrem Körper zu konzentrieren, den Bewegungen ihrer Muskeln und Sehnen zu folgen. Sie dachte an die vielen Gespräche, die sie heute geführt hatte. War sie manchmal zu kurz angebunden gewesen? Zu fordernd? Zu nachsichtig? Hätte sie nicht manche Gespräche verkürzen und andere ausweiten sollen? Nicht, dass man sie für unfreundlich hielt. Oder für inkompetent. Oder nicht sorgfältig genug.
Neev registrierte ihre Gedanken und lenkte sie wieder zu dem Geschehen vor Ort. Auf ihre Atmung, auf das angenehme Gefühl, den Körper in all seinen Facetten zu fühlen, die Anwesenheit der anderen, die ohne Worte und nur mit einer sehr subtilen Interaktion da waren, mit ihr waren. Sie streckten, dehnten und beugten sich in alle Richtungen und mit maximaler Anstrengung. Bald wurde Neev warm und das Blut rauschte durch ihre Ohren, die reflexiven Gedanken rückten in den Hintergrund. Manchmal schmerzten die Muskeln und Sehnen und Faszien regelrecht und es zog und pochte in den Waden, im Rücken und Nacken, in den Handflächen und Hüftbeugern.
Ein neues Empfinden machte sich in ihr breit. Ein Verstehen ohne Worte, ein Bewegen ohne vorgegebenen Plan und ohne explizites Ziel. Ihr Körper schien das alles wie von allein zu machen und wollte gar nicht mehr aufhören. Auch die schwierigsten Übungen waren auf einmal eine Herausforderung und eine Wohltat, brachten eine Präsenz und innere Ruhe mit sich, die Neev nur selten spürte. Sie dachte darüber nach, wie verbunden alles miteinander war. Aber diese Gedanken waren nicht von ihrem Verstand gesteuert, sondern es war wie ein implizites Wissen, das schon immer in jeder Zelle ihres Körpers gespeichert war und nun aktiviert wurde. Go with the Flow, dachte Neev und nahm sich fest vor, viel öfter dem Impuls zu folgen in ihrem Körper zu sein, in diesem Raum zu sein, mit anderen Leuten zu sein.
An diesem Abend malte Neev ganz anders als sonst. Sie wählte die Farben Blau und Grün, der Pinsel war viel verspielter und leichter. Sanfte Striche und wellige Linien schlichen sich immer wieder ein, dazwischen kleine Punkte und dünne Fäden.