Wolkenrot - Jana Beek - E-Book

Wolkenrot E-Book

Jana Beek

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Beschreibung

Bei einer Zugreise nach Omsk im Jahr 2304 kann es passieren, dass mehr Blut fließt als geplant, der Nachthimmel sich grün verfärbt und alles unter Strom steht.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

-1-

Der Himmel war heute blau, klar und wolkenlos.

Und mein Rucksack jetzt schon viel zu schwer. Andererseits war ich erleichtert. Hinter mir lag endlich die schwere Zeit des Wartens, vor mir der Aufbruch in ein neues Leben. Ich lief jetzt bereits auf einem Weg, den ich vorher noch nie betreten hatte. Sah zum ersten Mal die Pflastersteine, die halb rausgefallen waren, die Bäume, die rechts und links an mir vorbeizogen und alte verfallene Häuserreste, die mit Grünzeug überwuchert waren. Nach fünfzehn Minuten fühlte ich mich frei, erlöst und schwebend. Nach dreißig Minuten hatte ich Angst vor einem großen und wuseligen Tier, welches ein paar Meter vor mir den Weg kreuzte und wieder im Gebüsch verschwand. Nach einer Stunde war ich mir sicher, dass ich mich verlaufen hatte und nach zwei Stunden wollte ich wieder nach Hause.

Der Weg, den ich genommen hatte, wurde schon lange nicht mehr benutzt und war entsprechend nicht mehr gepflegt. Ich stand mitten drin im Dickicht des mitteleuropäischen Waldes. Mischwald. Und das im Sommer, wenn die Blätter alle Sicht verdeckten. Und komische Wesen sich darin verstecken konnten. Wer wusste schon so genau, was da im Unterholz kreuchte, nachdem der Wald seit einem Jahrhundert sich selbst überlassen worden war?

Es konnte sein, dass ich die Orientierung verloren hatte. Es war erbärmlich. Vielleicht hätte ich gerne geweint. Aber ich war nicht der Typ dafür. Also fiel das weg. Vielleicht hätte ich gerne um Hilfe geschrien, doch das war sinnlos. Ich hatte schon vorher auf der Karte ausgecheckt, dass in dieser Gegend niemand wohnte. Vielleicht hätte ich mir gerne ein Loch gegraben, um darin zu verschwinden, aber das konnte ich wohl kaum Karlh antun, der in der fernen sibirischen Stadt auf mich wartete. Vielleicht hätte ich gerne, wie die Menschen früher, jemanden mit meinem mobilen Telefon angerufen, und mir Ratschläge erbeten. Aber das war auch passé. Und das Allerschlimmste war eigentlich, dass ich mit meinen ganzen Vielleichts wertvolle Zeit verstreichen ließ, denn der verdammte Zug konnte jeden Moment einfahren und der nächste danach erst wieder in zwei Wochen.

Aber an welcher Buche sollte ich denn abbiegen, an der kleinen schiefen Krumm-Buche oder an der dicken mächtigen Angeber-Buche? Es sah doch alles gleich aus. Da erinnerte ich mich an so einen blöden Spruch, den ich irgendwo gelesen hatte, ein Weg entsteht beim Gehen, oder so. Ich machte das jetzt so, immer weiter laufen. Das Laub knisterte unter meinen Schuhen. Dann hörte ich ein Geräusch und blieb stehen. Das war das Rattern der Bahn, so ein Mist. Egal, ich rannte in diese Richtung, kam auf eine Lichtung. Und sah die Station unter mir im Tal. Der Zug hielt dort, die Türen wurden geöffnet, und das Ein- und Ausladen begann. Ich musste da rein, raste an den Buchen vorbei und versuchte nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Rennen war nicht meine Stärke.

Die Männer und Frauen trugen Pakete herum, unterhielten sich, lachten. Und dann ging alles ganz schnell: Die Türen von den Güterwaggons wurden wieder zugezogen, die Entlader entfernten sich vom Bahnsteig und ich war immer noch nicht in diesem unserem einzigen Transportmittel.

Es war unmöglich, noch rechtzeitig anzukommen. Ich rutschte den Berg runter und hielt den Atem an. Der Zug fuhr noch nicht los. Ach ja, da kam auch der Lokführer, setzte sich vorne rein, schloss seine Tür. Meine Beine wurden vom vielen Laufen zu Gummi und ich bekam kaum noch Luft in die Lunge. Wie in Zeitlupe setzte mein Vehikel in eine andere Zukunft sich langsam in Bewegung. Es war eins der älteren Modelle, musste so aus dem Jahr 2200 gewesen sein, das merkte man an der dicken Container-artigen Außen-Struktur, die später aus Mangel an diesen Rohstoffen einfach nicht mehr gebaut wurden. Die späteren Güterwaggons hatten oft eine offene Tragfläche oder nur noch Plastikplanen aus dem Recycling von Lastwagen aus dem Jahr 2100, die es ja schon längst nicht mehr gab. Aber das Plastik hielt ja ewig. Der Plastikvorrat, der auf der Welt existierte, reichte noch für viele Generationen.

Es war sinnlos der Bahn hinterherzurennen. Aber sie nahm noch nicht richtig Fahrt auf. Und da kamen die Schienen plötzlich näher, wie durch ein Wunder. Ich war jetzt neben dem Zug, aber der war plötzlich so schnell, ich konnte gar nicht einschätzen, ob es jetzt eine gute Idee wäre zu versuchen, draufzuspringen. Ob das überhaupt technisch möglich wäre. Aus Filmen wusste ich, dass Leute das machten, aber ob ich das auch mit meinem schweren Rucksack und untrainierten Mädchen-Armen konnte?

Es stand alles auf dem Spiel. Wenn ich es jetzt nicht schaffte, aufzuspringen, dann würde ich von hier niemals mehr wegkommen, es war meine einzige Chance. Ich griff nach den Haltegriffen des vorbeifahrenden klappernden Transporters und es riss mir die Füße weg. Scheiße, eine blöde Idee. Aber jetzt bloß nicht loslassen. Meine Füße hatten keinen Halt und der Körper hing wie ein nasser Sack an dem wackligen Griff. Und rutschte ab. Mein Rucksack schlug rhythmisch gegen die Metall-Wände. Vielleicht hätte ich im Vorfeld mehr trainieren sollen und die entsprechenden Muskeln ausbilden, um mich auf diese Situation vorzubereiten? Wie zog man sich mit einer Hand an einem fahrenden Zug hoch?

„He!“, rief da plötzlich eine Stimme aus dem Waggon.

Ich hatte kaum Kraft hochzuschauen. Und schon zerrte mich jemand ins Innere.

-2-

„Lass mich los“, hechelte ich atemlos und rückte meine Jacke zurecht.

Ich sah in die Augen eines Mannes, den ich nicht kannte. Er setzte sich in eine andere Ecke zwischen ein paar Kisten. Ich starrte ihn an und überlegte, noch etwas zu sagen, aber konnte die richtigen Worte nicht finden. Er holte sein Laptop heraus und tippte darauf herum. Der Zug holperte über die Schienen und schüttelte uns synchron durch.

Ich war so froh hier drin zu sitzen. Die erste Hürde war genommen. Der Take-Off vollbracht. Ich zog meine Knie an mich heran und umfasste sie mit den Armen. Der Boden war hart und unbequem. Aber das Wichtigste war, dass es jetzt voranging, dass ich mein Heimatdorf endlich verlassen konnte. Es war schon schwer meine Geschwister und Eltern für wahrscheinlich immer zurückzulassen. Wir würden immer noch über die Internetverbindung Kontakt halten, aber ein physisches Wiedersehen war nahezu ausgeschlossen.

Es war dieser Moment, in dem ich das so richtig realisierte. Vorher war es mir bewusst, aber als Theorie. Die Menschen, mit denen ich die letzten 23 Jahre verbracht hatte. Ich legte den Kopf auf meine Knie und fühlte mich so allein. Es war eine bescheuerte Idee, nach Sibirien zu Karlh zu fahren, um dort in einer Photovoltaik-Anlage zu arbeiten. Das hätte ich auch hier irgendwo machen können. Und was, wenn ich mich mit ihm gar nicht verstand? Dann war alles umsonst und ich saß da in einer Region, in der die Bärenpopulation so stark gewachsen war und die Winter bis minus dreißig Grad gingen.

Ich merkte, wie meine Gedanken sehr unruhig wurden. Nicht gut. Ich wollte ja keinen Panikanfall bekommen. Also holte ich mein Laptop aus dem Rucksack. Klappte es auf. Hier war mein ganzes Leben drin. Alles. Angefangen mit meiner Schulbildung, dem Ingenieurs-Studium, dem beruflichen Coaching, meiner gesundheitlichen Anamnese, den psychotherapeutischen Sitzungen, hin zu den Gesprächen mit Karlh, der Musik, den Büchern, den Filmen. Natürlich hatte ich auch ein Backup auf irgendeinem externen Server, aber sollte ich mein Laptop verlieren, wäre es trotzdem eine Katastrophe.

Ich bekam es, als ich drei Jahre alt war und seitdem hatte es schon mehrere Generalüberholungen gesehen und war ein paar Mal kurz vorm Abkratzen, aber bisher hatte es immer noch die Kurve bekommen. Ich strich über die Schrammen am Bildschirm, es wurde schon länger nicht mehr erneuert. Die Buchstaben auf den Tasten waren nur noch zu erahnen, sie hatten sich mit der Zeit einfach abgenutzt. Hier und da blätterte das Klebeband ab, standen Metall-Ecken ab, waren Schrauben lose. Ich öffnete die Datei mit dem Fahrplan, obwohl ich ihn schon auswendig kannte, ich wollte mich einfach nochmal vergewissern. Am späten Abend musste ich umsteigen, zum Glück am selben Bahnhof. Dann las ich mir nochmal durch, was ich letztes Mal mit meinem Coach besprochen hatte. Dass ich das Neue zulassen sollte, dass der Transit unangenehme Gefühle auslösen würde. Dass die Welt sich öffnen und ihre tausend Facetten zeigen würde. Und ich sie alle einatmen soll.

Ich hatte mehr das Gefühl, dass mein Hals wie zugeschnürt war. Drei Tage würde ich reisen, das musste doch zu schaffen sein. Ich öffnete ein Bild mit Karlh drauf. Seine braunen Haare, die ruhigen Augen, das schüchterne Lächeln. Hoffentlich war er nicht enttäuscht, wenn er mich sah.

Etwas später merkte ich, wie wir langsamer wurden. Durch die geöffnete Tür sah ich ein paar Häuser vorbeiziehen. Der Zug hielt an und ich schaute verstohlen zu dem anderen Passagier rüber, der seine Sachen liegen ließ und ausstieg. Ich ging ihm nach.

Der Bahnsteig war schon länger weggebrochen, man konnte ihn aber noch erahnen. Ich sprang runter.

„Du“, kam dann sofort ein älterer Mann auf mich zu, „bist zu spät gekommen und hast dich an den fahrenden Zug gehängt, das ist verboten.“

Er hatte einen orangenen Overall an, sein Schnurrbart zuckte auf und ab. Ich senkte meinen Blick und schaute auf den Boden. Auf die Steine vom zerfallenen Bahnsteig.

„Ich sehe, du bist ja noch ein junges Mädchen. Ist deine erste Reise, oder?“, fragte er.

Ich nickte.

„Dann will ich mal nicht so sein. Aber mach das nie wieder. Das ist gefährlich, du wärst nicht die erste, die ich von den Gleisen kratzen müsste, verstehst du?“

Ich nickte wieder und hoffte, mich einfach nur in Luft auflösen zu können.

„Hier, ich brauche noch deine Bestätigung“, er holte ein Mini-Laptop aus seiner Seitentasche, und ich hatte Angst, es anzufassen, weil es so aussah, als würde es gleich in seine Einzelteile zerfallen. Vorsichtig gab ich meinen Code samt Fingerabdruck ein und er steckte es wieder ein.

„Wir machen jetzt eine halbe Stunde Pause, es dauert länger, bis alles verladen ist. Da vorne ist ein Internetanschluss und du kannst dir auch was zum Essen besorgen“, sagte der Zugführer und lief weiter.

„Ach ja, wenn du etwas brauchst, komm einfach zu mir“, drehte er sich noch im Gehen um.

Ich traute mich gar nicht, mich von der Stelle zu rühren. Ich hatte das Gefühl, mich vor der gesamten Welt blamiert zu haben. Als ich wieder aufschaute, sah ich, dass der andere Mitfahrer an dem, was mal früher ein Bahnhofsgebäude war, stand und sein Laptop auflud. Ich holte mein Gerät und ging ihm nach. Hier sah die Landschaft immer noch genau so aus, wie die Gegend, aus der ich kam. Viel Wald, viel Verfall, aber etwas mehr Häuser und Höfe, soweit ich das sehen konnte. In weiterer Ferne eine größere Halle, vielleicht eine Industrieanlage?

Als ich so wartete, bis ich auch mal an den Internetanschluss dran konnte, kam eine ältere Frau zu mir.

„Willst du was essen?“, fragte sie mich und ich sah schon ihren Korb, der mit einem ausgewaschenen Handtuch bedeckt war.

Ich hatte einen Riesenhunger.

„Ja“, sagte ich und sie zog das Tuch zur Seite. Zum Vorschein kamen belegte Brote.

„Wie viel kosten die?“, fragte ich.

„Die Brote zwei und ich hab noch Gurken und Tomaten, ein gekochtes Ei, die jeweils eins und gefüllte Paprika, die auch zwei.“

Ich versuchte in meinem Kopf auszurechnen, wie viel ich mir leisten konnte und entschied mich für zwei Brote und eine Paprika. Die Frau hielt mir ihr Laptop hin und ich gab meinen Code ein und bestätigte mit dem Fingerabdruck, damit wir die Transaktion abwickeln konnten. Sie ging weiter zu den anderen und alle holten sich was zu essen. Dann war ich endlich dran.

Das Kabel, das mehr oder weniger aus einer Wand hing, machte klick. Ich setzte meine Kopfhörer auf und rief zuerst zu Hause an.

„Endlich meldest du dich“, sagte meine Mutter und ich sah ihr Gesicht, das den ganzen Bildschirm ausfüllte.

Es war das erste Mal, dass ich mit meiner Familie telefonierte. Und wahrscheinlich gab es ab jetzt keinen anderen Kontakt mehr.

„Wie ist es bis jetzt gelaufen?“, fragte sie mich und ich sah, wie sie sich ein paar Tränen wegwischen musste.

„Alles okay. Ich bin auf Kurs.“

„Hast du was gegessen? Und einen halbwegs bequemen Platz?“

Bevor ich was sagen konnte, kamen mein Bruder und meine Schwester angerannt.

„Wie ist es da draußen? Was für Abenteuer hast du schon erlebt?“, rief Tim, der rund zehn Jahre jünger war als ich.

„Puh“, sagte ich, „es ist noch nicht besonders viel passiert.“

Die Sache mit dem auf-den-Zug-springen, von dem mir immer noch die Arme verdammt wehtaten, wollte ich lieber verschweigen.

Meine Schwester Paula stand schweigend hinter meiner Mutter, sie war fünf Jahre jünger und konnte sich nicht richtig damit abfinden, dass ich mich entschieden hatte, tausende von Kilometern weit wegzuziehen.

„Ist bei euch denn alles in Ordnung?“, fragte ich.

„Was soll schon sein, alles beim alten. Dein Vater ist noch auf der Arbeit.“

„Grüß ihn von mir“, sagte ich und sah, dass hinter mir jemand auf den Internetanschluss wartete. „Ich muss Schluss machen. Ich melde mich wieder.“

Wir verabschiedeten uns und ich lud noch schnell meine neuen Nachrichten runter. Machte den Platz für einen Mann im orangenen Overall frei, er war bestimmt einer der Arbeiter, der beim Umladen half.

Als ich wieder im Waggon saß, sah ich, dass mehr Kisten drin standen und unser Platz etwas zusammengeschrumpft war. Ich begann zu essen und las mir die neuesten Entwicklungen auf der Welt durch. Die in dem halben Tag, den ich jetzt unterwegs war, passiert waren. Es stand mal wieder eine Serverüberholung an, deshalb würde die Internetverbindung in der Nacht nicht zur Verfügung stehen. Betroffen wären die Regionen Europa und westlicher Teil von Asien. Der Schiffsverkehr nach Australien wurde seit letzter Woche schon komplett eingestellt, weil die Aufrechterhaltung der Grundversorgung einfach zu aufwändig geworden war. Die letzten verblieben, registrierten Bewohner wurden umgesiedelt, ob noch andere dort lebten wusste man von offizieller Seite nicht. Die Entscheidung war sehr umstritten, schließlich gab es viele Jahrzehnte über riesige Sonnenkollektor-Anlagen dort, die ordentlich Strom lieferten. Aber wie überall wurde die Besiedlung immer dünner und für die paar Hundert Menschen noch die ganze Infrastruktur mit Lebensmittellieferungen, medizinischer Versorgung und technischer Wartung aufrecht zu erhalten, lohnte sich einfach nicht mehr. Die „kleineren“ Inseln wie Neuseeland, Island, Madagaskar etc. wurden schon lange aufgegeben, die Zivilisation zurückgebaut, so gut es ging und die technische Ausstattung recycelt. Selbst die Gegend, aus der ich kam, war schon sehr am Zerfallen. Wenn meine Geschwister groß waren, blieben bestimmt nur noch eine Handvoll Familien dort und die Versorgung wurde irgendwann eingestellt. Für mich mit ein Grund in die dicht besiedelte Region in Sibirien zu ziehen, um eine Perspektive zu haben.

Als ich noch ein paar Nachrichten von Karlh las, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Ein euphorisches Gefühl durchzog mich dabei. Vor zwei Jahren hatten Karlh und ich uns kennen gelernt und jetzt war ich endlich auf dem Weg zu ihm. Ein Jahr Vorbereitung, Genehmigungen einholen und Geld sparen, und jetzt konnte ich mich endlich selbst umsiedeln.

Draußen fing es an zu dämmern und es wurde kühler. Ich legte mir die Jacke über und rollte mich zusammen. Der andere Passagier lag mehr oder weniger direkt neben mir und las noch auf seinem Laptop, das fahle Licht des Bildschirms leuchtete hinter meinem Rücken.

Ich merkte gar nicht, wie ich eingeschlafen war, das Ruckeln des Zuges hatte mich einfach weggetragen. Ich war noch tief in meinen Träumen versunken, als ich Schreie hörte, die ich anfangs noch in meinen Traum einbaute. Doch dann rissen sie mich doch raus und ich richtete mich schnell auf. Es dauerte einen Moment, bis ich mich erinnerte, wo ich war. Die Welt fühlte sich kalt und unbequem an.

„Was ist passiert?“, murmelte ich.

„Ich weiß es nicht“, sagte der andere.

Ich merkte, dass der Zug stand und es draußen stockdunkel war. Schon wieder das Schreien von draußen. Wir kletterten aus dem Waggon heraus, es war so fröstelig, dass ich mich krümmte und die Jacke festzog. Soweit ich erkennen konnte, standen wir auf einem kleineren Bahnhof, ein paar Waggons weiter war eine größere Ansammlung von Menschen, wir gingen da hin.

„Er ist beim Verladen ausgerutscht“, murmelte jemand. Als ich zwischen die Schultern und Köpfe der anderen schaute, sah ich einen Mann am Boden liegen.

„Habt ihr schon einen Arzt kontaktiert?“, fragte ich.

„Die Server werden doch heute Nacht überholt und wir bekommen sowieso kein Kabel hierher“, sagte einer.

Der Mann am Boden stieß wieder einen Schrei aus.

„Lass mich mal gucken“, sagte ich und schob die anderen zur Seite.

Der Lokführer kniete ebenfalls am Boden und drückte dem Mann ein Handtuch an die Seite. Das Blut floss zwischen seinen Fingern durch. Ein anderer hielt die schmerzverkrampfte Hand. Ich erkannte den verletzten Mann, es war der, der sich am Vortag hinter mir an der Internetverbindung angestellt hatte.

„Was ist genau passiert?“, fragte ich.

„Er ist ausgerutscht und ins Gleisbett gefallen, dummerweise steckte aus dem abgebrochenen Bahnsteig noch eine Eisenstange, die sich in seine Seite gebohrt hatte“, sagte der Zugführer.

„Ach du scheiße“, stieß ich aus. „Gib mir mal Licht, ich muss mal in seine Augen gucken.“

„Bist du Ärztin?“, fragte der Zugführer.

„Nein, meine Mutter. Hab schon einige Unfälle gesehen. Nur auf dem Bildschirm versteht sich.“

Jemand reichte mir eine Taschenlampe und ich leuchtete in seine Augen. Die Iris zog sich nicht zusammen. Ich fühlte seinen Puls. Sehr schwach.

„Lass mich mal die Wunde sehen“, sagte ich und der Zugführer hob das Handtuch hoch.

„Die Stange war schon tief drin oder?“, fragte ich.

Er nickte.

Ich drückte vorsichtig auf den Bauch, der Mann krümmte sich noch mehr.

„Habt ihr Schmerzmittel für ihn?“, fragte ich.

Kopfschütteln.

„Hol welche aus meinem Rucksack, schnell“, rief ich meinem Mitreisenden zu und er lief los.

„Wir können nichts mehr für ihn machen“, flüsterte ich dem Zugführer zu und hoffte, dass der Verletzte es nicht hörte. „Die inneren Organe sind zu sehr beschädigt. Der nächste Arzt ist hunderte von Kilometern weit weg.“

Wir schauten uns in dem fahlen Licht an. Seine Augen sahen auf einmal sehr alt und müde aus. Man sah ihm die tausenden von Kilometern, die er auf den Schienen verbracht hatte, an.

„Hast du sowas schon mal gemacht?“, fragte ich.

Er nickte.

„Wir brauchen jemanden, der das ganze aufzeichnet. Hier, du da, nimm mein Laptop“, sagte er zu dem, der die Hand des Verletzten hielt.

„Heute ist der vierte August des Jahres 2304. Eddie Schwerdtner, der hier am Boden liegt, verunglückte vor ungefähr einer Stunde beim Verladen auf dem Bahnsteig, eine Stange bohrte sich in seinen Bauch. Ich, Graegor Koch und die Passagierin Miera Shulze, sind beide unabhängige Zeugen, dass er es nicht mehr schaffen wird rechtzeitig zum Arzt gebracht zu werden...“

„Hier sind die Schmerzmittel“, wurde zu uns durchgereicht.

Ich hob den Kopf des Mannes. Sein ganzer Körper war schlaff.

„Er hat schon das Bewusstsein verloren“, sagte ich und fühlte nochmal seinen Puls, der ganz schwach war.

„Als Personalverantwortlicher des Zuges sehe ich mich gezwungen, ihn von seinem Leiden zu erlösen“, sagte Graegor.

Er stand auf, lief los und kam kurze Zeit später wieder.

Ich half ihm, die Vene des Mannes zu finden, was gar nicht so einfach war. Er gab ihm eine Spritze, woraufhin das Herz aufhörte zu schlagen.

Wir saßen alle stumm da schauten auf Eddie.

Es fing an, hell zu werden. Ein paar der lokalen Männer kamen mit einer Trage, wir legten Eddie rein und sie transportierten ihn zum Friedhof vor Ort. Graegor klärte die Formalitäten und zeichnete mit seinem Code ab, sodass die Arbeit der Männer verrechnet werden konnte.

Erst da sah ich die riesige Blutlache, in der wir die ganze Zeit gestanden hatten. Ich wollte mich waschen, aber Graegor sagte, wir wären zu sehr in Verzug und würden am nächsten Bahnhof einen längeren Halt machen, es wäre noch eine Stunde Fahrt. Absolut irritiert kletterte ich in den Waggon und setzte mich abseits von meinen Sachen, um alles nicht noch mehr einzusauen.