Stadtverlust - Jana Beek - E-Book

Stadtverlust E-Book

Jana Beek

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Beschreibung

In einer von Industrie geprägten Region fließt Metall durch Ninas Adern und sie selbst ist ein Produkt des Bergbaus, der Feinmechanik und der Schichtarbeit. Als die Produktion verlagert wird und die alten Anlagen verschrottet werden, muss Nina sich fragen, wie weit sie geht, um sich selbst auseinanderzunehmen und dem Verfall zu überlassen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

-1-

„Schau euch das an“, rief Kaal und blieb abrupt stehen. Sein Blick wanderte nach oben zu einer gigantischen Eisenskulptur, die über den Dächern der Stadt in den Himmel ragte. Er musste sich die Hand vor die Augen halten, um die grelle Sonne auszublenden und das ganze Gebilde zu bestaunen.

„Wächst es aus diesem Haus?“, Marc zeigte auf ein Gebäude, das eine kleine Lagerhalle sein konnte. Aus den Fenstern ragten Metallstangen heraus, die überdimensionalen Ästen ähnelten und in den strahlend blauen Himmel wuchsen, sie schienen selbst durch das Dach durchgebrochen zu sein.

„Wir sollten hingehen“, beschloss Kaal und seine Bandkollegen Marc, Nadja und Vlad schlenderten hinter ihm her.

Als sie an dem würfelartigem Gebäude mit blaugrauer Metallfassade ankamen, blieb Kaal vor einem Aufsteller stehen, der sie darüber informierte, dass man im Inneren das Atelier und die Ausstellung von Nina Fein besuchen konnte. Davor standen ein paar Leute und unterhielten sich.

„Wir haben noch ein paar Stunden frei, also lass uns reingehen, oder?“, fragte er die anderen.

„Warum nicht“, Marc nahm sich einen Flyer vom Aufsteller und sie schlüpften durch die schmale Eingangstür.

Drinnen war es wesentlich frischer und Kaal war dankbar für die Abkühlung an diesem warmen Sommertag. Er wandte den Kopf nach oben und wusste nicht, wohin er zuerst schauen sollte. In der Mitte war die Eisenskulptur, die wie ein Baum aus der Erde bis zur mindestens zehn Meter hohen Decke ragte und ihre Zweige in alle Richtungen ausstreckte. An einigen der Äste hingen weitere geschmiedete Objekte, die mal wie abstrakte Früchte, mal wie Korallen oder Meteoriten, dann wie Ammoniten geformt waren.

Die anderen etwa zwei Dutzend BesucherInnen strömten durch den Raum und blieben an den schwindelerregend hohen Leitern, den abgenutzten Werkstattbänken, schmutzigen Kübeln mit Metallresten und filigranen Zeichnungen stehen, die hier und da an die Wände gepinnt waren. Kaal tat es ihnen nach und versank in dieser fremden Welt aus glänzenden Metallen, groben und feinen Werkzeugen für ihre Bearbeitung, schnellen Bleistiftskizzen für weitere Projekte, halbfertigen Gebilden aus rohem Stahl und den allgegenwärtigen Spuren vom Schleifen und Schweißen in Form von Metallspänen und Metallstaub.

Selbst die Luft hier roch anders, eisenhaltig und kühl, vom Sommer keine Spur. Als wäre er mit einem Mal in einer unterirdischen Stadt gelandet, in deren Herz ein gigantischer Ofen brannte und aus allen Ecken Schleifgeräusche drangen, grelles und spitzes Knallen die Luft zerschnitt und Leute mit Schweißhelmen umherschlichen und sich wortlos verständigten.

Als er bei seinem Streifzug fast mit jemandem zusammengestoßen wäre, besann Kaal sich wieder auf die Gegenwart und blickte zu der anderen Person auf.

„Entschuldige“, sagte er und lächelte.

Die nachdenklich dreinblickende Frau schaute zu ihm rüber, lächelte und setzte wieder ihren ernsten Gesichtsausdruck auf.

„Sag mal, weißt du zufällig, ob die Künstlerin heute hier ist?“, fragte er die andere Besucherin in Weltsprache und hoffte, dass sie ihn verstand. In dieser Region wurde vorwiegend Ferrum gesprochen.

„Oh“, die junge Frau räusperte sich und schaute sich in der Halle um, „nein, sie ist gerade nicht da“, erwiderte sie in gebrochener Weltsprache und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Kann man sie heute noch hier antreffen?“

„Nein, es tut mir leid. Sie lebt sehr zurückgezogen.“

„Du kennst sie?“

„Etwas, ja“, sie lächelte verlegen und zupfte an dem Kragen ihrer Jacke.

„Das hier ist wunderschön“, Kaal hob seinen Kopf und ließ den Blick durch den Raum gleiten. „Sowas habe ich noch nie gesehen. Wie ist es nur möglich, diese riesige Skulptur aufzubauen, das muss Jahre gedauert haben und dann noch diese ganzen Konstrukte, die da dran hängen…“

„Wenn du genauer hinschaust, hängen an ihnen auch noch weitere Elemente, die wie eine eigene Welt darstellen. Man kann es von hier aus schlecht sehen, lass uns hier rübergehen“, sie bewegten sich noch tiefer in den Raum herein und blieben unter einer Art Kalmar stehen, der sich aus dieser Perspektive auf sie zu stürzen schien. „Und an seinen Tentakeln sind eine Reihe von Pilzen angebracht, die in die Saugnäpfe übergehen. Auf der anderen Seite sind Blitze eingearbeitet und dann wieder ein Fluss, der Schrauben transportiert. Die Schrauben haben eine Gravur, aber das kann man von hier nun wirklich nicht entziffern.“

Sie erzählte zunächst etwas gebrochen und suchte immer wieder nach Worten, doch dann kam sie in einen Flow und ihre Augen leuchteten, als sie auf die Skulpturen zeigte.

„Das hat bestimmt etwas mit der Geschichte dieser Region zu tun?“, hakte Kaal nach.

„Hmm“, sie drehte ihren Kopf zu dem Baum und Kaal betrachtete ihr Profil. Sie musste Ende Zwanzig, Anfang Dreißig sein, hatte kastanienbraune Haare, die zu einem wilden Knoten zusammengebunden waren, eine spitze Nase und abgenutzte Hände, die mit Schrammen und Rissen bedeckt waren. „Hier findet seit Jahrhunderten die Metallverarbeitung statt, jeder Haushalt, jede Straße, jede Gemeinde ist geformt durch die mittlerweile nur noch großen Industrieanlagen, die etwas außerhalb liegen und den größten Arbeitgeber darstellen.“ Sie drehte sich wieder zu ihm und Kaal versank in ihrem warmen und etwas listigen Lächeln. „Sorry, ich wollte dich nicht zuquatschen. Man verliert sich schnell in diesen Formen…“

„Nein, das ist doch gut, ich wollte…“

„Ich muss los“, unterbrach sie ihn, spitzte ihren Mund und hob eine Augenbraue, als wäre ihr gerade etwas eingefallen.

„Warte, wir spielen heute Abend auf dem Festival. Vielleicht kannst du der Künstlerin diese Karte geben, du bist auch herzlich eingeladen, ich würde mich sehr darüber freuen“, Kaal suchte in seinen Jackentaschen nach zwei Karten, die sie vorhin nach dem Soundcheck zur eigenen Verfügung gestellt bekommen hatten und drückte sie ihr in die Hand. „Wie heißt du eigentlich?“

„Danke“, sie sah die Karten perplex an und nahm sie schließlich an sich, „ich sag ihr Bescheid, aber ich weiß nicht, ob sie hingeht. Wie gesagt, sie ist ein kleiner Emerit“, sie lächelte entschuldigend.

Kaal wollte noch etwas sagen, aber sie drehte sich um und lief mit schnellen Schritten davon, er sah nur noch ihre langen Beine im hinteren Bereich der Halle verschwinden. Jetzt war es an ihm, perplex zu schauen.

„Was hat sie dir erzählt?“, Marc stand jetzt neben ihm.

„Hm?“, fragte Kaal.

„Das war doch Nina Fein“, Marc drehte den aufgeklappten Flyer hin und her.

„Nein, sie ist heute nicht hier“, Kaal schüttelte den Kopf.

„Aber das hier war sie doch?“, Marc zeigte auf das Papier vor sich.

Kaal zupfte es ihm aus der Hand. Tatsache. Auf der Rückseite war ein Bild von ihr. Ernst und abgeklärt schaute sie in die Kamera und hatte eine Augenbraue leicht angehoben. Fast erwartete er, sie würde ihm gleich zuzwinkern.

„Nina Fein ist, mit ihrem Atelier im Zentrum von Ferra, eine der größten Kunstschaffenden der Region.“

„Was?“, krächzte Kaal bloß. „Warum hat sie nicht gesagt, dass sie…“, er schüttelte den Kopf und drehte den Flyer, als würde er ihm Antwort geben können.

„Sie sah nett aus“, bemerkte Marc. Nadja und Vlad waren nun auch neben ihm. „Also, los geht’s Leute, lasst uns gehen, in zwei Stunden spielen wir.“

-2-

Als Nina sich durch die Menschenmengen drückte, versuchte sie die vielen Sinneseindrücke zu verarbeiten, die auf sie einprasselten. Nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt wurden schwappende Gläser mit alkoholischen Getränken von ausgelassenen BesucherInnen transportiert; müde Kinder lagen schlapp in Kinderwägen und hatten ihre Augen auf Halbmast; aus Zelten um sie herum drangen mal hypnotische, mal aufgeheizte Rhythmen; es roch nach Zigaretten und gegrillten Hähnchen; Leute lagen sich in den Armen oder starrten abwesend auf ihre Taschencomputer.

Früher war sie öfter auf den Festivals gewesen, die jeden Sommer in der Umgebung von Ferra stadtfanden. Die Musik, die dort gespielt wurde, war neu und aufregend gewesen, die konsumierten Substanzen unbekannt und bewusstseinserweiternd, die Freunde und Bekannte, die sie dort getroffen hatte, voller Geschichten und Tatendrang. Das hatte sich mit den Jahren immer mehr abgeschwächt. Seit sie und die meisten anderen ihrer Schichtarbeit bei dem größten Arbeitgeber der Region nachgingen, war das Verlangen nach Alkoholexzessen und durchgemachten Nächten stückweise verebbt, stattdessen traten anderen Bedürfnisse in den Vordergrund.

Aber nun war sie doch wieder hier und es fühlte sich sogar ganz gut an. Wieder unter Menschen sein, wieder an so etwas wie dem Puls der Zeit sein und nicht allein in ihrem Atelier, wieder etwas Unerwartetes erleben. Die Einladung hierher war auf jeden Fall unerwartet und das Gespräch mit dem Besucher, dessen Namen sie noch nicht einmal kannte, war kurz und simpel gewesen, hatte sie aber auch neugierig gemacht, sodass sie nun hier war.

Als sie an der großen Bühne angekommen war, hatte sich schon eine stattliche Menge von geschätzt tausend Leuten davor versammelt, wobei die meisten von den überwiegend jungen Leuten sich noch von der Bühne abgewandt miteinander unterhielten und eifrig Getränke geholt wurden. Nina stellte sich auf die Zehnspitzen und schaute über die Köpfe, um einen guten Platz nicht zu weit weg von der Bühne aber auch nicht zu nah dran auszuspähen. Sie entschied sich schließlich dafür, sich seitlich vorbeizuschlängeln und lief an bunt gekleideten Jugendlichen und knutschenden Pärchen vorbei, landete schließlich rechts vorne bei den Zuhörern, die gut zu ihrem Vibe zu passen schienen: sie sahen nicht so aus, als würden sie in wilden Tanzorgien ausbrechen, waren aber auch nicht zu stoisch. Also stellte Nina sich dazu, auch wenn sie wegen den Boxen nicht die perfekte Sicht auf die Bühne hatte.

Beim Anblick der Bühnenkonstruktion fragte sie sich, ob diese auch in dieser Region angefertigt worden war, vielleicht sogar in ihrer Fabrik mit dem Metall aus den benachbarten Bergwerken. Wahrscheinlich. Der Gedanke erfüllte sie mit Stolz. Aber das würde nicht mehr so lange bleiben. Seit ein paar Jahren schon schlossen immer mehr Werke oder stellten die Produktion auf andere Waren um, sofern es ging. Die Konkurrenz aus Jaku war eben nicht zu übersehen.

Aber das waren Gedanken für eine andere Zeit. Jetzt kam die Band auf die Bühne und alle Leute brachen in einen ohrenbetäubenden Jubel aus, sprangen herum und feuerten die Musiker an. Und schon wurden die ersten Akkorde angestimmt, was zu noch mehr Johlen und Klatschen führte. Nina hatte sich die Musik dieser Band vorher nicht angehört und wusste nicht, was sie erwarten würde. Es war alles so schnell gegangen, vor ein paar Stunden hatte sie die Karten bekommen, hatte erst eben ihr Atelier abschließen können und stand jetzt hier. Jenseits der Bühne ging gerade die Sonne unter und tauchte den Himmel in tieforange Töne.

Ihr Blick wanderte wieder nach vorne und Nina taxierte die Leute auf der Bühne. Der Sänger und Gitarrist stand im vorderen Bereich und sah etwas unscheinbar aus, braune Haare, blaues T-Shirt, schwarze Hose, sein Alter schätzte sie auf Anfang/Mitte Vierzig, also etwas älter als sie. Die Frau am Bass stand in der hinteren linken Ecke und war voll und ganz in ihr Instrument versunken, ihre langen schwarzen Haare, die mit bunten Strähnchen versetzt waren, fielen ihr vor das Gesicht. Am Schlagzeug saß ein kräftiger Typ, der sehr kurze Haare hatte und mit viel Verve die Becken und Trommeln vor sich bearbeitete. Und schließlich rechts von ihm war der Besucher aus dem Atelier, am Keyboard. Er stand seitlich und war über die Tasten gebeugt, sodass Nina ihn im Profil sehen konnte.

Sein Äußeres war unauffällig, auch er trug ein dunkelgraues T-Shirt und eine schwarz-blaue Hose, seine braunen Haare waren kurz und seine Nase prägnant, flink bewegten sich seine Finger über das elektronische Klavier und er wippte im Takt dazu.

Ninas Blick schweifte wieder zum Himmel, der mit jeder Minute dunkler wurde, und ließ die Musik auf sich wirken. Sie war in einem Moment zahm und geschmeidig, formbar, dann hämmerte sie wie unbiegsames Metall, knallte und schepperte bis der klare Gesang einsetzte und sich Nina schnappte und sie davonfliegen ließ. Sie schloss die Augen und öffnete den Mund, um die Melodien einzuatmen und zu schmecken. Sie durchdrangen ihre Muskeln und Gefäße und drangen ganz tief zu dem Grundgerüst ihres Körpers, den Knochen und dem Knochenmark vor, welches bei ihr aus flüssigem Eisen und Nickel bestehen musste. Es vibrierte bei dem Kontakt mit der elektronischen Musik und Nina spürte ein leichtes Kitzeln in ihren Armen, Beinen und Rückgrat und lächelte. Das war das beste Gefühl.

Sie öffnete die Augen wieder und musste sich erstmal orientieren. Ach ja, das Konzert. Ihr Blick schweifte nach vorne und sie sah, dass der Keyboarder in ihre Richtung schaute, vielleicht trafen sich ihre Blicke für einen kurzen Moment. Nein, das hatte sie sich eingebildet. Die Leute auf der Bühne wurden von den Scheinwerfern geblendet und konnten in der Masse keine einzelnen Menschen ausmachen.

Der Song endete und die Leute applaudierten. Nina blickte hinter sich und sah in strahlende Gesichter, in den Augen der Menschen reflektierten sich die Lichter der Bühne und die Elektrizität, die in der Luft lag. Das nächste Lied wurde angestimmt und Nina bemerkte, wie sie sich zur Musik bewegte. Sie alle tanzten ausgelassen, die Musik verschmolz sie wie in einem Kessel, die Konturen der einzelnen Menschen lösten sich immer mehr auf und formte etwas Neues aus ihnen. Das Schlagzeug war dabei wie das Donnern eines Hammers auf einen Amboss, die Gitarre und der Bass das Ziehen von dünnen Strängen und das Keyboard die Tropfen von flüssigem Metall. Augenblicklich sah Nina eine neue Skulptur vor ihrem inneren Auge entstehen.

Ein Lied folgte dem nächsten und die Menge wurde immer ausgelassener. Die Dunkelheit hatte sich über sie gesenkt und Nina spürten die Wärme der anderen um sie herum viel intensiver. Ihre Energiequelle war direkt vor ihnen. Immer wenn der Sänger vor das Mikro trat und eine neue Strophe anstimmte, fusionierte etwas Unerklärliches und Nina spürte ihr Innerstes aufbrechen.

Als das Konzert endete, war Nina etwas perplex. In der Zuschauermenge pulsierte es noch etwas, dann fingen die Leute an, ihre Wege zu gehen. Auch Nina drehte sich schließlich um und schlenderte in Richtung Ausgang. Sie hatte es nicht eilig, sie wollte jeden Eindruck noch so lange wie möglich mit sich tragen und auf ihrer Zunge schmecken.

Das Festival schien sich insgesamt zu leeren und auf den Wegen und Plätzen rechts und links konnte sie zahlreiche leere Flaschen, zerknüllte Verpackungen, müde Augen und schlappe Füße erblicken. Auch Nina gähnte nach diesem langen Tag und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unter das Kinn.

„Hey, warte“, hörte sie plötzlich hinter sich und drehte sich um.

Der Keyboarder kam auf sie zu gerannt. Kurz vor ihr machte er Halt. „Du bist gekommen“, sagte er außer Atem. „Ich wusste nicht… warum hast du…“, er suchte nach Worten. „Ich bin übrigens Kaal“, er reichte ihr die Hand.

„Nina“, sie schüttelten sich die Hände.

„Danke für die Einladung, es war sensationell“, Nina ließ seine Hand wieder los und friemelte an dem Reißverschluss ihrer Jacke herum. „Sorry für die Verwirrung vorhin“, sie schaute auf ihre Schuhe. „Ich wollte dich nicht veräppeln oder so, es war…“, sie zuckte mit den Schultern, ihr fiel einfach keine plausible Erklärung für ihr Verhalten ein.

„Du hast ein tolles Atelier“, erwiderte Kaal.

„Danke.“

In diesem Moment klingelte sein Taschencomputer und er holte das Gerät heraus.

„Ich bin gleich da“, teilte er jemandem am anderen Ende mit.

„Hey“, er wandte sich wieder ihr zu, „vielleicht können wir uns mal in aller Ruhe unterhalten…“

„Oh“, Nina hob die Augenbrauen. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Warum nicht.“

Kaal klappte das Kommunikationsgerät auf und Nina gab ihm ihre Kontaktdaten durch.

„Ich muss los“, er lief ein paar Schritte rückwärts. „Aber ich schreib dir.“

„Okay“, Nina blinzelte aufgeregt mit den Augen.

„Bis dann.“

Und weg war er.

-3-

Wie sich herausstellte waren sie noch ein paar Wochen auf Tour in der Gegend, bis sie in ihre Heimatstadt zurückkehrten. Das alles erfuhr Nina, nachdem sie angefangen hatten, sich alle paar Tage zu schreiben. Kaal und die anderen kamen aus Mela, natürlich. Nina hätte es sich denken können, sie hatten so etwas freigeistiges an sich, waren nicht überarbeitet und konnten sich voll und ganz ihrer Kunst widmen. Nina gönnte es ihnen nicht so ganz. Ihr Leben war von harten festgezurrten Rhythmen bestimmt, die sie nicht nach Belieben ihren Launen anpassen konnte.

So wie jetzt. Nina klappte ihren Taschencomputer zu, ließ ihren Kopf gegen die Wand hinter sich fallen und schloss noch einmal die Augen. Das letzte Mal, bevor ihre dieswöchige 48-Stunden-Schicht begann. Der Waggon unter ihr ruckelte über die Gleise und sie vernahm das leise Gemurmel der anderen, die mit ihr zur Arbeit fuhren. Zwei Tage in der Woche lieh sie ihr Leben der Fabrik, dann würde sie wieder zu Hause sein.

Als der Zug zu einem abrupten Halt kam, kletterten sie alle aus dem Güterwaggon und machten sich schlaftrunken auf den kurzen Fußweg zum Werk.

„Na, wie war dein Wochenende?“, fragte Birte, die jetzt neben ihr lief.

„Ich war auf dem Festival, hab mir die Musik dort angehört“, gähnte Nina und schwang sich ihre Tasche über die Schulter.

„Ach was, du?“, Birte beäugte sie kritisch.

„Hmm. Und du?“

„Alles wie immer. Du weißt, mit den Kindern vergeht die freie Zeit wie im Nu. Wenigstens ist es Sommer. Wir waren am See. Willst du nicht auch mal mitkommen?“

„Das nächste Mal bin ich dabei“, murmelte Nina und ihr Blick glitt über die riesigen Haufen Schutt, Container, Metallreste und ausrangierter Maschinen, die schon seit Jahren ihren Weg zur Arbeit säumten und sich nie bewegten, sondern immer nur verrosteter und verfallener wurden.

Eine quietschende Tür öffnete sich und mehrere Dutzend MitarbeiterInnen strömten ins Innere. Nina registrierte nur peripher, dass ihr Körper und Geist in einen anderen Modus schalteten. Fast alles lief automatisch, nach vorgegebenen Bahnen ab. Wichtigste Prinzipien dabei waren: effizient und präzise sein, zügig und konzentriert arbeiten, richtig kalkulieren und fehlerlos abschließen.

In der Umkleide zog Nina sich ihren Arbeitsoverall über und band die Haare neu zu einem festen Knoten, trank das kalte Wasser aus ihrer Flasche und schlüpfte in die klobigen Arbeitsschuhe. Sie war startklar.

Die nächsten achtundvierzig Stunden gingen hunderte von Materialien durch ihre Hände, überprüfte sie tausende von verschiedene Verbindungen auf ihre Korrektheit, drückte sie auf dutzende von Hebeln und Knöpfe, kontrollierte sie etliche Anzeigen und Messungen, fiel sie in den Pausen fünf Mal in einen schnellen Schlaf, regte sie sich dreizehn Mal über verzögerte Abläufe und stockende Maschinen auf, fragte sie sich fünf Mal, wieso sie das alles eigentlich machte, nahm sie sich zehn Mal vor, zu Hause nur noch zu schlafen und nie mehr das Haus zu verlassen, rollte sie dreiundachtzig Mal ihre Schultern, um die Verspannungen los zu werden, wischte sie sich dreiundzwanzig Mal ihre Hände an dem Overall ab, bekam eine Schnittwunde und zwei Schläge auf ihre Fingernägel ab, nahm eine Kopfschmerztablette und massierte ein eingeschlafenes Bein.

„Was stellt ihr eigentlich her?“, hatte Kaal sie in einer Nachricht gefragt.

Sie stellten alles her. Sie stellten die ganze Welt her.