Feindeshand - Saskia Berwein - E-Book
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Saskia Berwein

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Beschreibung

Pascal Arnold wird auf offener Straße erschossen. Die Hauptverdächtige: Seine Ex-Frau, Jennifer Leitner. Die Indizien lasten schwer, ihr selbst fehlt jede Erinnerung. Ihre Unschuld zu beweisen scheint unmöglich. Kaum der Untersuchungshaft entronnen, verschwindet Jennifer spurlos, zusammen mit Oliver Grohmann. Alles deutet auf eine Flucht hin … Oder treiben unbekannte Kräfte ein grausames Spiel? Das Finale der "Ein Fall für Leitner & Grohmann"-Reihe.

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Saskia Berwein

Feindeshand

Die Autorin

Saskia Berwein ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie wurde 1981 in Egelsbach geboren. Ihre Liebe zum Lesen führte bereits im Alter von 17 zur Entstehung ihres ersten Romans. Sie lebt zusammen mit ihrem Lebensgefährten in Mühlheim am Main.

Mehr über die Autorin:

www.saskia-berwein.de

Saskia Berwein im Kuneli Verlag:

Todeszeichen

Hoher Einsatz

Herzenskälte

Seelenweh

Wundmal

Zornesbrand

Feindeshand

Saskia Berwein

Feindeshand

Ein Fall für Leitner und Grohmann

Band 6

Thriller

Kuneli Verlag

Originalausgabe November 2022

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2022 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage (November 2022)

Redaktion: Christoph Möbius, Janine Pavel-Hamp

Satz & Cover: Kuneli Verlag, 63165 Mühlheim am Main

Bilder unter Lizenz von Shutterstock.com verwendet.

ISBN 978-3-948194-13-0

www.kuneli-verlag.de

There are things

I have done

There’s a place

I have gone

There are things

I regret

That you can’t forgive

You can’t forget

There’s a game

That I played

There are rules

I had to break

There’re mistakes

That I made

But I made them

My way

Lyrics This Night von Black Lab© Sony/ATV Music Publishing LLC

Prolog

Als Pascal Arnold um sechs Uhr dreißig die Wohnungstür hinter sich schloss, lag das mehrstöckige Mietshaus noch im Tiefschlaf. Er ging die Treppe langsam hinunter, um auf den Steinstufen keinen Lärm zu machen. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie durchgängig die Wände waren und wie der Schall schneller Schritte durch das ganze Treppenhaus bis hinein in die Wohnungen drang.

Es war Sonntagmorgen. Er befand sich auf dem Weg zu seinem dritten Job.

Seine Eltern hatten ihm vor wenigen Wochen den Geldhahn rigoros zugedreht. Sie hatten die Hoffnung, dass er seine schwangere Freundin verlassen würde, wenn er erst einmal die Unannehmlichkeiten eines gewöhnlichen Lebens zu spüren bekam. Er sollte die unerwünschte Person loswerden, mit Unterhalt abspeisen und in den heiligen Schoß der Familie zurückkehren.

Diesen Gefallen würde er ihnen nicht tun.

Pascal Arnold war verliebt und freute sich auf das Kind. Er würde seine Freundin heiraten. Ob dies seiner Familie nun passte oder nicht. Dafür nahm er die Belastung gerne in Kauf.

Um seine Verpflichtungen bedienen zu können, die er noch als Sohn der ehrenwerten Familie Arnold eingegangen war, war er gezwungen, sieben Tage die Woche zu arbeiten. Nachdem ihn seine Eltern nun auch noch aus der familieneigenen Firma geworfen hatten, arbeitete er Montag bis Freitag über eine Zeitarbeitsfirma in einem mittelständischen Unternehmen als kaufmännischer Angestellter. Samstags saß er zehn Stunden lang am Empfang eines Hotels und Sonntagmorgens half er als Verkäufer in einer Bäckerei aus.

Ein tiefer Fall, wenn man bedachte, aus welchem Hause er kam. In der freien Wirtschaft galt seine bisherige Tätigkeit aber nur wenig. Als Sohn des Firmeneigners angestellt zu sein, zählte für viele Manager nicht als Erfahrung, ganz gleich, ob man ordentlich gearbeitet oder es sich am Schreibtisch gemütlich gemacht hatte. Es wurde grundsätzlich letzteres unterstellt.

Inzwischen trug er dieses Schicksal allerdings mit Fassung, wenn nicht sogar mit Stolz.

Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, sein Leben im Griff zu haben und eigene Entscheidungen zu treffen. Er hatte sich von seinen Eltern, ihren Vorstellungen und ihrem Urteil gelöst und war nicht mehr auf ihre Gnade angewiesen.

Er wollte es schaffen.

Auch wenn dies bedeutete, dass er Sonntagmorgen um halb sieben das Haus verlassen musste.

In der Nacht hatte es erneut geschneit. Der Schnee auf dem Gehweg löste sich dank des noch immer in rauen Mengen vorhandenen Streusalzes bereits in Matsch auf. Auf der Straße hatten erst wenige Autos ihre Spuren hinterlassen.

Pascal ging vorsichtig durch den Schnee. Seine Schritte versanken in der Feuchtigkeit und patschten durch das entstehende Schmelzwasser. Es war so kalt, dass sein Atem sichtbare Wolken in die klare Luft malte. Die nächste U-Bahn-Station lag zehn Gehminuten entfernt. Seinen geliebten Sportwagen hatte er verkauft, um die Kinderzimmereinrichtung finanzieren zu können.

Er summte leise vor sich hin. In Gedanken war er bereits bei seiner Heimkehr am Nachmittag, dem Kuchen, den er von der Arbeit mitbringen würde und einer heißen Tasse Kaffee. Nur eine Stunde zusammen mit seiner zukünftigen Frau würde ihn für die schmerzenden Füße und die unhöflichen Kunden entschädigen.

Wie aus dem Nichts trat eine dunkel gekleidete Gestalt hinter dem blauen Lieferwagen hervor, den er gerade passierte. Sie blieb mitten auf dem Bordstein stehen und versperrte ihm den Weg.

Pascal erschrak und erstarrte in der Bewegung.

Instinktiv spannten sich seine Muskeln an und bereiteten sich auf eine Auseinandersetzung vor. Womit er bisher noch nicht zurechtkam, war die Gegend, in die er zusammen mit seiner Freundin hatte ziehen müssen. Raubüberfälle waren nicht an der Tagesordnung, aber auch nichts, worüber sich noch irgendjemand in der Nachbarschaft aufregte.

Die Art und Weise, wie sich die Person vor ihm aufgebaut hatte, ließ ihn sofort an das Schlimmste denken.

Sie hatte die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht gezogen, trotzdem erkannte er sie im Dämmerlicht der Straßenlaterne.

Pascal entspannte sich mit einem Seufzer, der nicht nur seine Erleichterung, sondern auch seine Überraschung zum Ausdruck brachte. »Was machst du denn um diese Uhrzeit hier?«, fragte er verblüfft.

Er erhielt keine Antwort.

Die Frau machte noch einen Schritt auf ihn zu und hob den rechten Arm.

Pascals Blick fokussierte die Pistole in ihrer Hand. »Jennifer, warte, nein!«

Er sah noch das Mündungsfeuer aufblitzen, den Schuss selbst hörte er nicht mehr.

1

Mark Steinberg hatte schlechte Laune.

Es war Sonntag in der Früh, er war erst spät ins Bett gekommen und deshalb übermüdet. Er hasste es, aus dem Bett geklingelt zu werden.

Noch dazu war es arschkalt. Er hatte in der Eile zu einem dünneren Mantel anstatt zur dicken Daunenjacke gegriffen. Gestern Abend waren es noch zehn Grad gewesen.

Der Schneematsch auf den Straßen ließ die Autofahrer im Schneckentempo dahinkriechen. Die S-Bahn, die er ab Offenbach Ost genommen hatte, hatte nach Urin und Kotze gestunken. An der Haltestelle Marktplatz waren die letzten Überlebenden der Nacht eingestiegen, typische Offenbacher Klientel, die der Stadt zu Recht ihren miesen Ruf bescherten.

Die Bäckereien und Cafés an der Konstablerwache waren noch geschlossen, weshalb er keinen Kaffee to Go hatte erstehen können.

Seit einer Woche hatte er keine Zigarette mehr geraucht.

Er hatte mal wieder Bereitschaft und ausgerechnet an diesem Morgen war eine Leiche gefunden worden. Ein Tötungsdelikt, bei dem sie allein wegen der Schusswunden wohl oder übel von Mord ausgehen mussten.

Was ein Scheißtag.

Die Fahrt mit der U-Bahn hatte seinem ohnehin schlechten Gemüt den Rest gegeben.

Immerhin war der Tatort großräumig abgesperrt und der Bereich um den Toten bereits blickdicht mit Planen gesichert.

Rundum waren Fenster geöffnet. Die Gaffer hingen zum Teil mit ihren Handys so weit aus den Fensterrahmen, dass zu befürchten war, dass die Sanitäter doch noch etwas zu tun bekommen würden. Direkt an der Absperrung stand eine kleine Gruppe besorgter Nachbarn zusammen, die ihn mit neugierigen Blicken musterten.

Mark Steinberg kannte den uniformierten Kollegen nicht, der am Absperrband Wache hielt. Ein beschissener Job, dort herumzustehen. Der Kerl war jung, unterster Dienstgrad und musste sich seine Sporen noch verdienen. Er warf glücklicherweise nur einen kurzen Blick auf Marks Dienstausweis und ließ ihn passieren.

Die Spurensicherung war bereits vor Ort und machte ihre Arbeit. Der Notarztwagen, der zuerst verständigt worden war, musste bereits wieder abgefahren sein. Er sah ein paar Häuser weiter einen Kollegen in Uniform, der die Nachbarn befragte. Der Transporter der Rechtsmedizin war noch nicht zu sehen.

Nirgendwo eine Sammlung von dampfenden Bechern oder irgendjemand, der Kaffee für die Truppe besorgt hatte und ihn gerade verteilte.

Mark hielt direkt auf das notdürftig aus Planen zusammengezimmerte Zelt zu, das sich auf dem Gehsteig zwischen einem rostigen Gartenzaun und einem blauen Van drängte. Er hatte es noch nicht erreicht, als Benjamin Rademacher hinaustrat und ihn mit ernstem Gesichtsausdruck begrüßte.

Ein Außenstehender hätte vermutet, dass der junge Kommissar genauso schlecht gelaunt war wie Mark, an Tatorten trug sein Partner aber grundsätzlich eine Totengräbermiene zur Schau. Dem Hünen, der über zwei Meter maß und vermutlich über hundert Kilo Kampfgewicht auf die Waage brachte, war in Gegenwart einer Leiche niemals auch nur der Ansatz eines Lächelns zu entlocken.

Mark grummelte nur ein kurzes »Hallo«, bevor er sich an Benjamin vorbei in das Zelt drängte. Es war nicht besonders viel Platz, kaum für eine stehende Person und den Toten.

Der Mann lag mit offenen Augen und überraschtem Gesichtsausdruck auf dem Rücken. Ein kreisrundes Loch auf seiner Stirn offenbarte die Todesursache.

Die Kugel hatte seinen Schädel durchschlagen. Beim Austritt waren Blut- und Gehirnmasse verspritzt und über Gehsteig, die Seite des dunkelblauen Vans und den Gartenzaun verteilt worden. Auf seiner hellblauen Jacke hatte sich ein weiterer Blutfleck in Herzhöhe ausgebreitet. Das Projektil in der Brust schien zumindest auf den ersten Blick im Körper des Opfers stecken geblieben zu sein.

An der Todesursache gab es erst einmal keinen Zweifel. Von einem Tötungsdelikt mussten sie ebenfalls nicht mehr sprechen. Die beiden Schüsse waren gezielt abgefeuert worden und hatten fast perfekt getroffen. Keine spontane Reaktion. Kein Querschläger. Eindeutig Mord, vielmehr eine Hinrichtung.

Mark suchte den von den Planen abgesteckten Bereich ab, fand aber keine einzige Fundstellenmarkierung der Spurensicherung. Er spürte, dass Benjamin hinter ihm stehen geblieben war, die Plane so weit zur Seite gezogen, dass er draußen stehen und trotzdem einen Blick ins Innere werfen konnte. »Hülsen oder Projektile?«

»Die Spurensicherung sucht noch. Weit kann die Kugel aber nicht gekommen sein. Sieht nicht nach einem Gewehr, sondern nach Pistole oder Revolver aus.«

Mark hätte seinen Partner gerne gefragt, was ihn da so sicher machte. Schusswunden waren nicht gerade die Verletzung, die sie in ihrem Job oft zu sehen bekamen. Vielleicht hatte ein Kollege von der Kriminaltechnik einen entsprechenden Verdacht geäußert. Oder Benjamin glänzte wie so oft mit Wissen, das von ihm zwar nicht erwartet wurde, welches er sich aber trotzdem gerne in seiner Freizeit aneignete.

Benjamin war auf dem besten Weg, ein nerdiger Bulle zu werden, der zwar durch Fachwissen glänzte, aber das notwendige Gespür für den Job vermissen ließ. Mark mochte weder Nerds, noch Kollegen, die eher als Wissenschaftler denn als Ermittler taugten. Die Chefetage war von einem Mix aus beidem allerdings hellauf begeistert. Als ob eine DNA-Analyse oder die Ballistik allein jemals einen Fall aufgeklärt hätte.

Er trat mit seinem Partner zusammen ins Freie und sah sich nochmals um. Noch immer kein Kaffee in Sicht. »Wo bleibt der Rechtsmediziner?«

Benjamin zuckte fragend die Schultern. »Steckt im Stau? Woher soll ich das wissen?«

Mark bemerkte sehr wohl, dass Benjamin nicht aussprach, was er dachte. Du bist doch auch eben erst aufgetaucht. Nicht jeder konnte es sich leisten, in Frankfurt zu wohnen und bei jedem Tatort zehn Minuten nach dem ersten Notruf vor Ort zu sein. Er knirschte mit den Zähnen. Es war nichts gewonnen, wenn er seine Gereiztheit jetzt an Benjamin oder irgendeinem anderen Kollegen ausließ.

»Vermutlich ein Raubüberfall, der schief gegangen ist«, teilte ihm Benjamin ungefragt seinen ersten Eindruck mit. »Musste in der Gegend ja irgendwann mal so kommen.«

Mark runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Das Viertel war dabei, sich zu einem trostlosen, von Armut und Kriminalität beherrschten Flecken Frankfurts zu entwickeln. Aber dass die Kleinkriminellen innerhalb dieser kurzen Zeit zu Schusswaffen aufgerüstet hatten, war unwahrscheinlich. Die Tat passte außerdem nicht ins übliche Bild. »Das war kein Raubüberfall. Ein Schuss direkt ins Herz und einer zwischen die Augen. Das sieht eher wie eine Hinrichtung aus.«

Benjamin stimmte ihm mit einem Nicken zu. Er widersprach ihm selten. Vor allem dann nicht, wenn Mark schlechter Laune war. »Von Angesicht zu Angesicht. Das hat eine persönliche Note.«

Eine persönliche Note. Mark ließ sich diese Feststellung einen Moment lang durch den Kopf gehen. Eine Hinrichtung hätte eher in Richtung organisiertes Verbrechen gedeutet, was für diese Gegend aber ein absolutes Novum wäre. Allerdings gab es immer ein erstes Mal.

Im Moment hätte er nichts dagegen gehabt, den Fall an die Spezialabteilung organisiertes Verbrechen abzugeben. Noch war Frankfurt von Clans und Gangs mehr oder weniger verschont geblieben, dennoch gab es genügend Fälle für eine Sondereinheit. Die Entwicklungen im Keim ersticken. Ein Ansatz, der seiner Meinung nach aus vielen Gründen zum Scheitern verurteilt war, nicht zuletzt, weil den Verantwortlichen die Vorstellung fehlte, dass amerikanische Verhältnisse in einer deutschen Großstadt überhaupt möglich waren.

Ein persönliches Verbrechen eines geschulten Schützen – das war kein Fall für einen Sonntagmorgen und auch kein Fall für Mark Steinberg. Schusswaffengebrauch zog die Presse magisch an und beflügelte zusätzlich die Fantasie der Reporter.

»Wer ist das Opfer?«, fragte er.

Benjamin zückte seinen Block, auf dem er sich Notizen machte, obwohl ihnen hierfür längst elektronische Mittel zur Verfügung standen. Wie ein Ermittler aus alten Detektiv-Geschichten. Manchmal fragte sich Mark, was seinen Partner eigentlich zur Kripo verschlagen hatte.

»Pascal Arnold, 41 Jahre alt, keine Vorstrafen.«

Mark runzelte die Stirn und überlegte einen kurzen Moment. »Pascal Arnold? Wieso sagt mir der Name etwas?«

»Er ist Mitglied der Familie Arnold.«

Mark hob fragend die Augenbrauen. Das sagte ihm rein gar nichts.

»Seine Eltern sind Liselotte und Ferdinand Arnold, Frankfurter Geldadel«, klärte Benjamin ihn mit einem Tonfall auf, der suggerierte, dass dies niederstes Allgemeinwissen war.

»Aha.« Die wie auch immer geartete Herkunft des Opfers konnte jedenfalls nicht der Grund sein, weshalb sein Gehirn auf den Namen ansprang. »Und was macht ein Sohn aus gutem Hause Sonntagsmorgens hier in diesem Viertel?«

»Er wohnt in der Nummer 127. Fünf Häuser weiter. Er war auf dem Weg zur Arbeit.«

»Er wohnt hier? Sagtest du nicht gerade etwas von Frankfurter Geldadel? Sind seine Eltern pleite gegangen?«

»Mitnichten. Seine Eltern waren mit seiner Partnerwahl nicht einverstanden, haben ihn rausgeworfen und ihm jede finanzielle Stütze gestrichen.« Benjamin kratzte sich an der Schläfe. »So viel haben wir aus seiner Freundin noch rausbekommen, bevor sie zusammengebrochen ist. Nathalie Weigelt, 34 Jahre alt, arbeitslos.«

»Wo ist sie?«, wollte Mark wissen.

»In der Klinik. Die Jungs, die wegen dem Notruf gekommen sind, haben sie mitgenommen. Sie ist im fünften Monat schwanger und hat einen Nervenzusammenbruch erlitten.«

»Habt ihr jemanden zu ihrer Überwachung mitgeschickt?«

»Eine Beamtin ist mit ihr gefahren. Sie soll ein Auge auf sie haben und uns anrufen, sobald Nathalie Weigelt vernehmungsfähig ist.«

Mark war zufrieden. Die Maßnahme mochte übertrieben erscheinen, aber bei professionellem Schusswaffengebrauch sollten sie kein Risiko eingehen. Die Überwachung konnten sie einstellen, sobald sie wussten, in welche Richtung sich das Ganze entwickelte. Vielleicht würde ihnen die Sondereinheit den Fall bis dahin noch abknöpfen. »Hat sie ihn gefunden?«

»Nein. Der Junge, der die Sonntagsausgabe der Bild verteilt. Hat nichts gehört oder gesehen. Hatte aber auch Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung in den Ohren. Die Sanis meinten, der Mann dürfte noch keine zehn Minuten tot gewesen sein, als der Zeitungsjunge ihn gefunden hat.«

Was bedeutete, dass Pascal Arnold gegen halb sieben gestorben war. Was der Rechtsmediziner noch bestätigen musste, aber bei frischen Leichen lagen erfahrene Sanitäter und Notärzte mit ihren Einschätzungen häufig gar nicht so falsch. Es war zumindest ein Anhaltspunkt.

»Und die Nachbarn?« Vermutlich die schlechteste Quelle für Beobachtungen, aber manchmal doch überraschend ergiebig.

»Die Jungs und Mädels von der Schupo drehen gerade ihre Runden.«

»Was wissen wir über die Familie Arnold?« ‚Wir‘ bedeutete in diesem Fall Benjamin. »Irgendwelche dreckigen Geheimnisse beim Geldadel?«

»Ich bin keine allwissende Datenbank«, grummelte sein Partner. »Ich bin noch keine Stunde hier. Was erwartest du eigentlich?«

Einen gelösten Fall? Einen vielversprechenden Verdächtigen? Einen Hinweis auf das organisierte Verbrechen, der ihnen die Ermittlungen entziehen würde, bevor sie überhaupt angefangen hatten? Mark wollte einfach nur ins Bett zurück. Er seufzte entschuldigend. Zu mehr konnte er sich nicht durchringen. »Und die Freundin?«

Zumindest hatte Benjamin sie mit Sicherheit überprüft, bevor er sie ins Klinikum entlassen hatte. Der einzige Vorteil eines nerdigen Bullen: Fehler und Versäumnisse waren so gut wie ausgeschlossen. Sein Partner enttäuschte ihn nicht. »Sie ist mal wegen Prostitution verhaftet worden. Nichts wildes.«

Keine Alarmglocken. Kein Grund, die Sache an die Sonderabteilung abzuschieben. Trotzdem würden sie mit der Sitte reden müssen. »Konnte die Freundin irgendetwas zum Motiv oder einem möglichen Täter sagen?«

»Nein.« Benjamin schüttelte den Kopf. »Ich glaube allerdings nicht, dass sie darüber überhaupt nachgedacht hat. Sie stand unter Schock.«

Mark rieb sich die Schläfen und unterdrückte ein Gähnen. Er wollte einen Kaffee. Und eine Zigarette.

Als sie das Zelt verließen, tauchte der Transporter der Rechtsmedizin an der Absperrung auf. Das Fahrzeug wurde durchgelassen und parkte auf der anderen Straßenseite. Ein Mann und eine Frau stiegen aus. Mark kannte die attraktive Rechtsmedizinerin, auch wenn er sich in diesem Augenblick nicht mehr an ihren Namen erinnern konnte. Sie leitete offensichtlich das Team, der junge Kerl musste ihr Assistent sein. Sie grüßte die beiden Kommissare mit einem Nicken und trug ihren Koffer in das behelfsmäßige Zelt.

Es war sinnlos, sie hier vor Ort zu belagern und auf eine erste Einschätzung zu warten. Die Todesursache war offensichtlich. Sollten ihre Untersuchungen Überraschungen ergeben, würde sie anrufen. Wenn ihre Ermittlungen dringliche Fragen aufwarfen, konnten sie sich noch immer bei ihr melden. Ansonsten würden sie in ein bis zwei Tagen ihren Bericht zugemailt bekommen.

Dasselbe galt für die Spurensicherung. Der Leiter des kriminaltechnischen Teams würde sie auf dem Laufenden halten. Interessanteres als das ausgetretene Projektil, das zur Untersuchung eingeschickt werden musste, war ohnehin nicht zu erwarten. Auf offener Straße gab es tausende Spuren, die nichts mit dem Verbrechen zu tun hatten, aber dennoch ihren Weg in unzählige Listen und Datenbanken finden würden. Sie würden Unterstützung brauchen, um allein die Berichte der Sicherung durchzugehen und zu entscheiden, ob irgendetwas davon möglicherweise für ihren Fall von Bedeutung war oder nicht.

Mark wandte sich ab und blickte sich nach ihrem Dienstwagen um, mit dem Benjamin gekommen war. Er war einer der wenigen Kollegen, die immer zuerst zum Präsidium fuhren, um das Auto zu wechseln. Selbst wenn sie zu einer Leiche gerufen wurden. »Also schön. Lass uns ins Büro fahren und einen Schlachtplan erstellen, während die Technik und die Ärzte ihre Arbeit machen. Wäre gut, wenn wir bald mit der Freundin reden könnten.«

»Vorher sollten wir bei Pascal Arnolds Eltern vorbeischauen«, merkte Benjamin an.

Mark blinzelte überrascht. »Seinen Eltern?«

»Frankfurter Geldadel, wie ich bereits sagte … Unser Chef würde es sicher begrüßen, wenn wir ihnen die Nachricht persönlich überbringen. Bevor ein übereifriger Reporter an ihre Tür klopft.« Benjamin sah seinen Blick und deutete ihn richtig. »Dann können wir sie auch direkt befragen.«

»Pascal Arnold war erwachsen«, stellte Mark ätzend fest. »Denen muss keiner die Hand halten. Kohle hin oder her.«

Benjamin verdrehte die Augen. »Ich sag ja nur …« Er deutete in die entgegengesetzte Richtung, in die Mark loslaufen wollte. »Der Wagen steht die Straße runter.«

Sie hatten gerade den Van und das Zelt umrundet, als ein Techniker, trotz des öffentlichen Raums vorschriftsmäßig vollständig in einen Schutzanzug gehüllt, hinter ihnen hergelaufen kam. »Hey, ich hab’ hier vielleicht was!«

Sein Ruf ließ die Gaffer an den Fenstern direkt die Hälse recken.

Mark blickte irritiert auf die leeren Hände des Mannes. Er hatte irgendeine Art gesicherten Beweis erwartet. »Und?«

Der Techniker deutete mit dem Daumen hinter sich. »Muss ich Ihnen zeigen.«

Mark Steinberg warf seinem Partner einen fragenden Blick zu, doch Benjamin konnte auch nur die Schultern zucken.

Der Mitarbeiter der Spurensicherung führte sie zurück zu dem dunkelblauen Transporter und deutete auf den Teil der Frontscheibe, der nicht von den Planen verdeckt wurde.

Zuerst sah Mark nichts von Interesse, bis ihm klar wurde, dass der Kollege das unprofessionell hinter die heruntergeklappte Sichtblende montierte Handy meinen musste. Von dem mit dem Display auf die Blende befestigte Smartphone führte ein Kabel in die Düsternis des Innenraums.

Möglicherweise hatten sie es mit einer illegalen Dashcam Marke Eigenbau zu tun, die den ruhenden Verkehr überwachte und dauerhaft aufzeichnete. Für den Fall, dass das Fahrzeug angefahren wurde und der Verursacher flüchtete. Oder jemand in den Van einbrach oder auch einfach nur demolierte. Eventuell hatte die Kamera etwas von Bedeutung aufgezeichnet. Vielleicht sogar den Tathergang und/oder den Täter.

Mark verstand die Aufregung des Technikers, ließ sich von dessen Euphorie allerdings nicht anstecken. Er hatte in seiner Karriere schon zu viele Enttäuschungen erlebt. Glück war etwas, das seine Arbeit selten begleitete, eher das Gegenteil.

Benjamin war sofort Feuer und Flamme und hatte bereits sein eigenes Telefon gezückt, als Mark sich ihm zuwandte.

»Wir brauchen den KFZ-Halter.« Den Halter zu ermitteln war noch das geringere Problem. Ihn davon zu überzeugen, ihnen die Kamera mitsamt den Aufzeichnungen freiwillig auszuhändigen, war etwas ganz anderes. Es würde möglicherweise auf eine Beschlagnahme hinauslaufen. »Und dann ruf direkt bei der Staatsanwaltschaft an. Ich will einen richterlichen Beschluss.«

2

Marks Laune hatte sich in der letzten halben Stunde deutlich gebessert.

Der Halter des Vans war schnell gefunden worden. Er wohnte nur ein paar Häuser weiter, hatte aber noch im Tiefschlaf gelegen und von dem Aufruhr in der Straße noch nichts mitbekommen.

Er war Handwerker und hatte genug davon, dass sich irgendjemand einen Spaß daraus machte, in schöner Regelmäßigkeit die Reifen sämtlicher Autos in der Straße aufzuschlitzen. Die Polizei war nicht in der Lage oder willens, wie er sagte, die Täter dingfest zu machen, weshalb er sich gezwungen gesehen hatte, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Die Mitteilung, dass ein Nachbar direkt neben seinem Fahrzeug zu Tode gekommen und dabei sein Wagen in Mitleidenschaft gezogen worden war, hatte ihn ausreichend schockiert, um die Installation und den Zweck der illegalen Kamera offen zuzugeben. Die Kamera filmte den öffentlichen Straßenraum, die Videos wurden automatisch dauerhaft gespeichert.

Einer Sicherstellung der selbstgebauten Dashcam und des Speichermediums hatte der Mann vorbehaltlos zugestimmt. Er hatte die notwenigen Papiere unterzeichnet und ihnen den Autoschlüssel ausgehändigt.

So blieb ihnen die weitere Auseinandersetzung mit der zuständigen Staatsanwältin erspart. Die hatte Benjamin am Telefon einen Vortrag zum Thema Gefahr in Verzug gehalten und hätte sich wohl nicht vor Montagmorgen dazu erweichen lassen, beim Ermittlungsrichter den erforderlichen Beschluss für die Beschlagnahme zu beantragen.

Die Techniker der Spurensicherung stellten das Smartphone und die verwendete USB-Platte sicher. Dank einer Runde Kaffee, die Mark zwischenzeitlich von dem jungen Kollegen in Uniform hatte besorgen lassen, ließ sich der Leiter des Spurensicherungsteams dazu erweichen, das Beweismittelsicherungsbrimborium vor Ort durchzuführen. Er untersuchte die Festplatte auf Schadsoftware, kopierte sie und lud die gesicherten Daten auf seinem Notebook.

Sie standen vor den geöffneten, hinteren Türen des Transporters der Kriminaltechnik und warteten darauf, dass der Techniker das fragliche Video fand und abspielte.

Sie begannen die Sichtung der Aufzeichnung ab sechs Uhr in der Früh.

Es passierte lange nichts und sie starrten gespannt auf den leeren Gehweg und die Straße. Ein Auto kam um zwanzig nach sechs durch die Straße. Benjamin notierte sich pflichtbewusst das Kennzeichen, Marke und Modell.

Mark spürte die Blicke der Nachbarschaft im Rücken. Die Polizeiarbeit rund um den Tatort war noch immer das Unterhaltungsprogramm des Morgens.

Ungeduldig knetete er den leeren Einwegbecher in den Händen. Vielleicht würden sie diesen Fall, der ihm den Sonntagmorgen verhagelt hatte, noch am selben Tag gelöst zu den Akten legen können. Ein Glückstreffer, der den wenigsten Ermittlern jemals zuteil wurde und sich meist in eine riesige Enttäuschung verwandelte. Mark wagte nicht, der Hoffnung allzu großen Raum zu geben.

Als Pascal Arnold auf dem Gehweg auftauchte, lebendig und offensichtlich heiter, hielten sie alle den Atem an. Es war nur leise zu hören, aber er summte irgendeine Melodie vor sich hin. Er passierte den Bildbereich der Kamera und verschwand.

Zuvor war niemand vor der Linse des Smartphones aufgetaucht. Es war auch nichts zu hören gewesen. Mark unterdrückte ein resigniertes Seufzen. Er hatte es geahnt. Bereits die Lage der Leiche und der Kamerawinkel hatten vermuten lassen, dass von der Tat selbst nichts zu sehen sein würde.

Jetzt erklang eine männliche Stimme, die das Mikrofon noch leise, aber unverständlich eingefangen hatte. Es fielen kurz hintereinander zwei Schüsse, so laut, dass die Männer vor dem Notebook erschrocken zusammenzuckten.

Der Zeitstempel bestätigte, dass Pascal Arnold um sechs Uhr dreiunddreißig erschossen worden war.

Sie warteten. Endlose dreißig Sekunden lang. Doch es war vollkommen still. Der von der Kamera aufgezeichnete Bereich blieb leer. Keine Person, kein Auto. Nichts.

»Spulen Sie zurück«, bat Mark Steinberg den Leiter der Spurensicherung. »Können Sie das lauter abspielen, die Sequenz, als der Mann spricht?«

»Klar.« Der Techniker tat wie geheißen.

Es rauschte stark, die Aufnahmequalität war mies. Trotzdem konnten sie verstehen, was der Mann sagte und darauf schließen, dass es Pascal Arnold gewesen war. Er hatte seinen Mörder erkannt.

»Jennifer, warte, nein!«

Die beiden Schüsse knallten dieses Mal so laut, dass es in den Ohren schmerzte. Der Teamleiter der Spurensicherung stoppte das Video und wartete auf weitere Anweisungen.

Benjamin fing sich als Erster. »Jennifer? Der Täter ist eine Frau?« Er klang mindestens so ungläubig wie Pascal Arnold.

Mark wusste nicht recht, was er eigentlich empfand. In seinem Magen hatte sich ein säurehaltiger Klumpen gebildet. »Das ist allerdings eine Überraschung …«

Sein Partner bemerkte erst jetzt, dass er vollkommen erstarrt dastand und blass geworden war. »Mark? Was ist los?«

Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Er musste zuerst den Speichel schlucken, der sich in den letzten Sekunden in seinem Mund gesammelt hatte. Er hatte einen widerwärtigen Geschmack auf der Zunge. »Ich weiß, wer sie ist.«

»Wie bitte?« Benjamin berührte ihn am Arm. Auch der Techniker sah ihn nun überrascht an.

Mark fing sich langsam wieder. Er nickte, auch wenn ihm die Bewegung schwerfiel. »Pascal Arnold. Der Name sagte mir wegen ihr etwas. Jennifer Arnold, seine Ex-Frau. Sie hat ihn erschossen.«

»Und woher, zum Teufel, weißt du das?«

Er starrte auf den Wegwerfbecher in seiner Hand hinunter, den er vor Anspannung zerknüllt hatte. »Weil ich vor gut zehn Jahren mit ihr zusammengearbeitet habe. Nach der Scheidung hat sie ihren Mädchennamen wieder angenommen. Sie heißt jetzt wieder Leitner.«

Benjamin sah aus wie ein Kind, dem man gerade eröffnet hatte, dass es den Weihnachtsmann nicht gab. Er konnte es nicht glauben. »Leitner? Moment … Jennifer Leitner? Du meinst die …?«

»Genau die.«

»Sie ist eine von uns«, stellte Benjamin unnötigerweise fest. »Die ist doch vor zwei Jahren in irgendein Kaff im Spessart versetzt worden, nachdem sie einem Verdächtigen eine reingehauen hat.«

»Ist sie.« Mark wünschte sich eine Zigarette. Er brauchte dringend Nikotin. »Ich hoffe allerdings, dass sie inzwischen keine Polizistin mehr ist. Sonst wird das verdammt unangenehm.«

3

Der Bratenduft zog durch das gesamte Haus. Peter Möhring hatte es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich gemacht und versuchte, seinen knurrenden Magen zu ignorieren.

Wenn seine Frau sonntags zum Menükochen ansetzte, war die Küche spätestens ab neun Uhr morgens Sperrgebiet. Er war spät aufgestanden und hatte auf ein Frühstück verzichten müssen. Sie hatte nicht mal eine Schüssel Cornflakes rausgerückt, weil sie der Meinung war, er würde sich nur den Appetit auf ihre Leckereien verderben. Da kannte sie kein Pardon.

Das Buch lenkte ihn glücklicherweise ab. Die Story begeisterte ihn zwar nur mäßig, er kam aber so selten zum Lesen, dass er ausreichend damit beschäftigt war, seine grauen Gehirnzellen dazu zu bewegen, sich an den Plot und die Charaktere zu erinnern und in die Geschichte zurückzufinden.

Das Klingeln an der Haustür ließ ihn aufblicken. Peter Möhring warf einen Blick auf die über der Anrichte hängende Uhr. Kurz nach zwölf Uhr mittags. Eine ungewöhnliche Tages- und Uhrzeit.

Seine Frau rief aus der Küche: »Machst du bitte auf? Ich bin mit den Knödeln beschäftigt!«

Er legte das Buch zur Seite und stand vom Sofa auf. »Eine Ahnung, wer das sein könnte?«

Er erhielt keine Antwort. Die Küchentür war geschlossen, um die Essensgerüche nicht in den Flur und den Rest des Hauses ziehen zu lassen. Ein fast unmögliches Unterfangen.

Vielleicht nur ein Kinderstreich oder eine Nachbarin, die sich irgendetwas leihen wollte.

Die ältere Dame, die gegenüber wohnte, vergaß in letzter Zeit häufig, Kleinigkeiten einzukaufen und stand dann vor ihrer Tür, um sich Mehl oder ein Ei zu besorgen. Seine Frau half gerne aus und war im Umgang mit der Nachbarin äußerst liebenswürdig, obwohl sie inzwischen mindestens ein- bis zweimal die Woche vorbeikam.

Peter Möhring meinte erste Anzeichen einsetzender Senilität zu erkennen. Auf seinen Vorschlag hin, mit den entfernt wohnenden Kindern der Dame Kontakt aufzunehmen, hatte seine Frau allerdings nur abgewunken.

Durch die Tür aus Milchglas konnte er bereits die Statur des Besuchers erahnen. Die Nachbarin schied schon mal aus. Er öffnete in dem Moment, als erneut die Klingel betätigt wurde. Geduld war offenbar keine Stärke des Mannes, der in einen dicken Wintermantel gehüllt auf der Schwelle stand.

Peter Möhring erkannte in dem distinguierten Herrn, der in seinem Alter sein musste, sofort den Beamten. Ein mulmiges Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit und vertrieb den Hunger, den der Bratenduft in der letzten halben Stunde immer mehr hervorgelockt hatte. Er sah sein Gegenüber fragend an.

»Peter Möhring?«

Er nickte.

Wie erwartet wies sich der Mann mit einem Dienstausweis der Polizei aus. »Mein Name ist Hagen Schreiber, Kripo Frankfurt. Wir hatten schon miteinander zu tun.«

Im ersten Moment sagte ihm der Name nichts, doch dann fiel der Groschen. Der Mann war leitender Beamter in Frankfurt und für die Abteilung Kapitalverbrechen zuständig.

Er war Jennifer Leitners ehemaliger Vorgesetzter. Sie hatten im Sommer vor zwei Jahren einige längere Telefonate geführt, als es darum gegangen war, die Kommissarin nach Lemanshain zu versetzen.

Möhring erinnerte sich noch sehr gut daran, wie Schreiber für seine Mitarbeiterin geworben und ihre Fähigkeiten gelobt hatte. Dass sie eine seiner besten Ermittler sei, an ihrem eigenen Anspruch aber zu verbrennen drohe. Sie habe einen Verdächtigen zu hart angepackt. Er wolle ihr ein Disziplinarverfahren ersparen und sie für zwei, drei Jahre auf einem ruhigen Posten in der Provinz parken, ihr eine Zwangskur verordnen.

Möhring hatte damals selbst ermitteln müssen, dass mit ‚zu hart angepackt‘ gemeint war, einem Kriminellen bei einem Fluchtversuch den Kiefer zu brechen. Und dass dieser Übergriff nur ein trauriger Höhepunkt eines sich lange durch kleinere und größere Verfehlungen angekündigter Prozess gewesen war.

Er hatte zugestimmt.

Obwohl er Jennifer Leitner für die Stelle in Lemanshain für überqualifiziert hielt und der Überzeugung war, dass sie es keine drei Monate aushalten würde. Sie brannte für ihren Beruf und war seit mehreren Jahren beim Frankfurter Morddezernat. Das schlimmste Verbrechen, das Lemanshain bis dahin zu bieten gehabt hatte, war ein Totschlag im Vollrausch gewesen.

Möhring hatte seit Monaten eine vakante Stelle zu besetzen und da es niemanden freiwillig in den hessischen Spessart zog, hatte er keine große Wahl gehabt.

Es war anders gekommen als erwartet. Jennifer Leitner war geblieben. Sie hatte ein wenig Ruhe und zu sich selbst zurückgefunden. Noch bevor es ihr langweilig werden konnte, waren ihr die Verbrechen in die bis dahin eher ruhige und idyllische Stadt gefolgt: Auf einen Mordfall folgte der nächste. War Mord bereits ein Novum für Lemanshain, wurde der Ort in den nächsten zwei Jahren nicht nur von einem Serienmörder heimgesucht.

Möhring hielt nicht viel von den Schlagzeilen der Schmierfinken, aber in einer Sache hatten sie wohl Recht: Mit Jennifer Leitner waren die Kapitalverbrechen in Lemanshain eingezogen. Die Monster waren ihr gefolgt.

Erneut war sie in ihrer Arbeit aufgegangen. Erneut hatte sie ihre Grenzen ausgetestet. So weit, dass selbst Möhring inzwischen über ernsthafte Konsequenzen nachgedacht hatte und ihr im Spätsommer ein Ultimatum hatte stellen müssen. Der Warnschuss hatte seine Wirkung nicht verfehlt, zumindest riss sie sich seitdem erstaunlich gut zusammen. Es war schon beinahe beängstigend, wie sehr sie sich verbog, um das Fass nicht doch noch zum Überlaufen zu bringen.

Er plante, sich im neuen Jahr mit ihr zusammen zu setzen und nochmals über ihre Position und ihre Möglichkeiten zu sprechen. Sie hatte verstanden, aber auf Dauer wollte er nicht dabei zusehen, wie sie sich selbst verleugnete und die supergute, freundliche und die Regeln über alles stellende Polizistin spielte. Er wollte eine Basis finden, auf der sie gemeinsam weiterarbeiten konnten.

Er schätzte Jennifer Leitner, auch wenn sie weder als Person noch als Untergebene besonders einfach war. Sie lieferte Ergebnisse und war eine Top-Ermittlerin, solange sie sich nicht von allen Vorschriften verabschiedete und unbedingt bei jeder Kleinigkeit auf Biegen und Brechen mit dem Kopf durch die Wand wollte.

Dass jetzt ihr ehemaliger Vorgesetzter aus Frankfurt vor ihm stand, beunruhigte ihn in vielerlei Hinsicht. Sein Besuch konnte eigentlich nicht mit Jennifer Leitner in Verbindung stehen. Es war Sonntag. Wenn er sie zurückhaben wollte, wäre dies der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort. Außerdem war ihm schon damals klar gewesen, dass Hagen Schreiber die Kommissarin nicht nur vorübergehend aus seinem Zuständigkeitsbereich heraushaben wollte.

Es gab nicht viele sinnvolle Gründe für diesen merkwürdigen Besuch. Keiner davon gefiel ihm.

Er gab seinem Gegenüber nur widerwillig die Hand und trat einen Schritt zurück, um ihn hereinzubitten.

Schreiber schüttelte aber den Kopf. »Könnten wir uns kurz hier draußen unterhalten? Es wird nicht lange dauern.« Demonstrativ nahm er die Stufen nach unten und blieb auf dem Pfad im Vorgarten stehen. Er wollte es sich weder gemütlich machen, noch wollte er riskieren, dass Möhrings Frau oder sonst jemand im Haus die Unterredung belauschen konnte.

Möhring folgte ihm und verschränkte gegen die Kälte die Arme vor der Brust.

Auf der Straße direkt vor dem Haus standen zwei Fahrzeuge, die verdächtig nach zivilen Dienstwagen unterschiedlicher Dienstgrade aussahen. Der schon etwas ältere BMW gehörte mit Sicherheit Schreiber. In dem Opel Vectra saßen zwei Männer, die ihre Unterhaltung mit verdrießlichen Mienen beobachteten. Vermutlich Ermittler. »Worum geht es?«

»Verstehen Sie mich richtig. Dies ist ein Höflichkeitsbesuch. Ich bin nicht dazu verpflichtet, hier zu sein. Ihre Dienststelle haben wir gerade schon unterrichtet. Ich hielt es aber für angemessen, Sie über die Vorgänge persönlich in Kenntnis zu setzen, wenn ich schon einen Einsatz in Ihrem Zuständigkeitsbereich zu verantworten habe.«

»Ein Einsatz? Welcher Art?«

»Eine Festnahme.«

Möhring runzelte die Stirn und spürte, wie sich das ungute Gefühl in seinem Magen in einen eisigen Klumpen verwandelte. Wenn die Frankfurter Kripo in Lemanshain eine Festnahme wollte, wären seine Leute für die Durchführung zuständig gewesen. Es sei denn, es war Gefahr im Verzug. Dann stände Hagen Schreiber nun aber nicht hier, um ihn vor dem Einsatz zu informieren. Oder es gab Gründe, die dagegensprachen, die örtlich zuständige Dienststelle mit der Festnahme zu betrauen … »Um wen geht es?«

Schreiber sah unglücklich aus. Ihm war anzusehen, dass er damit zu kämpfen hatte, den Namen auszusprechen. »Jennifer Leitner.«

Deshalb waren die Frankfurter persönlich gekommen. Es ging um einen Polizisten, einen seiner eigenen Beamten. Damit schied jeder Kollege im örtlichen Zuständigkeitsbereich für die Durchführung der Festnahme aus. Er hatte es geahnt. Und wenn er ehrlich war, hätte er zuerst an die Kommissarin gedacht, nicht nur, weil ihr ehemaliger Vorgesetzter vor ihm stand. Wenn einer von seinen Leuten mit dem Gesetz derart in Konflikt geriet, dass eine Festnahme an einem Sonntag notwendig war, dann wohl Jennifer Leitner.

Sein erster Impuls war, zu fragen, ob es um die Sache im Spätsommer ging. Aber er wusste längst, dass es das nicht sein konnte. Das Einmischen in die Ermittlungen in Frankfurt seitens Leitner und dem Staatsanwalt Oliver Grohmann wäre eine Sache der internen Revision gewesen und schon allein deshalb nicht in die Zuständigkeit der Frankfurter – der Geschädigten – gefallen. Außerdem war die Sache längst ausermittelt und abgeschlossen. Und hätte, allen seinen Vermutungen in Bezug auf begangene Gesetzesbrüche zum Trotz, niemals zu einer Festnahme geführt.

Hagen Schreiber war zum Zeitpunkt von Jennifer Leitners Wechsel Leiter der Abteilung Kapitalverbrechen in Frankfurt gewesen, war es vermutlich immer noch. »Wie lautet der Vorwurf?«

Der Frankfurter seufzte leise. »Pascal Arnold, ihr Ex-Mann, ist heute Morgen mit zwei Schüssen getötet worden. Ein Schuss in die Stirn, der andere in die Brust.«

»Ihr Ex-Mann?« Diese Information irritierte Möhring. Er hatte mit einem gewalttätigen Wutausbruch gerechnet, einer Körperverletzung, aber Mord? An ihrem Ex-Mann? »Wie kommen Sie darauf? Welchen Grund sollte sie haben, ihren Ex-Mann zu erschießen?«

Ein schnelles Ermittlungsergebnis. Es war Mittag, die Tat war am Morgen passiert.

»Die Motivlage haben wir noch nicht ermittelt. Es deutet aber alles auf Jennifer Leitner als Täterin hin.«

Möhring konnte und wollte es nicht glauben. »Das ist unmöglich.«

»Das Opfer selbst hat sie identifiziert. Wir haben die Aufzeichnung einer Dashcam. Pascal Arnold hat nur eine Jennifer gekannt, die noch dazu im Gebrauch mit Schusswaffen geschult ist.« Schreiber verzog das Gesicht. »Es tut mir leid für Sie, aber so ist die Lage. Mir gefällt das ebenso wenig wie Ihnen. Wir haben alle notwendigen Beschlüsse und die Genehmigung von ganz oben. Den GPS-Daten ihres Handys zufolge hält sie sich in ihrer Wohnung auf. Das Sondereinsatzkommando ist einsatzbereit. Wir werden Jennifer Leitner wegen dringenden Mordverdachts festnehmen.«

»Ein SEK?!« Möhring konnte seinen Ohren nicht trauen. »Ist das wirklich notwendig?«

Hagen Schreiber zuckte die Schultern, es wirkte aber nicht wirklich entschuldigend. »Sie hat einen Mann auf offener Straße hingerichtet. Ihre Dienstwaffe ist bei ihr zuhause. Sie hat außerdem eine grüne Waffenbesitzkarte, auf Frau Leitner ist eine Pistole registriert. Ja, das ist leider notwendig.«

Möhring begann plötzlich am ganzen Körper zu frieren. Ihm lagen einige unflätige Flüche auf der Zunge, die er alle herunterschlucken musste.

Er warf seinem Gegenüber einen grimmigen Blick zu. »Ich komme mit Ihnen.«

Schreiber öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn aber wieder. Ihm musste klar sein, dass darüber zu diskutieren keinen Sinn hatte. Er hätte bei jedem seiner Untergebenen dasselbe getan. »Wie Sie meinen.«

4

Die Beamten des Sondereinsatzkommandos rechneten mit jedem möglichen Szenario. In diesem Fall mit einer Polizistin, die für ihr privates Training an der Waffe bekannt war und es vermutlich auf das Zehnfache an Stunden auf dem Schießstand brachte als vorgeschrieben waren. Eine Frau, der unterstellt wurde, ihren Ex-Mann mit zwei gezielten Schüssen getötet zu haben, die absolut ins Schwarze getroffen hatten. Präzise und eiskalt. Zusammen mit mindestens zwei 9mm-Pistolen mitsamt einer unbekannten Menge an Munition in der Wohnung eine Gefahrenlage von spezieller Qualität.

Die Einsatzkräfte waren bewaffnet und standen unter Strom. Sie warteten vor der Wohnungstür darauf, dass die uniformierten Kräfte die anderen Bewohner auf dem Stockwerk aus dem Haus schafften. Für einen solchen Ernstfall, der sich tatsächlich nicht allzu oft ereignete, hatten sie trainiert. Gegebenenfalls stand ihnen eine Schießerei mit einer Verdächtigen bevor, die sich verbarrikadierte und nicht ans Aufgeben dachte.

Endlich waren die Zivilisten aus dem möglichen Schussfeld und sie bekamen den Einsatzbefehl.

Sie brachen weder die Tür auf, noch stürmten sie die Wohnung.

Der Einsatzleiter hatte klare Vorgaben zum Vorgehen gemacht. Er wollte keine Eskalation riskieren und hatte einen leisen Ansatz vorgegeben. Vom Vermieter hatten sie den Generalschlüssel erhalten. Der Beamte, der das Team anführte, beugte sich über seine knieende Kollegin hinweg und schob langsam den Schlüssel ins Schloss. Vorsichtig drehte er. Es war nur eine Umdrehung nötig, um die Tür zu öffnen.

Er suchte den Blickkontakt zu der Frau, die vor der Tür kniete.

Sie hatte bereits vor zehn Minuten einen Lauschangriff auf die Wohnung gestartet. Per Glasfiberoptik hatte sie den Flur der Wohnung im Blick behalten. Jetzt packte sie die Überwachungstechnik wieder ein. Sie bedeutete dem Teamführer und den Kollegen mit Handzeichen, dass alles nach wie vor ruhig und von der Zielperson nichts zu sehen war.

In der nächsten Sekunde schien jemand den Schnellvorlauf zu betätigen. Lief vorher alles in Zeitlupe ab, passierte der übrige Einsatz in wenigen Augenblicken. Tür auf, leise den Flur entlang, die Zimmer sichern, nach der Zielperson suchen, im besten Fall überraschen und festnehmen, bevor diese überhaupt daran denken konnte, sich zur Wehr zu setzen.

Mit Gegenwehr war zu rechnen. Die Möglichkeit bestand, dass sich die Verdächtige, auf ihre Kollegen wartend, verschanzt hatte und zum Angriff überging.

Doch der Einsatz entwickelte sich zu einem schnellen, gefahrlosen Eingreifen.

Das Einsatzkommando fand Jennifer Leitner tief schlafend im Bett vor, von einer Alkoholwolke umgeben, die nicht zu Unrecht vermuten ließ, dass sie nicht einmal gemerkt hätte, wenn die sprichwörtliche Elefantenherde durch ihr Schlafzimmer getrampelt wäre.

Bevor sie einen einigermaßen als wach zu bezeichneten Zustand erreichen konnte, war sie bereits aus dem Bett gezerrt, auf dem Boden gesichert und ihre Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt worden.

Als Mark Steinberg eine halbe Minute später das Schlafzimmer betrat, verschlug ihm die abgestandene, von Alkoholdunst geschwängerte Luft fast den Atem.

Die Kollegen vom Sondereinsatzkommando hievten Jennifer Leitner gerade auf die Füße, auf denen sie sich allerdings kaum selbst halten konnte. Sie ließen die Frau, die benommen in das Tageslicht blinzelte, auf dem Bett nieder. Sie sah furchtbar aus. Die braunen, schulterlangen Haare klebten fettig und zerzaust an ihrem Kopf, dunkle Schatten lagen unter ihren geröteten Augen und ihre Haut wirkte teigig, ihr Gesicht war aufgedunsen.

Sie hätten sie auch direkt aus der Gosse ziehen können.

Er benötigte keinen Alkoholtest, um zu wissen, dass sie stockbesoffen und nicht vernehmungsfähig war.

Mark nickte den Beamten vom Einsatzkommando zu. Ihr Job war erledigt und sie rückten ab. Die Wohnung war ohnehin bereits von Beamten überfüllt. Er hatte ein Team der Spurensicherung und Kollegen zur Unterstützung mitgebracht.

Ihm und Benjamin waren zwei weitere Ermittlerteams unterstellt worden. Eine recht kleine Mordkommission, weil die Chefetage versuchen wollte, den Fall auf kleiner Flamme zu kochen. Obwohl ihnen wie jedem Beteiligten klar sein musste, dass spätestens Montagmorgen die Gerüchteküche brodeln und die Hölle losbrechen würde.

Mark hatte dafür plädiert, die Ermittlungen an eine Dienststelle abzugeben, in der Leitner selbst noch nie Dienst verrichtet hatte. Wenn es gegen die eigenen Leute ging, musste sichergestellt sein, dass die Zuständigen Neutralität wahren konnten.

---ENDE DER LESEPROBE---