Im Angesicht der Stille - Saskia Berwein - E-Book

Im Angesicht der Stille E-Book

Saskia Berwein

0,0
7,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Samira hat gerade ihren persönlichen Tiefpunkt hinter sich gelassen: Ihre Beziehung ist zerbrochen, sie hat eine Stillgeburt erlitten und ihren Job bei der Polizei verloren. Ihr ehemaliger Vorgesetzter vermittelt ihr einen privaten Auftrag: Sie soll das Schicksal eines spanischen Wanderarbeiters untersuchen, der vor über zwanzig Jahren verschwunden ist. Die Ermittlungen drohen dunkle Geheimnisse offenzulegen, für deren Schutz die Verantwortlichen alles zu tun bereit sind … und Samira zur Bedrohung werden lassen. Das erwartet dich: Eine Geschichte fern eines typischen Krimis Düstere und verstörende Abgründe Verlorene, zerstörte Seelen Moralisch grau bis schwarze Charaktere Geheimnisse und Verrat Ein Kriminalroman, fern eines typischen Krimis: düstere und verstörende Abgründe, verlorene, zerstörte Seelen, zwei Familien, deren Geschichte gewaltsam miteinander verwoben ist ... und eine Protagonistin, die den Kampf mit ihren eigenen Dämonen endgültig zu verlieren droht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Saskia Berwein

Im Angesicht der Stille

Die Autorin

Saskia Berwein ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie schreibt seit ihrer Jugend Kurzgeschichten und Romane in unterschiedlichen Genres. Ihre Faszination für die seelischen Abgründe der Menschen, insbesondere Mörder und ihre Entwicklung, entdeckte sie bereits während ihrer Ausbildung. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten und drei Langohren in Mühlheim am Main.

Saskia schreibt Thriller und Krimis ohne Lokalkolorit. Ihr Stil wird von Lesern als amerikanisch bezeichnet und sie wird mit Kathrin Slaughter oder Jan Burke verglichen. Als Hailey Winter schreibt sie High und Urban Fantasy.

Mehr Infos:

www.saskia-berwein.de

www.facebook.com/saskiaberweinhaileywinter

www.instagram.com/saskiaberwein_haileywinter

Saskia im Kuneli Verlag

Todeszeichen

Herzenskälte

Seelenweh

Wundmal

Zornesbrand

Feindeshand

Hoher Einsatz

Ein Fall für Leitner & Grohmann - Gesamtausgabe

Saskia Berwein

Im Angesicht

der Stille

Dunkler Kriminalroman

Kuneli Verlag

Originalausgabe September 2024

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2024 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage (September 2024)

Redaktion: Christoph Möbius, Janine Pavel-Hamp

Cover & Satz: Kuneli Verlag, 63165 Mühlheim am Main

Unter der Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com

ISBN 978-3-948194-40-6

www.kuneli-verlag.de

Prolog

Er stand neben dem Sofa, sah schweigend auf sie herab und beobachtete sie. Sie lag auf der Seite, ihr Mund war leicht geöffnet. Ihre Augen waren geschlossen, ihr rechter Arm hing über den Rand, ihre Hand berührte beinahe sein Bein. Ihre Bluse war körperbetont geschnitten und ein wenig verrutscht, als sie sich hingelegt hatte. Ein Streifen Haut war über dem Bund ihrer Hose zu sehen. Sie hatte ihre Schuhe abgestreift, sie lagen vor dem Sofa. Sie schien tief und friedlich zu schlafen. Doch obwohl sie ruhig atmete, schwitzte sie und ihre Körperhaltung wirkte angespannt.

Dennoch war sie wunderschön. Ihr Gesicht hatte eine ovale Form und so wie das Licht fiel, zeichneten sich ihre Wangenknochen als kaum wahrnehmbare Schatten ab. Ihre Lippen waren weder zu schmal noch zu voll. Um ihre Augen hatten sich erste Fältchen gebildet, die im Licht kaum auszumachen waren. Ihre Haut war etwas blasser als sonst und der Alkohol hatte ihr die Röte in die Wangen getrieben. Er mochte, dass sie kaum Make-Up trug und nicht versuchte, jünger zu wirken wie die meisten anderen Kolleginnen. Dass sie sich die Haare färbte, konnte er verzeihen, denn das dunkle Rot schmeichelte dem Braun ihrer Augen.

Es war ihre praktische, unkomplizierte Art, die er an ihr schätzte. Die Weise, wie sie dachte, arbeitete, atmete, lebte … Ihre Sanftheit, ihr Selbstbewusstsein, ihre Stimme, ihr Lachen. Aus Sympathie war Verliebtheit und aus Verliebtheit Obsession geworden. Emotional, körperlich … Sie war seine Göttin, ein Teil seines Lebens, den er hätte aufgeben müssen und nicht aufgeben konnte. Keine Zurückweisung, kein Schmerz und keine Demütigung waren in der Lage gewesen, ihn zu heilen.

So nah und doch so unerreichbar …

Er hatte lange gebraucht, um zu verstehen, dass sie ihm nicht gestattete, loszulassen. Sie teilte sein Sehnen, hielt es aber wie er selbst unter Kontrolle. Lange war er frustriert gewesen, schon beinahe bereit zu glauben, sie locke ihn absichtlich, um ihn immer wieder grausam verhungern zu lassen. Die unscheinbaren Blicke, die zufälligen Berührungen, das Lächeln … Bis er begriffen hatte, dass sie dies weder bewusst noch gewollt tat oder gar böswillig. Sie hatte nur viel früher verstanden, dass sie ihren Gefühlen nicht nachgeben durften, nicht nachgeben konnten.

Nicht etwa, weil sie Kollegen waren. Moralische oder soziale Überlegungen spielten nicht die geringste Rolle. Sondern weil die Dämme gebrochen, sie miteinander verbrannt wären … Ihre Verbindung und ihre Liebe waren zu stark. Unfähig, sich voneinander zu lösen oder sich abzuwenden, waren sie in diesem Zustand gefangen. Nur gelang es ihr weit besser als ihm, damit umzugehen. Sie hatte es geschafft, sich ein einigermaßen normales Leben aufzubauen und funktionierende Beziehungen einzugehen. Fluchtversuche, die er selbst getan hatte, aber gescheitert war. Fluchtversuche, die er ihr trotz des Schmerzes verzieh.

Er musste andere Wege finden, mit seinem Sehnen umzugehen. Seine Gefühle tief in seinem Inneren verschließen und kontrollieren. Emotional gelang ihm das meistens auch sehr gut, doch das körperliche Verlangen … Er hatte die unterschiedlichsten Methoden ausprobiert, keine hatte geholfen. Selbstbefriedigung, mit Frauen zu schlafen, die ihr möglichst ähnlich sahen, KI-generierte Bilder und Videos, die er in VR anschauen konnte.

Alles hatte Öl ins Feuer gegossen.

Es gab nur eine Möglichkeit. Er musste seinem Verlangen nachgeben. Es musste gestillt werden. Zweimal war er bereits fast so weit gewesen, die Kontrolle zu verlieren. Er hätte die sorgfältig gepflegten Mauern zwischen ihnen eingerissen, hätte sie mit in den Strudel ihrer Leidenschaft gezogen und gemeinsam wären sie untergegangen … Das durfte nicht passieren. Niemals hätte er sich verziehen, ihre Barrieren zum Einsturz zu bringen und sie mit sich in den Abgrund zu ziehen.

Er hatte einen Weg finden müssen, sein Verlangen zu stillen, an ihr und mit ihr, ohne ihr Wissen oder ihre bewusste Teilnahme. Es war die einzige Möglichkeit, sie zu schützen und ihm selbst die Erleichterung zu verschaffen, die er so dringend brauchte, um nicht verrückt zu werden. Um nicht etwas zu tun, dass ihr schaden würde.

Jetzt waren sie hier.

Tief in seinem Innern regte sich ein leichtes Gefühl von Bedauern, das früher zu Schuld angewachsen war, wenn seine Gedanken diese Richtung eingeschlagen hatten, doch diese Stimme war inzwischen verstummt. Sie wollte es nicht weniger als er selbst. Auch ihr würde er Erleichterung verschaffen. Sie würden weiter existieren. Das Sehnen würde nicht übermächtig, nicht unkontrollierbar werden.

Er schloss die Augen und atmete tief durch, bevor er seinen Blick erneut über ihr Gesicht und ihren Körper gleiten ließ.

Leise flüsterte er ihren Namen. Als sie nicht reagierte, sprach er sie in normaler Lautstärke an, die ihm selbst unfassbar laut vorkam, aber auch darauf erfolgte keine Reaktion. Ein letztes Mal blickte er über seine Schulter zur Tür. Sie war geschlossen und würde es bleiben. Er hatte sie abgeschlossen. Niemand würde sie stören.

Er ging neben ihr in die Hocke. Er strich ihr die widerspenstige Strähne aus dem Gesicht, die sie erfolglos zu bändigen versuchte, seitdem er sie kannte. Zärtlich streichelte er über ihre Wange, seine Fingerspitzen kribbelten bei der Berührung ihrer weichen Haut. Ein Zittern durchlief ihren Körper, ein leises Stöhnen kam ihr über die Lippen, aber ihr Bewusstsein blieb in den Tiefen des Schlafs gefangen.

Seine Finger wanderten zu ihrem Mund. Sein Daumen glitt über ihre Unterlippe, die sich weich und trocken zugleich anfühlte. Ihre Augenlider bebten, als er ihren Kopf zärtlich in seine Hände nahm und sich vorbeugte. Lange hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt, sich danach verzehrt … Er schloss die Augen und presste seinen Mund sanft auf ihre Lippen.

Ihre körperliche Anspannung wuchs, als sie gegen den Schlaf ankämpfte. Sie wollte aufwachen. Ein Teil von ihr wehrte sich, wollte den Kampf um die Kontrolle fortsetzen, während ein anderer sie aufgeben und sich in ihr eigenes Verlangen ergeben wollte. So stark wie sie mental war, kämpfte sie vermutlich noch immer um Beherrschung. Ihre Reaktion hatte eine unerwartete Wirkung auf ihn. Ihr passives, unbewusstes Reagieren erregte ihn, möglicherweise sogar mehr, als es eine bewusste, positive Antwort getan hätte.

Er ließ seine Zunge vorgleiten, leckte über ihre Lippen, bevor er sie teilte und in ihren Mund stieß. Sie schmeckte trotz des Alkohols wundervoll, ihre Zunge vollführte einen unbewussten Tanz im Zwiespalt zwischen Gegenwehr und Lust. Sie bäumte sich mit einem Aufstöhnen unter ihm auf und in seinen Ohren klang der unausgesprochene Protest wie eine Einladung. Er wurde hart. Härter als jemals zuvor, wenn er an sie und in der jüngeren Vergangenheit daran gedacht hatte, wie er sich tatsächlich und wirklich mit ihr vereinigen würde.

Die Angst davor, dass sie aufwachen könnte, verflüchtigte sich immer mehr. Seine Hände glitten ihren Hals hinunter, legten sich um ihre Brüste und massierten sie leicht. Ihr Arm zuckte, eine ungesteuerte Bewegung, doch ihre Hand berührte seinen Oberschenkel. Sein Schoss schnellte beinahe von allein vor, so dass ihr Handrücken zwischen seine Beine glitt. Es war nur eine sanfte Berührung, doch sie entlockte ihm ein Aufstöhnen. In seiner Fantasie hatte sie zugepackt.

Er fand die Knöpfe ihrer Bluse. Es kostete ihn Disziplin, sie nicht einfach aufzureißen … Der Stoff hätte mit Sicherheit nachgegeben. Wieder einmal kämpfte er um seine Selbstbeherrschung. Obwohl er seiner Erleichterung näher als je zuvor war, tun konnte, was jahrelang unerreichbar erschienen war, stellte sie ihn auf eine harte Probe. Zu lange hatte sie ihn warten lassen … Nein, korrigierte er sich, sie hatte ihn nicht warten lassen. Sie hatte zum Selbstschutz für sie beide ihr Verlangen und Begehren in Schach gehalten.

Er löste seine Lippen von ihrem Mund und zog den hellblauen Stoff zurück. Seine Augen wanderten über ihren Oberkörper, erfassten präzise jedes Fältchen, die Vertiefung ihres Bauchnabels, die Rundungen ihrer noch von einem weißen Büstenhalter verdeckten Brüste.

Er zog die Träger nach unten, entblößte sie und ließ den Anblick einige Sekunden lang auf sich wirken. Ihre Warzenhöfe waren dunkler und größer als er sie sich vorgestellt hatte. Zärtlich streichelte er sie, wog ihre Brüste in seinen Händen, hielt sie … Sie spannte sich an, eine unstete Abwehrbewegung und ein Grummeln, das er als Zustimmung interpretierte.

Ihre Nippel wurden hart, als er mit dem Daumen darüberstrich, ihr Atem beschleunigte sich und ihr Kopf rollte zur Seite. Auch wenn sie es nicht bewusst wahrnahm, reagierte ihr Körper und das keinesfalls negativ. Ihr Seufzen, als er sich vorbeugte und seine Zunge über ihre Brustwarze gleiten ließ, war Bestätigung genug. Seine Erektion wurde schmerzhaft, als sie sich unter ihm in Erregung wand.

In seinen Fantasien hatte er sich Zeit genommen, viel Zeit … Er hatte aber nicht damit gerechnet, welche Wirkung sie auf ihn haben würde.

Er öffnete ihren Gürtel, zog ihr Hose und Unterhose aus, bevor er ihr rechtes Bein vom Sofa zog, um ihre Körpermitte zu erreichen. Er nahm den Duft wahr, bevor er die Feuchtigkeit bemerkte. Ihr Bewusstsein mochte in den dunklen Tiefen des Schlafs versunken sein, doch ihr Körper hatte dennoch auf ihn und seine Berührungen reagiert. Er signalisierte die Zustimmung, die ihr Verstand ihm in wachem Zustand immer verwehrt hatte.

Er berührte sie, kostete sie. Sie murmelte etwas, ihre Lider flackerten, doch so sehr sie auch darum kämpfte, aufzuwachen, blieb sie doch in ihren Träumen gefangen. Es war bedauerlich, dass diese Nacht ihr nicht einmal als ferner Traum erhalten bleiben würde … Er würde die Erinnerung in alle Ewigkeit konservieren und von ihr zehren.

Er öffnete seine Hose, befreite seinen erigierten Penis, der schmerzhaft pochte. Er spreizte ihre Beine noch etwas mehr, kniete nieder und biss sich beinahe die Lippe blutig, als seine Spitze ihre samtige Haut berührte. Mit Daumen und Zeigefinger zog er ihre Schamlippen auseinander. Seine Augen fixierten ihren Eingang, nur wenige Millimeter von seinem pulsierenden Glied entfernt.

Langsam schob er sein Becken vorwärts, drang in sie ein und konnte ein heiseres Aufstöhnen nicht unterdrücken. Er hatte es langsam angehen wollen, die Erfahrung in die Länge ziehen, doch es war ihm unmöglich. Er stieß in sie, einmal, zweimal … Seine Hoden zogen sich zusammen, er konnte sich nicht zurückzuhalten. Sein Orgasmus überwältigte ihn. Er stieß ein letztes Mal vorwärts und ergoss sich tief in sie.

Tiefste Erleichterung überschwemmte ihn, Ektase, Freude, Trauer … Aber keine Befriedigung. Die Situation hielt ihn gefangen. Er blickte in ihr Gesicht, sah ihre in Erregung flackernden Lider, ihre angespannten Muskeln, das Nachschwingen ihrer Brüste … und blieb zu seiner eigenen Überraschung hart.

Keine andere Frau hatte dies jemals bewirkt. Er spürte das Lächeln in seinem Gesicht.

Es war noch nicht vorbei.

1

2022

Die Tür zu ihrem Büro flog auf und wäre gegen die Wand gekracht, wenn der Mann sie nicht im letzten Moment aufgefangen hätte. Sie erschrak so heftig, dass sie von ihrem Stuhl auffuhr, der zurückrollte und lautstark mit dem Aktenschrank hinter ihr kollidierte. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der ihr in der Kehle stecken blieb, als sie ihn erkannte.

Er war aufgewühlt, nicht unbedingt wütend, aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, der sie instinktiv noch einen Schritt zurückweichen ließ, während er die Tür hinter sich schloss. Er hätte sich vermutlich liebend gern zugeworfen, hatte sich aber glücklicherweise noch genug unter Kontrolle, um sie zivilisiert hinter sich zuzudrücken.

Sie starrte ihn an. Ihr Gehirn brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sortieren und den Schock, den sein Hereinplatzen ausgelöst hatte, zu verarbeiten. Sie war viel zu überrascht, um angemessen – nämlich wütend – zu reagieren, weshalb ihre Stimme viel zu dünn klang. »Was zum Teufel machst du hier?«

Er fixierte sie wortlos, trat vor und knallte eine Zeitung vor ihr auf den Tisch.

Sie spürte seinen unterschwelligen Zorn ebenso stark wie seine Verunsicherung, die seinem Auftritt die Gewalt nahm. Er bebte am ganzen Körper und deutete auf die Zeitung hinunter, die nun zwischen ihnen auf der Tischplatte lag. »Erklär mir das, bitte.« Trotz seiner Worte bat er sie nicht, er forderte.

Sie verstand nicht. Wie hätte sie auch? Sein Finger blieb über der Zeitung kleben, deutete anklagend darauf. Er machte keine Anstalten, mehr dazu zu sagen. Er wollte, dass sie etwas auf der Seite las, das sich offensichtlich irgendwo in der Mitte des Blatts befand. Sie rümpfte die Nase, als sie sah, welches Presseprodukt er ihr dermaßen unhöflich auf den Tisch geknallt hatte.

Ihre Abscheu wandelte sich sofort in einen Klumpen in ihrem Magen, als sie die größte Schlagzeile auf der Seite las. Volltreffer. Ihr wurde anders zumute und sie musste sich auf ihren Stuhl setzen und ihn mit dem Hintern vorwärts rollen, um weiterlesen zu können, obwohl dies gar nicht nötig gewesen wäre.

Sie wusste, worum es ging, und fürchtete das, was in dem Artikel stand. Allerdings nicht so sehr wie die Tatsache, dass er die Wahrheit entdeckt hatte. Sie atmete tief durch und setzte ihre Lesebrille auf, um sich Zeit zu verschaffen. Ihre Gedanken rasten bereits, suchten nach einer plausiblen Erklärung, während sie sich vorbeugte und erneut die Schlagzeile las.

Jörg F.: Anwalt der Ex-Frau erklärt, dass seine Mandantin gelogen hat

Darunter stand eine fettgedruckte Zeile in normaler Schriftgröße, die ihre letzte Hoffnung, es könne sich um einen anderen Fall handeln, platzen ließ:

Ehefrau hat gelogen. Toter Jörg F. des Kindesmissbrauchs unschuldig. Urteil rechtskräftig.

Sie musste nicht weiterlesen, tat es aber trotzdem.

Die kurze Zusammenfassung der vorangegangenen Ereignisse: Der ermordete Jörg F. war in einem Waldstück gefunden worden. Die Presse hatte an die Oberfläche gezerrt, dass er seine kleine Tochter missbraucht haben sollte und deshalb auch vor Gericht gestanden hatte, allerdings freigesprochen worden war. Der Mann war dennoch durch den Dreck gezogen, alle möglichen Theorien aufgestellt worden: Dass er doch schuldig war und vielleicht sogar seine Ex-Frau ihn getötet hatte, die Staatsanwaltschaft auch noch in Berufung hätte gehen wollen und so weiter.

Jetzt hatte sich besagte Ex-Frau, die ihren Mann ursprünglich angezeigt hatte, weil er die gemeinsame Tochter missbraucht haben sollte, über ihren Anwalt zu Wort gemeldet. Es gäbe keinerlei Zweifel an der Unschuld von Jörg F., seine Ex habe gelogen und ihre Aussage im Verfahren zurückgezogen, als sie ihr falsches Handeln erkannte. Sie bereue sehr, ihren Ex angezeigt zu haben, weil sie das alleinige Sorgerecht bekommen und ihn so schwer wie möglich hatte treffen wollen. Er sei Opfer eines dreckigen Scheidungskriegs gewesen und zu Recht freigesprochen worden. Das Urteil sei rechtskräftig, Jörg F. habe seiner Tochter nie etwas zuleide getan. Der Anwalt betonte, dass die Schlammschlacht gegen den Toten auf Sensationsgeilheit der Presse beruhe und sofort enden müsse.

Sie sah von der Zeitung auf und setzte langsam ihre Brille ab.

Er hatte seinen Finger heruntergenommen, war aber noch immer so angespannt wie zuvor. Schweigend wiederholten seine Augen seine Forderung nach Aufklärung.

Ihr war bewusst, dass sie sich nicht ewig schweigend anstarren konnten. »Das ist … bedauerlich.«

»Bedauerlich?!«, wiederholte er, als habe er sie nicht richtig verstanden. »Das nennst du bedauerlich?!« Er schüttelte den Kopf. »Hast du davon gewusst?«

Sie leckte sich über die spröden Lippen. »Nein, das wusste ich nicht.« Zumindest nicht, als ich meine Recherchen durchgeführt habe. Auch für sie war es ein Schock gewesen, als ihr Bruder sie angerufen und zu wissen verlangt hatte, ob ihr der Name Jörg F. etwas sage, und ihr mitgeteilt hatte, dass der Mann unschuldig gewesen war.

Allerdings war der Schock recht schnell Gleichgültigkeit gewichen. Denn wirklich überrascht hatte sie die Tatsache nicht, dass ihre nachlassende Sorgfalt sie eingeholt hatte. Fehler hatten passieren müssen und die Konsequenzen berührten sie weniger als sie selbst erwartet hatte. Sie ließen sie völlig kalt.

Sie hatte bekommen, was sie gewollt, was sie gebraucht hatte, und die Befriedigung ihres Verlangens hatte weitaus höhere Bedeutung als das Leben irgendeines Mannes. Jörg F. war freigesprochen worden, seine Frau hatte ihre Aussage zurückgezogen. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass er tatsächlich unschuldig gewesen war. Und selbst wenn … Ihrem Bruder hätte sie beinahe nur mit einem lapidaren »Kollateralschaden« geantwortet, hatte sich glücklicherweise aber noch rechtzeitig besonnen.

Die Befürchtung, dass der Mann, der nun vor ihr stand, davon erfahren könnte, war wesentlich größer gewesen. Sie hatte diese aber erfolgreich beiseitegeschoben, da sie keine Möglichkeit gesehen hatte, wie er davon Kenntnis erlangen sollte, sofern der Fall kein nationales Interesse weckte. Sie prüfte die Titelzeile. Der Artikel stand im Regionalteil, der Nachrichten aus dem Landkreis enthielt, in dem Jörg F. gelebt hatte.

Wieso las er ausgerechnet diese Zeitung? In ihr keimte ein unschöner Verdacht auf. »Du verfolgst die Ermittlungen in den Todesfällen? Dein Interesse könnte Aufmerksamkeit erregen. Lass das gefälligst sein.«

Die Muskeln um seine Mundwinkel spannten sich. Ihm gefiel ihre Antwort nicht und der Ausdruck in seinen Augen erinnerte sie daran, dass er erwachsen geworden war und sich längst nicht mehr so leicht beeindrucken und manipulieren ließ wie früher.

»Das ist nicht das Problem.« Er beugte sich zu ihr vor und fügte im Flüsterton hinzu: »Das Problem ist, dass ich einen Unschuldigen getötet habe. Er war kein Monster.«

Seine Stimme brach beinahe. Sein Zorn war zwar echt, aber sein Gewissen machte ihm viel mehr zu schaffen. Beinahe hätte sie ihm ins Gesicht gelacht. Seine Bedenken waren lächerlich. Dennoch musste sie sie ernstnehmen. »Er war nicht unschuldig«, beharrte sie. »Seine Ex-Frau hat die Aussage im Prozess zurückgezogen, weil er sie und seine Tochter bedroht hat. So wie ich es dir gesagt habe.«

Sie konnte in seinen Augen lesen, dass er ihr glauben wollte, es aber nicht konnte. »Diese Information war offensichtlich falsch. Wieso sollte sie die Wahrheit jetzt nicht aufdecken? Er ist tot.«

»Er war Mitglied in einer Motorradgang, erinnerst du dich?«, fragte sie.

Er nickte. »Ich habe die Traueranzeige gefunden. Allerdings keinerlei Hinweise darauf, dass es sich bei diesem Motorradclub um eine Gang handelt, was du offenbar vorausgesetzt hast.«

Sie musste ein Schnauben unterdrücken. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie hatte Jörg F.s Hintergrund recherchiert, war auf seine Motorradleidenschaft und seine Mitgliedschaft in einem Verein gestoßen, und hatte sich mit ihren Theorien zufriedengegeben. Sie hatte nichts Entlastendes finden wollen, weil sie ein Opfer um ihrer selbst willen gebraucht hatte. Dass ihr ihre Motivation damals selbst noch nicht klar gewesen war, machte keinen Unterschied.

Es fiel ihr nicht leicht, aber sie setzte eine geduldige Miene auf. »Ich habe andere, offiziellere Quellen.« Die sie allerdings nicht bemüht hatte. »Ich war … Nein, ich bin davon überzeugt, dass er schuldig war.«

Er musterte sie eindringlich, während ihn unterschiedliche Emotionen durchliefen. Schließlich schüttelte er erneut den Kopf. »Ich glaube dir nicht. Du hast einen Fehler gemacht. Steh verdammt nochmal dazu und mach es das nächste Mal besser.« Er richtete sich auf, wandte sich zum Gehen, blieb aber mit der Klinke in der Hand nochmals stehen. »Das nächste Mal will ich Beweise sehen.«

Er verschwand durch die Tür.

2

2022

Samira fühlte sich unwohl, sie fühlte sich falsch. Man hatte ihr gesagt, dass der Auftraggeber auf gepflegte Businesskleidung wertlegte, Bluse und Kostüm seien die richtige Wahl. Was ihr bereits merkwürdig erschienen war, als sie sich im Internet über die Firma informiert hatte. Eine GmbH, die ihr Geld im Industriesektor verdiente, war normalerweise kein Platz, an dem man Schlipsträger antraf.

Aber sie war der Empfehlung dennoch gefolgt. Sie brauchte diesen Job und es war kein Problem. Sie hatte in ihrem früheren Beruf meist auf eine Mischung aus Casual und Business gesetzt: Dunkle, entsprechend geschnittene Jeans, hübsche Oberteile, selten Blusen und den schon beinahe obligatorischen Blazer. In ein Kostüm war sie nur bei Vor-Ort-Terminen in Bankhäusern geschlüpft, wenn sie unauffällig bleiben wollte.

Die Umsetzung hatte sie allerdings vor ein Problem gestellt. Die Hose würde im Sitzen etwas einschnüren, doch der über ihren Schenkeln spannende Stoff würde unter Tischplatten verschwinden. Die Blusen in ihrem Schrank passten allerdings nicht mehr, waren eine Nummer zu klein. Die engen Ärmel hätte sie noch unter dem Blazer verstecken können, der etwas großzügiger geschnitten war, aber der Stoff über ihrer Brust hatte so sehr gespannt, dass unschöne Öffnungen zwischen den Knöpfen entstanden waren. Und der Versuch, den Blazer darüber zu schließen, machte nur offensichtlicher, dass sie zugenommen und keine passende Kleidung hatte.

Sie hatte ein Shirt mit einem Schmetterlingsaufdruck gefunden und gehofft, dass dies keine negativen Auswirkungen haben würde. Als sie nun den beiden Männern – dem Geschäftsführer und dem Personalchef – durch die Flure zu einem Meetingraum folgte, fühlte sie sich overdressed. Zwar trugen die beiden Herren Anzug und Krawatte und auch die Mitarbeiter, denen sie begegneten, waren entsprechend gekleidet, aber das Gebäude stand im krassen Gegensatz dazu.

Es wirkte, als würden Könige durch einen Slum spazieren. Samira war vom öffentlichen Dienst günstige Ausstattung und Räume gewohnt, denen anzusehen war, dass eine Renovierung überfällig war und an allen Ecken und Enden gespart wurde. Der Firmensitz, durch den sie mit einer Attitüde geführt wurde, als würden sie sich in einem Luxus-Wolkenkratzer in New York befinden, hatte den Charme einer vierzig Jahre alten Fabrikhalle, der man vor einem Jahrzehnt letztmalig etwas weiße Farbe gegönnt hatte.

Interessant, wie weit Darstellung und Tatsachen auseinander lagen. Der Internetauftritt der Firma war ziemlich nichtssagend, dafür hochpoliert. Wie sehr doch Fotos, aus dem richtigen Winkel oder im passenden Licht aufgenommen, eine Realität schaffen konnten, die in keiner Weise existierte. Bei der Kripo hatte sie sich unter anderem mit der Fragestellung beschäftigt, ob Produktbilder so sehr von den Tatsachen abwichen, dass von Betrug die Rede sein konnte.

Was den Schein anging, den die Firma zu vermitteln versuchte, fiel ihr Urteil recht deutlich aus. Was vermutlich mehr zu ihrem Unwohlsein beitrug als ihre schlechtsitzenden Klamotten oder die Unsicherheit, ob ihr Make-Up über ihre eigenen Unzulänglichkeiten hinwegtäuschen konnte. Sie schob die negativen Gedanken beiseite. Sie musste endlich Arbeit finden, irgendwo einen Anfang machen …

Sie erreichten eine Tür, neben der ein Schild hing, auf dem ‚Geschäftsführung‘ stand. Samira biss die Zähne zusammen, um ihre Überraschung nicht hörbar kundzutun, als sie hindurch und in eine vollkommen andere Welt traten. Der Bereich war vermutlich nicht sonderlich groß, es gab drei Glastüren zu Büros, eine führte in das Besprechungszimmer, das die beiden Männer nun zielsicher ansteuerten.

Es dominierten Glas, Metall und helle Farben. Der Teppich unter ihren Sohlen war dick, die Luft angenehm klimatisiert. Der Tisch im Besprechungszimmer war auf Hochglanz poliert und es standen kühle Getränke und Kekse bereit. Die Fenster mussten auf der Rückseite des Gebäudes liegen, wo abgeschirmt durch einen hohen Zaun und anderweitig nicht einsehbar eine Terrasse von grünen, getrimmten Büschen eingesäumt lag. Die Bezüge der Stühle quietschten verdächtig, als sie sich setzte und auch der Geruch ließ vermuten, dass sie sich gerade auf echtem Leder niedergelassen hatte.

Jetzt wusste Samira, woher die Attitüde Luxus-Wolkenkratzer in New York kam …

»Entschuldigen Sie den etwas langen Weg durch das Gebäude … Es gibt einen Eingang für Kunden und Besucher, der direkt in den administrativen Bereich führt, aber dort wird gerade renoviert.« Der Geschäftsführer schnalzte mit der Zunge. »Ich hätte meine Sekretärin geschickt, aber die ist gerade im Urlaub.«

Ihr entging weder der abwertende Tonfall, mit der er von seiner Sekretärin sprach, noch die Unhöflichkeit, die er durch sein Eingeständnis attestierte, sich unter normalen Umständen nicht selbst auf die andere Seite des Gebäudes bewegt zu haben, um sie abzuholen. Aber nachdem sie nun ihren ersten Schock überwunden hatte, den die Räumlichkeiten der oberen Etage des Unternehmens ausgelöst hatten, hätte sie alles andere tatsächlich ernsthaft überrascht.

Der Personalchef murmelte etwas, das sie kaum verstand. Vielleicht spielte ihr ihr Gehör einen Streich, oder er hatte tatsächlich angemerkt, dass die Abwesenheit der Assistenz für dieses Treffen von Vorteil war.

Ihr diffuses Unwohlsein wandelte sich in ein ungutes Gefühl. Samira konnte sich nicht der Ahnung erwehren, dass sich diese Möglichkeit, einen Auftrag für eine der Privatdetekteien der Kreisstadt zu erledigen, als weiterer Fehlschlag auf ihrer Suche nach Arbeit erweisen würde.

Der Inhaber der Detektei hatte ihr versichert, dass niemand von ihr erwarten würde, ihre Kontakte zur Polizei spielen zu lassen, so wie es ihr vor zehn Tagen bei einer anderen Detektei ergangen war. Das Interesse an ihrer Mitarbeit war mit ihrer Weigerung erloschen, sich auf illegalem Weg bei ihrer alten Arbeitsstelle Informationen zu beschaffen. Dennoch hatte sie kein gutes Gefühl: Wenn der Unterschied in der Behandlung von Geschäftsführung und Belegschaft derart extrem war, war das nie ein gutes Zeichen.

»Kein Problem.« Samira bemühte sich dennoch um ein professionelles Auftreten. »Schildern Sie mir doch, wobei die Detektei Schildhauer und ich Ihnen helfen können.«

»Es geht um eine Personalangelegenheit«, kam der Geschäftsführer glücklicherweise auch direkt zur Sache. »Um drei Angestellte, um genau zu sein. Wir möchten uns von diesen trennen.«

Das Ziehen in ihrer Magengegend nahm zu. Das fing nicht gut an. Samira zog den Block aus ihrer Handtasche und bereitete sich darauf vor, Notizen zu machen. »Weshalb kündigen Sie ihnen nicht?«

Die beiden Männer verzogen gleichzeitig die Gesichter, der Personaler schwieg aber weiterhin. »Schildhauer sagte mir, dass sie noch neu im Business sind … Aber ich denke, jedem ist bewusst, wie schwierig bis zu unmöglich es in Deutschland ist, Mitarbeitern zu kündigen …«

Samira nickte langsam. »Ja, selbst wenn es gute Gründe dafür gibt.« Sie war sich nicht sicher, ob ihr anzuhören war, dass sie davon ausging, dass es in diesem Fall eben keine guten Gründe für eine Kündigung gab. Urteile nicht vorschnell. Nur, weil es dir nicht passt, wie diese Firma intern strukturiert ist, heißt das noch gar nichts. In welcher Firma werden derartige Unterschiede zwischen den Etagen heutzutage nicht gelebt?

Der Geschäftsführer lächelte. »Es gibt gute Gründe dafür, dass wir eine Trennung anstreben. Damit diese schnell und unkompliziert erfolgt, deshalb sind Sie hier.«

Schnell und unkompliziert. Mehr hätte Samira nicht zu hören brauchen, um zu wissen, dass das Gespräch von hier an nur noch bergab gehen konnte. »Ich nehme an, dass die drei Mitarbeiter, um die es geht, sich Verfehlungen geleistet haben, die es zu beweisen und zu dokumentieren gilt, um die Kündigungen wirksam und gerichtsfest durchzusetzen.«

Der Ausdruck im Gesicht des Geschäftsführers spiegelte einen kurzen Moment Unsicherheit wider. Er wusste offenbar nicht, ob sie auf demselben Level kommunizierten, entschied dann aber, dass es kaum anders sein konnte. Schließlich war sie hier. Im Auftrag der Detektei. »Das wäre eine Möglichkeit, nur leider nicht zielführend. Wir möchten uns von den Angestellten gerne trennen, allerdings ohne die Gefahr, dass Gerichtsverfahren überhaupt zu einer Option werden. Sie sollen still und leise ausscheiden.«

Und ohne eine Abfindung zahlen zu müssen. Wie hatte sie sich einreden können, dass ein Auftrag, bei dem es um Personalangelegenheiten eines Unternehmens ging, tatsächlich mit einem ehrlichen und nachvollziehbaren Interesse der Firma zu rechnen sei? Weil es sich zu schön angehört hatte … zu schön, um wahr zu sein. »Sie wollen, dass Ihre Mitarbeiter selbst kündigen.«

»Das wäre die bevorzugte Lösung.«

Und was habe ich damit zu tun? Samira witterte Illegalität, konnte sich aber nicht vorstellen, dass diese Herren tatsächlich so dumm sein könnten, ihr dies anzutragen. Sie waren darüber informiert, dass sie ehemalige Kripobeamtin war. Sie hatte Schildhauer keinen Grund gegeben, anzunehmen, dass sie für irgendwelche fadenscheinigen oder gar gesetzlosen Aktionen zu haben war.

Sie hätte aufstehen und gehen können, blieb aber sitzen, obwohl für sie bereits feststand, dass sie diesen Auftrag ablehnen würde. Eine Entscheidung, gegen die ein Teil ihres Verstandes rebellierte. Sei nicht schon wieder so empfindlich. Du wusstest von vorneherein, dass die Arbeit für Detekteien auch in Graubereiche fällt. Sie werden dir keine guten Aufträge geben, bevor du dich nicht bewiesen hast. Schluck deinen verdammten Stolz runter. Ein oder zwei Mal, nur um einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Fuck, nein, ganz bestimmt nicht. So tief würde sie nicht sinken.

Weil du ja noch nicht tief gesunken bist. Realitätscheck, Sammy. Du wirst bittere Pillen schlucken müssen.

Das konnte sie nicht. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dieses bisschen Integrität, das ihr noch geblieben war, aus dem Fenster zu werfen … Sie wollte sich das Ansinnen der beiden Herren trotzdem anhören, denn ein Teil von ihr, die Ermittlerin, fühlte sich angesprochen. Noch ein Grund mehr, aufzustehen und das Gespräch zu beenden. Aber in dieser Rolle fühlte sie sich zu wohl, zu heimisch … »Wie ist der aktuelle Status dieser drei Angestellten?«

Der Geschäftsführer bedeutete dem Personalchef mit einer Geste, zu übernehmen.

»Zwei arbeiten, eine ist seit längerer Zeit krankgeschrieben. Die beiden, die arbeiten, leisten seit einiger Zeit kaum mehr als das Minimum. Ihre Vorgesetzten haben mehrfach erfolglos das Gespräch mit ihnen gesucht. Sie wurden intern bereits versetzt, was aber nicht die erhoffte Wirkung erzielte. Einer von ihnen fällt außerdem seit einiger Zeit durch aufwieglerisches Verhalten auf. Die Kranke … hat wohl einige private Probleme, die sich immer mehr und mehr auf ihre Arbeit niedergeschlagen haben. Wir denken nicht, dass sie zurückkehren wird, dafür ist sie mit ihren Kollegen zu sehr aneinander geraten, bevor sie sich krankgemeldet hat. Aber sie ist de facto noch angestellt und blockiert eine Neubesetzung.«

Samira verstand die Phrasen. Besser als jemals zuvor. Ihre Mitpatienten in der Reha hatten sie diese gelehrt … und Dankbarkeit für das berufliche Umfeld, das sie früher gehabt hatte.

Leisten seit einiger Zeit kaum mehr als das Minimum – arbeiten genau so viel und hart, wie es ihr Arbeitsvertrag verlangt und entsprechend der Höhe ihrer Bezahlung. Die Vorgesetzten haben das Gespräch gesucht – sie wurden unter Druck gesetzt. Sie wurden ohne Wirkung versetzt – ihnen wurden unliebsame Aufgaben übertragen, man hatte sie in die hinterste Ecke abgeschoben, sie weigern sich aber, den Wink zu verstehen und zu kündigen. Aufwieglerisches Verhalten – spricht die Probleme in der Firma an, versucht möglicherweise, einen Betriebsrat zu gründen. Private Probleme, die sich auf die Arbeit niedergeschlagen haben – wir wollen funktionierende Drohnen, keine Menschen. Ist mit den Kollegen aneinandergeraten – möglich, aber alle anderen Punkte berücksichtigend war es wohl eher eine nette Umschreibung für Mobbing.

»Darf ich fragen, wie lange die Mitarbeiter hier schon beschäftigt und wie alt sie sind?«

Die Frage gefiel den beiden Männern offensichtlich nicht. Dennoch antwortete der Personalchef: »Es sind langjährige Mitarbeiter, vierzig aufwärts.«

Wie sie vermutet hatte. »Und auf welche Weise, denken Sie, könnte ein Externer wie ich diese Angestellten davon überzeugen, zu kündigen?«

Entweder war ihr Pokerface überzeugender als es sich anfühlte oder die beiden bemerkten nicht, dass sie bereits einen Feind am Tisch sitzen hatten. »Kein Mitarbeiter hat eine weiße Weste, das ist auch bei diesen Angestellten nicht anders.« Der Geschäftsführer beugte sich vor. »Surfen während der Arbeitszeit privat im Internet, führen private Telefonate oder laden ihre Handys am Arbeitsplatz auf … Die Menschen haben keinen Respekt vor dem Eigentum anderer.«

Samira musste sich zusammenreißen, um ihm nicht ins Gesicht zu lachen. Mehr Beweis dafür, dass sie es mit einem kapitalistischen Arschloch der extrafeinen Sorte zu tun hatte, brauchte sie nun wirklich nicht mehr. Wenn er dachte, dass dies Gründe sein sollten, wegen denen ein Richter eine fristlose Kündigung ohne Abfindungszahlung absegnete …

»Wir haben ein wenig Vorarbeit geleistet, an die Sie anknüpfen können.« Der Geschäftsführer tippte auf eine Aktenmappe, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Ziel ist, eine Basis zu schaffen, mit der die Mitarbeiter von einer eigenen Kündigung überzeugt werden können. Sie als Externe haben mehr und andere Möglichkeiten.«

Vage ausgedrückt, aber sie verstand auch so, dass die Wahl der Mittel großzügig erfolgen sollte. Die Typen wussten genau, wie sie ihren Auftrag formulieren mussten, ohne sich belastbar zu machen. Sie taten dies garantiert nicht zum ersten Mal.

»Die krankgeschriebene Bürokraft dürfte noch der unkompliziertere Fall sein«, fuhr der Personalchef fort. »Wir haben von einer Kollegin Hinweise darauf erhalten, dass sie sich im privaten Umfeld nicht ihrer angeblichen Krankheit entsprechend verhält. Die Krankenkasse wäre an dokumentierten Hinweisen diesbezüglich sicher interessiert …«

Samira musste schlucken. Sie wollten dafür sorgen, dass die Frau ihr Krankengeld verlor. Entweder käme sie dann wieder arbeiten, zurück in das Umfeld, das sie krank gemacht hatte, oder kündigte … Nach allem, was sie in der letzten viertel Stunde gehört und gesehen hatte, hatte sie keinen Zweifel daran, wo der Auslöser für die Erkrankung der Bürokraft lag. Dafür musste sie die Geschichte der Frau nicht kennen.

Sie musste sich zurückhalten, um den beiden Männern nicht sofort eine Absage zu erteilen. Samira machte eine Geste in Richtung Aktenmappe. »Darf ich? Ich nehme an, darin finde ich alle Informationen und Ihre Vorarbeit, inklusive Namen und Adressen der betroffenen Personen?«

Der Geschäftsführer nickte und schob ihr die Mappe über die polierte Tischplatte hinweg zu. Er war kein Menschenkenner. Ihre versteinerte Miene war ihm offenbar keinerlei Warnung. »Wie wir Herrn Schildhauer bereits mitgeteilt haben, sind uns auch Informationen recht, die fristlose Kündigungen unsererseits gerichtsfest machen. Aber Eigenkündigungen wären uns am liebsten. Für jede Eigenkündigung zahlen wir einen angemessenen Bonus.«

Samira schlug die Mappe nicht auf, sondern verstaute diese mitsamt ihrem Block und dem Kugelschreiber in ihrer Handtasche. Sie stand auf. »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Allerdings nicht so, wie ihr euch das vorstellt.

Die beiden Männer waren aufgrund ihres plötzlichen Aufbruchs wohl überrascht. Vermutlich bröckelte ihre Maske jetzt auch selbst für diese beiden Herren sichtbar. Der Personalchef wollte etwas sagen, doch sie ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.

»Darf ich sie etwas bezüglich dieses Bonus fragen?« Samira fixierte die beiden Männer, die sich nun langsam von ihren Stühlen erhoben. »Wie viel lassen Sie es sich kosten, dass Sie diese Menschen um eine ordentliche Kündigung und die ihnen zustehende Abfindung betrügen wollen? Ist die Ersparnis tatsächlich so groß oder werden sie nur von ihrer Unmenschlichkeit und purer Gier getrieben?«

3

1982

Friederike war nervös. Sie hatte schwitzige Hände und blinzelte oft, was immer passierte, wenn sie besonders aufgeregt war. Sie spürte den kritischen Blick ihrer Mutter auf sich ruhen, obwohl diese nicht einmal in ihre Richtung sah. Gerne hätte sie deren Anwesenheit einfach vergessen.

Zum wiederholten Male prüfte sie die Uhr, die an der Wand des Cafés hing. Warum waren sie eine viertel Stunde vor der verabredeten Zeit eingetroffen? Würden Georg und seine Mutter überhaupt kommen?

Sie wusste nicht viel über den jungen Mann, den sie heute treffen sollte. Er war fünf Jahre älter als sie, der Erbe eines Bauernhofes gute dreihundert Kilometer entfernt und gehörte zur entfernten Verwandtschaft ihrer Mutter. Sie hatte bereits vergessen, welche Verbindung zwischen ihrer und Georgs Mutter bestand, denn sie hatte es ohnehin nicht verstanden.

Anna, ihre einzige und beste Freundin, hielt dieses Treffen für eine bescheuerte Idee. Auch Friederike war von dem Vorschlag ihrer Eltern alles andere als angetan, hatte aber eingesehen, dass es möglicherweise eine ihrer letzten Chancen war, einen Mann zu finden.

Friederike war nicht die Klügste, das war ihr bewusst. Ihre Eltern hatten es früh aufgegeben, sich selbst und ihr etwas vorzumachen. Sie hatte mit Ach und Krach die Hauptschule geschafft, eine Ausbildungsstelle hatte sie nie gefunden. Sie arbeitete in der Wäscherei ihrer Eltern, aber auch dort konnte man ihr nur geringfügige und einfache Arbeiten übertragen.

Sie war keine Schönheit. Ihre Mutter hatte ihr auf der Fahrt all ihre Makel zum wiederholten Male aufgezählt. Sie war zu klein, ihr Busen zu groß, ihr Gesicht nichts Besonderes, ihr Haar zu dunkel und ein Blick in ihre Augen genügte, um ihr einfaches Gemüt zu erkennen. Geistige Arbeit war ihr zu hoch, Technik war ihr ein Gräuel und für einen Bürojob war sie nicht ansehnlich genug. Friederike konnte schwere, körperliche Arbeit verrichten, insofern sie einfach genug war, aber niemand wollte eine Frau in Männerberufen einstellen.

Hausarbeit, Kochen und Backen konnte sie jedenfalls ganz gut. Hausfrau und auf einem Hof arbeiten, eine Bauersfrau, das schien eine Aufgabe zu sein, die für sie geschaffen war. Sie würde niemals einen edlen Ritter treffen, der ihr die Welt zu Füßen legte, so wie es Anna erging, die überhaupt nicht verstehen konnte, wie es sich anfühlte, in Friederikes Haut zu stecken.

Es war schmerzhaft gewesen, aber Friederike musste einsehen, dass ihre Mutter sie besser kannte als ihre Freundin, wusste, was das Beste für sie wäre.

Mit ihren Voraussetzungen wäre die Frau eines Bauers mit eigenem, gut gehendem Hof zu werden, den er als Einzelkind schon bald erben würde, ein echter Erfolg.

Also hatte sie sich auf das Treffen eingelassen. Zumindest redete sie sich ein, dass sie eine Wahl gehabt hatte und ihre Mutter sie nicht gezwungen hätte, mit ihr die gut hundertfünfzig Kilometer zu fahren, um sich mit Georg und dessen Mutter zu treffen, damit sie den Mann, den sich ihre Eltern als ihre Zukunft erhofften, ungezwungen kennenlernen konnte.

Ihre Mutter hatte ihr nicht viel erzählt.

Georg habe Schwierigkeiten, eine Frau fürs Leben zu finden, weil die meisten Mädchen sich zu fein für die Arbeit auf einem Hof seien. Dass er in nicht allzu ferner Zukunft den Bauernhof erben würde, den er bereits seit dem Tod seines Vaters führte. Seine Mutter habe nur vage Andeutungen gemacht, aber es läge die Vermutung nahe, dass sie krank sei und nicht mehr lange zu leben hatte.

Seine wirtschaftliche Zukunft schien ihrer Mutter wichtiger zu sein als sein Charakter oder sein Aussehen. Friederike machte sich Hoffnungen, dass er nicht so unzulänglich wie sie selbst war. Als sich die Tür zum Café pünktlich um halb vier öffnete und eine Frau mit einem Mann im entsprechenden Alter eintrat, sah sie diese allerdings auf den ersten Blick zerstört. Sie erkannte Georg und seine Mutter sofort, noch bevor ihre Mutter aufstand und den beiden zuwinkte.

Äußerlich machte er gar nichts her. Er war kräftig gebaut, aber trotzdem zu dick, der Ansatz eines Bierbauches war zu erkennen. Die Haare wurden bereits schütter. Er sah auf den ersten Blick viel älter als vierundzwanzig aus … Und seine Augen … Als er seinen Blick auf sie richtete, spürte sie einen Schauder und dieser war keinesfalls angenehm.

»Lächle!«, zischte ihr ihre Mutter über den Tisch hinweg zu.

Friederike überwand sich.

Georg und seine Mutter kamen an den Tisch, es wurden Begrüßungs- und Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, derart förmlich, dass sich Friederike insgeheim fragte, ob sich die beiden Frauen tatsächlich so gut kannten, wie ihre Mutter behauptet hatte. Es kam nur schwer ein Gespräch in Gang und das Geplänkel der Mütter schien unendlich, bis es sich in ein Verkaufsgespräch entwickelte.

Friederike und Georg saßen die meiste Zeit stumm am Tisch, sich dankbar und beschämt auf die Torte konzentrierend. Sie erfuhr nicht viel über ihn, zumindest nicht von ihm selbst. Die beiden Mütter waren sich offensichtlich einig darüber, dass ihre Kinder weder die Hellsten noch die Schönsten und alles andere als eine gute Partie waren, obwohl sie es natürlich anders darzustellen versuchten.

Ihre Mutter war mit ihr schmerzhaft offen und ehrlich, Georgs Mutter verströmte allerdings unterbewusst andere Schwingungen. Sie war eine zierliche, verhärmte Frau, unter deren aufgesetzter Freundlichkeit echte Boshaftigkeit zu lauern schien.

---ENDE DER LESEPROBE---