Todeszeichen - Saskia Berwein - E-Book
SONDERANGEBOT

Todeszeichen E-Book

Saskia Berwein

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In einer Grube im Wald werden die Überreste einer zerstückelten Frauenleiche gefunden. Schon bald steht fest: Sie ist ein weiteres Opfer des "Künstlers" - eines Serienmörders, der bereits fünf Frauen entführt, tagelang gequält und ihnen bei lebendigem Leib rätselhafte Bilder in die Haut geschnitten hat. Kommissarin Jennifer Leitner und Staatsanwalt Oliver Grohmann ermitteln fieberhaft, um den grausamen Killer endlich zu stoppen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Saskia Berwein

Todeszeichen

Die Autorin

Saskia Berwein ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie wurde 1981 in Egelsbach geboren. Ihre Liebe zum Lesen führte bereits im Alter von 17 zur Entstehung ihres ersten Romans. Sie lebt zusammen mit ihrem Lebensgefährten in Mühlheim am Main.

Mehr über die Autorin:

www.saskia-berwein.de

www.facebook.com/SaskiaBerweinAutorin

Saskia Berwein im Kuneli Verlag

Todeszeichen

Zornesbrand

Saskia Berwein

Todeszeichen

Ein Fall für Leitner und Grohmann

Band 1

Thriller

Kuneli Verlag

Originalausgabe Juli/August 2019

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2019 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage

Satz & Cover: Kuneli Verlag, 63165 Mühlheim am Main

Bilder unter Lizenz von Shutterstock.com verwendet.

Print: ISBN 978-3-948194-03-1

Epub: ISBN 978-3-948194-04-8

www.kuneli-verlag.de

Prolog

Die Dunkelheit hellte sich ein wenig auf, zumindest veränderte sich die Schwärze. Langsam kehrte Gefühl in ihren Körper zurück, doch das Erwachen breitete sich nur sehr zähflüssig in ihren Gliedern aus und wurde von Schwindel und Übelkeit begleitet. Sie hatte den Eindruck, schwerelos im Nichts zu schweben, dann wieder schien ihr Körper ins Bodenlose zu fallen.

War sie tot? Löste sich ihre Seele gerade in diesem Augenblick von ihrem Körper? Würde sie bald ein weißes Licht sehen?

Ein Teil ihres langsam erwachenden Verstandes hoffte darauf. Dann wären die Qualen wenigstens vorbei. Endlich vorbei.

Doch dann schmeckte sie Blut und Galle. Sie war nicht erlöst worden. Noch nicht.

Die Bewusstlosigkeit zog sich mehr und mehr zurück. Geräusche drangen zu ihr durch und gewannen an Klarheit. Das leise Surren eines Computers oder einer Klimaanlage. Das monotone Ticken einer Uhr, dem sie bereits irgendwann zuvor gelauscht und dabei jede einzelne Sekunde gezählt hatte.

Der Übelkeit erregende Geruch, eine Mischung aus Chemie und Körpersäften, hing noch immer im Raum. Etwas hatte sich jedoch verändert.

Sie lag anders. Und er war nicht bei ihr.

Als sie das letzte Mal aufgewacht war – es mochten Stunden oder Tage seitdem vergangen sein –, hatte sie auf dem Rücken gelegen, auf eine harte Pritsche geschnallt, die gespreizten Beine auf Halterungen fixiert.

Er war bei ihr gewesen. Er hatte nackt zwischen ihren Beinen gestanden und sich an ihr vergangen. Immer und immer wieder. Auch jetzt noch hallten sein Stöhnen, seine obszönen Worte und seine Beschimpfungen in ihrem Kopf wider.

Inzwischen lag sie jedoch auf dem Bauch. Die Pritsche unter ihr war kalt und hart. Ihre Arme waren über ihrem Kopf an die Liege gefesselt, und auch um ihre Knöchel waren Nylonbänder festgezurrt, die die Blutzufuhr abschnitten. Dass sie ihre Hände und Füße kaum noch spürte, überraschte oder beunruhigte sie aber schon nicht mehr.

Sie lauschte und konzentrierte sich. Ihr Herzschlag und ihre Atmung waren alles, was sie wahrnahm, wenn sie das technische Surren und das mitleidlose Ticken ausblendete. Er war nicht hier. Nicht in diesem Raum.

Endlich wagte sie es, die Augen einen Spalt breit zu öffnen.

Sie hatte Angst. Falls er doch noch hier war und bemerkte, dass sie wieder zu sich kam, würden die Torturen von Neuem beginnen.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie in irgendeiner Zeitschrift gelesen, dass Vergewaltiger sich besonders an der Angst und dem Schmerz ihrer Opfer erregten. Sie wollten, dass die Frauen wach und bei Bewusstsein waren, sonst fehlte ihnen der Anreiz, den sie meistens benötigten, um überhaupt eine Erektion zu bekommen.

Anfangs hatte sie deshalb versucht, sich bewusstlos zu stellen, doch das hatte sie kaum ein paar Minuten durchgehalten. Er hatte sie berührt, jeden Millimeter ihres Körpers erkundet. Teilweise mit der Zärtlichkeit eines aufmerksamen Liebhabers, dann wieder mit Gewalt.

Als sie nicht die gewünschten Reaktionen zeigte, hatte er jedoch nicht aufgegeben, sondern seine Bemühungen, ihr Schmerz zuzufügen und sie zu demütigen, noch gesteigert.

Schließlich hatte er ihre ohnehin dünnen Mauern durchbrochen, indem er sie geküsst und seine Zunge in ihren Mund gestoßen hatte, während sich seine Hände immer fester um ihren Hals schlossen.

Wer auch immer den Artikel in dem Magazin verfasst hatte, hatte offensichtlich keine Ahnung, wovon er oder sie sprach. Denn letztlich entkam man seinem Peiniger nicht, sondern zog sein eigenes Leiden nur unnötig in die Länge.

Es gab kein Entkommen.

Zumindest traf dies auf den Mann zu, in dessen Fänge sie geraten war.

Wo war er hingegangen?

Seine Abwesenheit erzeugte gemischte Gefühle in ihr. Angst und Verwirrung. Er hatte ihre Position verändert, was bedeuten konnte, dass er es leid war, in ihr schmerzverzerrtes Gesicht zu blicken. Oder er wollte zu einer neuen Art von Quälerei übergehen.

Das grelle Licht, das von nackten Neonröhren an der Decke ausging, schmerzte und trieb ihr Tränen in die Augen. Der Raum um sie herum verschwamm, doch sie erkannte einige Details, wenn auch nichts, was ihr irgendwie weitergeholfen hätte. Er hielt sie in einem fensterlosen Kellerraum oder einer Art Bunker gefangen. Die kahlen Betonwände, die in ihrem Blickfeld lagen, wirkten vollkommen anonym. Sie hätte sich überall und nirgends befinden können.

Wieso sie überhaupt nach Anhaltspunkten für ihren Aufenthaltsort suchte, war ihr selbst ein Rätsel. Tief in ihrem Innern wusste sie längst, dass sie in diesem Raum sterben würde.

Er würde sie niemals lebendig gehen lassen.

Als ihr dieser Gedanke zum ersten Mal gekommen war, hatte panische Angst von ihr Besitz ergriffen. Jede Faser ihres Körpers und jeder Winkel ihres Verstandes hatten sich gegen diese Gewissheit aufgelehnt. Doch inzwischen dachte sie anders darüber. Inzwischen hatte sie sich nicht nur damit abgefunden, zu sterben, sondern sehnte den Moment geradezu herbei.

Denn nichts sonst würde ihre Qualen beenden. Sie hoffte, dass wenigstens dieser letzte Akt schnell vorübergehen würde. Sie hatte die Augen bereits wieder geschlossen, als sie gedämpfte Schritte und dann das Quietschen einer Tür hörte. Sie erkannte ihn am Klang seiner Schritte. Er war zurückgekehrt.

Langsam umrundete er die Pritsche.

Obwohl sie ihn nicht sah, wusste sie, dass seine Augen über ihren Körper glitten und er sich an dieser erniedrigenden Fleischbeschau ergötzte. Als er hinter ihr stehen blieb und freien Blick auf ihre zerschundene Scham haben musste, hörte sie ein kehliges Geräusch, eine Mischung aus einem Aufstöhnen und einem Glucksen.

Einige Sekunden vergingen, dann packte er ohne jede Vorwarnung ihren linken Oberschenkel. Im nächsten Moment rammte er ihr zwei Finger in die Scheide.

Obwohl sie ihre ganze Willenskraft aufbrachte, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Den Schmerz nahm sie nur noch gedämpft wahr, trotzdem entrang sich ihren zusammengepressten Lippen ein Schrei. Mehr aus Überraschung als vor Schmerz.

Wieder stieß er einen dumpfen, kehligen Laut aus. Er lachte. Es erfreute ihn, dass sie wach war.

Er zog sich aus ihr zurück, und sie bereitete sich innerlich darauf vor, dass er erneut seine Erektion oder irgendeinen Gegenstand unbarmherzig in sie hineinstoßen würde, als wäre sie ein totes, gefühlloses Stück Fleisch. Doch das geschah nicht. Sie hörte, wie er zur Seite trat, dann metallisches Klirren.

Sie konnte nicht verhindern, dass sie sich anspannte. Was würde als Nächstes geschehen? Hatte er sich etwas Neues ausgedacht, um sie zu quälen? Obwohl sie nie gläubig gewesen war, betete sie nun abwechselnd um eine tiefe Bewusstlosigkeit und einen schnellen, baldigen Tod.

Aber Gott hörte nicht zu. Er hatte ihr noch nie zugehört.

Ihr Peiniger strich über ihren Rücken. Seine Handfläche war kühl und feucht. Es war eine beinahe zärtliche Geste. »Perfekt«, flüsterte er. »Einfach perfekt …«

Er schien mit einer Hand ihre Haut in Höhe der Nieren zu straffen. Was hatte er vor?

Der plötzlich einsetzende Schmerz, als er mit einer scharfen Klinge in ihre Haut schnitt, ließ sie aufschreien.

1

Sie trat heftig auf die Bremse, und das Auto kam beinahe augenblicklich zum Stehen. Mit zusammengekniffenen Augen stierte sie in die Dunkelheit, dann kontrollierte sie noch einmal die Daten des Navigationssystems. Von der Straße führte ein wenig einladend aussehender Weg in den Wald, doch kein Schild wies darauf hin, dass sich dort ein Parkplatz für Wanderer befand.

Dennoch, irgendwo in dieser Richtung musste ihr Ziel liegen. Sie zuckte die Schultern, legte den ersten Gang ein und lenkte ihren VW auf den unwegsamen Pfad, dessen Zustand sich mit jedem Meter verschlechterte. Vor ihr taten sich so tiefe Löcher auf, dass der Unterboden des Autos mehrfach über die Erde schrammte. Gebüsch und Grünzeug ragten über den Weg und wirkten im Licht der Scheinwerfer wie dürre Arme, die nach ihrem Wagen griffen.

Äste schabten zu beiden Seiten über die Fenster. Sie war bereits kurz davor, anzuhalten und den Rückwärtsgang einzulegen, als sich das Gehölz zu einer kleinen, halb zugewachsenen Lichtung hin auftat. Ein in die Jahre gekommener Opel Corsa mit lächerlich großem Auspuff nahm fast den gesamten freien Platz ein.

Sie schaffte es, den VW neben den Opel zu quetschen. Wer auch immer diese Lichtung als Parkplatz bezeichnete, musste eine besondere Art von Humor haben. Wenigstens bestätigte das Kennzeichen des Corsa, dass sie hier richtig war.

Jennifer warf einen Blick auf die Uhr. Halb drei. Der Anruf hatte sie vor gut einer Stunde geweckt. Wenn sie Glück hatte, waren das Team der Spurensicherung und der Leichenbeschauer schon vor Ort.

Jennifer kramte im Handschuhfach nach einem Haargummi, die Suche blieb allerdings erfolglos. Sie würde ihre vom Kopf abstehenden, braunen Haare nicht bändigen können. Die Frisur passte aber immerhin zu den tiefen Schatten unter ihren ohnehin geröteten Augen.

Also begnügte sie sich mit der Taschenlampe, überprüfte die Batterien und stieg aus.

Ihr schlug eine Welle feuchter Luft entgegen, die ihr nach der klimatisierten Fahrt beinahe den Atem nahm. Es war zwar bereits Anfang Oktober, doch tagsüber herrschten nach wie vor fast sommerliche Temperaturen, die wegen gelegentlicher Regenfälle von einer drückenden Schwüle begleitet wurden. Selbst die nächtliche Kühle vermochte die Feuchtigkeit nicht nachhaltig zu vertreiben.

Der Lichtkegel der Taschenlampe erfasste einen Trampelpfad, der tiefer in den Wald und auf das Licht zu führte, das zweifellos von am Fundort aufgestellten Lampen stammte. Der Pfad sah ebenso zugewachsen aus wie der Weg, den sie mit dem Auto gekommen war. Es gab aber deutliche Spuren, die darauf hinwiesen, dass hier diese Nacht schon jemand durchgekommen war.

Vermutlich die beiden Insassen des Corsa.

Jennifer marschierte einige Minuten, dann musste sie den Pfad verlassen. Ihre Trekkingstiefel sanken in den weichen, von Blättern bedeckten Waldboden, doch glücklicherweise hatte sich die Erde trotz der Regenfälle noch nicht gänzlich von dem extrem heißen, trockenen Sommer erholt. Normalerweise war dieses Gebiet besonders feucht, der Boden beinahe sumpfig.

Der Wald öffnete sich vor ihr zu einer etwas größeren Lichtung. Mehrere Taschenlampen schwenkten in ihre Richtung und blendeten sie für ein paar Sekunden, bevor die Beamten sie erkannten und die Lampen senkten, mit denen sie zusätzlich zu den zwei aufgestellten Flutlichtern den Fundort beleuchteten.

Vier Uniformierte von der Schutzpolizei standen um eine trichterförmige Grube von gut zehn Metern Durchmesser herum, deren Ränder mit Laub bedeckt waren. In einigen Metern Tiefe maß das Loch noch immer gut fünf Meter, und der Boden bestand aus einer schwarzen, schlammigen Schicht, aus deren Mitte eine Insel aus Granitgestein ragte.

Drei Männer in bis zur Brust reichenden Gummihosen steckten beinahe hüfttief im Schlamm. Sie hatten eine kurze, tiefe Metalltrage dabei und machten sich an blauen Plastiksäcken zu schaffen, die zwischen den kantigen Granitfelsen im Morast steckten.

Es stank nach Fäulnis und Verwesung. Der typische Leichengeruch war unverkennbar.

Thomas Kramer, der den Einsatz der Schutzpolizei vor Ort leitete, kam mit ernster Miene auf Jennifer zugeschlendert. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und wirkte nervös. Die Folgen einer überlangen Schicht und des Nikotinentzugs. Kramer war starker Raucher, und es fiel ihm nicht leicht, an Tat- oder Fundorten auf seine geliebten Zigaretten zu verzichten. »Hallo, Jennifer. Schön, dass du es so schnell geschafft hast.«

Sie bemerkte den leicht bissigen Unterton, der sich in die Stimme des knapp dreißigjährigen Polizeiobermeisters geschlichen hatte, ignorierte ihn aber.

Selbst Professor Meurer war schon da. Im Gegensatz zu allen anderen wirkte der Gerichtsmediziner frisch und ausgeruht. Seine Kleidung saß perfekt, auch wenn die dunkelgraue Tweedhose nicht unbedingt zu den klobigen Arbeitsstiefeln passte, die er sonst vermutlich nur bei der Gartenarbeit trug.

Der Professor stand mit Jarik Fröhlich von der Spurensicherung zusammen und beobachtete eher missmutig als konzentriert, wie die Männer mit der Bergung des Fundes kämpften.

Jennifer hätte auch eine halbe Stunde später kommen können, ohne dass Kramers Einsatz sich verlängert hätte, doch sie nahm ihm seine Frustration nicht übel.

Die Schutzpolizei von Lemanshain hatte in letzter Zeit ebenso mit Unterbesetzung zu kämpfen wie fast jede andere Behörde, die mit ihrem aktuellen Fall zu tun hatte. Auf die Zahl der Leichen, mit denen sie seit Anfang des Jahres konfrontiert wurden, waren sie einfach nicht vorbereitet. Und bisher taten die Stadtoberen nichts, um diesem Problem angemessen zu begegnen.

»Ich habe dich sofort angerufen, als der Notruf reinkam«, fügte Kramer hinzu und stieß ein Seufzen aus. Er war offensichtlich erleichtert, dass er die Verantwortung jetzt an sie, die zuständige Kriminalbeamtin, abgeben konnte.

Jennifer schenkte ihm ein Lächeln, das vermutlich nicht halb so aufmunternd wirkte wie beabsichtigt. »Sorry, Thomas, ich glaube, ich habe mich verfahren.«

Er nickte und fuhr sich mit der Rechten durch die kurz geschnittenen, dunkelblonden Haare. Das tat er immer, wenn die Lust auf eine Zigarette allzu groß wurde und er seine Hände mit irgendetwas beschäftigen musste. »Falsche Seite. Der Parkplatz, den ich dir genannt habe, liegt nördlich von hier.«

Jennifer zuckte die Schultern und ließ sich nicht anmerken, dass sie sich über sich selbst ärgerte. Tagsüber hatte sie solche Probleme nicht, doch ihr nächtlicher Orientierungssinn war nicht der beste. Vermutlich war sie an dem Schild, das den Parkplatz auswies, vorbeigefahren, ohne es zu bemerken. »Dafür habe ich den Corsa der beiden Jungs entdeckt.«

Kramer nickte nur wieder. Es schien keine Information zu sein, die ihn sonderlich interessierte.

»Also, was ist hier los?«, fragte Jennifer.

»Die zwei Jungs haben in dem Loch da unten eine Leiche entdeckt. Oder vielmehr das, was davon noch übrig ist. Die Verwesung ist wohl schon ziemlich weit fortgeschritten. Die Überreste stecken in Müllsäcken.«

Jennifer stieß hörbar die Luft aus. »Also nicht unser Mann.«

Kramer nickte. »Unwahrscheinlich, nach dem zu urteilen, was wir bisher haben.«

Jennifer wusste nicht so recht, ob sie erleichtert sein sollte oder nicht. Denn immerhin bedeutete es eine weitere Leiche in ihrem Zuständigkeitsbereich. »Und was haben die Jungs hier mitten in der Nacht verloren?«

»Geocaching.«

»Geocaching?« Jennifer hatte davon schon mal gehört, doch im Moment sagte ihr der Begriff nichts.

»Versteckte Kisten, nach denen irgendwelche Verrückten suchen, mit nichts als GPS-Daten als Hinweis«, erklärte Kramer in einem Tonfall, der andeutete, dass er dieses Wissen für Allgemeinbildung hielt. »Eine Art moderne Schnitzeljagd.«

Jennifer nickte, auch wenn ihr das Ganze noch immer nur entfernt bekannt vorkam.

»Die Jungs waren auf der Suche nach einem Rätselcache mit mehreren Stationen, der nur nachts gefunden werden kann. Man muss Rätsel lösen, um die Koordinaten der nächsten Station zu ermitteln.«Kramer zuckte die Schultern. »Beim Lösen und Berechnen der Koordinaten für das Ziel haben sie ganz schön Mist gebaut und sind dann hier gelandet. Sie sahen den Zipfel eines Müllsacks zwischen den Granitfelsen und dachten, das sei ihr Schatz.«

»Die Jungs sind in den Schlamm da runtergestiegen?«, fragte Jennifer überrascht.

»Einer von ihnen. Er hat sich an dem Sack zu schaffen gemacht, sah einen eindeutig menschlichen Knochen und … na ja, jetzt sind wir hier.«

Jennifer schüttelte den Kopf. Sie ließ den Blick über den Krater schweifen. Er war vermutlich im Zweiten Weltkrieg entstanden, als eine Bombe, die eigentlich Hanau oder Würzburg hätte treffen sollen, fälschlicherweise über dem Wald abgeworfen worden war.

Es war offensichtlich, dass das Loch normalerweise fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt und während des ungewöhnlich heißen Sommers teilweise ausgetrocknet war. Die Leiche hatte man vermutlich zu einem Zeitpunkt dort deponiert, als der Wasserstand noch sehr viel höher war.

»Wo sind die Jungs jetzt?«, fragte Jennifer.

»Ich habe sie aufs Revier bringen lassen, damit sich der eine Kerl duschen kann. Sie sind etwas geschockt, aber wenn du willst, kannst du sie heute Nacht noch vernehmen.«

Jennifer dachte kurz darüber nach, doch ein Blick auf die Männer, die sich mit den Säcken in dem Krater abmühten, sagte ihr, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie hier wegkam. »Wohnen sie hier in der Nähe?«

»Ja. Der eine arbeitet in der Möbelfabrik, der andere in der Klinik.«

»Kamen sie dir irgendwie verdächtig vor?«, fragte Jennifer. Sie schätzte Kramers Gespür, Lügen und erfundene Geschichten zu entlarven.

»Die haben meiner Auffassung nach nichts damit zu tun. Selbst wenn der eine nicht in diese Drecksbrühe gestiegen wäre, ihre Geschichte ist glaubhaft. Sie haben die Ausrüstung und die Aufzeichnungen dabei, und auch den Cache gibt es wirklich, habe ich schon überprüfen lassen.«

Jennifer nickte. »Dann schick sie nach Hause und mail mir ihre Daten zu. Sie sollen in der Stadt bleiben und sich morgen früh für eine Befragung bereithalten. Ihr Auto können sie abholen, wenn sie wollen.«

»Okay«, bestätigte Kramer und wandte sich ab, um ihre Anweisungen weiterzugeben.

Jennifer ging zu Jarik Fröhlich und Professor Meurer hinüber. Jarik verständigte sich gerade mit den Männern in der Grube, die es inzwischen geschafft hatten, zwei Müllsäcke zu bergen und auf die Trage zu hieven. Der Koordinator der Spurensicherung sah so erschöpft aus, wie sich Jennifer fühlte. Im Gegensatz zu ihr hatte er es aber geschafft, seine schulterlangen schwarzen Haare zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammenzubinden.

Jennifer begrüßte die beiden Männer mit einem kurzen Nicken.

Als Jarik nicht mehr seine ganze Konzentration für seine Leute brauchte, fragte sie ihn routinemäßig, ob sie schon mit der Suche nach Hinweisen im Umkreis begonnen hätten. Sie hatte die durch den umliegenden Wald blitzenden Lichtkegel allerdings längst bemerkt.

Er beantwortete ihre Frage mit einem knappen »Ja«. Sie befürchteten beide, dass die nächtliche Suche genauso wenig erbringen würde wie eine zweite Besichtigung bei Tageslicht. In einem Gebiet, in dem regelmäßig Schatzsucher unterwegs waren, würde sich kaum eine brauchbare Spur finden lassen, zumal die Leiche bereits geraume Zeit hier lag.

Die Männer von der Spurensicherung machten sich mit den Müllsäcken auf der Trage vorsichtig an den Aufstieg. Der Verwesungsgestank schien sich noch zu verstärken, und als sie oben angekommen waren, wusste Jennifer auch, warum. Die Säcke waren aufgerissen. Klebrige, dunkle Flüssigkeit war ausgetreten und sammelte sich am Boden der tiefen Trage.

Jennifer begann sofort durch den Mund zu atmen, was den Geruch jedoch nur geringfügig erträglicher machte.

Professor Meurer trat vor und warf einen Blick durch einen der größeren Risse. Warum er überhaupt näher trat, war Jennifer ein Rätsel, denn selbst von ihrem Standpunkt aus konnte sie die Überreste einer menschlichen Hand erkennen. Er rückte seine Brille zurecht, trat von der Trage zurück und verkündete überflüssigerweise: »Es handelt sich um menschliche Überreste im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung.«

Der Leichenbeschauer blickte von Jarik Fröhlich zu Jennifer Leitner. »Ich muss Ihnen wohl kaum sagen, dass die Auffindungssituation für sich spricht, aber Genaues kann ich natürlich erst nach einer ausführlichen Begutachtung und Obduktion sagen. Ich gehe davon aus, dass Sie die Untersuchung so schnell wie möglich wollen?«

Jennifer nickte. »Was halten Sie von sieben Uhr, Professor?«

Meurer nickte ebenfalls. Er verabschiedete sich mit einem undeutlichen Murmeln und ging. Die Tageszeit hatte sogar auf seine normalerweise perfekten Umgangsformen Auswirkungen.

Jennifer wandte sich an die Beamten der Spurensicherung. »Wisst ihr, ob die Säcke bereits in diesem Zustand waren, oder sind sie erst bei der Bergung aufgerissen?«

Einer der Männer antwortete mit einem unsicheren Schulterzucken. »Schwierig zu sagen. Sie steckten ziemlich fest, sind aber auch in einem verdammt schlechten Zustand. Ich würde davon ausgehen, dass der eine Sack schon vorher an der Unterseite zerrissen war.«

Jarik Fröhlich wechselte einen kurzen Blick mit Jennifer, dann nickte er seinen Männern zu. Sie trugen die Trage zu ihrem Wagen, um sie transportfähig zu verpacken und dann in die Gerichtsmedizin zu bringen. Jarik und Jennifer sahen ihnen mit einem unguten Gefühl nach, denn sie wussten, dass ihnen in wenigen Stunden eine nicht gerade angenehme Wiederbegegnung mit den verwesten Überresten bevorstand.

»Verdammt«, murmelte Jennifer schließlich. »Das heißt, wir haben einen Teil der Leichensuppe jetzt da unten im Matsch, und möglicherweise noch weitere Leichenteile oder Beweise.«

Jarik nickte nur stumm, denn er ahnte, was als Nächstes kommen würde.

»Was würdest du vorschlagen, wenn wir hundertprozentig sichergehen wollen?«

Der Mann von der Spurensicherung seufzte resigniert. »Die ganze Grube auspumpen, ausheben und entsprechend untersuchen.«

Jennifer nickte. »Gut. Dann weißt du, was deine Truppe zu tun hat.«

Jariks Gesichtsausdruck spiegelte puren Unglauben. »Bist du verrückt? Weißt du, was das kostet? Der Alte reißt mir den Kopf ab.«

»Anordnung meinerseits. Ich werde morgen früh dafür sorgen, dass der Oberstaatsanwalt das bestätigt und unserem Chef entsprechend mitteilt. Fang also schon mal mit den Vorbereitungen an.«

Jarik stöhnte auf, als sie sich abwandte und damit jede Diskussion im Keim erstickte: »Scheiße!«

2

Jennifer hatte sich zwar vorgenommen, noch wenigstens eine Stunde zu schlafen, doch sie war in Gedanken zu sehr mit dem Leichenfund beschäftigt, um auch nur ein Auge zuzutun. Sie fuhr deshalb schon um halb sechs ins Büro und traf erste Vorbereitungen für den Tag, die hauptsächlich darin bestanden, Notizzettel auf dem Schreibtisch von Freya Olsson zu deponieren, der Büroassistentin der Lemanshainer Kripo.

Jennifer rechnete damit, dass Leichenschau und Obduktion sie zwei, drei Stunden lang beschäftigen würden. Falls sich kein Hinweis auf die Identität des oder der Toten fand, wovon sie im Moment ausging, würde sie anschließend die Daten der Leiche ins System eingeben, um herauszufinden, ob die Überreste zu jemandem passten, der als vermisst gemeldet war.

Auch wenn die Todesursache vermutlich nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden konnte, mussten sie von einem Gewaltverbrechen ausgehen. Eine Mordkommission musste einberufen und der zuständige Staatsanwalt informiert werden. Jennifer hinterließ Freya deshalb eine Notiz, sie möge im Büro der Staatsanwaltschaft anrufen und einen Termin für zwei Uhr vereinbaren.

Die beiden jungen Männer, die die Überreste gefunden hatten, sollte sie um vier Uhr für eine Befragung in Jennifers Büro bestellen.

Der Fall würde so oder so an ihr hängenbleiben, darüber machte Jennifer sich keine Illusionen. Weshalb sie ihrem Chef einen Zettel mit der kurzen Nachricht hinterließ, dass sie alles Notwendige in die Wege leiten würde. Irgendwann diese Woche musste sie versuchen, ihn für ein ernstes Gespräch zu erwischen, denn ihnen wuchsen die Leichen nun endgültig über den Kopf.

Pünktlich um halb sieben saß sie in ihrem VW und legte grübelnd die viertelstündige Fahrt zur Echtermann-Klinik zurück.

Das weiße Gebäude erhob sich am Ende einer kurzen Allee, ein paar Querstraßen von den Hauptverkehrsadern entfernt. Mit seinen verspiegelten Fenstern und den großzügigen Balkons wirkte es eher wie ein Hotel als eine Klinik.

Ein Eindruck, der nicht unbedingt täuschte, denn die Echtermann-Klinik behandelte ausschließlich zahlungsstarke Privatpatienten und beherbergte neben den üblichen Stationen auch Abteilungen für plastische Chirurgie und Suchtbehandlung sowie einen Kurbereich.

Einrichtungen wie die Echtermann-Klinik, die Privatuniversität und das private Internat waren die Geld- und Machtquellen von Lemanshain. Ihnen, ihrer Kundschaft und den finanziell gut situierten Bürgern, die diese Institutionen anzogen, verdankte die Stadt ihre Unabhängigkeit und ihren eigenen Behördenapparat inklusive Amtsgericht und Staatsanwaltschaft, obwohl sie nur knapp fünfunddreißigtausend Einwohner zählte.

Die Stadt verdankte ihren Gönnern auch Leander Meurer, der als Professor der Rechtsmedizin einen ausgezeichneten Ruf genoss. Obwohl er dieser Fachrichtung schon länger nur noch als beratender Experte zur Verfügung stand, war es den Stadtoberen gelungen, ihn als Leichenbeschauer für Lemanshain zu gewinnen.

Jennifer wollte sich nicht ausmalen, was die Stadt sich ihren eigenen hochdotierten Gerichtsmediziner kosten ließ. Seine Berufung war ihr im Hinblick auf die drei bis fünf Leichen im Jahr, die normalerweise in seine Zuständigkeit fielen und bis auf seltene Fälle alles Unfalltote waren, ohnehin immer übertrieben erschienen. Ein Statussymbol, das man sich leistete, weil man es eben konnte. Genauso wie den Obduktionsraum, dessen Ausstattung einer amerikanischen Krimiserie hätte entsprungen sein können.

Lemanshain war eine Stadt, in der die Kriminalitätsrate, besonders im Bereich Gewaltverbrechen, weit unter dem nationalen Durchschnitt lag. Polizei und Gerichtsbehörden waren deshalb entsprechend dünn besetzt.

Hier Polizist zu sein, war keine besonders aufregende, sondern fast schon eine entspannte Aufgabe. Kein Vergleich zu Frankfurt, wo Jennifer zuvor gearbeitet hatte. Nachdem sie das Angebot zur Versetzung angenommen hatte und nach Lemanshain übergesiedelt war, war Jennifer von der Ruhe in ihrer neuen Dienststelle zunächst genervt gewesen. Inzwischen hatte sie sie jedoch zu schätzen gelernt.

Alles war in geordneten und gut organisierten Bahnen verlaufen. Bis der »Künstler« Anfang des Jahres aufgetaucht war und ihnen in Abständen von einigen Wochen bis zu drei Monaten immer neue Leichen serviert hatte.

Mit einem Serienkiller waren sie schon aufgrund der Mannstärke ihrer Truppe überfordert. Trotzdem weigerte sich der Magistrat der Stadt vehement, irgendeine Art von Amtshilfe in Hanau oder bei einer anderen größeren Behörde zu beantragen.

Und Jennifers Vorgesetzte bis hin zum Polizeichef selbst folgten brav dem Willen des Bürgermeisters und der Abgeordneten.

Vermutlich werteten sie eine solche Anfrage als Unfähigkeitseingeständnis, eine Blöße, die sie sich keinesfalls geben wollten. Sie hatten Angst, dass die Unabhängigkeit, die sie der Stadt im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten erkämpft hatten, in Gefahr geraten könnte.

Also stand das Team um Kriminaloberkommissarin Jennifer Leitner und ihren Partner Marcel Meyer mit einem verrückten Mörder und seinen Opfern ziemlich alleine da.

Selbst der Presseauflauf, den die ersten drei Opfer noch auslösten, hatte die Verantwortlichen nicht zum Umdenken bewegen können. Sie hatten das mediale Interesse geschickt ausgesessen, bis aus den Schlagzeilen Randnotizen geworden waren. Wirtschaftskrise und Stuttgart 21 hatten schnell wieder die Titelseiten übernommen. Die lokale Presse berichtete zwar noch immer, doch bissige Kommentare im Lemanshainer Stadtanzeiger interessierten in den oberen Etagen nun mal niemanden.

Natürlich war Jennifer froh, dass die Reporter wieder abgezogen waren und sie sich nicht auch noch mit den Medien herumschlagen musste. Manchmal wünschte sie sich trotzdem im Stillen zumindest einen kleinen Skandal, der ihre Chefs endlich zum Handeln zwingen würde. Marcel und ihr hätte die eine oder andere Unterstützung, beispielsweise durch die Hanauer Kripo, wirklich nicht geschadet.

Und jetzt war auch noch eine Leiche aufgetaucht, die offenbar nicht auf das Konto des »Künstlers« ging. Der Fund passte in keiner Weise in sein Muster.

Unfall oder Selbstmord waren allerdings ausgeschlossen. Mit etwas Glück hatten sie es mit morbidem Versicherungsbetrug zu tun. Vielleicht kassierte jemand die Rente eines längst verstorbenen Verwandten, dessen Leiche er nach dem Auffinden entsorgt hatte.

So richtig daran glauben konnte Jennifer allerdings nicht. Wenn die Leiche im Wald ordentlich vergraben worden wäre und nicht zerstückelt, dann vielleicht … So allerdings wies ihre Intuition eher in Richtung Totschlag oder Mord.

Sie seufzte, als sie ihren Wagen durch die großzügige Tiefgarage unterhalb der Klinik lenkte. An der hinteren Ausfahrt, die nur für Personal bestimmt war, drückte sie auf die Klingel, hielt ihren Ausweis vor die Kamera und wurde durchgelassen. Sie stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz ab, der für das Personal der Küchen, Wäschereien und Labors reserviert war. Obwohl es erst kurz vor sieben war, begann sich die Luft bereits zu erwärmen.

Die wenig genutzten Räume der Gerichtsmedizin lagen im hintersten Teil des Gebäudekomplexes, überraschenderweise nicht im Keller. Die Fenster waren aber spiegelverglast, sodass niemand einen Blick hineinwerfen konnte. Von den nach Osten gelegenen Räumen überblickte man jedoch einen grünen Zipfel des großzügigen Parks, der zu den Echtermann-Kliniken gehörte.

Jennifer hatte die Eingangstür noch nicht erreicht, als ihr Handy klingelte. Sie musste nicht einmal einen Blick auf das Display werfen, denn diesen speziellen Klingelton hatte sie nur einer einzigen Nummer zugeordnet. Mit einem Seufzen zog sie das Telefon aus der hinteren Tasche ihrer Jeans.

Ihre Mutter hatte in den letzten drei Tagen wiederholt versucht, sie zu erreichen, und ihr mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und der Mailbox hinterlassen. Jennifer hatte noch immer nicht zurückgerufen, und die Versuchung, auch dieses Gespräch mit einem Knopfdruck umzuleiten, war groß.

Ihr schlechtes Gewissen siegte jedoch. »Hallo, Ma.«

»Jetzt muss ich dich schon morgens in aller Herrgottsfrühe anrufen, um dich endlich mal zu erreichen!«, empörte sich Annabelle Leitner. »Auf meine Anrufe zu reagieren, kommt dir ja offenbar nicht in den Sinn.«

Jennifer stieß ein hörbares Stöhnen aus. »Ich habe viel zu tun, Mama, das weißt du doch.«

»Wir alle haben immer viel zu tun, trotzdem kann man sich wenigstens ab und an bei seinen Eltern melden!« Ihre Mutter klang wütend und verzweifelt zugleich. »Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was dein Vater und ich im Moment durchmachen!«

Der Empfangsbereich der Gerichtsmedizin war wie immer unbesetzt, und Jennifer ging den hell gestrichenen Korridor hinunter, der in Leander Meurers Heiligtum führte. Obwohl man sich in der ganzen Klinik mit Farben, Bildern und Einrichtung besondere Mühe gegeben hatte, gelang es nicht, den typischen Krankenhausgeruch zu vertreiben.

»Doch, allerdings«, erwiderte Jennifer. »Du hast mir genügend Nachrichten hinterlassen.« Die sie allerdings nicht immer bis zu Ende angehört hatte. Nicht nur, weil sich ihre Mutter gerne wiederholte, sondern weil sie einfach keinen Nerv gehabt hatte, sich die ewigen Monologe über die Probleme mit ihrem jüngsten Bruder anzuhören.

»Und was gedenkst du zu tun?«, fragte Annabelle Leitner. »Nichts?«

Nicht schon wieder diese Frage!

Als Jennifer um die nächste Ecke ging, hob sie überrascht den Kopf.

»Ich muss Schluss machen, Ma«, sagte sie abrupt.

Neben einer breiten Tür in Buchenholzoptik lehnte ein Mann an der Wand, der offensichtlich auf jemanden wartete. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und sah ihr mit einem neutralen Gesichtsausdruck entgegen.

»Was? Aber …«

»Ich muss jetzt zu einer Obduktion. Ich rufe dich an, wenn ich etwas Ruhe habe.« Jennifer achtete nicht auf den Protest ihrer Mutter, sondern unterbrach die Verbindung und schaltete rein vorsorglich auch das Telefon aus.

Ihr war nicht entgangen, wie der Mann sie von Kopf bis Fuß musterte. Er wartete offenbar auf sie. Als sie noch gut zwei Meter von ihm entfernt war, stieß er sich lässig von der Wand ab und bestätigte damit ihre Vermutung.

Er trat ihr in den Weg. »KOK Leitner?« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er genau wusste, wen er vor sich hatte.

Jennifer ließ ihren Blick kurz über seine gepflegte und dennoch legere Erscheinung schweifen. Er mochte Anfang vierzig sein, seine kurzen schwarzen Haare hatte er nicht vollständig im Griff, und das anthrazitfarbene Hemd hätte zu keinem Jackett gepasst. Trotzdem erkannte sie in ihm sofort den Beamten.

»Und wer sind Sie?«, fragte sie mit einer Stimme, die ihn nicht gerade willkommen hieß. Unerwartete Besuche von fremden Offiziellen bedeuteten nie etwas Gutes, schon gar nicht, wenn sich zu einem Serienkiller höchstwahrscheinlich noch ein weiterer Mörder oder Totschläger gesellt hatte.

Der Mann schenkte ihr ein Lächeln. »Oliver Grohmann, Staatsanwalt«, stellte er sich vor. »Nachfolger von Norbert Peters.« Er hielt ihr nicht die Hand hin.

Jennifer hätte am liebsten aufgestöhnt. Auch das noch! »Peters ist also endlich in Rente gegangen«, kommentierte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte natürlich gewusst, dass der alte Staatsanwalt bald seinen Ruhestand antreten würde, irgendwann diesen Monat, doch den genauen Tag hatte sie nicht mehr im Gedächtnis gehabt.

Grohmann hatte mit dieser Reaktion offenbar gerechnet, denn sein Lächeln verlor nicht an Intensität. »Er hat vorgestern seinen Abschied genommen. Ich habe heute meinen ersten Tag.« Als er ihr Stirnrunzeln sah, fügte er hinzu: »Ich habe seine Fälle übernommen, also auch den Mann, der den Spitznamen ‚Künstler‘ trägt.«

Jennifer konnte ein Seufzen nicht länger unterdrücken. »Perfektes Timing.« Sie schüttelte den Kopf. »Erst überträgt Ihr Chef Peters den Fall, obwohl er weiß, dass der Herr bald pensioniert wird, und dann übergibt er ihn auch noch, ohne mit der Wimper zu zucken, an einen Neuling.«

Grohmann hob entschuldigend die Schultern. »Ich kann Ihre Wut verstehen, aber mein Chef bevorzugt klare Linien. Er ging anfangs wohl davon aus, dass er Peters einen letzten großen, lösbaren Fall überträgt. Niemand dürfte damit gerechnet haben, dass es nicht bei einem Mord bleiben würde.«

»Und derselbe Komiker setzt mir jetzt einen Grünschnabel vor die Nase. Haben Sie schon einmal irgendeine Mordermittlung geleitet? Oder überhaupt irgendeine Ermittlung?«

»Ich habe genügend Erfahrung«, erwiderte Grohmann - überraschenderweise mit einem Anflug von Belustigung anstatt berechtigter Verstimmung aufgrund ihrer klaren Worte. »Darüber müssen Sie sich schon einmal nicht mehr den Kopf zerbrechen.«

Seine ruhige Art entwaffnete sie sofort. Sie hatte gehofft, ihn aus der Reserve locken zu können, um ihren Unmut an ihm auszulassen, doch er ließ den Köder unberührt. Wenigstens schien er nicht so ein sturer Hitzkopf wie sein Vorgänger zu sein. »Dann kann ich wohl eines meiner Probleme von der Liste streichen.«

Einen Moment lang musterten sie sich schweigend. Ab sofort würden sie zusammenarbeiten müssen. Daran führte kein Weg vorbei.

»Wieso sind Sie eigentlich hier?«, fragte Jennifer schließlich.

»Ich wurde über den Leichenfund und die geplante Obduktion heute Morgen informiert, also bin ich hergefahren.«

»Der Fund steht eher nicht mit dem ‚Künstler‘ in Zusammenhang. Zerstückelte Leichen in morastigen Löchern zu versenken, entspricht nicht seiner Vorgehensweise. Also ist das nicht zwingend Ihr Fall«, erklärte Jennifer nach kurzem Zögern.

Wieder erschien ein Lächeln auf Grohmanns Gesicht. »Könnte es aber unter Umständen werden. Und ich wäre bei der Obduktion gerne dabei.«

Er war also kein Staatsanwalt, der sich hinter seinem Schreibtisch verbarrikadierte und von Anrufen und Berichten lebte, bis er einen für das Gericht fertig zusammengezimmerten Fall auf den Tisch bekam. Er wollte sich nicht wie die meisten seiner Kollegen darauf beschränken, die Ermittlungen mit dem einen oder anderen Antrag bei Gericht zu unterstützen.

Eigentlich war ihr diese Sorte sympathisch, doch das bedeutete auch, dass er regelmäßiger und stetiger Begleiter ihrer Arbeitstage werden würde, und zwar in Person. Und ob sie damit leben konnte, musste sich erst noch herausstellen.

Sie ersparte ihnen beiden eine Antwort und öffnete die Tür, hinter der der Obduktionssaal lag. Sofort schlug ihnen penetranter Verwesungsgestank entgegen.

Professor Meurer hatte gerade mit der Sektion begonnen. Er hatte den ersten der beiden Leichensäcke mit Hilfe seines Assistenten auf den Untersuchungstisch gehievt und den Reißverschluss geöffnet.

Jennifer winkte Jarik zu, der gerade scharf einatmete. Er war mit zwei Koffern angerückt und würde während der Obduktion jedes mögliche Beweisstück sichern.

Sie nahm ihren angestammten Platz ein, der es ihr erlaubte, die Obduktion zu verfolgen, ohne Leander Meurer und seinem Assistenten im Weg zu stehen.

Ihr Blick streifte nur kurz den Lichtkasten, an dem ansonsten zu diesem Zeitpunkt bereits einige Röntgenaufnahmen hingen. Diesmal war er dunkel und leer.

Professor Meurer bemerkte ihren Blick und antwortete auf ihre unausgesprochene Frage in seiner ruhigen, höflichen Art: »Die Verwesung ist so weit fortgeschritten, dass Röntgenaufnahmen keinen Sinn mehr machen. Wenn wir irgendwelche Brüche oder andere Spuren von Gewalteinwirkung finden, können wir im Zweifel immer noch die gesäuberten Knochen unter die Maschine legen.«

Das hatte sie sich schon gedacht, daher nickte sie nur.

Leander Meurer war ein junggebliebener Endfünfziger, der sehr viel Wert auf äußerst sorgfältige, penible Arbeit legte und jeden einzelnen seiner Schritte nicht nur akkurat aufzeichnete, sondern auch dazu neigte, den Anwesenden ausführlich zu erklären, welche Feststellungen er machte.

Er unterzog jetzt den Inhalt des Leichensacks einer ersten kurzen Begutachtung und entschied dann, den Sack aufzuschneiden, um den Inhalt gänzlich freizulegen. Der Gestank schien ein bis dahin ungekanntes Ausmaß anzunehmen.

Mit Hilfe seines Assistenten begann Meurer schließlich, Knochen und noch nicht gänzlich verflüssigte Überreste aus der Verwesungsbrühe zu fischen und zu erfassen. Bei seiner gründlichen Arbeitsweise würde die Prozedur ein paar Stunden in Anspruch nehmen.

»Wo ist eigentlich Ihr Partner?«, fragte Staatsanwalt Grohmann im Flüsterton.

Jennifer hatte gar nicht bemerkt, dass er neben ihr Position bezogen hatte. Mit einem leichten Kopfschütteln versuchte sie ihm zu verstehen zu geben, dass es nicht der richtige Augenblick für eine Unterhaltung war.

Doch Grohmann schien das Zeichen entweder nicht wahrzunehmen oder bewusst zu ignorieren. »KOK Marcel Meyer, wenn ich mich recht entsinne?«

»Ich habe ihn nicht erreicht«, antwortete sie knapp und hoffte, dass das Thema damit erledigt war.

Das war es nicht. »Wie bitte? Nicht erreicht?«

»Ich hatte nur seine Frau am Telefon.« Sie zögerte, entschied dann aber, dass es keinen Sinn hatte, Grohmann anzulügen. Früher oder später würde er so oder so mitbekommen, was los war. »Sie hat ihn gestern Abend vor die Tür gesetzt und keine Ahnung, in welchem Hotel er abgestiegen ist. Sein Handy liegt noch bei ihr auf der Kommode.«

»Nette Frau«, kommentierte Grohmann. »Aber auch gegen die Vorschriften.«

Jennifer sah ihn von der Seite an und versuchte einzuschätzen, wie er die Tatsache, dass kein zweiter Kripobeamter bei der Obduktion zugegen war, tatsächlich bewertete. Doch sein Gesichtsausdruck verriet nichts.

Sie entschied sich für ein Schulterzucken. »Es ist das fünfte Mal, dass sie Marcel rausgeschmissen hat. Sie ist Italienerin. Sizilianerin, um genau zu sein … Er steckt da in einem ziemlichen Schlamassel, was seine Ehe angeht.« Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Ich hoffe, Sie werden wegen dieser Bagatelle keinen Aufstand anzetteln.«

Grohmann schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass die Dinge manchmal nicht so laufen, wie es irgendjemand auf ein Stück Papier geschrieben hat.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Übrigens hat man mich vor Ihnen gewarnt.«

»Gewarnt?«

Er grinste. »Ja. Es heißt, Sie seien ein echter Sonnenschein.«

Jennifer musste unwillkürlich lächeln. Der Kerl wurde ihr von Minute zu Minute sympathischer. »Mein Ruf eilt mir also voraus.«

»In vielerlei Hinsicht. Ihre Leistungen sprechen eben auch ihre eigene Sprache. Bevor Sie nach Lemanshain versetzt wurden, haben Sie den Kerl geschnappt, der die Mädchen am Frankfurter Campus überfallen hat.«

Sie war sich nicht sicher, ob es ihr gefallen sollte, dass er seine Hausaufgaben in Bezug auf die Leute gemacht hatte, mit denen er zukünftig zusammenarbeiten würde. »Dem Dreckskerl habe ich persönlich Handschellen angelegt«, sagte sie nur.

»Es heißt, er sei nicht ganz unversehrt in der JVA angekommen.«

Jennifer zuckte die Schultern. Wollte er auf etwas Bestimmtes hinaus, oder versuchte er nur, mit ihr zu plaudern, um sich nicht zu sehr auf das konzentrieren zu müssen, was Meurer und sein Assistent aus den Müllsäcken zogen? »Er ist mir aus Versehen in die Faust gelaufen.«

Grohmann deutete ein Nicken an. »Hatte er allemal verdient.«

Die beiden Mediziner waren mit dem ersten Sack fertig. Sie schoben den Obduktionstisch beiseite, um die Flüssigkeit durch einen Filter ablaufen zu lassen, der auch kleine Knochensplitter und sonstige feste Bestandteile auffangen würde.

Bisher hatten sie nur Teile gefunden, die offensichtlich zu der Leiche gehörten. Der Gerichtsmediziner hatte erste Vermutungen angestellt, dass es sich um eine Frau handelte. Keine Überreste von Kleidungsstücken, keine Geldbörse oder sonst irgendein Hinweis auf die Identität der Toten. Dafür jedoch an einem Knochen deutliche Spuren, die von dem Werkzeug herrühren konnten, das zum Zerteilen der Leiche benutzt worden war. Genaueres würden jedoch erst die anschließenden Untersuchungen ergeben.

Neben den Knochen lagen zwei schwere Steine, die möglicherweise zum Beschweren der Säcke verwendet worden waren, damit sie beim Entstehen von Gasen während des Verwesungsprozesses nicht aufstiegen.

Meurers Assistent brachte den zweiten Leichensack herein. Als sie den Müllsack freigelegt hatten, der wesentlich intakter als der andere war, sah Jennifer eine eigenartige viereckige Ausbuchtung. Etwas, das nicht zu den menschlichen Überresten gehörte, befand sich in dem Sack.

Am liebsten hätte Jennifer Meurer angewiesen, das Objekt sofort herauszuholen, doch der Professor nahm Einmischungen übel, die ihn in seinen Abläufen störten. Also übte sie sich in Geduld.

Grohmann ergriff die Gelegenheit, um weiter mit ihr zu plaudern. »Ich habe Peters Akten zu dem ‚Künstler‘-Fall bereits durchgesehen und würde mich gerne bald mit Ihnen zusammensetzen, damit wir uns austauschen und Sie mich auf den aktuellsten Stand bringen können.«

Als sie nicht reagierte, fügte er hinzu: »Ich habe deshalb auch gestern den ganzen Tag versucht, Sie telefonisch zu erreichen, aber Sie sind nie drangegangen.«

Jennifer blaffte ihn an: »Ach, Sie waren das? Dann habe ich jetzt wenigstens Ihre Handynummer.«

Grohmann fühlte sich offenbar vor den Kopf gestoßen. »Hey, ich will mit Ihnen zurechtkommen …«

Meurer hatte sich endlich in die Tiefen des Müllsacks vorgearbeitet und zog nun den flachen, viereckigen Gegenstand heraus. Er war in Folie eingeschweißt, trotzdem blieb die übel riechende Masse aus verwestem Gewebe daran kleben. Jarik machte eifrig Fotos.

Als sie Meurers Assistenten zu einem Becken folgten, in dem er den Fund abwaschen konnte, hatte Jennifer bereits eine leise Ahnung.

Wasser und ein spezielles Reinigungsmittel taten endlich ihren Dienst und enthüllten das Objekt. Dem Staatsanwalt verschlug es augenblicklich die Sprache.

»Scheiße«, fluchte Jarik.

Jennifer stieß ein Seufzen aus und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann sah sie Grohmann an. »Ich will auch mit Ihnen zurechtkommen, denn das hier wird ein absolut beschissener Tag.«

Er starrte noch immer auf das Objekt. In einem Bilderrahmen war ein großes Stück Haut ausgestellt, das scheinbar mit irgendeiner durchsichtigen Flüssigkeit konserviert worden war. Das Ganze war mehrfach eingeschweißt, wohl um das Bildnis, das der Täter mit einer scharfen Klinge in die Haut geritzt hatte, vor Verwesung zu schützen.

Grohmann wusste zwar nun, dass sie es mit einem weiteren Opfer des »Künstlers« zu tun hatten, doch ihm war der Unterton in Jennifer Leitners Stimme nicht entgangen. »Warum?«, fragte er.

»Weil er von seinem Muster abgewichen ist, deshalb.«

3

Jennifer warf den Notizblock auf ihren Schreibtisch und ließ sich in den Bürostuhl fallen.

Mit einem Aufstöhnen lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und lockerte ihre Schultermuskulatur. Sie war verspannt, und ein unsanfter Druck hinter dem linken Auge kündigte eine Migräneattacke an.

Jennifer öffnete die mittlere Schublade ihres Schreibtisches und wühlte im Chaos ihrer Privatsachen nach Kopfschmerztabletten. Sie spülte erst eine, dann eine zweite als Prophylaxe mit der Cola hinunter, die sie sich auf dem Rückweg von der Befragung am Automaten gekauft hatte. Im Moment konnte sie es sich nicht leisten, die ohnehin kurzen Nächte vor dem Klo kniend zu verbringen.

Sie genoss für ein paar Minuten die im Büro herrschende Stille, dann warf sie einen Blick auf den Block, auf dem sich nur vier kurze Notizen befanden. Die Befragung der beiden Geocacher, die die Überreste der Leiche entdeckt hatten, hatte keinerlei brauchbare Erkenntnisse erbracht.

Ihnen war nichts aufgefallen. Im Urzustand des Fundorts hatte lediglich ein Zipfel eines blauen Müllsacks aus dem Schlick geragt. Der Kerl, der in die Grube gestiegen war, konnte nicht sagen, ob die Säcke vorher schon beschädigt gewesen waren oder erst aufrissen, als er sich daran zu schaffen machte. Zumindest der sichtbare Zipfel war intakt gewesen.

Die beiden Jungen hatten vorgeschlagen, dass Jennifer über die Internetplattform, auf der der Nachtcache verzeichnet war, eine Anfrage an andere Cacher stellen könnte. Vielleicht war einem von ihnen in den Wochen und Monaten vor dem Fund der Leiche etwas aufgefallen.

Jennifer hatte sich den Vorschlag notiert und würde morgen Freya Olsson, die häufig derartige Recherchen übernahm, darauf ansetzen, auch wenn sie sich davon keinen Durchbruch erhoffte.

Vor dem Termin mit den beiden Männern hatte sie die Seite bereits gecheckt und festgestellt, dass der Fundort von den einzelnen Stationen, die die Suchenden durchlaufen mussten, so weit entfernt war, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn sich irgendjemand zuvor schon in die Nähe der Grube verirrt hätte. Die Fehler, die die beiden jungen Männer beim Rätsellösen gemacht hatten, waren so dämlich, dass es wohl kaum eine Standardabweichung war.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es bereits zu spät war, um an eine Fahrt zu McDonald‘s zu denken. Um achtzehn Uhr war sie mit Grohmann verabredet, um ihn in den Fall einzuarbeiten. Seinen Kommentaren hatte sie entnommen, dass die Akten, die ihm sein Vorgänger hinterlassen hatte, alles andere als vollständig oder besonders informativ waren.

Jennifer nutzte die Zeit, um die Fotos von der Obduktion durchzugehen, die Jarik ihr geschickt hatte. Dann überflog sie noch einmal die in Stichpunkten verfassten Obduktionsergebnisse, die Leander Meurer ihr gemailt hatte. Sein ausführlicher Bericht würde morgen Abend, spätestens Freitag früh eintreffen.

Die Leichenschau hatte nicht zur Identifizierung der Leiche geführt. Sie hatten es mit einem weiblichen Opfer europäischer Abstammung zu tun, das zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahre alt gewesen sein musste. Etwa eins siebzig groß, um die sechzig Kilo schwer. Die Frau hatte mindestens eine Geburt hinter sich, jedoch bereits länger zurückliegend. Seine eigenen Schlussfolgerungen hatte Meurer mit einem forensischen Anthropologen abgeglichen, der Experte auf dem Gebiet der Bestimmung von Identifikationsmerkmalen annähernd skelettierter Leichen war.

Der Professor verfügte über internationale Kontakte, die er innerhalb von Stunden aktivieren konnte und die er vor allem zur Absicherung von Erkenntnissen auf Fachgebieten nutzte, in denen er selbst kein Spezialist war. So erhielten die Ermittler innerhalb kürzester Zeit gesicherte Ergebnisse, auf die sie sonst Tage oder Wochen hätten warten müssen.

Der Todeszeitpunkt war schwierig zu bestimmen und von etlichen Faktoren abhängig. Meurers Datierung hatte während der Leichenschau im ersten Jahresviertel gelegen, war in seiner E-Mail jedoch, nachdem er sich noch einmal näher mit den Wetterdaten des Jahres befasst und sich mit einem weiteren Experten beraten hatte, auf März oder April präzisiert worden.

Er hatte keinerlei Hinweise auf die Todesursache gefunden, keine Anzeichen von Gewalteinwirkung.Es gab aber einige Spuren des Werkzeugs, mit dem die Leiche zerlegt worden war. Meurer und Jarik waren beide der Meinung, dass es sich um eine Säge handelte. Die ausstehende Untersuchung durch ein Speziallabor des ebenfalls chronisch überlasteten LKA würde das allerdings noch bestätigen müssen.

Professor Meurer hatte einen Erfassungsbogen mitgeschickt, in dem er alle verfügbaren und relevanten Daten eingetragen hatte. Jennifer druckte ihn aus.

Sie würde die Daten morgen früh in den Computer eingeben, um sie mit den örtlichen Vermisstenanzeigen abzugleichen und sie dann gegebenenfalls zum Abgleich an übergeordnete Behörden zu schicken. So gespannt sie auch war, sie hatte heute Abend keinen Nerv mehr, sich mit dem veralteten, langsamen Programm herumzuschlagen, das mehr Abstürze als Suchergebnisse produzierte.

Professor Meurer hatte in seiner Mail angekündigt, dass er die Leiche am nächsten Morgen freigeben würde, wenn letzte Detailuntersuchungen abgeschlossen waren. Die Überreste würden eingeäschert werden, und er bat Jennifer um ihre Zustimmung, die Leichenteile an das zuständige Bestattungsunternehmen zu übergeben.

Da die Identität nicht geklärt war, würde der Staat zunächst für die Einäscherung aufkommen. Die Urne würde eine Zeit lang gelagert und anonym begraben werden, wenn die Akte geschlossen wurde. Jennifer sah keinen Grund, die Überreste aufzubewahren, und schickte Meurer ihre knappe Zustimmung.

Den Papierkram zu diesem Vorgang würde er ihr wie üblich zukommen lassen. Damit würde sie sich vermutlich morgen Abend herumschlagen.

Auch sonst hatten sie keinerlei Fortschritte gemacht.

Jarik hatte Jennifer darüber informiert, dass sie in dem Krater im Wald nichts gefunden hatten. Die Spurensicherung hatte die obersten Schlammschichten bereits abgetragen, und er ging davon aus, dass sie auch in größerer Tiefe nichts mehr entdecken würden. Dennoch bestand Jennifer darauf, die ganze Grube auszuheben.

Jarik hatte deshalb am frühen Nachmittag ein paar Anrufe getätigt. Das Forstamt stellte sich quer, als der zuständige Sachbearbeiter hörte, was sie genau vorhatten und welche Zerstörung sie damit anrichten würden. Ohne richterlichen Beschluss war nichts zu machen, und Jennifer hatte Grohmann gebeten, sich darum zu kümmern.

Das wäre mit Sicherheit der Zeitpunkt gewesen, an dem sein Vorgänger ihren Plänen einen Riegel vorgeschoben hätte. Oliver Grohmann stellte nicht einmal infrage, ob diese Aktion wirklich notwendig war, sondern hatte direkt versprochen, sich so schnell wie möglich darum zu kümmern.

Jarik hatte Jennifer außerdem darüber informiert, dass die Steine, die zur Beschwerung der Leiche in den Säcken verstaut worden waren, gewöhnliche Backsteine waren, die man in jedem größeren Baumarkt kaufen konnte. Der Bilderrahmen war ebenfalls nichts Besonderes. Die Haut war mit Alkohol konserviert worden. Keine Fingerabdrücke, keine sonstigen Spuren.

Nichts.

Jennifers Chef, Peter Möhring, seines Zeichens Leiter der Einsatzabteilung in Lemanshain, hatte sich einer Unterredung über die noch immer angespannte Personalsituation geschickt entzogen und ihr nur zwischen Tür und Angel zugerufen, dass sie, Marcel Meyer und Grohmann auch weiterhin zuständig seien. Im Bedarfsfall solle ihnen das für Drogen und Vermögensdelikte zuständige Team bei der einen oder anderen Befragung unter die Arme greifen.

Was für ein beschissener Tag.

Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, hatte Freya sie nach ihrer Rückkehr aus der Klinik darüber informiert, dass Marcel angerufen und sich krankgemeldet hatte. Er hatte nicht angegeben, wo er untergekommen war, hatte aber ausrichten lassen, dass er momentan keinen Zugriff auf sein Handy hatte. Dieses Mal musste es seiner Frau wirklich ernst sein, wenn er sich nicht einmal mehr ins Haus traute, um sein Diensthandy zu holen.

Warum hatte er sich nicht direkt bei Jennifer gemeldet? Vermutlich, weil sie ihm einmal mehr direkt auf den Kopf zugesagt hätte, dass seine Ehe gescheitert war, eine Tatsache, die er einfach nicht in Betracht ziehen wollte.

Jennifer hätte bei den Hotels der Stadt und den umliegenden Gemeinden anrufen können, um ihn aufzuspüren, doch sie entschied, ihm wenigstens bis zum Wochenende Zeit zu lassen. Wenn er dann noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, würde sie ihn suchen gehen.

Wieder ein Blick auf die Uhr. Grohmann war bereits zehn Minuten zu spät.

Jennifer scrollte noch einmal durch die Vielzahl der Bilder, die Jarik gemacht hatte. Sie blieb bei dem »Kunstwerk« des Täters hängen, das mehrfach abfotografiert worden war. Sie schickte das beste Bild mit der höchsten Auflösung an den Fotodrucker, den sie von ihrem eigenen Geld gekauft hatte. Zwar waren sie in einiger Hinsicht besser ausgestattet als andere Behörden, doch an den wichtigsten Stellen fehlten noch immer die Mittel. »Fehlen« war eigentlich der falsche Ausdruck, genau genommen wurde das Geld einfach nur für unnötige und noch dazu teure Prestigeprojekte verschwendet.

Gerade als der Drucker zu arbeiten begann, tauchte Grohmann in ihrem Büro auf. Er schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln, machte sich jedoch nicht die Mühe, seine Verspätung zu erklären.

Noch bevor sie ihm den Stuhl an Marcels Schreibtisch anbieten konnte, der ihrem genau gegenüber stand, blieb sein Blick an der Wand hängen, die gänzlich dem Fall des »Künstlers« gewidmet war. Er pfiff durch die Zähne.

Dort hingen Fotos und Informationen zu den fünf Opfern, die sie bisher zu beklagen hatten. Bilder der Frauen zu Lebzeiten und in dem Zustand, in dem man sie gefunden hatte, jeweils ein Foto ihres zu einer morbiden Leinwand verunstalteten Rückens, sowie Bögen mit den Eckdaten der Opfer.

Zusätzlich hing noch eine Karte von Lemanshain an der Wand, die mit verschiedenfarbigen Stecknadeln gespickt war, um alle Orte, die mit den Opfern und dem Fall in Verbindung standen, zu markieren. Es war eine kunterbunte Ansammlung, die keinerlei Übereinstimmungen oder Muster zeigte.

Grohmann setzte sich hinter Marcel Meyers Schreibtisch, ohne den Blick von der Wand zu nehmen.

Jennifer ließ ihm eine Minute, dann sagte sie: »Was genau wollen Sie wissen?« Ebenso gut hätte sie fragen können, was er in den Akten seines Vorgängers vermisste.

Er drehte sich ihr schließlich zu. »Geben Sie mir einen Gesamtüberblick, ganz so, als ob ich bisher noch überhaupt nichts wüsste. Lassen Sie dabei unseren aktuellen Fund erst einmal außen vor, da der ja etwas Besonderes zu sein scheint.«

»Okay.

---ENDE DER LESEPROBE---