Herzenskälte - Saskia Berwein - E-Book
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Herzenskälte E-Book

Saskia Berwein

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Beschreibung

Frisch verheiratet und bereits tot: Als perfekte Braut ausgestellt wird die Leiche einer jungen Frau im Schaufenster eines Hochzeitsplaners gefunden. Ihr Herz wurde entfernt und dient dem Täter scheinbar als Trophäe. Jennifer Leitner und Oliver Grohmann vermuten zuerst ein Verbrechen aus Leidenschaft. Doch dann taucht ein weiterer Toter auf, grausam verstümmelt und das Herz aus der Brust gerissen ...

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Saskia Berwein

Herzenskälte

Die Autorin

Saskia Berwein ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie wurde 1981 in Egelsbach geboren. Ihre Liebe zum Lesen führte bereits im Alter von 17 zur Entstehung ihres ersten Romans. Sie lebt zusammen mit ihrem Lebensgefährten in Mühlheim am Main.

Mehr über die Autorin:

www.saskia-berwein.de

www.facebook.com/SaskiaBerweinAutorin

Saskia Berwein im Kuneli Verlag

Todeszeichen

Herzenskälte

Zornesbrand

Saskia Berwein

Herzenskälte

Ein Fall für Leitner und Grohmann

Band 2

Thriller

Kuneli Verlag

Originalausgabe September 2019

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2019 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage

Satz & Cover: Kuneli Verlag, 63165 Mühlheim am Main

Bilder unter Lizenz von Shutterstock.com verwendet.

ISBN Print 978-3-948194-05-5

ISBN Epub 978-3-948194-06-2

www.kuneli-verlag.de

Prolog

Mit einem eigenartigen Geräusch, das irgendwo zwischen Röcheln und Stöhnen angesiedelt war, entwich das Leben aus ihrem Körper. Ihre wegen der Betäubung ohnehin nur schwache Gegenwehr war bereits erlahmt, als der Sauerstoffmangel sie in tiefste Bewusstlosigkeit geschickt hatte. Die letzte Anspannung fiel aber erst jetzt von ihr ab, ihre Muskeln erschlafften, schwer und leblos sackte sie in seine Arme.

Vorsichtig ließ er sie auf die Liege zurückgleiten und löste die Schlinge von ihrem Hals. Mehrere Sekunden lang beobachtete er sie angespannt, bereit, einzugreifen, sollte es notwendig werden. Doch es war vorbei. Ihr Brustkorb bewegte sich nicht mehr, kein Atem zeichnete Wölkchen in die frostige Kälte des Raumes. Als er schließlich nach ihrem Handgelenk tastete, fand er keinen Puls.

Sie war unwiederbringlich tot.

Ihre Lider waren nur halb geöffnet. Behutsam zog er sie etwas höher, darauf bedacht, die Wimpern nicht zu beschädigen. Sie hatte kräftige, geschwungene Wimpern, um die andere Frauen sie mit Sicherheit beneidet hatten. Kein Mascara und kein Make-up-Artist dieser Welt konnten derart lange, dunkle Wimpern zaubern, ganz gleich, was die Werbung versprach.

Ihre Augen starrten ihm kalt, aber noch klar entgegen. Einige Äderchen waren geplatzt, doch es war kein Schaden entstanden, den er nicht würde korrigieren können. Ihr Mund ließ sich problemlos schließen, und durch zärtliches Massieren ließ sich auch der erschrocken wirkende Gesichtsausdruck besänftigen. Die Schlinge hatte sich tief in ihr Fleisch gegraben, ohne die Haut nennenswert zu verletzen.

Er trat einen Schritt zurück, begutachtete sein Werk und nickte zufrieden. Ihr Mienenspiel war zwar noch weit von seinen Vorstellungen entfernt, aber er hatte eine Basis geschaffen, mit der er würde arbeiten können. Wenn er keine Fehler machte, würde die Frau ihren Zweck erfüllen.

Es lag natürlich noch jede Menge Arbeit vor ihm. In den nächsten Stunden würde er immer wieder Hand anlegen und gegen die einsetzende Totenstarre ankämpfen müssen, um ihr jene Ausstrahlung zu verleihen, die ihm vorschwebte. Alles würde perfekt werden.

Er zog den Metallwagen zu sich heran und begutachtete einen Moment lang ehrfürchtig die darauf ausgebreiteten Instrumente. Er hatte großen Respekt vor diesem Augenblick. Er war nervös und atmete mehrmals tief durch, bevor er zu einem Skalpell griff. Den ersten Schnitt setzte er vorsichtig, denn wenn sie wieder angezogen war, durfte von der Operation nichts mehr zu sehen sein.

Mit jedem Schnitt wurde er aber ruhiger und fand zu seinem gewohnten Selbstvertrauen zurück. Er arbeitete langsam und vorsichtig, schnitt durch Haut und Muskeln, arbeitete sich Stück für Stück voran, bis die Knochen ihres Brustkorbes blutig schimmernd vor ihm lagen – der einzige Schutz, das letzte Hindernis, das noch zwischen ihm und dem Zentrum seiner Begierden stand.

Bald schon lagen Teile der fein gebogenen Rippen in einer Schale auf dem Wagen, und die letzten Schnitte durchtrennten sorgfältig Adern und Gewebe. Dann endlich konnte er zugreifen und das Herz mit beiden Händen, sanft und achtsam wie einen Fötus, aus ihrem Brustkorb heben.

Einen Augenblick lang verharrte er ganz still.

Ihm entglitt die Realität.

Das Herz zog sich zusammen, kontrahierte zwei-, dreimal, wobei hellrotes Blut aus den durchtrennten Adern floss und seine Schürze und den Boden besudelte. Er konnte spüren, wie sich der Muskel bewegte, fühlte die lauwarme, klebrige Nässe auf seiner Haut.

Der Moment verging, und das Organ lag wieder still und tot in seinen Händen.

Mit langsamen Schritten trug er es zu dem Tisch hinüber, auf dem alles Notwendige bereitstand. Er brauchte nicht einmal zehn Minuten, um das Herz von sämtlichen Lebenssäften zu befreien und zu säubern. Dann ließ er es in eine Lösung gleiten, in der es einige Stunden ruhen würde, bevor er es in einen Behälter mit höher konzentrierter Flüssigkeit legen konnte.

Dieser Vorgang würde sich mehrmals wiederholen, bis er das Herz in das letzte Gefäß geben konnte, seine finale Ruhestätte, in der die Alkoholkonzentration am höchsten war.

Darin würde es, für die Ewigkeit konserviert, Jahrhunderte überdauern.

Mehr als zufrieden mit sich und seiner Arbeit, kehrte er zu seinem Opfer zurück. Bisher gab es keinerlei Anzeichen für das Einsetzen der Totenstarre. Er korrigierte erneut ihren Gesichtsausdruck und glättete ihre Stirn.

Vorsichtig strich er ihr über die noch immer warmen Wangen. Wenn er in der Lage gewesen wäre, Mitleid zu empfinden, hätte sie sein Mitgefühl vermutlich verdient. Sie hatte ihm ein Geschenk gemacht, dessen Bedeutung die wenigsten Menschen begreifen würden. Für sie selbst wäre es allerdings nur ein schwacher Trost gewesen.

Einem plötzlichen Impuls folgend, beugte er sich über sie und drückte ihr einen sanften Kuss auf die leicht geöffneten Lippen. Dann sah er ihr tief in die erstarrten Augen. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern, das sich kaum über das stete Brummen der Klimaanlage erhob.

»Ich liebe dich.«

1

Die Heizung kämpfte vergebens gegen die klamme Kälte an, die sich im Wageninneren und insbesondere in seinen Kleidern festgesetzt hatte. Draußen regnete es so stark, dass das Scheinwerferlicht nur mühsam die Dunkelheit durchdrang. Das Außenthermometer zeigte vier Grad über Null an, die sich dank der Nässe allerdings eher wie minus zehn anfühlten.

Auf den Straßen stand das Wasser teilweise mehrere Zentimeter hoch. Vermischt mit dem Schneematsch, der von der weißen Pracht der letzten Tage übriggeblieben war, bildete es eine dreckige braune Brühe, die sein Auto mehr als einmal zum Rutschen brachte. Kein Wetter für die hochgelobten Winterreifen. Eigentlich überhaupt kein Wetter, um unterwegs zu sein.

Oliver Grohmann warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Die Beleuchtung schien Woche für Woche schwächer zu werden, er konnte die Zahlen kaum noch erkennen. Vielleicht sollte er die längst überfällige Inspektion doch nicht weiter aufschieben.

Es war halb zwölf. Für die Strecke von Hanau nach Lemanshain hatte er eine halbe Stunde länger als üblich gebraucht. Er seufzte, als er an einer roten Ampel halten musste, was um diese Uhrzeit an Sinnlosigkeit kaum zu überbieten war. Sein Fahrzeug war das einzige weit und breit, die Kreuzung sehr gut einsehbar. Die Versuchung, einfach weiterzufahren, war groß, doch er übte sich in Geduld.

Fünf Minuten später bog er endlich in die Straße ein, in die er vor zwei Monaten gezogen war. Parkplätze waren um diese Uhrzeit nur mit großem Glück oder einiger Kreativität zu bekommen, weshalb er mit dem privaten Kundenparkplatz vor einem Friseurladen eine Straße weiter vorliebnahm.

Der Staatsanwalt verzichtete auf den Ausweis hinter der Windschutzscheibe. Bis zur Geschäftsöffnung um neun Uhr morgen früh würde er längst wieder verschwunden sein, außerdem kannte die Inhaberin des Salons inzwischen sein Auto. Ein weiterer Punkt auf seiner Liste mit noch ausstehenden Erledigungen: Bei der Nummer auf dem Schild anrufen, das freie Tiefgaragenplätze in dem Mehrfamilienhaus gegenüber seiner Wohnung anpries.

Sein Regenschirm lag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf der Garderobenablage im Flur, trotzdem riskierte er einen Blick in den Kofferraum seines in die Jahre gekommenen Fords. Wie zu erwarten, ohne Erfolg. Er zog den dunklen Kurzmantel enger um seine Schultern und schlug den Kragen hoch. Der eisige Regen hatte aber längst den Weg seinen Nacken hinunter gefunden.

Grohmann murmelte einen Fluch und begab sich auf den kurzen Spaziergang nach Hause.

Heute war einfach nicht sein Tag. Angefangen bei dem überraschenden Freispruch eines stadtbekannten Schlägers am Morgen bis hin zu seiner Verabredung am Abend. Eine Katastrophe hatte die nächste gejagt.

Auf den Prozess hatte er sich wochenlang vorbereitet. Das Vorstrafenregister des Angeklagten war mehrere Seiten lang, trotzdem hatte der Kerl es immer wieder geschafft, Bewährung zu bekommen. Oliver Grohmanns Ziel war es gewesen, den Mann, der drei Tage vor seiner letzten Tat einundzwanzig geworden war und somit endlich nicht mehr auf das Jugendstrafrecht hoffen konnte, wenigstens für zwei Jahre hinter Gitter zu bringen.

Das Opfer war ein Jugendlicher, der sich noch nie etwas hatte zuschulden kommen lassen und der nun für den Rest seines Lebens sichtbare Narben im Gesicht und an den Armen mit sich herumtragen würde. Es hatte keinerlei Zweifel daran gegeben, dass der betrunkene Angeklagte aus purer Aggressionslust mit einer Bierflasche auf den Jungen losgegangen war.

Ein wasserdichter Fall. Bis der Verteidiger eine Rotz und Wasser heulende, hochschwangere Freundin aus dem Hut gezaubert hatte. Während des gesamten Ermittlungsverfahrens war sie nie auch nur mit einem Wort erwähnt worden, und Grohmann hatte berechtigte Zweifel, dass sie jemals eine Beziehung mit dem Mann auf der Anklagebank gehabt hatte. Zweifel, die ungehört geblieben waren, ebenso wie sein Antrag, die Hauptverhandlung auszusetzen, bis er weitere Ermittlungen angestellt hatte.

Als die Frau den Zeugenstand betrat, hatte Oliver bereits geahnt, dass aus der von ihm angestrebten Gefängnisstrafe nichts werden würde. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht: zwei Jahre, einmal mehr zur Bewährung ausgesetzt. Und das, obwohl die Richter bei den beiden vorangegangenen Verurteilungen deutlich gemacht hatten, dass es keine weiteren Bewährungstrafen geben würde.

Aber die zuständige Richterin war nun einmal bekannt dafür, besondere Milde walten zu lassen, sobald weinende Schwangere oder kleine Kinder ins Spiel kamen. Eine Tatsache, die sich die Verteidigung mit Sicherheit zunutze gemacht hatte.

Diese Niederlage würde Oliver wohl noch länger nachhängen, zumal der Oberstaatsanwalt bereits am Nachmittag entschieden hatte, keine Revision einzulegen. Der Fall war damit abgeschlossen, und zwar mit einem alles andere als zufriedenstellenden Ergebnis.

Umso mehr hatte sich Oliver auf sein Date am Abend gefreut, das dann aber ein noch fataleres Ende genommen hatte als der Prozess. Die Kündigung der für ihn zuständigen Sekretärin, von der er am Mittag erfahren hatte, und das endgültige Versagen seines Notebook-Akkus hätten ihm allerdings Warnung genug sein sollen.

Er hätte wissen müssen, dass der Tag allenfalls noch mehr unangenehme Überraschungen für ihn bereithielt. So wie das überraschende Ende seiner Affäre.

Der Gang durch den Eisregen zum Tagesabschluss passte insofern vortrefflich. Wenigstens konnte es nicht mehr schlimmer kommen, es sei denn, er rutschte noch auf den letzten Metern aus und brach sich ein Bein.

Oliver erreichte das Mietshaus, in dem mit ihm zusammen insgesamt sechs Parteien wohnten. Weder der Gehsteig noch der Weg durch den kleinen Vorgarten zum Eingang waren geräumt worden.

Er brauchte seine ganze Konzentration, um mit den Anzugschuhen nicht doch noch auszurutschen, weshalb er die dunkle Gestalt erst bemerkte, als der Bewegungsmelder endlich reagierte und das Licht über den Briefkästen hektisch zu flackern begann.

Die dick in Winterkleidung eingemummelte Gestalt hatte den Schal bis unter die Augen vors Gesicht gezogen und kauerte reglos auf der Türschwelle, dem einzig trockenen Fleckchen unter dem Vordach.

Die Person beobachtete ihn auf eine Art, die ihm sagte, dass sie auf ihn gewartet hatte, machte aber keinerlei Anstalten aufzustehen.

Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer kurz vor Mitternacht, noch dazu am Montagabend, hier auf ihn warten sollte. Sein Handy war eingeschaltet, wer ihn hätte erreichen müssen, hätte also problemlos die Möglichkeit dazu gehabt.

Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit.

Als er gut zwei Meter vor der Gestalt im Regen stehen blieb, trafen sich ihre Blicke, und er prallte überrascht zurück.

Diese blaugrauen Augen kannte er. Sie schauten ihm jeden Morgen im Bad aus dem Spiegel entgegen.

Die nächsten Sekunden fühlten sich wie Minuten an, während sie einander schweigend musterten.

Mehrmals versuchte sich Oliver davon zu überzeugen, dass er sich irrte, dass ihm seine Phantasie einen Streich spielte, aber es gab keinen Zweifel. Vier Jahre waren vergangen, vier Jahre, in denen sie gewachsen war, sich verändert hatte, doch er erkannte noch immer das zwölfjährige Mädchen in ihr, das er verlassen hatte.

Als er endlich den Mund aufbekam, fühlte sich seine Zunge schwer und taub an. »Hannah … Was zum Teufel tust du hier?«

Ein Lächeln hob ihre Mundwinkel, erreichte jedoch nicht ihre Augen. »Hallo, Dad. Schön, dich zu sehen.«

Während Oliver vor seiner Tochter die zwei Stockwerke zu seiner Wohnung hinaufging, fragte er sich, ob er irgendetwas verpasst hatte. Hatte er seinen Anrufbeantworter oder seine Mailbox nicht sorgfältig genug abgehört? Hatte er irgendwelchen E-Mails nicht die nötige Beachtung geschenkt? Nein, er war sich sicher, dass ihm nichts entgangen war. Niemand hatte ihm Bescheid gesagt, es hatte keinerlei Ankündigung gegeben.

Trotzdem war Hannah hier, wie aus dem Nichts aufgetaucht, vollkommen unerwartet.

Einen Moment lang dachte er, dass das nur bedeuten konnte, dass seiner Ex-Frau etwas zugestoßen war. Dann wurde ihm aber bewusst, wie lächerlich der Gedanke war. In dem Fall hätte man ihn kontaktiert und nicht seine sechzehnjährige Tochter einfach in den Zug gesetzt. Außerdem wäre sie dann wohl eher bei ihrem Onkel oder ihrer Oma untergekommen.

Oliver schloss die Wohnungstür auf und bedeutete Hannah, in die Küche zu gehen. Sie ließ ihren Rucksack geräuschvoll auf die Fliesen vor der Garderobe fallen und gehorchte wortlos. Er blieb im Flur stehen und zog langsam seinen Mantel aus.

Hannah umrundete den kleinen Esstisch und sah sich interessiert in der Küche um, die für eine Mietwohnung recht großzügig geschnitten war. Sie war sauber und bis auf etwas Geschirr in der Spüle aufgeräumt. Allein schon wegen der Küche hatte sich der Umzug von Hanau nach Lemanshain gelohnt, außerdem nannte Oliver nun endlich einen Balkon sein eigen.

Er blieb in der Küchentür stehen. Der Raum kam ihm paradoxerweise für sie beide viel zu klein vor. »Was machst du hier? Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«

Sein Blick streifte das Mobilteil des Telefons, das auf dem Küchentisch lag. Die Anzeige für entgangene Anrufe blinkte. Damit war seine zweite Frage eigentlich schon beantwortet. Zum Glück hatte er seiner Ex-Frau seine aktuelle Handynummer nicht gegeben.

Hannah war stehen geblieben und musterte ihn einen Moment, bevor sie demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkte. »Ist das nach vier Jahren deine Art der Begrüßung?« Ihr Tonfall war bissig, sie schien jedoch bemüht, ihre Verachtung, die ihm noch bestens vertraut war, aus ihrer Stimme zu verbannen.

Trotzdem spürte er sofort, wie sich etwas in seinem Inneren zusammenzog, eine alte Verletzung, die sich schon lange nicht mehr gemeldet und die er deshalb sogar schon für vernarbt gehalten hatte. Jetzt wurde ihm schmerzlich bewusst, wie frisch diese Wunde noch immer war und dass allein Hannahs Stimme genügte, sie wieder aufbrechen zu lassen.

Oliver zwang sich, die ihm als Erstes in den Sinn kommende Antwort hinunterzuschlucken. Sie hatte natürlich recht. Nach all dieser Zeit hätte er sich über ihren Besuch, so unerwartet er auch war, freuen sollen, stattdessen verspürte er eine seltsame Mischung aus Misstrauen und Angst.

Er sollte die Vergangenheit ruhen lassen. Immerhin war Hannah damals noch ein Kind gewesen, das nicht ermessen konnte, wie sehr es andere durch sein Handeln und seine Worte verletzte. Doch auch die Klingen einer Zwölfjährigen konnten scharf sein, und ein weiterer Blick in Hannahs Augen genügte, um zu wissen, dass sie die Waffen nicht niedergelegt hatte. Sie war nur bestrebt, sie nicht sofort zum Einsatz zu bringen.

Vier Jahre hatten nichts geändert. Sie hasste ihn noch immer.

Hannah zog ihre nassen Sachen aus und warf sie achtlos über die Lehne eines Küchenstuhls. Sie schien nicht einmal eine Antwort zu erwarten.

»Ich bin nur überrascht«, sagte Oliver schließlich, nachdem er die bittere Erkenntnis aus seinen Gedanken verbannt hatte. »Mit dir habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet.«

In ihre Augen trat ein Funkeln, das er von seiner Ex-Frau noch sehr gut kannte. »Wenn man Kinder hat, sollte man immer damit rechnen, dass sie bei einem auftauchen.« Sie lehnte sich gegen den Tresen und ließ ihren Blick erneut durch die Küche schweifen.

Oliver nutzte den Augenblick, um sie zu mustern. Hannah war mindestens dreißig Zentimeter in die Höhe geschossen. Aus dem kleinen Mädchen war eine junge, attraktive Frau geworden, die seiner geschiedenen Frau ebenso ähnelte wie ihm selbst. Seine Vaterschaft hätte er niemals leugnen können. Sie hatten dieselben graublauen Augen, dieselbe schmale Nase. Von ihrer Mutter hatte Hannah die dunkelblonden Haare und die Figur geerbt. Und offenbar auch das Temperament.

Sein Blick blieb an ihren Händen hängen, die von der Kälte ganz rot waren, obwohl sie dicke Handschuhe getragen hatte. »Wie lange hast du da draußen auf mich gewartet?«

Hannah zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ein paar Stunden.«

»Warum hast du nicht angerufen?« Er hoffte, dass seine Frage nicht vorwurfsvoll klang.

»Das habe ich versucht. Du hast meiner Mutter deine neue Handynummer nicht gegeben.«

Vielleicht war das doch keine so gute Entscheidung gewesen. Er hatte aber auch nicht damit gerechnet, dass seine Tochter die Nummer brauchen würde.

»Möchtest du einen Tee?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Kaffee, schwarz, ohne Zucker.«

Oliver runzelte die Stirn. »Du trinkst Kaffee?« Er hatte die Frage kaum ausgesprochen, als ihm auch schon bewusst wurde, wie idiotisch sie war. Natürlich trank sie Kaffee! Sie war kein kleines Kind mehr!

»Ist das ein Problem?« Ihre Angriffslust war spürbar, auch wenn sie sie zu verbergen versuchte. Die Oberfläche, unter der die alten Vorwürfe und Anschuldigungen brodelten, schien dünn und brüchig zu sein.

Warum war sie hier, wenn sie ihn noch immer verabscheute? »Nein, natürlich nicht.« Ohne ein weiteres Wort durchmaß er den Raum und füllte frisches Pulver in die Kaffeemaschine.

Hannah stand direkt neben ihm, ihre Schultern berührten sich fast, doch sie wich keinen Schritt zur Seite. Ihr Blick brannte auf seiner Haut. Jedes Geräusch, das er verursachte, klang unnatürlich laut in seinen Ohren.

Als sie sich vom Küchentresen abstieß, erschrak Oliver beinahe. »Wo ist das Bad?«

»Zweite Tür rechts.«

Er hörte sie kurz in ihrem Rucksack kramen und dann die Badezimmertür hinter sich schließen. Die einsetzende Stille war angenehm vertraut. Oliver ertappte sich dabei, wie er sich vorstellte, dass er das alles nur geträumt hatte und Hannah noch immer in Kassel bei ihrer Mutter war. Diese Möglichkeit erschien ihm derart verlockend, dass es ihm einen Stich versetzte.

Gerade als er die Tasse mit dem Kaffee auf den Tisch stellte, hörte er Schritte im Flur. Doch Hannah kehrte nicht sofort in die Küche zurück. Er konnte verfolgen, wie sie die beiden anderen Türen öffnete und seine Zwei-Zimmer-Wohnung inspizierte, offenbar ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ihr Tun nicht unbemerkt blieb.

Hannah hatte sich umgezogen. Sie trug einen langärmeligen Pyjama und dicke Socken. Sie glitt auf den freien Stuhl und atmete geräuschvoll den Duft des Kaffees ein. »Danke.« Wenigstens das klang ehrlich. Sie nippte an dem heißen Getränk, ließ sich mit einem Seufzer gegen die Rückenlehne sinken und schloss die Augen.

Oliver musterte sie erneut. Hannah. Seine Tochter. Noch immer kam es ihm wie ein kleines Wunder vor, dass sie von ihm abstammte, sein eigen Fleisch und Blut. Und dass sie hier bei ihm war, in seiner Küche. Etwas, das er sich in den vergangenen Jahren so sehr gewünscht hatte und das ihm jetzt nur Unbehagen und Furcht bereitete.

Sie öffnete die Augen und begegnete seinem Blick. »Sieht so aus, als würde ich auf deiner Couch schlafen. Du hast doch irgendwo noch eine Decke, oder?«

Soviel zu seiner dringlichsten Frage, wieso sie hier aufgetaucht war. Sie hatte offensichtlich nicht vor, noch heute Nacht über den Grund für ihr Kommen zu reden. Wahrscheinlich war das aber ohnehin die beste Lösung. Sie waren beide müde, erschöpft und durchgefroren. Keine guten Voraussetzungen für Gespräche in einer – und möglicherweise auchübereine – zerstörte Vater-Tochter-Beziehung.

Oliver beantwortete ihre Frage mit einem Nicken, obwohl er nicht sicher war, wohin er die Wolldecke bei seinem Einzug geräumt hatte. Sein Blick fiel auf Hannahs Rucksack, der im Flur auf dem Boden stand und etwas Schlagseite bekommen hatte. Es war ein großer Rucksack, wie man ihn für längere Bergtouren benutzte. »Wie lange willst du bleiben?«, fragte er mit absichtlich beiläufigem Tonfall. »Bis zum Wochenende?«

Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte ein schon fast diebisches Grinsen Hannahs Gesicht. Sie schien auf diese Frage gewartet zu haben, setzte aber sofort eine unbeteiligte Miene auf, als sie sich ihres Gesichtsausdrucks bewusst wurde. »Die Bahn sollte meine anderen Sachen eigentlich morgen Vormittag vorbeibringen.« Sie trank einen weiteren Schluck Kaffee, bevor sie hinzufügte: »Irgendwann muss ich trotzdem noch ein paar Kleinigkeiten bei meiner Mutter abholen, allerdings nichts Wichtiges.«

Oliver spürte, wie sich in seiner Magengrube ein unangenehmer Knoten bildete. Ihm schwante Übles. »Das beantwortet nicht meine Frage.«

Sie lehnte sich lässig auf dem Stuhl zurück. »Ich bin nicht zu Besuch hier, Dad. Ich ziehe hier ein.«

Beinahe wäre ihm seine Kaffeetasse aus den Fingern geglitten. Sekundenlang starrte er Hannah wortlos an, nicht sicher, ob er ihre letzten Worte richtig verstanden hatte. »Kannst du das bitte noch einmal wiederholen?«

2

Jennifer Leitner hatte in ihrem Leben schon viele Leichen gesehen, zu viele, wenn sie ehrlich war. Sie kannte den Tod in jeder erdenklichen Ausprägung, trotzdem gab es manchmal noch Überraschungen, wenn auch selten. Dieser Leichnam zählte definitiv dazu. Noch nie hatte sie beim ersten Blick auf eine Tote die Fundsituation als schaurig-schön empfunden.

Die Frau saß im Schaufenster einer Agentur, die sich auf Hochzeitsplanung spezialisiert hatte.

Auf ihrem Gesicht lag ein sehnsuchtsvolles, zugleich glücklich wirkendes Lächeln, das von ihrem leblosen Blick nur marginal beeinträchtigt wurde. Ihr braunes Haar war zu einer verspielten Frisur hochgesteckt, und ihr Make-up unterstrich den trügerischen Eindruck von Lebendigkeit. Sie hielt ein kunstvolles Bouquet aus weißen und roten Rosen in den Händen. Die Blumen waren ebenso wie der Schmuck perfekt auf das Kleid abgestimmt, ein Traum aus weißer und cremefarbener Seide, Brokat und Spitze.

Sie verkörperte die perfekte Braut. Allerdings eine tote Braut.

Im Vorbeischlendern hätte man die Frau leicht für eine Schaufensterpuppe halten können. Immerhin saß sie vollkommen reglos vor dunkelblauem Samt in einem Meer aus künstlichen roten Rosenblättern, von zwei schwebenden Herzen und einer weißen Taube mit goldenem Ring im Schnabel umrahmt.

Möglicherweise waren in den frühen Morgenstunden tatsächlich arglose Passanten vorbeigekommen und hatten sich an dem Anblick erfreut. Vielleicht wäre die grausige Wahrheit bis zum Eintreffen der Agenturinhaberin unentdeckt geblieben, wenn ein Bäckerlehrling auf seiner Liefertour nicht näher hingesehen und die Polizei angerufen hätte.

Der schlaksige Junge saß noch immer mit zwei Decken um die Schultern und einem Heißgetränk in den Händen im Fond des Krankenwagens, der zwei Häuser weiter parkte.Die beiden Sanitäter wirkten zunehmend gereizt, weil der unter Schock stehende Jugendliche partout nicht in die Klinik gebracht werden wollte. Stattdessen bestand er darauf, seine Tour zu beenden, obwohl die Taschen mit den Brötchen, die am Lenker seines Fahrrads hingen, längst vom eisigen Regen durchnässt worden waren. Dass eben dieses Vorhaben seinen behandlungswürdigen Zustand bewies, wollte er natürlich ebenfalls nicht einsehen.

Inzwischen war es halb acht. Jennifer verschränkte die Arme vor der Brust, doch die Kälte drang trotzdem durch ihre Daunenjacke. Noch einmal ließ sie ihren Blick durch die Fußgängerzone wandern, die zu beiden Seiten mit rot-weißem Flatterband abgesperrt war, um Schaulustige fernzuhalten. »Wie sieht es mit Videoüberwachung hier und in den umliegenden Straßen aus?«, fragte sie Thomas Kramer, der neben ihr stand.

Der Polizeiobermeister war mit seinem Partner als Erster am Fundort eingetroffen und koordinierte den Einsatz der uniformierten Kollegen vor Ort. »Fehlanzeige.«

»Irgendwelche Zeugen?«

»Bisher keine. Aber wir sind noch dran.«

Jennifer nickte. Es war an der Zeit, sich den Fundort und die Leiche ohne eine Fensterscheibe dazwischen anzusehen. Sie folgte Thomas Kramer durch einen Durchgang in den Hinterhof, der zur Warenanlieferung für die umliegenden Geschäfte genutzt wurde.

Die Fassade war auf dieser Seite weit weniger ansehnlich als vorne, und der Asphalt war an vielen Stellen nur notdürftig geflickt, sodass sich das Regenwasser in großen Pfützen gesammelt hatte. Schilder wiesen darauf hin, wo Geschäftsinhaber und Lieferanten parken durften. Der Hof war bis auf ein Polizeiauto jedoch leer.

Jennifer ließ ihren Blick schweifen. Sie konnte auch hier keine Kameras entdecken, und die hintere Einfahrt wurde von einem gut zwei Meter hohen Metalltor versperrt. »Ist das Tor nachts verschlossen?«, fragte sie.

Kramer zuckte die Schultern. »Das sollte es wohl sein, ist es aber nicht. Kein Hinweis auf gewaltsames Öffnen, es war also vermutlich auch schon heute Nacht offen. Die Spusi sollte es sich trotzdem nochmal ansehen.«

Jennifer trat an den geöffneten Kofferraum des Polizeiautos, das unter einem Vordach im Trockenen stand. Thomas Kramer und sein Kollege hatten alles Notwendige dabei, so dass sie nicht auf das Eintreffen der Spurensicherung warten musste. Sie zog ihre Jacke aus, schlüpfte in einen Schutzoverall und tauschte ihre Wollhandschuhe gegen die Latexausführung. Zuletzt zog sie noch Plastiküberzüge über ihre Schuhe.

So ausgerüstet, wandte sie sich dem Hintereingang der Agentur zu, der deutliche Einbruchsspuren aufwies. Die Tür war alt und aus nicht besonders robustem Holz gefertigt. Das Schloss schien neueren Datums zu sein, doch es war keine Schließeinrichtung, die einem Einbrecher große Probleme bereitet hätte. Das Holz war gesplittert, vermutlich war der Eindringling mit einem Stemmeisen zu Werke gegangen.

Da kein Licht brannte und der Flur im Dunkeln lag, schaltete Jennifer ihre Taschenlampe ein. Alle Türen standen offen, und sie bewegte sich langsam von Raum zu Raum, darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen.

Sie fand eine kleine, aufgeräumte Küche. Ein winziges, erst kürzlich saniertes Bad. Eine Abstellkammer, die mit Kekspackungen, Kaffee und Putzutensilien vollgestellt war. Und ein Büro, in das der mit Unterlagen und Ordnern übersäte Schreibtisch kaum hineinpasste.

Der vordere Empfangsraum mit dem Schaufenster zur Straße hin, das durch einen blauen Samtvorhang abgetrennt war, wirkte großzügig und war hell gestrichen, das Mobiliar elegant und modern. Es gab einen Schreibtisch mit zwei Stühlen davor, und vor dem Vorhang standen ein niedriger Tisch und zwei mit dunkelrotem Leder bezogene Sessel.

Es war ein gemütlicher, einladender Raum, der der Dienstleistung gerecht wurde, auf die sich die Agentur spezialisiert hatte.

An der Wand hinter dem Schreibtisch hingen zwei überdimensionale, ineinander verschlungene Eheringe, von aufgemalten Herzen mit Flügeln umrahmt. Die Fotos an den Wänden zeigten glückliche Hochzeitspaare, die vor verschiedenen Kulissen für die Kamera posierten.

Für Jennifers Geschmack war es ein bisschen viel an Dekoration, verliebte Paare mochten sich hier allerdings wie im siebten Himmel fühlen.

Alle Räume waren sauber und ordentlich aufgeräumt. Bis auf die aufgebrochene Tür gab es keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen.

Kein Blut, keine Unordnung, keine Schleifspuren, keine Anzeichen eines Kampfes. Es war unwahrscheinlich, dass die Frau hier gestorben war.

Das Einzige, was nicht an seinem Platz war, waren drei Statuen: ein Hochzeitspaar, das Jennifer bis über die Hüfte reichte, und zwei kleinere Büttenengel mit Harfe, Pfeil und Bogen. Von dem Bäckerlehrling, der seit vier Monaten jeden Morgen hier vorbeikam, wussten sie, dass die Statuen gestern noch im Schaufenster gestanden hatten.

Jennifer zog den Samtvorhang ein Stück zur Seite und betrat das Schaufenster. Sofort fühlte sie sich wie auf dem Präsentierteller, denn draußen standen noch immer Polizisten und die Sanitäter herum. Sie schaltete ihre Taschenlampe aus und näherte sich in dem beengten Raum der Toten.

Von Nahem sah sie nicht mehr ganz so schön aus. Ihre Haare waren nicht so makellos hochgesteckt, wie es von außen den Anschein gehabt hatte, und ihre braunen Augen waren bereits stark getrübt. Die Totenstarre hatte zwar eingesetzt, doch die Frau war eindeutig noch nicht lange tot.

Jennifer sah sofort den Draht, der benutzt worden war, um sie auf dem Stuhl in Position zu halten. Das Kleid saß beinahe perfekt, an einigen Stellen war allerdings mit Sicherheitsnadeln nachgeholfen worden. Der Draht und auch die Nadeln waren so angebracht, dass sie von Betrachtern, die vor dem Schaufenster standen, nicht gesehen werden konnten.

Jennifer konnte keine offensichtlichen Wunden entdecken, erkannte aber einige geplatzte Äderchen in den Augen. Möglicherweise war die Frau erstickt, und die dicke Schicht Puder und Schminke an ihrem Hals diente dazu, Strangulationsmarken zu überdecken.

Jennifer verließ das Schaufenster und sah noch einmal kurz in alle Räume, bevor sie wieder nach draußen ging und sich umzog. Ihre Daunenjacke hatte die Kälte inzwischen eingefangen, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten.

Als sie in die Fußgängerzone zurückkehrte, wäre sie beinahe mit Leander Meurer zusammengestoßen. Der Leichenbeschauer und Gerichtsmediziner von Lemanshain trug einen langen Mantel, und obwohl ihn sein breitkrempiger Hut vor dem Regen schützte, hatte er einen riesigen Schirm aufgespannt.

»Kommissarin Leitner, schön, Sie zu sehen.« Wie es seine Art war, begrüßte er sie per Handschlag. »Was haben wir?«

»Weibliche Tote um die dreißig, bisher nicht identifiziert. Ich vermute, dass sie erstickt ist oder erwürgt wurde, aber das können Sie besser beurteilen als ich.« Jennifer schätzte den auch international außerordentlich gut vernetzten Professor für seine ruhige, professionelle Art und sein überaus großes Fachwissen. »Sie ist nicht hier gestorben.«

Er nickte, als ob er davon bereits ausgegangen wäre. »In spätestens zwei Stunden kann ich sie auf dem Tisch haben.« Mit diesen Worten machte er sich auch schon auf den Weg in Richtung Hinterhof.

Jennifer drehte sich um und entdeckte ihren Chef Peter Möhring vor dem Obst- und Gemüseladen auf halber Strecke zwischen Agentur und Polizeiabsperrung. Als sich ihre Blicke trafen, winkte der Leiter der Einsatzabteilung sie zu sich heran.

Lemanshain verfügte trotz seiner überschaubaren Größe über eigene Strafverfolgungsbehörden. Die Dienstwege waren also kurz, weshalb Peter Möhring die Leitung der Kriminal- sowie der Schutzpolizei oblag.

Dass er persönlich am Fundort aufgetaucht war, konnte nichts Gutes bedeuten. Und dass er sie sofort an eine Stelle lotste, wo sie ungestört miteinander reden konnten, verhieß möglicherweise ein besonders unangenehmes Gespräch. Sein Blick sprach für sich. Sie hoffte, dass es lediglich um den Fall und nicht um ein weitaus brisanteres Thema ging.

Als sie zu ihm trat, ließ er ihr nicht einmal die Gelegenheit für eine Begrüßung. »Womit haben wir es zu tun?«

»Weibliche Leiche, um die dreißig, bisher nicht identifiziert. Ohne das Ergebnis der Obduktion vorwegnehmen zu wollen: Wir haben es ziemlich sicher mit Mord zu tun.«

»Scheiße.« Möhring benutzte nur äußerst selten Kraftausdrücke. Dass er es nun tat, war ein Zeichen dafür, wie angespannt er war. Dann fragte er unvermittelt: »Wie lange werden Sie hier noch brauchen?«

Er meinte nicht sie im Speziellen. »Keine Ahnung. Wir sind noch ganz am Anfang. Der Notruf kam erst vor gut zwei Stunden rein. Das wird noch eine Weile dauern.«

»Eine Weile ist zu lange.«

Jennifer sah ihn fragend an.

»Der Bürgermeister persönlich hat den Direktor angerufen«, erklärte Möhring. »Er duldet eine Sperrung der Fußgängerzone bis in die Geschäftszeiten hinein nicht und drängt auf baldmöglichste Freigabe.«

Ein Blick auf die Uhr offenbarte Jennifer, dass es inzwischen fast halb neun war. Die Geschäfte öffneten normalerweise um neun. Sie warf ihrem Vorgesetzten einen vielsagenden Blick zu. Er hatte Druck von oben bekommen und gab ihn ungeniert weiter. »Wir können unsere Arbeit nicht machen, wenn wir die Fußgängerzone freigeben.«

»Das weiß ich«, entgegnete Möhring mit einem Schulterzucken, das sie als Entschuldigung wertete. »Ich bin nur hier, um Ihnen begreiflich zu machen, dass Sie nicht herumtrödeln sollen.« Er stieß ein resigniertes Seufzen aus. »Ich habe zugesichert, Sie darauf hinzuweisen.«

»Danke«, erwiderte Jennifer trocken. Sie atmete tief durch und gab sich selbst ein paar Sekunden, um nicht zu ungehalten auf die Forderung der Stadtverwaltung zu reagieren. In dem Moment tauchte Jarik Fröhlich vor der Hochzeitsagentur auf und begann, mit seiner digitalen Spiegelreflexkamera Bilder von der Agentur und der Umgebung zu machen. Die Kriminaltechniker hatten offensichtlich die hintere Zufahrt genommen. »Die Botschaft ist angekommen. Ich bin mir sicher, die Kollegen werden es mir nachsehen, wenn ich diesen gut gemeinten Rat nicht weitergebe.«

Jennifer konnte sehen, dass Möhring ihr Tonfall nicht gefiel. Er hasste es genauso wie sie, sich die trivialen Klagen der Politiker anhören und sich noch dazu bei ihnen anbiedern zu müssen, doch im Gegensatz zu ihr war er in seiner Position bis zu einem gewissen Grad dazu verpflichtet.

Jennifer beneidete ihn nicht darum, bewunderte aber seine Fähigkeit, diesen Spagat täglich hinzulegen. Normalerweise scheute er auch nicht davor zurück, sich für seine Leute einzusetzen. Immerhin war er es gewesen, der sie vehement verteidigt hatte, als Bürgermeister und Stadtrat sie vor nicht einmal einem halben Jahr am liebsten sonst wohin versetzt hätten, weil sie für ihren Geschmack ein paar Mal zu oft auf einen Serienkiller geschossen hatte. Letztlich war sie mit einer vierwöchigen Suspendierung und zehn Sitzungen beim Polizeipsychologen davongekommen.

Jennifer verbiss sich deshalb jede weitere Bemerkung zu dem Thema. »Die Spurensicherung ist eben eingetroffen, und ich gehe davon aus, dass Professor Meurer die Leiche bald für den Abtransport freigeben wird. Allerdings wird das nicht passieren, bevor der zuständige Staatsanwalt hier ist und sich den Fundort angesehen hat.«

»Grohmann bekommt den Fall?«, fragte Möhring.

Obwohl die Frage rhetorischer Natur war, beantwortete Jennifer sie. Wenn es einen Staatsanwalt gab, der sich nicht auf Fotos verließ, sondern sich jeden Fund- oder Tatort persönlich ansah, dann war es Oliver Grohmann. »Ja. Er ist mit Sicherheit schon auf dem Weg hierher.«

Ihr Vorgesetzter nickte. Eigentlich hätte er jetzt gehen können, doch das Schaufenster der Hochzeitsagentur schien ihn magisch anzuziehen. Er schlenderte darauf zu, während er fragte: »Wer hat sie gefunden?«

»Ein Bäckerlehrling, der in aller Frühe Brötchen ausliefert.« Der Krankenwagen war inzwischen verschwunden, das Fahrrad mit den durchweichten Taschen lehnte jedoch noch immer an der Mauer einer Änderungsschneiderei. Der Junge hatte sich also doch noch von den Sanitätern überzeugen lassen. »Er kam mit seinem Fahrrad hier durch und hat die 110 angerufen.«

»Ein Fahrrad? Bei dem Wetter?«

Jennifer warf einen vielsagenden Blick auf Möhrings aufgespannten Regenschirm. Sie selbst spürte den eisigen Regen kaum noch, ihre Wangen waren längst taub. »Er ist nicht zu beneiden.«

Sie erreichten das Schaufenster, in dem Leander Meurer und sein Assistent bei der Toten knieten. Peter Möhring blieb wie angewurzelt stehen und starrte die Frau mehrere Sekunden lang an. »Haben Sie sie schon identifiziert?«

»Nein, wie ich schon sagte, aber das steht als Erstes auf meiner Liste. Sie hat keinerlei Ausweispapiere dabei, was bei der Aufmachung aber auch kein Wunder ist.«

»Ich glaube, ich kenne sie.« Möhring trat noch etwas näher an das Schaufenster heran. »Ja, doch, das ist sie.«

Jennifer rieb sich die Nässe aus den Augen. »Wer?«

»An ihren Namen kann ich mich nicht erinnern, aber ich habe ihr Gesicht vor einiger Zeit in der Lokalpresse gesehen. Ihre bevorstehende Hochzeit wurde mit ganzseitigen Anzeigen öffentlich inszeniert.« Er warf Jennifer einen Seitenblick zu. »Schauen Sie denn nie in den gesellschaftlichen Teil Ihrer Tageszeitung?«

Jennifer hatte nicht einmal eine Tageszeitung abonniert und selbst wenn, wäre sie wohl kaum dazu gekommen, den Gesellschaftsteil zu lesen. Das galt wohl für die meisten Beamten vor Ort, denn bisher hatte niemand die Tote erkannt. »Ist sie irgendeine Berühmtheit?«

Möhring schüttelte den Kopf. »Alles private Anzeigen, deshalb erinnere ich mich wohl daran. Geld spielte jedenfalls keine Rolle. Sie sollten einen Blick ins Zeitungsarchiv werfen oder das Standesamt bemühen.«

Er schlug ihr nicht vor, direkt bei der Lokalzeitung anzurufen. Erfahrungsgemäß hätten sie keine Informationen bekommen, ohne selbst irgendetwas Druckbares zu liefern.

»Vielleicht war sie sogar Kundin dieser Agentur«, mutmaßte die Kommissarin.

»Haben Sie die Geschäftsführerin bereits ausfindig gemacht?«

»Ja, und wir wissen auch, dass das da drinnen weder sie noch ihre Angestellte ist.« Anhand der Fotos auf der Homepage der Agentur hatten sie die beiden Frauen als Opfer eindeutig ausschließen können. »Ich habe Freya damit beauftragt, sie anzurufen und aufs Präsidium zu bitten.«

Möhring nickte zufrieden. »Die Frauen sollten sich unbedingt auch noch die Geschäftsräume ansehen, wenn die Leiche abtransportiert wurde und die Spurensicherung fertig ist. Wenn irgendetwas fehlt oder verändert wurde, können sie das naturgemäß am besten beurteilen.«

Eigentlich war es nicht Peter Möhrings Art, seinen Leuten zu sagen, wie sie ihre Arbeit machen sollten. Dass er es an diesem Morgen dennoch tat, war wahrscheinlich auch dem Anruf des Polizeidirektors geschuldet. Er wollte wahrheitsgetreu sagen können, sich persönlich um den Fall gekümmert zu haben.

Jennifer sah zu der Toten hinüber, die noch immer auf dem Stuhl saß, inzwischen aber an Schönheit eingebüßt hatte. Der Rechtsmediziner und sein Assistent waren verschwunden und bereiteten vermutlich gerade den Transport in die Rechtsmedizin vor. »Wenn sie erst vor kurzem geheiratet hat, sollten wir wohl als Erstes ihren Ehemann befragen.«

»Sie gehen von einem Beziehungsverbrechen aus?«, hakte der Leiter der Einsatzabteilung nach.

Die Kommissarin zuckte die Schultern. Um sich festzulegen, war es eindeutig noch zu früh. »Heute ist Valentinstag, und sie liegt als perfekte Braut im Schaufenster einer Hochzeitsagentur … Es deutet zumindest vieles in diese Richtung.«

»Ein ehemaliger Geliebter?«, schlug Möhring vor.

Wieder zuckte sie die Schultern. Einige Sekunden lang herrschte betretenes Schweigen. Jennifer ließ ihren Blick durch die Fußgängerzone schweifen und entdeckte jenseits der Absperrung einen altersschwachen Ford, der ihr nicht unbekannt war. Direkt dahinter fuhr der Leichenwagen.

»Da kommt Grohmann.« Jennifer war froh, dass sie die Unterredung mit ihrem Chef beenden konnte, die bisher noch nicht den befürchteten Ausgang genommen hatte. »Ich werde sehen, ob wir die Fußgängerzone bis zum frühen Mittag freigeben können.« Sie nickte ihm zu und wandte sich ab.

Doch noch bevor sich Erleichterung in ihr ausbreiten konnte, rief ihr Möhring hinterher: »Wo ist eigentlich KOK Meyer?«

Jennifer blieb stehen und biss die Zähne aufeinander. Sie würde ihrem Chef nichts vormachen können, versuchen musste sie es aber trotzdem. Mit möglichst neutralem Gesichtsausdruck drehte sie sich zu ihm um. »Ich habe ihn aufs Revier geschickt. Er fühlte sich nicht gut. Anscheinend die Grippe.«

Als sie sich wieder abwenden wollte, hielt Möhring sie erneut auf. »Leitner?«

Oliver Grohmann, der zunächst auf sie zu gesteuert war, erkannte offenbar, dass er ungelegen kam, beließ es bei einem knappen Nicken und wandte sich in Richtung Durchgang. Thomas Kramer würde die Aufgabe übernehmen müssen, ihn einzuweisen.

Peter Möhring fasste die Kommissarin scharf ins Auge. »Eine Grippe oderdieseArt von Grippe?«

Jennifer wusste sofort, was er meinte. Möhring hatte vor gut drei Monaten von Marcel Meyers Alkoholproblemen erfahren und war verständlicherweise alles andere als begeistert.

Die Kommissarin stieß ein Seufzen aus. »Er hatte einen Rückfall«, gab sie zu. »Seine Frau …«

»Das interessiert mich nicht«, unterbrach ihr Chef sie schroff. »Das war seine letzte Chance, und das wissen Sie, Leitner. Mir reicht’s.«

Möhring hatte gegenüber ihrem Partner in den letzten Monaten erstaunlich viel Geduld bewiesen. Zuerst war Marcels Ehe in die Brüche gegangen, dann hatte sein Leben zu bröckeln begonnen, und schließlich hatte er zur Flasche gegriffen. Jennifer konnte verstehen, dass ihr Vorgesetzter inzwischen genug hatte, ihr erging es oft ähnlich, doch sie konnte trotzdem nicht zulassen, dass er ihren Kollegen suspendierte.

»Er hat einen Therapieplatz«, sagte sie schnell, bevor Möhring sich umdrehen und sie stehenlassen konnte. »Er kann in drei bis vier Wochen auf Entzug.«

»Tatsächlich?« Möhrings Tonfall machte deutlich, dass er, nicht ganz unberechtigt, Zweifel hatte. Marcel Meyer hatte sich zu lange gegen eine professionelle Therapie gewehrt.

Es gab eine Menge, was Jennifer zu Marcels Unterstützung hätte anführen können, doch es war weder die passende Zeit noch der richtige Ort für eine großangelegte Verteidigungsrede. Deshalb nickte sie nur bestätigend.

Zu ihrer Überraschung nahm sich Möhring tatsächlich ein paar Sekunden, um seine Entscheidung zu überdenken.

»Na schön«, sagte er schließlich. »Aber ich will ihn bis dahin nicht mehr im Dienst sehen. Und falls er den Entzug nicht schaffen sollte, kann er direkt seine Sachen packen. Richten Sie ihm das aus.«

Jennifer versuchte, sich ihre Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. »Mache ich.«

Oliver Grohmann erschien im Durchgang zum Hinterhof und blieb im überdachten Bereich stehen, um auf die Kommissarin zu warten, was auch Möhring nicht entging. »Wenn Sie bei diesem Fall Hilfe brauchen, ziehen Sie Mironowa und Herzig hinzu«, wies er Jennifer knapp an und wandte sich zum Gehen.

Katia Mironowa und Frank Herzig bildeten das zweite Ermittlerteam der Kripo und waren für Vermögens- und Drogendelikte zuständig. Die erfahrene Kommissarin mit ukrainischen Wurzeln und ihr junger Partner waren zuverlässige Kollegen, und eine willkommene Unterstützung.

Während Möhring in Richtung Absperrung strebte, trat Jennifer zu Oliver Grohmann. Sie war froh, endlich aus dem Regen herauszukommen, auch wenn das ohnehin nicht mehr viel half. Sobald sie ins Präsidium zurückkehrte, würde sie als Erstes duschen und sich umziehen müssen. »Morgen«, begrüßte sie den Staatsanwalt, ohne sich an einem Lächeln zu versuchen. »Schöne Bescherung.«

Grohmann hatte sich den Fundort inzwischen angesehen und sowohl mit dem Team der Spurensicherung, als auch mit Thomas Kramer und Leander Meurer gesprochen. Sie hatten denselben Informationsstand. »Nicht unbedingt das, was man an so einem Ort erwarten würde.«

Er blickte sich nach der Stelle um, an der sie zuvor mit Peter Möhring gestanden hatte. »Eure Unterredung sah alles andere als freundlich aus.«

Er hatte ein Gespür für die falschen Fragen zum richtigen Zeitpunkt, oder umgekehrt. Jennifer verzog das Gesicht. »War sie auch nicht.«

»Worum ging’s denn?«

»Das willst du überhaupt nicht wissen.«

Oliver brauchte sich nicht umzusehen. Er wusste längst, wer fehlte. Er fragte nur: »Marcel?«

Sie nickte. »Marcel.«

Der Staatsanwalt war einer der wenigen, die über Marcel Meyers Alkoholproblem informiert waren. Er hatte seine eigene Meinung dazu, vor allem zu Jennifers unerschütterlicher Loyalität ihrem Partner gegenüber. Es war allerdings nicht der richtige Moment, sie ihr zum wiederholten Male mitzuteilen.

»Wissen wir schon, wer die Tote ist?«, fragte er stattdessen.

»Nein, aber Möhring hat eine Vermutung geäußert. Er meint, ihre Hochzeit sei vor kurzem in der Lokalpresse zelebriert worden. Ich setze Freya darauf an. Je früher wir wissen, wer sie ist, desto eher können wir mit ihrem Umfeld sprechen.«

»Irgendein Hinweis auf den Tatort?«

Jennifer schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht hier.« Sie warf einen Blick auf das Display ihres Smartphones. Während sie mit Möhring gesprochen hatte, hatte Freya Olsson, die Sekretärin und Assistentin der Kriminalpolizei, versucht, sie zu erreichen. Sie hatte ihr außerdem eine SMS geschickt. »Die Inhaberin der Agentur und ihre Angestellte sind auf dem Weg ins Präsidium.«

Oliver nickte. »Wir treffen uns dort.«

»Zuerst wirst du wohl deine Verabredung irgendwo absetzen müssen«, bemerkte Jennifer, während er sich bereits abwandte. Die junge Frau auf dem Beifahrersitz war ihr nur deshalb aufgefallen, weil Grohmann den Motor angelassen hatte, damit die Heizung weiterlief. »Ein kleines bisschen zu jung für dich, oder? Eine international tätige Wirtschaftsanwältin hätte ich mir schon ein wenig älter vorgestellt.«

Natürlich wusste sie, dass der Teenager in seinem Ford keinesfalls sein Rendezvous vom Abend zuvor war. Dass er kein Wort über die Unbekannte verloren hatte, bestätigte allerdings ihre Vermutung, dass sie der Grund für die dunklen Schatten unter seinen Augen war. Er hatte eine lange Nacht gehabt, befriedigend war sie jedoch nicht gewesen.

Oliver seufzte. »Ich bin wirklich nicht zu Scherzen aufgelegt.«

»Okay. Aber wer ist sie?«

»Meine Tochter.«

»Deine Tochter?« Jennifer war ehrlich überrascht. »Hannah?«

Normalerweise hätte er ihr einen verärgerten Blick zugeworfen, doch er war viel zu erschöpft für eine allzu ausgefeilte Mimik. »Ich habe nur eine.«

»Was macht sie hier?«

Wenigstens war er nicht der Einzige, der sich diese Frage als Allererstes stellte. »Lange Geschichte. Wenn es nach mir ginge, säße sie ohnehin längst wieder im Zug nach Kassel.«

Jennifer spürte, dass es ein heikles Thema war, doch ihre Neugier war zu groß. »Ich dachte, sie redet seit Jahren nicht mehr mit dir?«

»Meine Ex-Frau hat seit zwei Monaten einen neuen Freund, der einige Jahre jünger ist als sie. Hannah kann ihn nicht ausstehen, was offenbar Grund genug ist, um den Entschluss zu fassen, bei mir einzuziehen.«

Jennifer blieb buchstäblich der Mund offen stehen. »Wow … Sie scheint immerhin zu wissen, was sie will.« Ganz im Gegensatz zu Oliver. Seine Zerrissenheit war ihm deutlich anzumerken, doch das sprach sie nicht aus.

»Ich hoffe es.«

Der Leichenwagen war vorgefahren und hielt jetzt vor dem Durchgang. Die Ermittler machten Platz, als zwei Beamte mit einer Trage, auf der eine zusammengefaltete Plane lag, an ihnen vorbeigingen.

Der Staatsanwalt nutzte die kurze Unterbrechung, um weiteren Fragen Jennifers zuvorzukommen. »So wie ich das sehe, brauchst du mal wieder einen Ersatzpartner, oder?«

»Könnte sein.«

»Was sagt dein Chef dazu?«, fragte Oliver.

»Er mag dich.« Jennifer versuchte es mit einem leichten Grinsen.

Zum ersten Mal an diesem Morgen hellte sich Olivers Gesicht ein wenig auf. »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ich werde Hannah in ein Taxi setzen und zurück zu meiner Wohnung schicken. Wir haben viel zu tun.«

3

Als Jennifer im Präsidium eintraf, telefonierte sie zuerst mit dem Leiter der Spurensicherung und ließ sich anschließend von Freya Olsson auf den neuesten Stand bringen, bevor sie unter die Dusche sprang.

Als sie endlich wieder in trockener Kleidung steckte, fühlte sie sich schon fast wie neugeboren. Sie hoffte nur, dass ihre Daunenjacke, die sie über die Heizung gelegt hatte, einigermaßen trocken sein würde, wenn sie wieder los musste. Sie hätte sie vor Winterbeginn neu imprägnieren sollen.

Auf dem Flur begegnete sie dem Staatsanwalt, der offensichtlich gerade erst eingetroffen war. Der Kragen seines Hemdes war vollkommen durchnässt, und er bedachte ihren trockenen Pullover mit einem neidischen Blick.

»Doppelter Espresso?«, fragte sie und deutete auf den Kaffeebecher in seiner Hand.

Oliver hielt drei Finger der freien Hand hoch. »Dreifach. Wo stehen wir?«

»Möhring hatte recht, sodass wir jetzt immerhin den mutmaßlichen Namen unseres Opfers kennen: Larissa Schröder. Freya stellt die Anzeigen zusammen und versucht, den Ehemann oder die Eltern zu erreichen. Meurer wartet mit der Obduktion auf uns. Ich hoffe, wir können sie eindeutig identifizieren lassen, bevor er sie aufschneidet.«

Oliver hielt Jennifer die Tür zu dem Trakt auf, in dem ihr Büro lag. Der winzige Empfangsbereich, in dem Freya Olssons Schreibtisch stand, war verlassen, doch sie hörten den Kopierer am Ende des Flurs.

Jennifer bog in die andere Richtung ab und fuhr fort: »Jarik und seine Leute nehmen die Agentur auseinander. Es gibt sehr viele Spuren, die aber vermutlich alle nichts mit unserem Fall zu tun haben, und selbst wenn, schwierig zuzuordnen sein dürften. Er wollte mir so bald wie möglich Fotos schicken.« Diese konnten sie für die Vernehmung der Inhaberin und ihrer Angestellten gut gebrauchen.

Sie betraten das Büro, dass sich Jennifer mit ihrem Partner teilte. Marcel Meyer saß leicht vornübergebeugt an seinem Schreibtisch und schreckte erst hoch, als sich Jennifer ihm gegenüber in ihren Stuhl fallen ließ.

Oliver hatte den Kommissar das letzte Mal vor zwei Wochen gesehen, und der offensichtliche Verfall war erschreckend. Die dunkelbraunen Augen lagen tief in den Höhlen, und seine Haut wirkte wächsern und aufgedunsen. Er hatte augenscheinlich Schwierigkeiten, überhaupt wach zu bleiben.

Jennifer schaltete ihren Computer ein, bevor sie ihren Kollegen ansah. »Geh nach Hause«, sagte sie entschieden. »Schlaf dich aus. Dann geh zum Arzt und besorg dir für die nächsten Wochen einen gelben Schein.«

Marcel Meyer öffnete den Mund, doch Jennifer kam seinem Protest zuvor. »Keine Diskussion. Du gehst. Jetzt. Sofort.«

Zwei Sekunden lang starrte er sie nur über die beiden Tische hinweg an. Dann stand er auf, nahm seine Jacke, die er über den Stuhl gehängt hatte, und verließ den Raum.

Jennifer konzentrierte sich auf den Bildschirm und vermied es, Oliver Grohmann anzusehen, der sich einen Stuhl heranzog und sich neben sie setzte.

Ihr Rechner brauchte mal wieder eine kleine Ewigkeit zum Hochfahren. Bevor die Stille richtig unangenehm werden konnte, begrüßte sie glücklicherweise die Aufforderung zum Einloggen.

Jarik Fröhlich hatte Wort gehalten und ihr einige Fotos vom Fundort geschickt, inklusive einer guten Aufnahme vom Gesicht der Toten. Sie schickte es an den Fotodrucker, der surrend mit der Arbeit begann, dann jeweils noch eines von der aufgebrochenen Tür, dem Stuhl, auf dem die Tote gesessen hatte, und den vermutlich vom Täter bewegten Skulpturen.

»Wurde Larissa Schröder eigentlich als vermisst gemeldet?«, fragte Oliver.

»Nein, deshalb ist die bisherige Identifizierung auch mit Vorsicht zu genießen. Es gibt aber auch sonst keine Vermisstenanzeige, die zu unserer Toten passen würde.«

Freya Olsson tauchte im Türrahmen auf. »Wusste ich doch, dass ich die Tür gehört habe.« Das Sicherheitssystem, das eigentlich eine Chipkarte zum Betreten des Flügels erforderte, war schon vor Monaten ausgefallen. Wenn die Sekretärin nicht an ihrem Platz war, konnte theoretisch jeder ein- und ausgehen, der den Sicherheitscheck am Gebäudeeingang passiert hatte.

Freya trug einen kleinen Papierstapel auf dem Arm, den sie jetzt neben Jennifer auf die Schreibtischplatte legte. »Das sind alle Verlobungs- und Hochzeitsanzeigen der Schröders, die ich gefunden habe. Die müssen ein kleines Vermögen gekostet haben. Wisst ihr, wie teuer es ist, eine ganze Seite im Hanauer Anzeiger zu buchen, noch dazu in Farbe?«

Jennifer und Oliver schüttelten gleichzeitig den Kopf.

Freya Olsson arbeitete hauptsächlich für die beiden Ermittlerteams der Kriminalpolizei. Sie unterstützte die Kommissare tatkräftig bei deren Arbeit, sorgte aber auch dafür, dass sie ihren Schreibkram pünktlich erledigten.

Freya war klein und zierlich und verströmte immer eine unglaubliche Energie. Sie war schwedischer Herkunft, und obwohl sie ansonsten perfekt und akzentfrei deutsch sprach, hatte sie die Art der Schweden übernommen, alle in ihrem Umfeld zu duzen.

Jennifer nahm den obersten Ausdruck zur Hand. Es war eine Verlobungsanzeige in Farbe, mit einem Foto des glücklichen Paares. Die beiden lächelten übertrieben in die Kamera und hatten ihre Hände mit den Verlobungsringen ineinander verschränkt. Larissa Tröbst und Sascha Schröder. Sie hatten sich am 19. August des Vorjahres verlobt.

Jennifer hielt den Ausdruck neben den Bildschirm, nachdem sie ein Foto der Toten geladen hatte.

»Sieht nach unserem Opfer aus«, bemerkte der Staatsanwalt.

Daran konnte tatsächlich kaum ein Zweifel bestehen, auch wenn der Tod die Frau trotz allen Make-ups sichtlich gezeichnet hatte. Am Tag ihrer Verlobung wirkte sie rosig und strahlend, eine natürliche Schönheit, auf deren Gesicht jegliche Schminke überladen gewirkt hätte. Trotzdem war leicht zu erkennen, dass es sich um ein- und dieselbe Frau handeln musste, allenfalls kam noch eine Schwester oder eine Doppelgängerin in Frage.

Das reichte allerdings noch nicht für eine sichere Identifizierung. Erst wenn ein naher Angehöriger oder sehr guter Bekannter die Identität der Frau bestätigt hatte, würde der Ermittlungsrichter die Identifikation anerkennen.

»Bald werden wir es mit Sicherheit wissen«, warf Freya ein. »Ich habe Sascha Schröder ausfindig gemacht. Er arbeitet in einem Bankhaus in Frankfurt, und eine Streife ist auf dem Weg zu ihm. Wegen der Identifizierung habe ich darum gebeten, ihn direkt in die Klinik zu bringen. Falls er vor euch eintrifft, sagt Professor Meurers Assistent mir Bescheid.«

Jennifer hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Sascha Schröder in Kürze durchmachen würde. Er würde erfahren, dass er eine Leiche identifizieren sollte, die die Polizei für seine Frau hielt. Zuerst würde er versuchen, sie zu erreichen, dann würde er darauf beharren, dass sich die Beamten irrten. Er würde sich vorstellen, wie er auf eine Tote hinabblickte, die eine völlig Fremde für ihn war, und sich den Augenblick der Erleichterung in allen Farben ausmalen.

Es kam nur leider selten vor, dass sich die Polizei irrte. Sie baten niemanden um die Identifizierung eines Toten, wenn sie sich nicht so gut wie sicher waren. Jennifer hatte nur ein einziges Mal erlebt, dass sich eine vermutete Identität nicht bestätigt hatte, und damals hatten sie anstelle des mutmaßlichen Opfers seinen Zwillingsbruder auf dem Tisch gehabt.

Den ganzen Weg über würde der Ehemann abwechselnd versuchen, seine Frau anzurufen, und den Beamten, die ihn fuhren, mehr Informationen zu entlocken. Mit jeder Minute, in der Larissa für ihn unerreichbar war, würde seine Selbstsicherheit weiter zerbröckeln, bis schließlich nur noch kalte Angst übrig blieb.

Die Fahrt von Frankfurt nach Lemanshain dauerte normalerweise mindestens eine Stunde. Sascha Schröder hatte also genügend Zeit, sich alle möglichen Szenarien auszumalen. Wenn sie Pech hatten, war er bei seiner Ankunft mit den Nerven bereits so am Ende, dass sie nicht mehr aus ihm herausbekommen würden, als dass das Opfer auf dem Tisch der Rechtsmedizin tatsächlich seine Frau war.

Jennifer warf dem Staatsanwalt einen Seitenblick zu. »Wir sollten alle notwendigen Beschlüsse bereit haben, wenn er uns ihre Identität bestätigt. Vielleicht hat er die Nacht nicht zu Hause verbracht, und sie wurde dort ermordet. Außerdem können wir nicht ausschließen, dass er in den Kreis der Verdächtigen gerät.«

Oliver nickte. Er wusste, welche richterlichen Beschlüsse sie aller Voraussicht nach brauchen würden, um sich schnellstmöglich den Zugriff auf wertvolle Informationen zu sichern oder den Zutritt zu betroffenen Orten zu verschaffen. Während Jennifer durch die von Jarik Fröhlich geschossenen Fotos scrollte, hörte sie, wie Grohmann an ihrem Telefon eine ganze Reihe von Beschlüssen herunterrasselte, die eine Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft vorbereiten sollte.

Als er auflegte, sagte er: »Im Zweifelsfall fehlt dann nur noch meine Unterschrift.«

»Und die des Richters«, gab Jennifer zu bedenken.

»Den habe ich bereits auf dem Weg hierher vorgewarnt.«

»Sehr schön. Bis Sascha Schröder bei Meurer eintrifft, haben wir noch genügend Zeit, um uns mit der Inhaberin der Agentur und ihrer Angestellten zu unterhalten.« Jennifer ging davon aus, dass die Frauen inzwischen eingetroffen waren. Sie sah Freya fragend an. »Wo hast du die beiden untergebracht?«

»Im Besucherraum.« Die Assistentin grinste, denn die Bezeichnung war ein interner Witz. Im Grunde handelte es sich um einen wenig einladenden Verhörraum, bei dem jeder Versuch gescheitert war, ihn für die Befragung von Opfern, Zeugen und Angehörigen angenehmer zu gestalten.

Ungefragt lieferte Freya alle Informationen, die sie über die beiden Frauen hatte sammeln können: »Doris Kilian, einundfünfzig, wohnhaft in Bad Orb, verwitwet, zwei erwachsene Kinder. Sie hat die Agentur vor neun Jahren gegründet. Ihre Angestellte heißt Nuran Sahin, ist dreiunddreißig und arbeitet seit drei Jahren für Kilian. Frau Sahin ist verheiratet, hat vier Kinder und wohnt in Hanau. Gegen keine von beiden liegt irgendetwas vor. Sie sind sauber.«

Etwas anderes hatten Jennifer und Oliver auch nicht erwartet. Auf ihrer Liste der möglichen Verdächtigen standen die beiden Frauen jedenfalls nicht.

Freya fuhr fort: »Über die Agentur habe ich nichts Interessantes gefunden, ein Geschäft mit Zahlen im grünen Bereich. Im Allgemeinen ist die Planung von Hochzeiten ein kaum umkämpfter Geschäftszweig. Wenige, dafür aber zahlungskräftige Kunden, die sich zumindest hier in der Region recht gleichmäßig auf die Anbieter zu verteilen scheinen.«

»Steht die Agentur irgendwie im Zusammenhang mit unserem Opfer und seiner Hochzeit?«

»Ich habe keine Verbindung gefunden.«

Jennifer war zufrieden. »Gute Arbeit. Wenn sich irgendetwas Neues ergibt, weißt du, wo du mich findest. Kümmere dich bitte in der Zwischenzeit darum, alle Infos zusammenzutragen, die du über unser Opfer, ihren Ehemann und ihre Familie bekommen kannst.«

Freya nickte.

»Und schick eine Streife zur Adresse der Schröders. Falls die Kollegen niemanden antreffen, sollen sie dafür sorgen, dass keiner das Haus betritt. Ich will nicht, dass ein möglicher Tatort kontaminiert wird.«

»Wird erledigt.«

Jennifer nahm die ausgedruckten Fotos und einen leeren Spiralblock, dann machte sie sich, gefolgt von Grohmann, zu dem so genannten Besucherraum auf.

Die beiden Frauen saßen nebeneinander und blickten auf, als der Staatsanwalt und die Kommissarin eintraten. Jennifer musterte sie unauffällig, während sie sich setzte und vorgab, ihre Unterlagen zu sortieren. Doris Kilian war eine hagere Frau, die in ihrem dunkelblauen Kostüm einen souveränen Eindruck machte, obwohl sie ziemlich angespannt zu sein schien.

Nuran Sahin verblasste fast neben ihrer geschminkten und mit teurem Goldschmuck behängten Chefin. Sie trug ein ordentliches, hochgeschlossenes Kostüm, keinerlei Make-up oder Schmuck und wirkte nicht nur dank ihrer großen, dunkelbraunen Augen wie ein scheues Reh im Scheinwerferlicht.

Zufrieden registrierte Jennifer, dass die Fingerkuppen beider Frauen geschwärzt waren. Freya hatte dafür gesorgt, dass sie während ihrer Wartezeit erkennungsdienstlich behandelt worden waren. Jarik und sein Team würden ihre Fingerabdrücke zum Abgleich mit den Abdrücken brauchen, die sie in der Hochzeitsagentur fanden.

Jennifer übernahm wie gewöhnlich die Vorstellung, obwohl die Gesprächseröffnung bei Befragungen gewöhnlich dem Staatsanwalt vorbehalten war. Oliver gab aber glücklicherweise nichts auf derartige Regeln und überließ ihr ohnehin meist die Führung.

Sie kam sofort zum Thema: »Ich gehe davon aus, dass Frau Olsson Sie über den Grund Ihrer Vorladung informiert hat?«

Doris Kilian nickte, während Nuran Sahin die Lippen so fest aufeinander presste, dass sie jegliche Farbe verloren. »Sie haben eine Tote in meinen Geschäftsräumen gefunden.«

»Das stimmt. Um genauer zu sein, in Ihrem Schaufenster. Sie trug ein Hochzeitskleid und wurde mehr oder weniger ausgestellt.«

»Das ist ja furchtbar.« Trotz des Make-ups war deutlich zu sehen, dass Doris Kilian erbleichte. Sie fragte nicht, ob die Frau getötet worden war. Die Fundsituation war selbst für Laien aufschlussreich genug. »Wer tut so etwas? Und warum?«

»Das wollen wir herausfinden.« Jennifer hasste diesen Standardsatz, kam meist aber nicht ohne ihn aus. »Wir hoffen, dass Sie uns dabei helfen können. Ich möchte Sie bitten, sich ein paar Fotos anzusehen und uns zu sagen, ob Ihnen irgendeine Veränderung in Ihren Geschäftsräumen auffällt.«

Die Inhaberin nickte. »Selbstverständlich.«

»Allerdings würde ich gerne mit einem Foto des Opfers beginnen.« Jennifer zog das Bild hervor, das sie zuvor ausgedruckt hatte. Sie schob es den beiden Frauen über den Tisch zu, ohne zu fragen, ob sie bereit waren, es sich anzusehen.

Wie Jennifer nicht anders erwartet hatte, schrak Nuran Sahin vor dem Foto zurück und wandte sofort den Blick ab, während ihre Chefin zweimal tief Luft holte, das Foto dann aber in die Hand nahm und es einige Sekunden lang genau studierte.

»Im Augenblick deutet vieles darauf hin, dass es sich bei der Toten um Larissa Schröder handelt«, erklärte Jennifer. »Die Identifizierung ist allerdings noch nicht endgültig. Kennen Sie sie vielleicht?«

Doris Kilian nickte. »Und ob ich sie kenne. Zu Lebzeiten sah sie natürlich anders aus, aber das ist eindeutig Larissa Schröder. Identifizieren kann ich sie allerdings nicht für Sie. Dafür kannte ich sie nicht gut genug.«

»Das würden wir auch nie von Ihnen verlangen.« Zwei Personen hatten das Opfer unabhängig voneinander erkannt. Das war eine ziemlich sichere Identifizierung, letztlich stützen konnten sie sich aber nur auf das Urteil des Ehemannes. »Sie sagen, Sie kannten Larissa Schröder? War sie eine Kundin von Ihnen?«

Die Inhaberin legte das Foto mit einem leisen Schnauben auf den Tisch zurück. »Ja und nein. Wir kamen über die Angebotsphase nicht hinaus. Letztlich entschieden Frau Tröbst und Herr Schröder, ihre Hochzeit von einer Frankfurter Agentur planen und durchführen zu lassen.«

»Das klingt ein wenig enttäuscht.«

Doris Kilian nickte. »Die haben mich eiskalt hintergangen und betrogen.« Einmal auf das Thema angesprochen, war sie kaum mehr zu stoppen. Sie erzählte ausführlich, wie viel Arbeit sie in den Entwurf investiert hatte, der ihr anschließend von den Eheleuten gestohlen und von einer anderen Agentur in deren Auftrag umgesetzt worden war. Zumindest war das Doris Kilians Sichtweise.

»Sie hätten sie anzeigen oder verklagen können«, warf Oliver schließlich mitten in ihre Litanei ein, um die Sache abzukürzen. »Haben Sie sich anwaltlich beraten lassen?«

Doris Kilians Lächeln wurde bitter. »Haben Sie sich schon über die Schröders informiert? Die Anwälte dieser Familie hätten mich in ihrer Faust zerquetscht, wenn ich es gewagt hätte, etwas zu unternehmen. Und selbst wenn ich geklagt und gewonnen hätte, ein Prozess gegen einen ehemaligen Kunden macht sich nie gut. Für meine Konkurrenz wäre das ein gefundenes Fressen gewesen.«

»Soweit wir wissen, ist die Konkurrenz in Ihrem Geschäftsbereich nicht besonders groß.« Jennifer erinnerte sich noch gut an das, was Freya gesagt hatte. »Oder sehen wir das falsch?«

Doris Kilian machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es ist nicht so, dass wir uns gegenseitig die Augen auskratzen würden. Aber jedes Geschäft auf dieser Erde ist dreckig genug, um die Unbill, die einem Konkurrenten widerfährt, für die eigenen Zwecke auszunutzen.«

Sie seufzte, und ihre Finger spielten mit der Handtasche auf ihrem Schoß. »Jetzt muss ich mir aber ohnehin neue Geschäftsräume suchen. Vielleicht sogar einen neuen Namen für die Agentur. Eine Leiche macht sich nicht sehr gut als Werbung.«

Jennifer ging nicht auf die Bemerkung ein, sondern reihte die Fotos, die die Räume der Agentur zeigten, vor den beiden Frauen auf, wobei sie sich jetzt mehr auf Nuran Sahin konzentrierte. Die junge Frau machte einen etwas verstörten Eindruck und hatte bisher noch nichts gesagt.

»Diese Bilder … Wir würden gerne wissen, ob unsere Annahme richtig ist, dass die drei Skulpturen zuvor im Schaufenster standen und nicht von Ihnen bewegt worden sind.« Jennifer deutete auf das Foto, das das Brautpaar und die beiden Büttenengel zeigte.

Wieder war es Doris Kilian, die antwortete, obwohl Jennifer Nuran Sahin angesehen hatte. »Ja, das stimmt. Gestern Abend waren sie noch im Schaufenster.« Die Agenturchefin wandte sich dem Foto zu, das den leeren Stuhl zeigte, auf dem das Opfer fixiert gewesen war. »Der Stuhl stammt aus Nurans Büro, der Draht gehört mir allerdings nicht, soweit ich weiß.«

Jennifer sah Nuran Sahin direkt in die Augen. »Wissen Sie etwas über diesen Draht?«

Die junge Frau schien überrascht und zugleich schockiert zu sein, dass ich plötzlich die gesamte Aufmerksamkeit auf sie richtete. Sie warf Doris Kilian einen kurzen Blick zu, der sie um Hilfe anzuflehen schien, dann fing sie sich aber wieder.

---ENDE DER LESEPROBE---