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Saskia Berwein

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Beschreibung

Vergewaltigung und Tod halten Einzug in Lemanshain, der Täter bleibt ein rätselhaftes Phantom. Während die Ermittlungen mit jedem Opfer aussichtsloser erscheinen, setzen anonyme Drohanrufe Jennifer Leitner immer mehr unter Druck. Die Spirale der Gewalt dreht sich unaufhaltsam schneller und mit jeder verstreichenden Stunde rückt Jennifers persönlicher Abgrund näher …

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Saskia Berwein

Zornesbrand

Die Autorin

Saskia Berwein ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie wurde 1981 in Egelsbach geboren. Ihre Liebe zum Lesen führte bereits im Alter von 17 zur Entstehung ihres ersten Romans. Sie lebt zusammen mit ihrem Lebensgefährten in Mühlheim am Main.

Mehr über die Autorin:

www.saskia-berwein.de

Saskia Berwein

Zornesbrand

Ein Fall für Leitner und Grohmann

Band 5

Thriller

Kuneli Verlag

Originalausgabe Juni 2019

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2019 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage

Redaktion: Christoph Möbius, Janine Pavel-Hamp

Satz & Cover: Kuneli Verlag, 63165 Mühlheim am Main

Bilder unter Lizenz von Shutterstock.com verwendet.

Printed in Germany

ISBN 978-3-948194-00-0 (Print)

ISBN 978-3-948194-01-7 (Epub)

ISBN 978-3-948194-02-4 (Azw3)

www.kuneli-verlag.de

1

Ihre Knöchel traten weiß hervor, als sich ihre Hände fest um das Lenkrad krallten. Angespannt starrte sie in den Rückspiegel. Sie war sich sicher, dass sie an der hinter ihr liegenden Kreuzung eine Gestalt gesehen hatte. Eine Gestalt, die herumlungerte, wartete, beobachtete.

Ihre Augen hatten sich an das Dämmerlicht der Straßenbeleuchtung gewöhnt, auch an das bunte Flackern einer frühzeitig angebrachten Weihnachtsbeleuchtung im Schaufenster einer kleinen Schneiderei. Dort im Hauseingang, etwa dreißig, vierzig Meter hinter ihr, stand jemand, verschmolz beinahe mit der Dunkelheit.

Jemand.

Nein.

Er.

Kristina schüttelte leicht den Kopf. Ihr Verstand war sich im Klaren darüber, dass es unmöglich war. Er konnte ihr nicht gefolgt sein, konnte sie nicht gefunden haben. Er konnte bisher noch nicht einmal wissen, dass sie weg, erfolgreich geflüchtet war.

Ja, erfolgreich.

Doch ihre Gefühle wollten, konnten nicht auf die rationalen Gründe hören, waren unfähig, sie anzunehmen. Ihre Angst war echt, real. Ihre Augen hatten das Unmögliche erfasst, analysiert und ihr Gehirn war zu dem Schluss gekommen, dass es existierte.

Kristina war sich sicher. Fast.

Verdammt, es war unmöglich. U-n-m-ö-g-l-i-c-h.

Sie hatte sich schlau gemacht, Informationen und Tipps gesammelt. Sie hatte ihre Flucht minutiös geplant, nur in ihrem Kopf, ohne Spuren zu hinterlassen. Alles, was sich telefonisch oder persönlich erledigen ließ, hatte sie auf diese Weise geregelt. Ihren Telefonspeicher hatte sie immer sofort gelöscht.

Für alles andere hatte sie ein Postfach angemietet und jeden verräterischen Schnipsel Papier sofort vernichtet, sobald sie ihn nicht mehr brauchte. Die Unterlagen, die sie nicht zerstören konnte, hatte sie in einem Gepäckfach am Bahnhof aufbewahrt. Sie hatte darauf geachtet, dass ihr niemand folgte, wenn sie Post oder Bahnhof aufsuchte.

Sie hatte jede menschliche Quelle, die nicht zu umgehen war, mit falschen Informationen versorgt. Auf das Amt war sie angewiesen, von ihm abhängig, um genau zu sein. Den Mitarbeitern vom Jobcenter hatte sie aber, dem Datenschutzgesetz sei Dank, einen ordentlichen Maulkorb verpasst.

Selbst ihr ehemaliger Vermieter würde nicht erfahren, wo sie abgeblieben war. Er tat ihr ein wenig leid, denn er würde auf den Kosten für die Räumung ihrer ehemaligen Wohnung sitzen bleiben.

Spurlos zu verschwinden erforderte Lügen und Opfer. Sie hatte sich entscheiden müssen. Vielleicht zum aller ersten Mal in ihrem Leben hatte sie die Entscheidung ganz allein zu ihrem Vorteil und in ihrem eigenen Interesse getroffen. Mit den Schuldgefühlen würde sie wohl oder übel leben müssen.

Kristinas Vorgehen erschien ihr selbst wahnhaft.

Er hätte ihr nirgendwohin folgen können. Nicht während ihrer Vorbereitungen und auch nicht heute.

Sie hatte sich umgesehen, so oft umgesehen. War Umwege gefahren, hatte an Stellen Halt gemacht, die jeden Verfolger zwangsläufig enttarnt hätten. Jeden Vorfall, der auch nur einen Hauch von Verdacht zugelassen hatte, hatte sie zum Anlass genommen, noch vorsichtiger zu sein.

Siewarparanoid.

Dafür hatte er gesorgt.

Er hätte Gedanken lesen müssen, um ihre Absichten aufzudecken. Manchmal hatte sie das Gefühl gehabt, dass er tatsächlich dazu imstande war, dass er über übernatürliche Fähigkeiten verfügte. Doch wenn er ihren Plan zur Flucht auch nur erahnt hätte, hätte er sie niemals so weit kommen lassen.

Beim leisesten Zweifel hätte er die Wahrheit einfach aus ihr herausgeprügelt.

Niemals wäre er ihr bis hierher gefolgt, niemals würde er sich in einem Hauseingang verstecken und ruhig und geduldig warten. Er hätte gehandelt. Er wäre ausgerastet.

Es sei denn, er war bereits über seine übliche Wut hinaus. Am schlimmsten war es immer geworden, wenn er ruhig, gelassen und geduldig geworden war. Was darauf folgte ...

Sollte er also dort bei der Kreuzung auf sie warten ...

Kristina schluckte den Speichel hinunter, der sich in ihrem Mund gesammelt hatte. Ihre Augen brannten.

Wann hatte sie zum letzten Mal geblinzelt? Wie lange starrte sie nun schon in die bewegungslosen Schatten? Schatten, die eben nichts weiter waren als leblose Dunkelheit. Die nichts und niemanden verbargen.

Sie war in Sicherheit.

Sie musste sich trotzdem zwingen, ihre Augen auf das Armaturenbrett zu richten. Die Ziffern waren kaum zu erkennen. Sie erschrak ein wenig, denn es war bereits zwei Uhr nachts.

Kristina nahm all ihren Mut zusammen, ging im Kopf nochmals alle Mantras durch, die sie bis hierher begleitet hatten. Dann öffnete sie die Autotür und trat auf die Straße hinaus.

Ihre Beine trugen sie kaum, sie strauchelte und stürzte beinahe. Die unerbittliche Novemberkälte war in den letzten Stunden durch ihre Kleidung bis tief in ihre Knochen gekrochen. Ihre Glieder fühlten sich taub an.

Ein Moment der Schwäche und der Verwundbarkeit.

Sie krallte sich am Dach des gemieteten Polos fest und sah sich hektisch um, während ihr Atem weiße Wolken in die Luft malte. Nichts. Stille. Einsamkeit. Nur das Rasen ihres Herzens. Das Brennen ihrer unterkühlten Muskeln. Die unangenehme Empfindung von kaltem Schweiß auf ihrer Stirn, der sich anfühlte, als würde er jeden Moment gefrieren.

Keine Menschenseele.

Sicherheit.

Trotzdem durfte sie keine Zeit verschwenden.

Kristina riss den Kofferraum auf. Kurz zögerte sie, entschied dann aber, so viel wie möglich auf einmal zu tragen. Zweimal würde sie zum Auto zurückkehren müssen, um vollständig auszuladen. Vielleicht auch dreimal.

Sie lud sich Koffer, Reisetasche und hastig mit Kleidung vollgestopfte Müllsäcke auf und überquerte schnell die Straße. Sie hatte nicht direkt vor dem Mietshaus geparkt und verfluchte im Stillen diese Sicherheitsmaßnahme, als ihr der Schweiß aus allen Poren brach und ihr Herz ein noch stärkeres Stakkato aufgrund der ungewohnten Belastung anstimmte.

Sie schaute sich um. Mehrfach. Darauf vorbereitet, alles fallenzulassen und loszurennen. Oder zumindest an der eigentlich angesteuerten Eingangstür vorbei zu gehen, um keine Aufmerksamkeit auf ihr neues Zuhause zu lenken.

Um die Haustür aufzuschließen, musste sie mehrere Säcke auf dem Boden abstellen. Dank ihrer klammen Hände dauerte es mehrere Sekunden, den Schlüssel aus der Hosentasche und ins Schloss zu fummeln. Dann war sie drinnen, die Tür fiel hinter ihr zu. Das automatisch aufflackernde Licht im Flur blendete sie einen Moment.

Kristina atmete mehrmals tief durch. Anschließend machte sie sich an den Aufstieg in den zweiten Stock, immer wieder einen Blick über die Schulter werfend und nach verräterischen Schritten lauschend.

Niemand folgte ihr.

Sie öffnete die Wohnungstür. Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie warf die Taschen zu Boden und fuhr herum, um sofort durch den Spion zu schauen.

Es war nur ein kleiner Ausschnitt des Treppenhauses zu sehen. Dieser Ausschnitt blieb leer und verlassen.

Die Erleichterung überflutete sie, gleich darauf eine Welle der Erschöpfung. Wie gerne hätte sie sich einfach hier auf dem Boden niedergelassen, den Kopf gegen die Tür gelehnt und die Augen geschlossen.

Doch noch war es nicht ausgestanden. Noch musste sie eine weitere Ladung Habseligkeiten aus dem Polo holen und hier herauf schleppen. Aber der zweite Weg würde ihr leichter fallen, auch wenn sie keinesfalls in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen durfte.

Kristina gönnte sich einen kurzen Moment der Ruhe, gerade lange genug, um etwas zu Atem zu kommen. Keinesfalls durfte sie dem verführerischen Gedanken erliegen, am nächsten Morgen den Rest ihrer Sachen aus dem Auto zu holen.

Tageslicht war ungünstig. Außerdem musste sie den Polo vor zehn Uhr in der örtlichen Filiale abliefern, wenn er sie nicht weitere vierzig Euro kosten sollte.

Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, bis sie sich am nächsten Morgen dazu überwinden konnte, das Haus zu verlassen und die Straße zu betreten. Für diesen Akt würde sie nur einmal Zeit haben.

Als Kristina einen weiteren Blick durch den Spion warf, stellte sie fest, dass das Licht im Treppenhaus erloschen war. Sie betätigte den Schalter, damit kein Licht aus ihrer Wohnung nach draußen drang und öffnete die Tür gerade so weit, dass ihr Arm hindurch passte. Glücklicherweise sprang die Beleuchtung beim ersten Wedeln erneut an.

Einige Sekunden Beobachten und Lauschen, dann wagte Kristina sich in den Flur hinaus.

Dieses Mal fiel es ihr tatsächlich leichter. Zwar nahm sie sich die Zeit, die Straße auf Passanten und verdächtige Vorgänge zu überprüfen, ließ aber keine stundenlange Observation daraus werden.

Zum Auto und zurück brauchte sie keine zwei Minuten. Dann war sie mit ihren Habseligkeiten auch schon wieder durch die Haustür.

Kristina hatte den Schlüssel bereits im Schloss, als die Klinke plötzlich nach unten gedrückt wurde und die Tür ihr entgegenkam. Sie machte einen instinktiven Satz nach hinten. Sie hatte nicht genügend Kraft, um die Tür zuzudrücken.

Verschiedene Gedanken stürmten gleichzeitig auf sie ein. Die meisten davon verzweifelte Vorwürfe, weil sie nicht vorsichtig genug gewesen war.

Früher hätten diese Gedanken sie an Ort und Stelle gefesselt und sie handlungsunfähig gemacht. Doch das mentale Training machte sich bezahlt. Sie sperrte die Vorwürfe aus, ließ sie unbeeindruckt an sich vorüberziehen und überließ ihren Körper seinen ganz eigenen Reaktionen.

Sie rannte nicht. Sie war lange genug vor ihm davongelaufen. Die Taschen fielen zu Boden, ihre rechte Hand fuhr in die Manteltasche und umklammerte den metallenen Gegenstand. Ihr Daumen fand ganz automatisch den Pin.

Auch das hatte zu den Tipps gehört, die sie gelesen und verinnerlicht hatte. Die letzte Möglichkeit, die noch blieb, wenn alle anderen Maßnahmen versagt hatten: Gegenwehr. Sie hatte trainiert, sehr viel trainiert.

Sie musste nicht nachdenken, sollte nicht nachdenken. Einfach nur handeln.

Die Klinge schnappte auf, als die Tür aufschwang. Das Licht fiel auf die dick vermummte Gestalt, erhellte ihr Gesicht ...

Kristina erstarrte in der Bewegung.

Es war nicht Henning.

Die junge Frau, vermutlich wie sie selbst um die fünfundzwanzig, war in der Tür stehen geblieben und musterte sie mit einer Mischung aus Interesse, Vorsicht und Misstrauen. Ihre dunkelbraunen Augen wanderten innerhalb einer Sekunde über ihre Erscheinung, die Tüten am Boden und blieben kurz an der Hand in ihrer Manteltasche hängen, bevor sie ihren Blick fest und fragend erwiderten.

Sie war keine unmittelbare Gefahr für Kristina. Sie spürte aber, dass sie das ohne Probleme werden konnte. Die Frau trug eine abgewetzte Jacke, einen Rucksack über der Schulter und konnte auf den ersten Blick als harmlose Studentin durchgehen. Der Eindruck wurde von den kurzen, braunen Haaren und dem Piercing auf der rechten Seite ihrer Unterlippe noch verstärkt.

Sie war den Temperaturen entsprechend dick angezogen, doch ihre Haltung sagte genug aus. Es war nicht nötig, ihren Körperbau genauer zu studieren. Die Narbe, die ihre linke Augenbraue als dünner, haarloser Strich teilte, erzählte ihre eigene Geschichte. Kristina erkannte in ihr die Kämpferin.

Die junge Frau war alles, aber ganz sicher nicht harmlos.

Wann war sie eigentlich dazu übergegangen, ihre Mitmenschen aufgrund ihrer möglichen Gefährlichkeit einzustufen?

Jedenfalls sollte sie sich um Deeskalation bemühen, wenn die Situation einen guten Ausgang nehmen sollte.

Kristina rang sich zu einem Lächeln durch und zog ihre Hand aus der Manteltasche, ohne das Taschenmesser zu schließen. Zwar ging sie davon aus, dass ihr Gegenüber längst vermutete, dass sie dort eine Waffe versteckte, sie wollte daraus aber keine Gewissheit werden lassen, indem sie es sicht- und hörbar schloss.

Kristina machte nicht gerne den ersten Schritt, trotzdem streckte sie der Fremden ihre Hand entgegen. »Hi«, presste sie etwas unbeholfen hervor. »Ich ... bin gerade dabei, einzuziehen.«

Die andere Frau ignorierte ihre Hand und unterzog die Taschen einer genaueren Musterung. Erst dann kehrten ihre Augen zu Kristinas Gesicht zurück und verweilten dort, als könne sie ihr alle notwendigen Informationen entlocken, indem sie sie nur lange genug ansah. »Etwas spät für einen Einzug. Zweiter Stock?«

Kristina nickte, auch wenn sie sich unwohl, ja schon fast entblößt fühlte, diese Tatsache einzugestehen. Sie versuchte sich an keinem besonders überzeugenden Gegenangriff. »Etwas spät, um unter der Woche nach Hause zu kommen.«

»Hat meine Arbeit so an sich.« Die junge Frau musterte sie einige weitere Sekunden lang, schien aber zu dem Schluss zu gelangen, dass man ihr glauben konnte. Oder sie räumte ihr einen Vertrauensvorschuss ein. »Charlie«, stellte sie sich vor. »Drittes Stockwerk.« Sie nickte in Richtung der Tüten auf dem Boden. »Kann ich helfen?«

»Ähm ...« Kristina war versucht, das Angebot abzulehnen. Es wäre allerdings mehr als lächerlich, wenn sie nun beide die Treppe nehmen würden, sie mit ihren Taschen überladen, während Charlie beide Hände frei hätte. »Wieso eigentlich nicht?«

Wortlos trat Charlie einen Schritt vor und verschloss die Haustür hinter sich. Dann nahm sie zwei Tüten und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, vorauszugehen. Erst als Kristina die beiden anderen Taschen aufgehoben und die ersten Treppenstufen genommen hatte, kommentierte ihre neue Nachbarin: »Ich lasse mich nicht gerne von hinten erstechen.«

Kristina spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und sie leicht schwankte. Ihre Vermutung bestätigt zu bekommen, was das Beobachtungsvermögen der anderen Frau betraf, war alles andere als angenehm.

Charlie sagte auf dem Weg nach oben nichts mehr und auch Kristina schwieg. Als sie an ihrer Wohnungstür ankamen, stellte die junge Frau die Taschen ab und wandte sich schweigend zum Gehen. Sie war offensichtlich keine Freundin vieler Worte, was Kristina durchaus entgegenkam. Sie murmelte ein »Danke«, von dem sie nicht sicher war, ob es überhaupt gehört wurde. Charlie war schon im nächsten Stockwerk verschwunden, bevor sie ihre Wohnungstür aufgeschlossen hatte.

Die Begegnung mit der jungen Frau hatte Kristina verwirrt, doch sie verweilte nicht lange bei dem Gedanken. Dafür blieb in den nächsten Tagen noch genug Zeit, immerhin war davon auszugehen, dass sie sich früher oder später erneut begegnen würden. Ihre Kräfte verließen sie ohnehin, kaum, dass sie die Wohnungstür hinter sich abgeschlossen hatte.

Die Tatsache, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, drang in ihr Bewusstsein.

Ihr war die Flucht geglückt.

Sie war entkommen. Und angekommen.

In Sicherheit. In einem neuen, sicheren Leben. Einem Leben ohne Unterdrückung und Gewalt.

Ohne Henning.

Kristina taumelte in die Küche, wo sie sich auf dem erstbesten Stuhl niederließ und in Tränen ausbrach. Sie wusste nicht einmal, warum sie weinte, doch sie ließ sich in ihrem zerrütteten Gefühlschaos treiben.

Immer wieder klammerte sie sich dabei an das eine Wort, das ihr noch immer fremd und abstrakt erschien. Ein Zustand verknüpft mit Gefühlen, an den sie sich erst gewöhnen musste, der jedoch niemals mehr zu einer selbstverständlichen Gewohnheit werden würde.

Sicherheit.

2

Er sah zu dem dunklen Fenster im zweiten Stock hinauf und lächelte. Es war ein sanftes Lächeln, das nicht annähernd das triumphale Hochgefühl in seinem Innern transportierte. Und schon gar nicht seinen glühenden Hass, der angenehm sanft in seinem Inneren köchelte, leise brodelte und auf einen Ausbruch wartete.

Doch nicht jetzt. Nicht heute.

Nicht sie.

Nicht so bald.

Sie hatte sich gegen ihn aufgelehnt, all ihre Kräfte mobilisiert und war geflohen. Erfolgreich, wie sie dachte. Oh, wie süß musste sich ihr Sieg anfühlen, der Glaube daran, ihm entkommen und in Sicherheit zu sein.

Sollte sie sich nur an diesem Gefühl ergötzen, sich daran laben, sogar daran gewöhnen. Es gab keinen Grund, ihr ihre Illusionen zu schnell zu nehmen.

Er hatte Zeit, hatte sie durch ihre Flucht gewonnen.

Sie dachte, es wäre ihre Entscheidung gewesen, das Weite zu suchen. Teilweise mochte das stimmen, doch ohne seinen Einfluss und ohne seine Zurückhaltung hätte sie es nie so weit geschafft. Er hatte die Zügel schleifen lassen und gleichzeitig zum geeigneten Zeitpunkt an den richtigen Fäden gezogen.

Es war höchste Zeit gewesen, das Feld zu räumen.

Es war höchste Zeit, ihre Verbindung zu lösen, sich endgültig zu trennen.

Sie war noch immer naiv und wunderbar ahnungslos. Trotzdem waren ihre Instinkte und ihre Gegenwehr stark und keinesfalls ungefährlich. Wissen wäre eine Waffe, die ihn vernichten konnte und der sie viel zu nahegekommen war.

Er würde sie zerstören, sie zerbrechen.

Ein paar Vorbereitungen waren notwendig und räumten ihr eine letzte Gnadenfrist ein.

Sie würden eine gute Gelegenheit bieten, seinen Zorn zu besänftigen und sich abzureagieren. Er hatte ihre Flucht zwar unterstützt, trotzdem musste sie für ihren Widerstand bestraft werden. Da er sie vorerst nicht mehr anrühren würde, mussten andere ihren Platz einnehmen.

Doch bald würde der Tag kommen. Der Tag, auf den er nun schon so lange wartete.

Sollte sie sich nur in Sicherheit wiegen. Ein paar Tage, ein paar Wochen länger, das waren im Vergleich zu den bisher gefristeten Jahren nur Sekunden ...

Er schloss die Augen und atmete tief durch.

Sein Flüstern klang unnatürlich laut in der Stille der Nacht. »Genieße die letzten Sekunden, Kristina. Bald werde ich dich zur ewigen Ruhe betten, mein Herz.«

Dann entglitt er in die Dunkelheit.

3

Der Urteilsspruch traf Jennifer wie eine eiserne Faust in den Magen. Zuerst wollte sie sich noch einreden, dass sie sich verhört hatte, doch dieses Wunschbild hielt keine fünf Sekunden lang.

Sie starrte den vorsitzenden Richter an. Seine Lippen bewegten sich ganz normal und natürlich, und trotzdem hatte sie den Eindruck, ihn nur äußerst gedämpft und leise zu hören. Die Urteilsbegründung drang in ihr Bewusstsein und löste mit jedem weiteren Satz ein klein wenig mehr Übelkeit aus.

Zu viele dieser fadenscheinigen, juristisch formulierten Argumente hatte sie bereits aus dem Mund der Verteidigung gehört.

Das Material sei widerlich, doch könnten Videos alleine nicht beweisen, dass die Szenen nicht – wie vom Angeklagten behauptet – gestellt gewesen seien. Der Geschlechtsverkehr könne einvernehmlich passiert, die Gewaltanwendung nur gespielt worden sein.

Die Aussagen des Hauptbelastungszeugen wären für eine Verurteilung nicht ausreichend, da einige Fragen zu seiner Glaubwürdigkeit aufgekommen seien, die in der Hauptverhandlung nicht ausgeräumt worden waren. Die in einem anderen Verfahren angeklagten Mittäter hätten ihre Geständnisse widerrufen.

Das mutmaßliche Opfer sei bedauerlicherweise nicht mehr am Leben, um Licht in die Sache zu bringen.

Der Vertrieb der Videos sei nur strafbar, falls das mutmaßliche Opfer nicht davon in Kenntnis gesetzt worden sei und davon auszugehen wäre, dass es sein Einverständnis nicht erteilt hätte. Dieser Umstand sei, unabhängig von den Aussagen des Angeklagten, nicht mehr abschließend aufzuklären.

Das Verhalten des Angeklagten und seine trotzigen Bemerkungen im Ermittlungsverfahren könnten nicht als Schuldeingeständnis gewertet oder ihm anderweitig angelastet werden.

Zweifel. Zu Gunsten des Angeklagten entschieden.

Die Strafkammer sei zwar davon überzeugt, dass kein Einverständnis des mutmaßlichen Opfers vorgelegen habe, ausreichend und zweifelsfrei beweisen ließe sich dies aber nun mal nicht mehr.

Von allen Vorwürfen, die Vergewaltigung seiner Schwester betreffend, sei er also freizusprechen.

Lediglich der Beischlaf mit seiner Schwester, der Inzest, sei dem Angeklagten zweifelsfrei zu beweisen, diesen habe er schließlich offen eingeräumt. Da die meisten Taten aber geschehen seien, als beide Beteiligten noch nicht volljährig waren, sei dieser Anklagepunkt bei der Straffindung zu vernachlässigen.

Anders lag der Sachverhalt bei den Einbrüchen in Jennifers Wohnung und der beabsichtigten Vergewaltigung. Die Ermittlungsergebnisse waren eindeutig, der Versuch der Tat auf Videoband aufgezeichnet und von mehreren Beamten bezeugt. Außerdem hatte der Angeklagte vollumfänglich gestanden.

Es sei, juristisch gesehen, seine erste Tat, jedenfalls seine erste Verurteilung. Der Angeklagte sei bisher nicht aktenkundig geworden. Er habe gestanden. Er zeige Reue und habe das therapeutische Angebot bereits in der Untersuchungshaft angenommen.

Der Angeklagte sei noch jung. Bei der Urteilsfindung sei auch Rücksicht darauf genommen worden, ihm seine berufliche Zukunft nicht zu verbauen.

Außerdem habe die Kammer in ihr Urteil mit einbeziehen müssen, dass dem Angeklagten von den Beamten eine Falle gestellt worden sei. Sie, Jennifer Leitner, habe ihn absichtlich provoziert und bewusst in ihre Wohnung gelockt und damit den Tatversuch überhaupt erst ermöglicht. Es sei nicht bewiesen, dass es zu diesem Versuch auch gekommen wäre, wenn die Beamten den Angeklagten nicht bewusst und gewollt dazu eingeladen hätten.

Unberücksichtigt sei geblieben, dass sie, Jennifer Leitner, den Angeklagten angegriffen und erheblich verletzt habe. Ganz unabhängig davon, ob sie geplant oder im Affekt gehandelt habe, hätten sich die Verletzungen nicht strafmildernd ausgewirkt.

Verurteilt wurde der Angeklagte wegen zweifachem schweren Hausfriedensbruch, versuchter Vergewaltigung in einem minder schweren Fall und Sachbeschädigung. Unter die Sachbeschädigung fielen auch die Gefangennahme und das Foltern von Jennifers Katze.

Unter Einbeziehung der bereits verbüßten Untersuchungshaft befand die Kammer auf ein Jahr und neun Monate auf Bewährung. Jugendstrafe. Auflage: Der Angeklagte müsse sich einer Therapie unterziehen und sich um eine Ausbildung bemühen. Der Haftbefehl war aufgehoben.

Das war alles.

Die üblichen Feststellungen bezüglich der Möglichkeit von Berufung und Revision rauschten an Jennifer vorbei.

Der zuständige Staatsanwalt verzichtete wenigstens nicht sofort im Gerichtssaal auf Rechtsmittel. Immerhin lag der Schuldspruch unter dem Strafmaß, das er gefordert hatte. Doch Jennifer war sicher, dass er den Verzicht spätestens morgen früh formulieren und unterschreiben würde. Für ihn war das Verfahren damit vorerst abgeschlossen.

Er hatte von Anfang an nicht daran geglaubt, den Scheißkerl wegen der Übergriffe auf seine Schwester drankriegen zu können. Bereits während des Verfahrens hatte Jennifer das Gefühl gehabt, dass der Staatsanwalt die systematische Vergewaltigung des Mädchens nur aus irgendeinem Pflichtgefühl heraus angeklagt hatte. Wirklich gekämpft für eine Verurteilung in Isabells Sinne hatte er nicht.

Das Verfahren war beendet, die Show war vorbei.

Um sie herum erhoben sich die Zuschauer, doch Jennifer blieb sitzen.

Drei Reihen vor ihr schluchzte die Mutter des Angeklagten, Manuela Grunau, vermutlich aus purer Erleichterung. Ihr Sohn war verurteilt worden, doch nicht wegen dem, was er seiner toten Schwester angetan hatte. Vermutlich sah sie seinen Freispruch diesbezüglich als Beweis für seine Unschuld an.

Bei ihrer Aussage hätte Jennifer brechen können. Die Frau verschloss die Augen vor den Tatsachen und hielt zu ihrem Sohn. Vermutlich glaubte sie sogar der Verteidigung und ließ sich und ihrem Mann allein die Schuld für alles in die Schuhe schieben, was geschehen war. Nur ihr Sohn war ein Heiliger, ein Opfer der Umstände.

Ihre Tochter schien keine Bedeutung mehr für sie zu haben, wenn sie ihr überhaupt jemals etwas bedeutet hatte. Isabells Leiden spielte keine Rolle mehr für sie. Sie war tot. Sie konnte niemanden mehr anklagen. Ihren Tod hatte ganz allein ein durchgedrehter Killer zu verantworten und nichts mit ihrer Familie zu tun.

Der Gedanke oder gar die Einsicht, dass die Übergriffe ihres Bruders und die familiäre Situation Isabell überhaupt erst auf die Straße getrieben hatten, wo sie ihrem Mörder zum Opfer gefallen war, existierten in der Welt ihrer Mutter nicht. Vielleicht würde sie sich eines Tages selbst die Schuld dafür geben, doch ihr wohlerzogener Junge hatte damit nicht das Geringste zu tun gehabt.

Jennifer zwang sich endlich, zur Anklagebank zu sehen, wo eben jener Spross saß. Sie hatte ihn im Gespräch mit seiner Anwältin vermutet, doch anstatt mit ihr die Köpfe zusammenzustecken, sah Jonas Grunau sie direkt an.

Nein, er starrte sie an.

Es kostete Jennifer viel Disziplin, sich nicht sofort abzuwenden und irgendwo anders hinzusehen. Er hätte ihre Reaktion bemerkt und zu deuten gewusst. Seinem Blick zu begegnen und ihm in die Augen zu sehen, war trotzdem beinahe mehr, als sie ertrug.

Sein Gesichtsausdruck war unergründlich, beinahe emotionslos. In seinen Augen konnte Jennifer jedoch lesen, was in ihm vorging. Sein Triumph. Seine Freude. Die Kälte und die Grausamkeit, die in diesem Dreckskerl tief verankert waren, und die ihr ein eisiges Kribbeln die Wirbelsäule hinab schickten.

Er war frei.

Der Gedanke traf sie unvorbereitet. Erst jetzt wurde ihr die volle Tragweite des eben gesprochenen Urteils bewusst. In jenem Moment, in dem sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen, beinahe ein Grinsen, das alles aussagte, was er unmöglich hätte laut aussprechen können.

Eine Drohung.

Ein Versprechen.

4

Jennifer erhob sich abrupt. Ihre Miene war zur Gleichgültigkeit erstarrt, doch Oliver hatte eine Vorstellung davon, welche Emotionen sie so plötzlich von ihrem Stuhl hatten auffahren lassen.

Sie wandte sich langsam ab und verließ gemäßigten Schrittes den Saal. Ihr Körper war angespannt, verkrampft, und kaum, dass sie aus Grunaus Blickfeld heraus war, beschleunigte sie ihre Schritte.

Oliver hatte Mühe, ihr zu folgen.

Sie eilte den kühlen, nüchternen Gang entlang, die irritierten und überraschten Blicke ignorierend, die sie unweigerlich auf sich zog.

Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als jedem Menschen in diesem Gebäude augenblicklich entkommen zu können. Inklusive ihm. Doch er würde sich nicht zurückziehen, selbst wenn sie ihn offen dazu auffordern würde.

Oliver gestand es sich selbst nicht gerne ein, doch er fürchtete ihre möglichen Reaktionen. Obwohl keiner von ihnen jemals auch nur ansatzweise darüber gesprochen hatte, musste sie sich darüber ebenfalls im Klaren sein.

Jennifer blieb trotzdem erst stehen, als er versuchte, sie möglichst unauffällig am Arm zu fassen. Sie wirbelte auf der Stelle zu ihm herum und entzog sich seiner Hand mit einer abwehrenden Geste.

Ihre Erregung schlug jäh in Wut um. »Verdammt noch mal! Ein Jahr und neun Monate! Auf Bewährung! Das ist alles? Wirklichalles?« Ihr war ganz offensichtlich zum Schreien zumute, doch sie hatte sich noch genug unter Kontrolle, um den anwesenden Personen im Flur keine Szene zu bieten. »Er kommt davon?! Nachdem, was er Isabell angetan hat?! Dieser Mistkerl gehört in den Knast und nicht auf die Straße!«

Oliver nickte zustimmend, schwieg aber. Er war mit dem Urteil nicht weniger unglücklich als sie, ließ jedoch nicht zu, dass sein eigener Zorn die Oberhand gewann. Er würde ihm Zeit geben, ihn zulassen, sich abreagieren. Doch nicht hier und jetzt. Er hätte nur Öl in Jennifers Feuer gegossen, wenn er ihr zugestimmt hätte. Was nie eine gute Idee war.

»Damit wird sich Heurich auch noch zufriedengeben! Er sah zufrieden aus! Wie kann man als Staatsanwalt mit so einem Ergebniszufriedensein? Aber wen wundert das schon! Er hat nichts für Isabell getan, keine Sekunde hat er in diesem Gerichtssaal für sie gekämpft!«

Oliver sagte nichts, obwohl er ihre Meinung durchaus teilte. Er ließ sie toben.

»Er hat nicht einmal den Versuch unternommen, diesen ganzen Mist zu widerlegen oder zu entkräften!Duhättest die Verteidigung niemals mit diesen Ausflüchten und Annahmen durchkommen lassen! Wieso zum Teufel hastdunicht da drin die Anklage vertreten?! Wieso musstestdudiesen Fall nach Hanau abgeben?!«

Ihre Vorwürfe prallten wirkungslos an ihm ab. Mit dieser Entscheidung hatte er zwangsläufig schon vor Monaten seinen Frieden machen müssen. Letztendlich konnte er die Argumente sogar verstehen, die dazu geführt hatten, dass ihm der Fall entzogen worden war. Vorsichtshalber, um jedem Vorwurf der Befangenheit zuvor zu kommen. Vielleicht war er das im Casus Grunau sogar. Von Objektivität konnte jedenfalls keine Rede sein.

Sicher, er wäre energischer als sein Kollege aufgetreten. Er hätte gekämpft. Er hätte versucht, die Behauptungen der Verteidigung zu zerpflücken.

Nur mit welchem Ergebnis? Er konnte es drehen und wenden wie er wollte und kam doch immer wieder zu dem Schluss, dass jede Art der Beweisführung nichts am Urteil geändert hätte.

Doch für derart rationale Ausführungen war Jennifer jetzt nicht empfänglich. Es war besser, gar nichts zu sagen. Oliver beobachtete sie nur.

Ein Verhalten, das sie schließlich so sehr irritierte, dass sie verstummte und ihren Angriff abbrach. Ihr Blick wanderte unstet durch den Flur, als ob ihr erst jetzt bewusst wurde, wo sie sich eigentlich befand. Sie atmete tief durch und versuchte, ihn nicht anzusehen.

Mit dem Verebben ihrer Wut begann die Fassade langsam zu bröckeln. Für andere nicht sichtbar, doch Oliver konnte problemlos in ihren braunen Augen und den unterbewussten Reaktionen ihres Körpers lesen.

Es war auch nicht das Urteil allein, was sie derart in Rage versetzte. Nach all den Verhandlungstagen, die sie beide verfolgt hatten, war die Entscheidung der Strafkammer nicht überraschend gekommen. Ihre ganz persönliche Reaktion darauf schon. Zumindest für sie.

Oliver unterdrückte den Reflex, sie zu berühren. Sie hätte sich ihm ohnehin entzogen. »Er ist frei, Jennifer«, sagte er leise. »Daran wirst weder du, noch ich oder irgendein Richter oder Staatsanwalt noch etwas ändern.«

Er zögerte, doch er musste es aussprechen. »Ich weiß, dass dir das Angst macht.«

Sie reagierte erwartungsgemäß mit einer trotzigen Geste. »Ich habe keine Angst. Erst recht nicht vor diesem Kerl.«

Oliver glaubte ihr nicht, widersprach ihr aber auch nicht offen. »Ich habe den Blick gesehen, den er dir zugeworfen hat. Sein Lächeln. Das war eine Drohung. Wenn sie dir keine Angst macht, in Ordnung, mir aber bereitet sie zumindest Unbehagen.«

Jennifer zuckte beiläufig die Schultern, der erwartete Ausbruch blieb aus. Früher hatten seine Ruhe und Geduld sie meistens auf die Palme gebracht, inzwischen ließ sie immer öfter zu, sich davon anstecken und beruhigen zu lassen. »Die Wenigsten von diesen Typen sind eine echte Gefahr. Ich habe ihn nicht mal hinter Gitter gebracht. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«

Ihre Blicke begegneten sich daraufhin stumm. Sie verstanden sich auch ohne Worte.

Jennifer akzeptierte, dass Oliver von ihrer Angst wusste, er respektierte, dass sie es weder zugeben noch darüber sprechen wollte. Was nicht hieß, dass er nicht zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen würde.

Sie wussten beide, dass Jonas Grunau sehr wohl zu dieser ganz speziellen Art von Typen gehörte, derentwegen man sich Sorgen machen musste. Seine Drohungen waren ernst zu nehmen. Er würde Jennifer nicht vergessen, und sie taten gut daran, seine Aufmerksamkeit zu erwidern.

Es war zumindest keine schlechte Idee, wachsam zu bleiben.

Da sich Jennifer jetzt erst einmal beruhigt hatte, wollte Oliver schon vorschlagen, zu gehen und auf dem Rückweg eine Kleinigkeit zu essen, bevor sie in ihre Büros zurückkehrten. Doch das Klackern von Absätzen in seinem Rücken ließ ihn die Augen verdrehen.

Sie waren nicht die einzigen, die den Prozess verfolgt hatten. Ricarda Anstett, die ehemalige Oberstaatsanwältin von Lemanshain und somit seine Ex-Chefin, war nicht an jedem Verhandlungstag anwesend gewesen, die Urteilsverkündung hatte sie sich aber nicht entgehen lassen.

Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sie auf ihn und Jennifer zukommen würde. Anstatt freute sich vermutlich genauso stark wie er selbst darüber, nichts mehr miteinander zu tun zu haben.

Anstett war allerdings nicht allein.

Der Anblick der beiden Frauen, die gemeinsam auf sie zusteuerten, ließ Jennifer erneut erstarren. Auch Oliver spannte sich unwillkürlich an. Die Frau an Anstetts Seite war Jonas Grunaus Anwältin.

Sie ließ die ehemalige Oberstaatsanwältin hinter sich zurück, als sie die letzten Meter zu ihnen zurückgelegte. Sie warf Oliver ein kurzes Nicken zur Begrüßung zu, bevor sie sich der Kommissarin an seiner Seite zuwandte. »Jennifer Leitner?«

Das Lächeln der Frau wirkte echt und überzeugend, was bei ihrem Berufsstand eine ernstzunehmende Warnung war. Sie war gut zehn Jahre jünger als Anstett, um die fünfundvierzig, war aber nicht ganz so darum bemüht, die ersten Fältchen unter Tonnen von Make-up zu verstecken. Ihr dunkelbraunes Haar zeigte erste graue Strähnen.

Ihre Hochsteckfrisur und die Brille hätten einen harmlosen, oberlehrerhaften Eindruck erwecken können, wäre da nicht dieser Ausdruck in ihren dunklen Augen gewesen. Selbst wenn Oliver sie nicht im Gerichtssaal erlebt hätte: dieser kurze Blickkontakt genügte, um zu wissen, dass diese Frau mit Vorsicht zu genießen war.

»Ich bin Tabea Regenbrecht. Ich bin Jo ...«

»Ich weiß, wer sie sind«, unterbrach Jennifer sie frostig und mit einem Hauch von Angriffslust. »Sie sind die Anwältin dieses ... Subjekts, das soeben freigesprochen wurde.«

Über Regenbrechts Gesicht huschte nur ein kurzer Schatten von Verwirrung. »Waren wir in derselben Verhandlung? Mein Mandant wurde soeben verurteilt.«

»Was mich angeht, kommt diese Verurteilung einem Freispruch gleich, aber darüber wollen Sie ganz sicher nicht mit mir diskutieren.«

Oliver hielt kurz die Luft an, denn er wusste nur zu gut, dass Jennifer diese Tatsache nur allzu gern mit der Damediskutierthätte. Sie bot ein perfektes Angriffsobjekt für ihre noch immer unterschwellig brodelnde Wut.

Das Lächeln der Rechtsanwältin verlor nicht an Intensität. Sie war Profi genug, um den Fehdehandschuh zu ignorieren, der ihr bereitwillig geboten worden war. »Nein. Ich diskutiere Urteile grundsätzlich nicht mit Beteiligten. Ich bin wegen Ihnen hier.«

Der Griff in ihre Aktentasche zauberte ohne langes Suchen einen Umschlag hervor. »Der ist für sie. Ich dachte mir, dass Sie auch heute ins Gericht kommen würden und hielt es für angemessen, Ihnen das Schreiben persönlich zu übergeben.«

Jennifer nahm den Umschlag nicht an. »Was ist das?«

»Eine Einladung zu einem Treffen in meiner Kanzlei.«

Nicht nur Oliver schwante sofort Übles. Jennifers Stimme troff vor Misstrauen. »Warum sollte ich mich mit Ihnen in Ihrer Kanzlei treffen?«

Die Anwältin lächelte noch immer. »Mein Mandant möchte Ihnen die Gelegenheit zu einer außergerichtlichen Einigung geben, bevor er Sie verklagt.«

Im Gegensatz zu Jennifer verschlug Oliver diese Ankündigung nicht vollkommen die Sprache. »Verklagen? Das ist nicht Ihr Ernst.« Er wollte noch mehr sagen, doch Jennifers Hand auf seinem Arm ließ ihn verstummen.

Das war ein Kampf, den sie alleine ausfechten musste. Ihre plötzliche Ruhe war beängstigend. »Sie können eigentlich nur scherzen.«

Tabea Regenbrecht schüttelte den Kopf. »Sie haben meinen Mandanten tätlich angegriffen. Zwei Beamte, die glücklich darüber sein können, dass mein Mandant den Großmut besitzt, sie nicht ebenfalls in Regress zu nehmen, haben ihn festgehalten, damit Sie ihn verletzen konnten. Das war eine geplante Tat.

Er hat unter anderem eine angebrochene Nase und eine Hodenprellung davongetragen. Wir verlangen Schmerzensgeld und Schadensersatz. Sie können froh sein, dass er keine bleibenden Schäden davongetragen hat. Im Falle drohender Impotenz würden wir Ihnen die Möglichkeit einer außergerichtlichen Einigung nicht einräumen.«

Es gab viele Erwiderungen, die mit Sicherheit nicht nur Oliver durch den Kopf gingen. Dass sie dem Kerl die Nase hätte brechen sollen und noch viel mehr. Dass er auf Grunaus Impotenz eine Flasche Champagner geköpft hätte. Der Blick, den er Jennifer zuwarf, war hoffentlich als Warnung und nicht als Aufforderung zu verstehen.

Jennifers Gelassenheit war mehr als nur trügerisch. Eine als Schuldeingeständnis verwertbare Aussage in der Anwesenheit von Zeugen ...

Das Zähneknirschen war deutlich zu hören und musste wehtun. Sie behielt die Kontrolle. Immerhin sah sie sich diesen Anschuldigungen nicht zum ersten Mal ausgesetzt. »Ihr Mandant hat eine blühende Fantasie. Ich fürchte, ich werde seinem Anliegen nicht entgegenkommen können. Wie Sie wissen sollten, wurden die Ermittlungen gegen mich eingestellt. Ich habe im Affekt gehandelt, es war Notwehr. Ich habe vielleicht ein wenig überreagiert, aber das hatte Ihr Mandant selbst zu verantworten.«

»Schade, dass man Ihnen das abgekauft hat. Was für ein eigenartiger Zufall, dass die Kamera ausgerechnet nicht den Moment erfasst hat, in dem Sie über meinen Mandanten hergefallen sind.« Tabea Regenbrechts Stimme klang schon beinahe liebenswürdig. »Die eingeschworene Gemeinde von Polizisten, Staatsanwälten und Ermittlern ... Eine interne Untersuchung ...« Sie seufzte. »Ja, strafrechtlich ist die Sache wohl ausgereizt, was aber nichts an der Forderung meines Mandanten nach Schmerzensgeld und Schadensersatz ändert.«

Oliver hatte genug gehört. Regenbrecht stocherte im Dunkeln und versuchte Jennifer mit haltlosen Ankündigungen zu einer unbedachten Äußerung zu bewegen. Er konnte nicht einschätzen, wie lange Jennifer noch gelassen bleiben würde und er wollte der Anwältin keine Möglichkeit geben, es herauszufinden. »Sie glauben ernsthaft, eine Chance zu haben? Sie wurde strafrechtlich nicht belangt, damit ist eine Zivilklage aussichtslos.«

Regenbrecht ließ sich von seinem Einwand nicht beeindrucken. Sie hatte offensichtlich bereits damit gerechnet. »Das ist eine allgemein verbreitete Annahme, die lediglich deshalb Bestand hat, weil es die wenigsten Anwälte probieren. Ich aber werde es versuchen und ich werde Erfolg haben. Dafür brauche ich keine strafrechtliche Verurteilung. Die Ermittlungen waren keinesfalls gründlich und ich habe genug in der Hand, um einen Zivilrichter zu überzeugen.«

»Und was genau sollte das sein?«, fragte Jennifer.

Oliver kannte die Antwort bereits. Sie stand die ganze Zeit über lächelnd zwei Meter entfernt und gab sich gar keine Mühe, ihre Häme zu verbergen. Sie war nicht nur hier, um durch ihre bloße Anwesenheit Jennifers Emotionen zum Kochen zu bringen.

Wie erwartet deutete Regenbrecht auf Ricarda Anstett. »Ich habe Insider-Informationen. Über den Vorfall. Über Sie. Ihre Aussageverweigerung bezüglich des Vorfalls in dem soeben beendeten Gerichtsverfahren spricht ebenfalls gegen Sie.«

Bevor Oliver etwas sagen konnte, hob die Anwältin die Hand. »Ich weiß, ich weiß. Dass sie sich darauf berufen hat, sich selbst nicht belasten zu wollen, darf ihr in einem Strafverfahren nicht als Schuldeingeständnis ausgelegt werden. Wir werden aber sehen, wie ein Zivilrichter das sieht.«

Sie wandte sich wieder Jennifer zu. »Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass das nicht zu Ihren Gunsten gewertet werden wird. Hinzu kommt Ihre Weigerung, einem Täter-Opfer-Ausgleich zuzustimmen. Wenn Sie wirklich ein Opfer in dieser Geschichte wären, das so verängstigt war, dass es zu übertriebener Gewalt greifen musste, um sich zu verteidigen, hätten Sie zugestimmt.«

»Sie haben interessante Ansichten über die Verfassung verängstigter Opfer«, erwiderte Jennifer kalt. »Das erklärt aber natürlich, warum Sie einen Kerl wie Jonas Grunau vertreten und von ihm sprechen können, als wäre er ein verdammtes Unschuldslamm.«

»Das ist mein Job. Apropos Job: Wissen Sie, weshalb Ihnen außerhalb der Polizei, die das Ganze wohlwollend zu Ihrem Vorteil bewertet hat, niemand Ihre Version des Vorfalls glauben wird?«

Jennifer verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte offenbar genug gehört. Auch sie hatte Regenbrechts Manöver durchschaut. »Weshalb?«

»Weil Sie, wenn Sie tatsächlich derart psychisch instabil wären, derart verängstigt, keine Waffe mehr am Gürtel tragen würden. Sie würden am Schreibtisch sitzen oder eher noch für dienstunfähig befunden worden sein.«

»Ich war und ich bin nicht verängstigt«, stellte Jennifer fest. Sie störte sich offenbar daran, wie oft Regenbrecht das Wort verängstigt benutzte. Die Frau traf ins Schwarze.

»Schön für Sie.« Die Anwältin streckte ihr erneut den Umschlag entgegen. »Jedenfalls sind unsere Aussichten vor einem Zivilgericht wesentlich besser als Ihre. Aus reiner Höflich- und Großzügigkeit, und weil mein Mandant sie trotz allem zu mögen scheint, bieten wir Ihnen eine außergerichtliche Einigung an.«

Oliver verspürte große Lust, den Umschlag an Jennifers Stelle entgegen zu nehmen, nur, um ihn vor den Augen von Tabea Regenbrecht zu zerreißen und die Schnipsel zu Boden rieseln zu lassen. Er widerstand dem Drang.

Jennifer hielt die Arme weiterhin verschränkt. Ihre Anspannung sagte mehr als genug über ihre eigenen unterdrückten Reaktionen aus. »Ich verzichte auf die Höflichkeit Ihres Mandanten.«

Die Anwältin schob den Umschlag achselzuckend in ihre Aktentasche zurück. »Wie Sie wollen. Wir sehen uns also vor Gericht.« Sie wandte sich ab und verschwand im Treppenhaus, trotz ihrer hochhackigen Pumps beinahe lautlos.

Nur Ricarda Anstett blieb zurück. Das Miststück lächelte noch immer. Sie hatte ihren Spaß und genoss ihn in vollen Zügen.

Oliver sah seine ehemalige Vorgesetzte mit offener Abneigung an. Zu lange hatte er gute Miene zum bösen Spiel machen und ihre Anweisungen befolgen müssen.

Vermutlich wäre es besser gewesen, sich wortlos umzudrehen und zu gehen. Er hatte aber nicht vor, der Konfrontation noch länger aus dem Weg zu gehen.

Er war inzwischen wütend. Mehr als nur wütend.

Nur mit Mühe gelang es ihm, den sorgfältig unterdrückten Zorn aus seiner Stimme zu verbannen und sachlich zu bleiben. »Sie werden damit keinen Erfolg haben. Sie sind zwar keine Beamtin mehr, trotzdem können Sie nicht lustig munter über alles plaudern, wie es Ihnen gerade in den Kram passt. Sie machen sich strafbar.«

Ricarda Anstett verdrehte die Augen. »Vielen Dank für Ihre rechtliche Einschätzung, Herr Grohmann. Sie ist mehr als überflüssig.« Ihr Lächeln war nun verschwunden. »Ich weiß sehr wohl, was ich sagen kann und sagen darf, und vor allem, wie ich es sagen muss, damit die Aussage beim Empfänger richtig ankommt, ohne mich angreifbar zu machen.«

»Das ist ein Bluff, nichts weiter. Sie können dieser Regenbrecht rein gar nichts erzählen. Sie hat nicht das Geringste in der Hand.«

»Ein Bluff?«, wiederholte Anstett. »Glauben Sie wirklich, dafür würde ich mich hergeben? Ich bin noch immer sehr wütend und besonders nachtragend. Ihnen beiden habe ich es zu verdanken, dass ich keine Beamtin mehr bin. Diese ganze Affäre und Untersuchung um Ihre Kapriolen im Sommer hat mich meine versprochene Anstellung im Ministerium gekostet. Sie haben meinen Ruf geschädigt. Auf einmal war davon die Rede, ich hätte keinen Biss mehr, hätte nicht einmal die Beamten eines kleinen Drecksreviers wie Lemanshain im Griff.«

Ihr Gesicht hatte sich zu einer zornigen Maske verzerrt. Sie hatte länger als zwei Monate darauf warten müssen, ihrem Hass eine Stimme zu geben. Nun hatte sie endlich Gelegenheit dazu. »Die Geschichte hat sich bundesweit verbreitet, dank Ihres Vaters, wie ich vermute, Herr Grohmann. Meine Unterstützer haben sich allesamt zurückgezogen. Egal, wo ich mich einzubringen versuchte, die Reaktionen waren eindeutig. Also bin ich gegangen. Ihretwegen habe ich keinen Posten im Ministerium, Ihretwegen bin ich nicht einmal mehr Staatsanwältin.«

Ihre Stimme drohte, sich zu überschlagen. »Dass ich Ihnen all das, was Sie ja ohnehin schon wissen, jetzt noch einmal erzähle, zeigt,wiewütend ich auf Sie beide bin. Auf einen Bluff würde ich mich niemals einlassen. Ich will, dassIhnen etwas passiert. Verschätzen Sie sich also lieber nicht. Dass ich hier vor Ihnen stehe, ist Beweis genug dafür, wie viel Erfolgsaussichten diese Klage hat.«

Nun erschien doch wieder ein Lächeln auf ihren perfekt geschminkten Lippen. »Selbst wenn Sie nicht verurteilt werden, Frau Leitner, die Öffentlichkeit wird es tun. Ich werde dafür sorgen, dass dieser Prozess die angemessene Aufmerksamkeit der Presse erhält, so weit reicht mein Arm dann doch noch. Der Druck auf Ihre Vorgesetzten könnte unangenehm werden. Man könnte sich dazu entschließen, sich diesen Vorfall noch einmal anzusehen. Dann wären Sie geliefert. Etwas, das schon vor drei Monaten hätte passieren müssen.«

»Mit einem Typen wie Jonas Grunau im Gepäck ist Öffentlichkeit bestimmt das Letzte, was Regenbrecht will«, sprach Jennifer Olivers eigenen Gedanken aus. »Sein Strafprozess ist wohl nicht ohne Grund im Stillen abgelaufen.«

»Das könnte sich noch ändern. Die Namen Gäfgen und Daschner sind Ihnen doch bestimmt noch ein Begriff? Ein Kindsmörder erhält für die Androhung von Gewalt Schmerzensgeld und ein Polizeivizepräsident wird dafür verurteilt. Was bedeutet das dann wohl für Ihren Fall, Frau Leitner, hm?«

Sie starrten sich an. Jennifer wusste offenbar nicht, was sie auf diese Tirade noch antworten sollte. Oliver ging es genauso.

Sekunden vergingen, bevor Anstett leise sagte: »Ich an Ihrer Stelle würde Tabea Regenbrecht hinterherlaufen und sie darum anflehen, das Angebot doch noch annehmen zu dürfen. Das ist der letzte und einzige gut gemeinte Rat, den Sie jemals von mir hören werden.«

5

Die Party war mittelmäßig. Die Musik war einigermaßen in Ordnung, das Angebot an Getränken von zu viel billigem Fusel durchsetzt, Snacks und Knabbereien zum Aufsaugen des Alkohols ließen zu wünschen übrig. Wie üblich war die Schnittmenge zwischen Werbung und Wahrheit alles andere als hoch.

Meike hatte sich von den Erzählungen blenden lassen und tatsächlich geglaubt, dass die von Studenten an der Privatuni gegebenen Partys herausragend und legendär waren. Sie ärgerte sich über ihre eigene Naivität.

Letztlich lief die Veranstaltung auch nur darauf hinaus, sich entweder möglichst schnell in Richtung Koma zu saufen, oder zu versuchen, irgendjemanden für eine schnelle, anonyme Nummer aufzureißen. Für letzteren Fall versuchten die betroffenen Gäste immerhin so nüchtern zu bleiben, dass aus der Nummer überhaupt etwas werden konnte. Meist mit bescheidenem Erfolg.

Klasse und Stil? Von wegen! Ein Hauch von Glamour aufgrund der gutbetuchten Gastgeber? Fehlanzeige. Ein bisschen Rest von Würde oder wenigstens ein minimaler Prozentsatz von Leuten, die weder hinter Alkohol noch Sex her waren? Nicht die Spur.

Meike war keine langweilige Streberin. Sie wusste eine echte Party mit den entsprechenden Zutaten und dazu gehörigen schlechten Entscheidungen ab und an durchaus zu schätzen. Aber sie gehörte auch nicht zu den Menschen, für die sich der Erfolg einer Party nach der Anzahl möglichst schnell abgetöteter Gehirnzellen oder der Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten bemaß.

Sie hatte den Gerüchten Glauben geschenkt und an diesem Abend etwas anderes erwartet. Darüber wäre sie wohl noch hinweggekommen, aber selbst für eine gewöhnliche Studentenparty war diese hier allenfalls unterer Durchschnitt.

Meike hätte sofort wieder gehen können. Es wäre ohnehin niemandem aufgefallen. Sie war allein gekommen und hatte keinerlei Verabredungen getroffen.

Aber sie hatte viel Zeit darauf verwendet, sich herauszuputzen: Ein Kleid ausgesucht, eine gute Viertelstunde für ihre Haare aufgebracht, sich mit dem Make-up Mühe gegeben. Und sie hatte sich trotz der eisigen Kälte in High Heels auf den Campus begeben.

Für einen Drink und zwei, drei Songs zu bleiben erschien ihr aufgrund der investierten Arbeit nur logisch. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sich ihr erster Eindruck in dieser Zeit auch noch revidieren oder zumindest relativieren könnte. Was natürlich nicht geschah.

Es blieb nicht bei einem Drink. Wie immer, wenn sie enttäuscht und frustriert war, trank Meike mehr, als sie ursprünglich vorgehabt hatte, billiger Fusel hin oder her. Nach der dritten Rum-Cola war Qualität ohnehin kein Thema mehr.

Bis sie schließlich doch aufbrach, war es weit nach Mitternacht. Ein Pärchen, das sie noch oberflächlich aus Schulzeiten kannte, begleitete sie drei Straßenzüge weit, bevor sich ihre Wege trennten.

Es herrschten eisige Temperaturen. Ihre Beine fühlten sich trotz des Mantels und der Strumpfhose bald taub an, ihre Zehen spürte sie schon gar nicht mehr. Wenigstens betäubte die Kälte auch die Schmerzen, die ihre Füße wegen der hohen Absätze und der viel zu engen Schuhe den halben Abend gequält hatten.

Meike bereute ihre Entscheidung, nach Hause zu laufen. Ihr vom Alkohol vernebeltes Gehirn hatte den nächtlichen Spaziergang für wenig anstrengend und machbar erachtet. Dass sie bereits auf dem Hinweg gefroren hatte, hatte sie dabei einfach vergessen.

Sie hätte sich ein Taxi leisten sollen, doch ihr Kontostand betrug nur noch wenige Euro und das Ende des Monats war noch nicht in Sicht. Der Nachtbus fuhr zwar, doch auf einer derart umständlichen Route, dass sie trotzdem eine lange Strecke hätte laufen müssen. In der Zeit, in der sie an der nächsten Haltestelle hätte warten müssen, würde sie es außerdem auch nach Hause schaffen.

Falls sie die Abkürzung durch den Park nahm.

Meike bog um die Ecke, an dem ein kleines Café lag, das tagsüber recht annehmbaren Kaffee und selbst gemachten Kuchen servierte. Der Park erstreckte sich von dieser Kreuzung aus gut einen Kilometer an einem breiten Bachlauf entlang.

---ENDE DER LESEPROBE---