Seelenweh - Saskia Berwein - E-Book
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Seelenweh E-Book

Saskia Berwein

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Beschreibung

Als in einem Abrisshaus die verstümmelte Leiche eines siebzehnjährigen Mädchens gefunden wird, stehen Jennifer Leitner und Oliver Grohmann vor ihrem bislang schwierigsten Fall. Denn die junge Isabell ist bereits das dreizehnte Opfer einer bundesweiten Mordserie, und bis der Täter erneut zuschlägt, ist es nur eine Frage der Zeit ...

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Saskia Berwein

Seelenweh

Die Autorin

Saskia Berwein ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie wurde 1981 in Egelsbach geboren. Ihre Liebe zum Lesen führte bereits im Alter von 17 zur Entstehung ihres ersten Romans. Sie lebt zusammen mit ihrem Lebensgefährten in Mühlheim am Main.

Mehr über die Autorin:

www.saskia-berwein.de

www.facebook.com/SaskiaBerweinAutorin

Saskia Berwein im Kuneli Verlag

Todeszeichen

Herzenskälte

Seelenweh

Zornesbrand

Saskia Berwein

Seelenweh

Ein Fall für Leitner und Grohmann

Band 3

Thriller

Kuneli Verlag

Originalausgabe September 2019

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2019 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage

Satz & Cover: Kuneli Verlag, 63165 Mühlheim am Main

Bilder unter Lizenz von Shutterstock.com verwendet.

ISBN Print 978-3-948194-07-9

ISBN Epub 978-3-948194-08-6

www.kuneli-verlag.de

Prolog

Der Geruch nach Öl und Benzin war viel zu stark. Sie stand auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Tankstelle. Trotzdem konnte sie den Kraftstoff fast schon auf der Zunge schmecken.

Sie konnte auch ein leises Plätschern hören. Benzin tropfte aus einer am Boden liegenden Zapfpistole auf den Beton. Die Pfütze schillerte in grellen Farben.

Ein kleines Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, stand neben der Zapfsäule. Sie trug ein weißes, spitzenbesetztes Kleid. Blut war in dünnen Rinnsalen an den Innenseiten ihrer blassen Oberschenkel hinuntergelaufen.

Sie schaute zu ihr herüber, ihre Blicke trafen sich. Das Mädchen hatte dunkelbraune Augen. Isabell sah vertrauten Schmerz in ihnen, Trauer, Enttäuschung, Wut und Hass.

Der zu einer dünnen, farblosen Linie zusammengepresste Mund verzog sich zu einem Lächeln. Erst wirkte es freundlich, einladend, dann verzerrte es sich jedoch zu einem bösen, beinahe wahnsinnigen Grinsen.

Die Pfütze aus Benzin war größer geworden. Sie hatte sich zu einem kleinen See ausgeweitet, viel zu groß für die Tropfen, die noch immer stetig aus dem Zapfhahn rannen. Der schillernde Teich endete knapp vor den Schuhspitzen des Mädchens.

Die Kleine machte einen Schritt nach vorn, langsam und bedächtig, in die Benzinlache hinein, den Blick nicht von Isabell abwendend.

Plötzlich hielt sie eine Streichholzschachtel in der Hand und öffnete sie.

Isabell wollte den Mund öffnen und schreien, doch ihre Lippen fühlten sich taub an und gehorchten ihr nicht. Sie konnte das Unvermeidliche nicht verhindern.

Mit einem Ratschen, das Isabell in den Ohren wehtat, schrammte der Streichholzkopf über die Seite der Schachtel. Sie sah das Aufflackern der Flamme als Spiegelbild in den Augen des Mädchens.

Die Kleine ließ das Streichholz fallen.

Das Benzin entzündete sich explosionsartig. Eine Wand aus gelbrotem Feuer loderte auf und verschlang das Mädchen augenblicklich.

Es blieb nur ein Schrei zurück.

Erst als sie aus dem Traum hochfuhr und die Augen aufriss, bemerkte Isabell, dass sie diejenige war, die schrie.

Allerdings nur leise, kaum hörbar. Es war mehr ein Stöhnen als ein Schreien, noch dazu wurde es von dem harten, unebenen Untergrund gedämpft, auf dem sie mit dem Gesicht nach unten lag.

Ihr Körper fühlte sich schwer und wie betäubt an. Es kostete sie große Kraft, den Kopf zu heben und zu blinzeln.

Doch um sie herum war nur Dunkelheit.

Wo zum Teufel war sie?

Bruchstückhaft erinnerte sich Isabell an das, was geschehen war, bevor die Welt in Schwarz getaucht wurde und Alpträume sie heimsuchten. Jemand hatte seine Hilfe angeboten. Sie war voller Hoffnung in das Auto gestiegen.

Mit der Erinnerung kam auch die Erkenntnis. Isabell wusste sofort, dass sie in Schwierigkeiten steckte. In ernsthaften Schwierigkeiten.

Der Geruch von Öl und Benzin umgab sie noch immer, wirkte jetzt aber alt und abgestanden. Der Boden unter ihr fühlte sich wie geborstener Beton an. Aus den Rissen schien Erde hervorzuquellen.

Es gab kein Licht.

Angst begann sich wie eine kalte Faust in ihrer Brust zusammenzuballen. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Es war nicht das erste Mal, dass sie in einer fremden oder gar bedrohlichen Situation erwachte. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu kontrollieren. Panik hatte ihr noch nie geholfen.

Isabell bewegte langsam ihre Glieder und stellte fest, dass sie nicht gefesselt war und nichts gebrochen zu sein schien. Lediglich die Stelle an ihrem Hals, wo der Elektroschocker sie getroffen hatte, schmerzte. Vorsichtig kämpfte sie sich auf die Knie, setzte sich auf, wagte jedoch nicht, aufzustehen.

Wo bin ich? Wieso bin ich hier?

Das waren Fragen, die sie zurückstellen musste, denn viel wichtiger war, wie sie entkommen konnte. Sie zweifelte nicht daran, dass sie eine Gefangene war. Wieso sonst hätte man sie betäuben und verschleppen sollen?

Isabell ließ sich auf alle Viere nieder. Vorsichtig bewegte sie sich vorwärts und stieß bald auf eine Wand, der sie folgen konnte. Ihre Finger ertasteten gerade eine Ecke des Raumes, als sie irgendwo über sich Schritte hörte.

Sie erstarrte, lauschte, doch das metallische Knirschen über ihr war bereits wieder verstummt.

Dann nahm sie etwas anderes wahr.

Ein Atmen. Hinter ihr.

Sie wirbelte herum und stierte in die Dunkelheit. Isabell musste die Luft anhalten und ihren eigenen Herzschlag ausblenden, um die Atemzüge hören zu können. Doch sie waren eindeutig da.

»Hallo?« Ihre Stimme klang wie das verängstigte Fiepen einer Maus.

Trotzdem folgte sofort eine Reaktion. Irgendetwas oder irgendjemand bewegte sich. Das Atmen wurde schwerer und ging in ein Schnaufen über. Metall klirrte.

Ihr Gehirn hatte gerade das Bild eines wütenden, in eine Ecke gedrängten Stiers heraufbeschworen, der sich zum Angriff bereit machte, als plötzlich das Licht anging.

Für den Bruchteil einer Sekunde war Isabell geblendet, dann nahm die Welt um sie herum wieder klare Konturen an.

Und sie musste erkennen, wie recht ihre Fantasie doch hatte.

1

Dezember, sechs Jahre vor dem aktuellen Geschehen,

irgendwo im Dortmunder Umland

Der Sturm pfiff um die Kirche und rüttelte an den Dachziegeln. Es war spät, es war dunkel, und der Eisregen trommelte gegen die Buntglasfenster. Normalerweise würde er die Kirche erst in einer halben Stunde absperren, doch bei diesem Wetter waren keine Besucher mehr zu erwarten. Es war ohnehin selten geworden, dass sich jemand außerhalb der Messen in das kleine Gebäude verirrte.

Umso überraschter war Klaudius Moor, eine Person in der ersten Reihe sitzen zu sehen, als er ins Langhaus trat. Er stöhnte innerlich auf, hielt er die Gestalt doch zuerst für einen Obdachlosen, der in seiner Kirche Schutz vor dem Wetter gesucht hatte. Einmal hatte er den Fehler begangen, einem Mann über Nacht Obdach zu gewähren. Am nächsten Morgen hatte er den Altar entweiht vorgefunden, einige Gegenstände fehlten.

Er wappnete sich bereits für eine Auseinandersetzung, die hoffentlich nicht mit einem Anruf bei der Polizei enden würde, als ihm auffiel, dass die Person zwar einen völlig durchweichten Mantel trug, es sich aber um eine angemessen gekleidete Frau handelte.

Sie schien zu dösen, doch als er näher herantrat, sah er, dass ihre Augen geöffnet waren. Sie starrte reglos vor sich hin und nahm keine Notiz von ihm.

Na prima, statt eines Penners habe ich jetzt eine psychisch labile Frau am Hals … Und sie gehört nicht einmal zu meiner Gemeinde.

Es war ein wirklich ungünstiger Zeitpunkt. Er hatte sich auf einen gemütlichen Abend am Kamin gefreut, mit heißem Tee und einem Krimi im Fernsehen. Das konnte er sich jetzt wohl abschminken.

Er trat zu der Frau und räusperte sich. Keine Reaktion. »Kann ich Ihnen helfen?«

Sie blinzelte, als würde sie aus einem Tagtraum erwachen, und blickte zu ihm auf. »Oh. Haben Sie etwas gesagt?«

»Ich fragte, ob ich Ihnen helfen kann«, erwiderte der Pfarrer so freundlich, wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich war.

Die Frau bewegte den Kopf. Er war sich nicht sicher, ob es ein Kopfschütteln sein sollte. »Nein, danke. Ich bin nur hergekommen, um ein wenig Ruhe zu finden.«

Nicht einmal beten. Aber was hatte er auch erwartet? »Ich wollte die Kirche jetzt absperren. Es liegt mir fern, Sie hinauszuwerfen, aber …« Er verstummte.

»Ich verstehe, Pater.« Sie nickte und stand auf. Es schien ihr unendlich schwer zu fallen, als wäre sie doppelt so alt wie die von ihm geschätzten fünfzig Jahre. »Ich will keine Last sein.«

Ein Teil von ihm war froh, dass sie ohne besonderen Widerspruch gehen wollte, ein anderer Teil schalt ihn für sein unchristliches Benehmen.Ach, verdammt!»Sie wirken aufgewühlt. Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. Ihre Augen waren gerötet, die Lider geschwollen. Sie hatte Tränen vergossen. Viele Tränen. »Mir kann niemand mehr helfen.«

Andere Pfarrer mochten fähig sein, in den Augen der Menschen zu erkennen, was sie umtrieb. Klaudius Moor hatte noch nie dazu gehört.

»Sind Sie krank?«, fragte er sanft.

Sie musste offenbar über die Frage nachdenken. »In gewisser Weise, ja. Ich habe Dinge getan, die man wohl allgemein als krank bezeichnen würde.«

Er musste schlucken. »Es steht mir nicht zu, über Sie zu urteilen. Aber falls Sie beichten möchten …«

Die Frau lachte leise. »Für das, was ich getan habe, kann mir niemand Absolution erteilen. Falls Ihr Gott existiert, ist mir ein Platz im Fegefeuer sicher.«

»Wieso sind Sie dann hergekommen?«

Sie seufzte. »Ich brauchte Ruhe und Abstand. Ich bin herumgefahren, der Sturm wurde schlimmer … Ich sah Ihre Kirche und hoffte auf ein klein wenig Frieden.«

Klaudius Moor zögerte. »Den habe ich dann wohl gestört.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Es war falsch von mir, hier Frieden zu suchen … Für mich wird es nie mehr Frieden geben. Aber das ist die Bürde, die ich zu tragen habe. Ich habe Sie mir selbst auferlegt.« Sie schwieg einen Moment, dann nickte sie ihm zu. »Pater.«

Sie schlurfte auf den Ausgang zu. Eine gebeugte, gebrochene Frau.

Er sollte sie ziehen lassen. Sie suchte weder seinen noch Gottes Beistand. Doch er hatte das Gefühl, dass er sie nicht einfach so gehen lassen durfte. Vielleicht war es auch nur seine Neugier, die ihm nach all den Jahren und all den abgenommenen Beichten nicht abhanden gekommen war.

Er war fasziniert von den Dämonen, die die Menschen heimsuchten.

»Was haben Sie getan?«, rief er ihr nach.

Sie blieb stehen und drehte sich langsam zu ihm um. »Sie wollen hören, was mich hierher getrieben hat?«, fragte sie zweifelnd.

Er nickte. »Ich habe den Eindruck, dass Sie jemanden zum Reden brauchen könnten.«

Die Frau schien ihm zuerst widersprechen zu wollen, dann nickte sie jedoch. »Sie könnten recht haben. Ich habe außerhalb meines Berufs seit einer halben Ewigkeit mit niemandem mehr gesprochen.«

Klaudius Moor deutete auf die Bankreihe, in der sie zuvor gesessen hatte. »Kommen Sie. Ich werde zuhören, wenn Sie wollen.«

»Sie wissen nicht, welche Last Sie sich damit aufhalsen würden. Ihr Schweigen ist verpflichtend. Ich habe immerhin noch die Wahl.«

Er spürte, wie sich seine Lippen ganz automatisch zu einem sanften Lächeln hoben. »Sie wären überrascht, welche Lasten ich zu tragen imstande bin.«

Die Frau zögerte sichtlich, machte dann aber doch kehrt und ließ sich auf der Bank nieder.

Er setzte sich neben sie. Als sie nichts sagte, fragte er: »Wieso haben Sie niemanden, mit dem Sie sprechen können? Haben Sie keine Freunde oder Familie?«

»Freunde würden nur alles verkomplizieren. Ich bin allein. Die einzige Familie, die ich habe, ist mein Sohn.«

»Und mit ihm können Sie nicht sprechen?«

Die Frau schien zu lächeln. »Über ihn selbst? Er ist der Grund für meine Einsamkeit. Ich muss ihn schützen, und das kann ich nur, wenn ich mit ihm alleine bin. Niemand darf wissen, dass er existiert.«

Der Pfarrer blinzelte. Es war eine merkwürdige und überaus ungewöhnliche Eröffnung. »Wieso darf niemand von seiner Existenz erfahren?«

Sie lächelte matt und sah nach vorne zum Altar, wo Jesus in Gold gegossen am Kreuz hing. »Weil ich ihn gestohlen habe.«

2

Jennifer hörte die Klingel aus den Tiefen ihrer Wohnung auf die Terrasse dringen, ignorierte das störende Geräusch aber. Sie war erschöpft, schläfrig und erwartete weder Besuch noch eine Paketzustellung. Nach diesem anstrengenden Tag hatte sie sich wirklich etwas Ruhe verdient.

Sie war kurz davor, wieder einzudösen, als sie das Quietschen des Tors am Ende des kleinen Gartens wahrnahm, der zu ihrer Eigentumswohnung gehörte. Sie musste vergessen haben, es abzuschließen.

Der unerwartete Besucher kannte offenbar diesen Zugang zum Grundstück und gehörte somit zu einem sehr eingeschränkten Personenkreis.

Mit geschlossenen Augen lauschte sie den Schritten auf dem Pflaster. Im Stillen betete sie, dass es nicht ihre Mutter war. Die ersten Tage ihres Urlaubs hatte Jennifer in Heidelberg verbracht, und die ständigen Streitereien ihrer Eltern ließen selbst sie inzwischen an Scheidung als beste Lösung denken. Hoffentlich hatte ihre Mutter nicht beschlossen, sich dem Kleinkrieg zu entziehen, indem sie zu ihrer Tochter floh.

Jennifer zwang sich, die Augen zu öffnen und in den Halbschatten des erst an diesem Morgen gesetzten Blutahorns zu blinzeln. Sie sah einen Mann zwischen den Beeten auf sich zukommen, mit dem sie schon allein deshalb nicht gerechnet hatte, weil sie eigentlich sicher war, dass er nicht zu dem zuvor genannten Personenkreis gehörte.

Ihr Blick streifte die Uhr auf dem Tisch zu ihrer Rechten. Kurz nach fünf.

Oliver Grohmann konnte dienstlich hier sein, musste es aber nicht. Sie hatte keinen Anruf erhalten. Außerdem hatte sie, das kommende Wochenende mitgerechnet, noch vier Tage Urlaub.

Wieso war er hier?

Jennifer setzte sich in ihrem Liegestuhl auf und zog unbewusst das dünne T-Shirt zurecht, auf dem sich Gras- und Erdflecken gegenseitig zu verdrängen versuchten. Während er die letzten Meter zur Terrasse zurücklegte, ließ sie ihren Blick unauffällig über seine Erscheinung schweifen.

Er musste direkt von der Arbeit kommen, zumindest trug er eines seiner üblichen elegant-legeren Outfits – dunkle Jeans und ein anthrazitgraues Hemd, dessen Farbe sowohl mit seinen schwarzen Haaren als auch mit seinen graublauen Augen perfekt harmonierte.

Die Hitze des Spätjunis hatte ihm offensichtlich zugesetzt – oder doch eher der Grund seines unangekündigten Besuchs? Seine Kleidung war zwar nicht fleckig, aber er wirkte ähnlich erschöpft wie Jennifer sich fühlte.

Sie hätte ihn am liebsten direkt gefragt, wieso er hier war, übte sich jedoch in Geduld. »Du begehst gerade Hausfriedensbruch.«

Wenigstens entlockte ihm diese schroffe Art der Begrüßung ein kleines Lächeln. »Du hast die Klingel ignoriert.«

»Ich habe sie gar nicht gehört.«

Seinem Blick war anzusehen, dass er ihr nicht glaubte. »Dann war es eine gute Idee, hier nachzusehen.«

»Das entschuldigt nicht das unerlaubte und unaufgeforderte Betreten meines Grundstücks.« Jennifer spürte, wie ihre Mundwinkel zuckten und sich ein Grinsen in ihr Gesicht zu stehlen versuchte.

»Ich kann gerne noch mal den Vordereingang probieren, wenn du mich dann einlässt.«

Jennifer sah ihm kurz in die Augen und versuchte, ein Gefühl für seine Stimmung zu bekommen. Sie schätzte sie durchaus als positiv ein, doch es gab auch eine dunklere Färbung, die sie nicht so recht fassen konnte. Nervosität? Beunruhigung?

Zumindest schien er nicht gekommen zu sein, um sie zu irgendeinem Tatort mitzunehmen. Sie deutete auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des Terrassentischs stand. »Setz dich doch.«

Oliver kam ihrer Aufforderung nach, während sie sich wieder zurücklehnte. Der Staatsanwalt ließ seinen Blick schweigend durch ihren Garten wandern.

»Du hast hier die letzten Tage ziemlich viel bewegt.« Sein Blick schweifte zwischen dem Rhododendron und dem Sommerflieder hin und her, die in ein oder zwei Jahren einen natürlichen Blickschutz für die Terrasse bieten würden.

»Ein bisschen Schönheitspflege hier und da«, wiegelte sie ab. Jennifer wollte endlich wissen, warum er hier bei ihr zu Hause aufgetaucht war, wollte ihn aber auch nicht unter Druck setzen.

Er warf ihr nur einen kurzen, skeptischen Blick zu. Dem kleinen Flecken Grün war deutlich anzusehen, dass er in den letzten Tagen umgestaltet worden war. Nichts erinnerte mehr an das verwilderte und zugewucherte Grundstück, das sich hier noch vor gut einer Woche erstreckt hatte. »Du kommst nie zur Ruhe, oder?«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die sie mit einem Schulterzucken beantwortete. Urlaub war für sie immer eine schwierige Zeit, und sie war froh, eine sinnvolle Beschäftigung gefunden zu haben.

Jennifers Geduld hatte sich nun endgültig erschöpft. Er war garantiert nicht hier, um mit ihr über ihren Garten zu plaudern. »Was verschafft mir die Ehre?«, fragte sie mit leichter Bestimmtheit, die ihm signalisieren sollte, dass er besser ohne weitere Umschweife zur Sache kam.

»Ich bin der Überbringer schlechter Neuigkeiten.«

Sie runzelte die Stirn. »Hätten die nicht noch bis Montag warten können?«

»Theoretisch ja, aber ich fand es eine gute Idee, sie dir persönlich zu überbringen.«

Kein gutes Zeichen. »Oha.«

»Außerdem muss ich heute Abend noch zu einer Schulaufführung, in der Hannah eine tragende Rolle spielt. Und da deine Wohnung mehr oder weniger auf dem Weg liegt …«

»Ja«, erwiderte Jennifer mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Mehr oder weniger.« Eigentlich überhaupt nicht. Er hatte einen Umweg in Kauf genommen, der ihn im Berufsverkehr mindestens eine halbe Stunde kosten würde.

»Welche der beiden Hiobsbotschaften willst du zuerst hören?«

Sie musste über ihre Antwort nicht nachdenken. »Die, die dich mehr beschäftigt.«

Oliver lehnte sich auf dem Stuhl zurück und wandte sich ihr zu. »Scholz ist tot.«

Jennifer verblüffte die Neuigkeit vom Ableben des Oberstaatsanwalts. »Wann?«

»Letztes Wochenende.« Er zögerte kurz. »Es überrascht mich, dass du davon noch nichts gehört hast.«

»Mein Handy ist aus, und ich mache einen großen Bogen um alles, was auch nur ansatzweise mit meiner Arbeit zu tun hat – inklusive sämtlicher Medien.«

Oliver nickte, doch sie glaubte in seinen Augen so etwas wie Anerkennung oder sogar Stolz aufflackern zu sehen. Dass sie tatsächlich und noch dazu erfolgreich versuchte, Abstand zu ihrem Job zu gewinnen, war ein echtes Novum.

Mit dem Abstand war es nun aber definitiv vorbei. »Ist er ermordet worden?«

Der Blick des Staatsanwalts strafte wortlos ihren Pessimismus. »Herzinfarkt. In einem Moment plaudert er noch mit seiner Frau über eine Verabredung mit Bekannten, im nächsten greift er sich an die Brust, murmelt ihren Namen und bricht tot zusammen.« Oliver hielt kurz inne, als ob er die Nachricht selbst noch einmal auf sich wirken lassen müsste. »Sie hat auf eine Obduktion bestanden. Es waren mehrere Koronararterien betroffen. Er hatte nicht die geringste Chance.«

»Scheiße«, fluchte Jennifer. Sie hatte nicht allzu viele Berührungspunkte mit dem Oberstaatsanwalt gehabt, doch seine Entscheidungen waren immer nachvollziehbar und besonnen gewesen. »Er war doch noch keine sechzig.«

»Wäre er dieses Jahr geworden.«

Jennifer ließ mehrere Sekunden verstreichen, in denen sie Oliver schweigend musterte. Seine Kinnpartie, auf der ein Dreitagebart spross, wirkte angespannt, und seine Hände hatte er so fest ineinander verschränkt, als müsste er sich selbst von unruhigen oder fahrigen Bewegungen abhalten. »Du hast abgelehnt, habe ich recht?«

Ein Lächeln verzog seine Mundwinkel, freudlos und erleichtert zugleich. »Ja, ich habe abgelehnt. Ich werde seine Nachfolge nicht antreten.«

»Obwohl man dir den Posten offen angeboten hat«, sprach Jennifer eine weitere Vermutung aus.

Oliver nickte. »Das schon. Ich mache mir allerdings keine Illusionen darüber, dass sie mir seine Nachfolge nur angetragen haben, weil Scholz’ Pläne das in ein paar Jahren ohnehin vorsahen.«

»Aber das war nicht entscheidend für deine Ablehnung.«

»Nein.« Er wirkte bereits um einiges entspannter, dennoch zögerte er, bevor er die Wahrheit offen aussprach: »Ich wollte seinen Posten nicht haben. Vermutlich werde ich ihn niemals haben wollen.«

Jennifer musste unwillkürlich lächeln. »Weil du gerne dort bist, wo du jetzt bist. Nah am Geschehen.«

Oliver nickte. »Ich war nie ein guter Organisator … Und mich mit Politikern und der Presse herumzuschlagen, war auch noch nie mein Traum.«

Sie hatte inzwischen eine Ahnung, warum er mit dieser Sache ausgerechnet zu ihr gekommen war. »Ich nehme mal an, dass deine Entscheidung bei den Wenigsten auf Verständnis trifft.«

Oliver stieß einen Seufzer aus. »Allerdings. Ich habe eindeutig genug davon, voreilige Glückwünsche zurückzuweisen, mich ständig rechtfertigen und, zumindest mit Blicken, für vollkommen verrückt erklären lassen zu müssen.«

Jennifer hatte eine recht lebhafte Vorstellung von den Reaktionen ihrer und seiner Kollegen. Einige davon hätte sie gerne persönlich miterlebt, auch wenn sie auf Olivers Kosten gingen. Von dem Tratsch würde sie in der nächsten Woche wohl noch genug zu hören bekommen, worauf sie allerdings liebend gerne verzichtet hätte. »Vielleicht bist du es ja«, sagte sie.

»Was?«

»Vollkommen verrückt.«

Er blinzelte zweimal. Der Ernst in ihrer Stimme irritierte ihn.

Jennifer erlöste ihn mit einem Lächeln. »Ich jedenfalls freue mich, dass du dir selbst treu bleibst.« Sie suchte seinen Blick. »Deshalb bist du hergekommen.«

Er nickte, und seine Mundwinkel hoben sich. »Ich denke schon. Die einzige Person, die nicht überrascht ist und die mir wohl kaum gratuliert hätte …« Oliver Grohmann verstummte.

Sie spürte ein eigenartiges Ziehen in der Magengegend und riss sich von seinen Augen los. Seine Feststellung lag zu nah an einer Grenze, die zu überschreiten sie sich strengstens verboten hatte. Nicht noch einmal. »Eins verstehe ich allerdings nicht.«

»Und das wäre?«

Sie hatte sich wieder gefangen und wagte es, ihn erneut anzusehen. »Warum du nicht über diesem ganzen Zirkus stehst. In einer Woche redet kein Mensch mehr darüber. Klar, du hast in ihren Augen die Chance deines Lebens ausgeschlagen. Karriere, Geld, Prestige … Aber die kriegen sich auch wieder ein.«

»Normalerweise wäre mir das ja auch alles egal.«

»Es gibt also einen Haken.«

Er nickte grimmig. »Einen ziemlich großen Haken sogar.«

Jennifer gefiel die Art, wie er das sagte, ganz und gar nicht. Eine ungute Vorahnung ergriff von ihr Besitz. »Sie haben doch noch keinen Nachfolger für Scholz gefunden, oder?«

»Nein, haben sie nicht. Aber jemanden, der seinen Job machen wird, bis der neue Oberstaatsanwalt feststeht.«

»Zumindest auf dem Papier«, warf Jennifer ein. »Irgendjemand, der unterschreibt und nur grob darauf achtet, dass keiner Mist baut.«

»Schön wär’s.« Oliver schüttelte resigniert den Kopf. »Sagt dir der Name Ricarda Anstett etwas?«

Jennifer runzelte die Stirn. »Ich fürchte, dass ich diesen Namen tatsächlich schon mal gehört habe, ist kein gutes Zeichen.«

»Nein, höchstwahrscheinlich nicht. Eigentlich ist sie auf dem Weg ins Justizministerium, hat sich aber bereit erklärt, für zwei bis drei Monate übergangsweise den Oberstaatsanwalt in Lemanshain zu geben. Irgendjemand in der Stadtverwaltung muss sie kennen … Jedenfalls ist sie aalglatt, presseverliebt, eine Karrieristin, Hardlinerin und kein netter Umgang.«

»Du kennst sie?«, hakte Jennifer nach.

Er zuckte die Schultern. »Sie hat zu meiner Zeit ein paar Gastvorträge an der Uni gehalten. Sie war damals schon ein unausstehliches Miststück. Und das, was ich heute noch an Informationen eingeholt habe …«

Jennifer fragte sich unwillkürlich, wie gut man einen Gastdozenten an der Uni kennenlernen konnte, um sich ein abschließendes Urteil über ihn bilden zu können. Doch sie stellte den Gedanken zurück. »Trotzdem ist Lemanshain eine unbedeutende Zwischenstation für sie. Sie wird pro forma hier sein und wohl kaum …«

Sein neuerliches Kopfschütteln unterbrach sie. »Sie ist nie lange geblieben. Das ist nicht das erste Mal, dass sie vorübergehend irgendwo einspringt. Jeder andere in dieser Position würde einfach dafür sorgen, alles am Laufen zu halten, und sich nicht weiter die Finger schmutzig machen. Aber nicht Ricarda Anstett. Sie liebt es, Dienststellen ihren Stempel aufzudrücken, durchzugreifen, aufzuräumen, und ob sie dabei verbrannte Erde hinterlässt, ist ihr völlig egal. Sie hat erstklassige Kontakte, die hinter ihr stehen, ganz gleich, was passiert. Wenn irgendetwas schiefgelaufen ist, musste sie nie ihren Kopf dafür hinhalten.«

Jennifer gefielen diese Informationen durchaus nicht, und sie konnte nachvollziehen, dass ihn das alles nicht gerade in Begeisterungsstürme ausbrechen ließ. Immerhin würde Anstett eine Weile seine direkte Vorgesetzte sein. Aber eben auch nur eine Weile. »Die zwei, drei Monate sind schnell vorbei. Außerdem wird sie hier kaum einen Fall finden, mit dem sie sich profilieren kann.«

Oliver nickte wenig überzeugt. »Das hoffe ich.«

Sie hätte ihn gerne einen Pessimisten genannt, doch sie wusste nur zu gut, dass Lemanshain nicht immer die friedliche, beschauliche Stadt war, als die sie der Bürgermeister gerne verkaufte. Das hatte das letzte Jahr nur allzu deutlich bewiesen.

Jennifer vermutete, dass er mit dieser Nachricht nicht nur zu ihr gekommen war, um ihr seine Sorgen mitzuteilen. Oliver wollte sie vorwarnen. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie und Anstett Freundinnen werden würden.

Doch darüber wollte sie sich jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen. »Und wie lautet die zweite Botschaft?«

Oliver musterte sie eine Sekunde lang, doch er folgte schließlich ihrem Themenwechsel. »Die Urteilsverkündung im Prozess gegen unseren Lieblingskrebspatienten wurde abgesagt.«

Jennifer stieß einen resignierten Seufzer aus. »Ebenfalls tot?«

Oliver nickte. »Mertens hat sich vorgestern verabschiedet.«

Jennifer hatte befürchtet, dass das passieren würde. Es war abzusehen gewesen. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, trotzdem war der Mann, der vor mehr als dreißig Jahren eine unbekannte Anzahl von Kindern und Jugendlichen durch abstruse medizinische Experimente verstümmelt und ermordet hatte, seiner gerechten Strafe entkommen. Er wäre so oder so bald an Krebs gestorben, trotzdem hätte Jennifer seine Verurteilung gerne schwarz auf weiß gesehen, ohne selbst zu wissen, warum ihr das so wichtig war. Vielleicht, weil Mertens niemals auch nur einen Hauch von Einsicht oder Reue gezeigt hatte. »Dieser Scheißkerl.«

Normalerweise duldete Oliver Grohmann verbale Entgleisungen dieser Art nicht, doch in jenem Moment befanden sie sich beide nicht im Dienst. Vermutlich dachte er genau dasselbe über den Toten. »Ich hoffe, die Ärzte haben sich bei der Berechnung des Morphiums ordentlich vertan.«

Auch Jennifer hätte Mertens eine deutlich zu niedrige Dosierung gewünscht. Sie musste unwillkürlich lächeln. Es tat gut, jemanden zu haben, mit dem man derartige Gedanken teilen konnte, und ihm schien es genauso zu gehen. »Lass das deine neue Chefin nicht hören.«

Er antwortete mit einem Brummen, das nicht gerade nach Zustimmung klang.

Keiner von ihnen ahnte, wie berechtigt ihre Befürchtungen waren.

3

Auf der Straße vor dem Haus standen zwei Streifenwagen, ein Traktor und der dunkelblaue Transporter der Kriminaltechnik. Jennifer hielt vor den Überresten eines Lattenzauns, der zum Nachbargrundstück gehörte. Vom Straßenbelag waren nur noch aufgerissener Asphalt und loser Schotter übrig, der unter ihren Schuhen hörbar knirschte.

Sie war noch nie zuvor in dieser abgelegenen Gegend gewesen und ließ den Blick kurz schweifen.

An einer Böschung, die direkt zu einer viel befahrenen Landstraße hinaufführte, lagen heruntergekommene Grundstücke, die zu einem Großteil offenbar niemals bebaut worden waren. Auf der anderen Seite der Schotterpiste erstreckte sich bis zum Waldrand ein großes Weizenfeld.

Nur ein einziges einsames Haus hatte sich zwischen dem Acker und der Böschung gehalten, offensichtlich verlassen und abbruchreif. Es gab nicht einmal eine Adresse; die Straße hatte keinen Namen mehr.

Vor der Absperrung stand Thomas Kramer und rauchte. Der Polizeiobermeister hatte wieder einmal den Kampf gegen seine Nikotinsucht verloren. Obwohl seine Schicht erst heute Morgen begonnen hatte, sah der Zweiunddreißigjährige bereits erschöpft aus.

Er rang sich ein Lächeln ab. »Na, wen haben wir denn da. Frisch aus dem Urlaub, und schon lässt du dir Zeit.«

»Ich wollte meinen ersten Tag nicht gleich ohne Dusche beginnen.«

»Schöne Scheiße für den ersten Tag.«

»Aktenberge wären mir lieber gewesen«, stimmte Jennifer ihm zu, obwohl die Tatsache, dass ein neuer Fall sie daran hinderte, zu ihrem Schreibtisch vorzudringen, sie gar nicht so sehr störte. Eine Tote hätte es dafür allerdings auch nicht unbedingt sein müssen. »Klär mich auf, was haben wir?«

Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Leiche, weiblich, unbekleidet, liegt da nicht erst seit gestern Abend. Die Krähen und andere Viecher haben sich bereits bedient. Grässlich.«

»Ist es hier passiert?«

Kramer zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Möglich wär’s. Ich war nur lange genug drinnen, um mich davon zu überzeugen, dass wir es tatsächlich mit einem Menschen zu tun haben. Jarik ist mit seinen Leuten im Haus, sie haben die Leiche aber noch nicht angerührt. Meurer müsste jeden Moment eintreffen.«

Jennifer nickte. »Wer hat sie gefunden?«

»Der Bauer, dem das Feld gehört. Ist heute Morgen zu seiner wöchentlichen Kontrolle rausgefahren. Erst sind ihm die Krähen aufgefallen, dann sprang sein Hund vom Traktor und rannte ins Haus. Die übliche Geschichte.«

Jennifer verzog unwillkürlich das Gesicht. »War der Hund an der Leiche dran?«

»Der Bauer meint, nein. Die Schnauze ist sauber. Sie sitzen beide noch hinten im Streifenwagen.«

»Gibt es irgendeinen Grund, anzunehmen, dass er etwas mit der Toten zu tun hat?«

»Nach außen hin nicht, aber er hasst dieses Haus. Letztes Jahr haben Junkies gezündelt und ihm fast das halbe Feld abgefackelt. Er wirkt sehr ruhig, nicht mal schockiert. Er meinte, er holt Kälber mit den bloßen Händen auf die Welt …« Kramer schüttelte den Kopf. »Im Moment gibt es keinen Grund, ihn zu verdächtigen.«

Jennifer vertraute seinem Urteil. Kramers Gespür für Lügen war überdurchschnittlich gut. »Okay. Schick ihn aufs Präsidium, er soll dort seine Aussage zu Protokoll geben. Das Haus hat einen Drogenbezug?«

Kramer nickte. »Gab aber nur ein paar Einsätze, so abgelegen, wie das hier ist … Katia und Frank können dir dazu sicherlich mehr sagen.«

Die Kommissare Katia Mironowa und Frank Herzig waren unter anderem für Drogendelikte zuständig. »Hast du schon mit ihnen gesprochen?«

»Sie wissen, dass du bald auf ihrer Schwelle stehen wirst, um alles darüber zu erfahren. Und Freya ist bereits dabei, sämtliche Informationen über dieses Haus und das Grundstück zusammenzutragen.«

Jennifer lächelte. Thomas wusste, worauf es ihr ankam, und war sich nicht zu schade, schon mal die eine oder andere Recherche anzustoßen. »Danke. Sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«

Kramer schüttelte mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf.

Der Fund schien ihn ziemlich mitgenommen zu haben. Was nicht sonderlich überraschend war, denn sie hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was sie im Inneren des Hauses erwartete. Es war nicht ihre erste Leiche, die bei sommerlichen Temperaturen eine Zeit lang gelegen hatte.

Die hinteren Türen des Transporters der Spurensicherung standen offen. Jennifer zog Overall, Handschuhe und Überzüge für die Schuhe an und verzichtete diesmal auch nicht auf eine Maske, die Mund und Nase bedeckte. Gegen den Gestank würde das nichts nützen, aber Jennifer hatte auch keine Lust, eine der zahlreichen Fliegen zu verschlucken.

Dann stand sie vor dem Haus, von dessen Fassade die Farbe schon vor langer Zeit abgeblättert war. Es war ein zweistöckiges Einfamilienhaus ohne Keller, aber mit Dachboden. Auf dem Satteldach fehlte der Großteil der Ziegel, und die verbliebenen Dachbalken sahen wenig vertrauenerweckend aus.

In der nach Osten gelegenen Seitenwand gähnte ein rechteckiges Loch; eine große Fensterfront musste dort einst den Blick in den Garten ermöglicht haben. Sträucher und Büsche hatten den Großteil des Grundstückes inzwischen zurückerobert und boten einen guten Sichtschutz vor neugierigen Blicken.

Das Gras direkt neben dem Haus wuchs hoch, hatte aber unter der Dürre gelitten. Die wenigen Personen, die hier durchgegangen waren, hatten bereits eine deutlich sichtbare Schneise hinterlassen. Der Boden war trocken und fest.

Jennifer näherte sich der Öffnung in der Hauswand. Mit jedem Schritt wurde der unverkennbare Verwesungsgeruch stärker. Automatisch begann sie, durch den Mund zu atmen.

Die Leiche lag im Inneren, keinen Meter von der ehemaligen Fensterfront entfernt. Im Licht des relativ jungen Morgens waren die Anzeichen von Fäulnis und Verwesung ebenso gut zu erkennen wie die Fraßspuren von Krähen und anderen Tieren. Der Leib war stark aufgebläht. Maden und Ameisen krabbelten über die verfärbte Haut. Die Augenhöhlen starrten Jennifer leer entgegen.

Die Leiche lag merkwürdig verdreht da, Glieder, Torso und Kopf schienen keine wirkliche Einheit mehr zu bilden. Die Wölbung der Brüste war wegen der Gasbildung nur noch zu erahnen, der Schambereich ließ allerdings keinen Zweifel an der Geschlechtsbestimmung zu.

Die Haare der Frau waren einst lang gewesen, vermutlich glatt und dunkelblond. Jetzt waren sie allerdings zu einem wirren Haarbüschel verfilzt, der ihren Kopf zu betten schien.

Sie lag da wie eine weggeworfene Puppe. Eine weggeworfene, kaputte Puppe ohne Augen.

Es war unmöglich einzuschätzen, wie alt sie gewesen oder wie sie gestorben war. Zwar waren zahlreiche Verletzungen zu erkennen, aber ob diese vor oder nach ihrem Tod entstanden waren, würde wohl erst die Obduktion klären können.

Jennifer schaltete ihre Taschenlampe ein und ließ den Lichtstrahl durch die dunkleren Bereiche dessen wandern, was wahrscheinlich einmal ein Wohnzimmer gewesen war. Vom Parkett waren nur noch aufgequollene, verrottete Holzreste übrig, darunter lugte der blanke Estrich hervor.

Verfall, wo sie auch hinschaute. Dreck, undefinierbarer Müll, Glasscherben, zerknüllte Bierdosen, Einmalteller und –besteck, mehrere Spritzen. Überreste ausschweifender Drogenpartys.

Die Kriminaltechniker hatten bereits Markierungen gesetzt, doch keine der Spuren schien eindeutig mit der Toten in Zusammenhang zu stehen. Kein Blut. Keine mögliche Tatwaffe. Keine Kleidung.

Jennifer hielt es für unwahrscheinlich, dass sie hier gestorben war, doch mit Sicherheit ließ sich das natürlich noch nicht sagen.

»Oh, da ist ja schon einiges an neuem Leben entstanden.«

Jennifer drehte sich zu der Stimme in ihrem Rücken um. Professor Meurer, der örtliche Leichenbeschauer und Rechtsmediziner, betrat eben zusammen mit seinem Assistenten den Raum. Der Blick, den der Endfünfziger seinem jüngeren Kollegen über den oberen Rand seiner Brille hinweg zuwarf, steinigte diesen wortlos für seinen flapsigen Kommentar.

»Kommissarin Leitner.« Meurer schüttelte ihr nur kurz die Hand, bevor er sich direkt der toten Frau zuwandte. Sein Assistent machte ein Geräusch, das sich wie ein halb verschluckter Pfiff durch die Zähne anhörte.

Der Professor wollte sich in Ruhe einen ersten Eindruck verschaffen, weshalb sich Jennifer etwas tiefer in das Wohnzimmer zurückzog, sorgsam auf ihre Schritte achtend.

Leander Meurer murmelte leise vor sich hin, während er die Tote einer ersten Sichtung unterzog. Obwohl die Techniker bereits Fotos gemacht hatten, ließ er seinen Assistenten noch einmal die Lage der Leiche dokumentieren, bevor er sie vorsichtig umdrehte.

Mit einem Knacken in den Knien erhob er sich schließlich aus seiner hockenden Position und stieß einen Seufzer aus, der sich resigniert anhörte. Er wandte sich an die Kommissarin, die stumm im Halbdunkel wartete. »Weibliche Tote. Zum Alter kann ich noch nichts sagen. Sie dürfte vor drei oder vier Tagen gestorben sein und auch genauso lange hier liegen.«

»Gibt es Hinweise auf die Todesursache?«, fragte Jennifer.

Leander Meurer schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen dazu noch nichts Verbindliches sagen, aber sie ist ziemlich übel zugerichtet worden. Knochenbrüche. Die Platz- und Schürfwunden scheinen vor ihrem Tod entstanden zu sein, waren aber eher nicht tödlich.«

Damit war eine Überdosis schon mal unwahrscheinlich. Jennifer dachte an die Nähe zur Landstraße, an der auch ein Fuß- und Radweg entlangführte. »Ein Autounfall?« Die Tote wäre nicht das erste Unfallopfer, das der Verursacher von der Straße schaffte.

Der Professor schüttelte den Kopf. »Keine typischen Verletzungen. Sie ist möglicherweise vergewaltigt worden. Und sie war definitiv gefesselt. Die Male an ihren Handgelenken reichen bis auf die Knochen.«

»Scheiße.«

»Ja, auch meiner Erfahrung nach kein natürlicher Tod.«

»Was ist mit ihren Augen? War das …«

»Das waren die Krähen«, antwortete Meurers Assistent und hörte sich dabei fast schon ein wenig belustigt an. »Die Augen holen sie sich meistens zuerst. Die Viecher haben eine echte Vorliebe dafür.«

Professor Meurer räusperte sich hörbar, sagte aber nichts. Der Rechtsmediziner wies seine Untergebenen niemals vor anderen zurecht, Jennifer war sich jedoch sicher, dass sein Assistent heute noch eine Abreibung bekommen würde.

Meurer ließ den Blick erneut über die Tote schweifen, bevor er wieder die Kommissarin ansah. »Wir werden für die Überführung etwas länger brauchen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie für einen gewöhnlichen Transport stabil genug ist. Aber ich denke, dass wir in ein bis zwei Stunden mit der Obduktion anfangen können.«

»Sehr gut. Ich sage Herrn Fröhlich Bescheid.«

»Danke.« Damit richtete sich die Aufmerksamkeit des Professors wieder auf die Leiche.

Jennifer knipste ihre Taschenlampe erneut an und drang weiter ins Innere des Hauses vor.

Bereits im Flur traf sie auf Jarik Fröhlich, den Leiter und Koordinator der Kriminaltechnik, der in seinem weißen Overall allerdings kaum zu erkennen war. Er kam die Treppe aus dem ersten Stock herunter, gefolgt von einer Frau, vermutlich die Technikerin Marisol García Cruz. »Hey, Jennifer.«

Die Kommissarin erwiderte seinen Gruß mit einem Nicken. »Seid ihr durch?«

»Mit der Erstbegehung, ja. Richtig loslegen können wir erst, wenn Meurer die Leiche weggeschafft hat.«

»Und?«

»Sieht schlecht aus.«

Er stieß ein Seufzen aus und schüttelte den Kopf. »Tausende Spuren. Und die wenigsten dürften etwas mit der Toten im Wohnzimmer zu tun haben. Ein einziges Chaos. Hier steigen regelmäßig Partys.«

»Ich weiß. Es gab wohl auch Einsätze. Ich habe nur noch keinen Bericht gelesen.«

»Die Einsatzberichte werden uns kaum helfen, irgendeine Spur diesem Fall zuzuordnen«, meinte Jarik. »Was sagt der Prof?«

»Verletzungen und Fesselungsspuren.«

Jarik stöhnte auf. »Wenn sie die Leiche abtransportiert haben, nehmen wir Haus und Grundstück komplett auseinander. Ich glaube allerdings, dass sie nicht hier gestorben ist.«

»Das glaube ich auch, aber jede noch so geringe Spur kann uns helfen.« Jennifer sprach nicht aus, was sie offensichtlich beide dachten: dass es keine verwertbaren Spuren geben würde. »Wir sehen uns bei der Obduktion?«

Jarik Fröhlich nickte.

Während er und seine Kollegin das Haus verließen, um die anschließende Durchsuchung und Sicherung von Spuren vorzubereiten, sah sich Jennifer im gesamten Gebäude um. Im Erdgeschoss gab es neben dem ehemaligen Wohnzimmer noch eine Küche und einen kleinen Toilettenraum, was lediglich noch an den Fliesenüberresten und den Wasseranschlüssen in den Wänden zu erkennen war.

Im Obergeschoss lagen zu beiden Seiten des Flurs jeweils zwei Türen. Der Zugang zum Dachboden stand offen. Staub und Blütenpollen tanzten im hereinfallenden Sonnenlicht. Die ausziehbare Leiter war unterhalb der obersten Sprosse abgebrochen, die Überreste fehlten.

Jennifer inspizierte die drei Schlafzimmer und das ehemalige Bad. Einst mochte das Haus ein ganz hübsches Heim für eine Familie gewesen sein. Jetzt war es nur noch ein heruntergekommenes Gebäude, in dem sich Schimmel, Dreck und Müll ausgebreitet hatten. Überall lagen Scherben, Dosen, Zigarettenkippen, benutzte Kondome und Drogenbesteck herum. Graffiti an den Wänden. In einem Raum stand sogar ein benutzter Einweggrill.

Jennifer ging wieder nach unten und trat durch die Vordertür nach draußen, die schief in den Angeln hing. Anschließend umrundete sie das freistehende Haus und nahm das Grundstück in Augenschein.

Das rot-weiße Flatterband der Polizeiabsperrung war eher behelfsmäßig um die kläglichen Überreste des Zauns gespannt worden, der einst das Grundstück begrenzt hatte. Es schaukelte leicht in der morgendlichen Brise. Ein paar Krähen saßen in einem Baum in der Nähe und schienen die Arbeit der Beamten misstrauisch zu begutachten.

Im Garten fand Jennifer nur verdorrte Pflanzen und noch mehr Müll.

Sie schlüpfte unter dem Polizeiband hindurch und kämpfte sich die steile Böschung zur Landstraße hinauf, auf der PKW und LKW mit hoher Geschwindigkeit vorbeifuhren. Von dort oben ließ sie den Blick auf das Grundstück einen Moment lang auf sich wirken, kam aber zu dem Schluss, dass von der Straße aus niemand irgendetwas gesehen oder bemerkt haben konnte.

Zurück beim Transporter der Spurensicherung entledigte sie sich des Overalls. Auf dem Rückweg zu ihrem Auto lief sie Oliver Grohmann in die Arme.

Sie musste nicht fragen, was er hier wollte. Es gab nur zwei Staatsanwälte in Lemanshain, und da seine Kollegin Laura Conrad nur halbtags arbeitete, fielen die Gewaltverbrechen meistens in seine Zuständigkeit. Er blieb nie hinter seinem Schreibtisch sitzen, sondern machte sich gerne von Anfang an direkt vor Ort ein Bild.

»Sieht nach einem Verbrechen aus, oder?«, fragte er zur Begrüßung. Er konnte in ihrem Gesicht mühelos lesen.

»Im Moment deutet vieles darauf hin, ja.« Jennifer gab kurz wieder, was Professor Meurer gesagt hatte.

Oliver hörte nachdenklich zu und nickte dann. »Ich werde mir mal selbst einen Eindruck verschaffen.«

Jennifer sah ihn zweifelnd an. »Hast du gefrühstückt?«

»Ja.«

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Du solltest da lieber nicht reingehen.«

»Und wieso nicht?«

»Kein schöner Anblick. Um Meurers Assistenten zu zitieren, es ist bereits neues Leben entstanden. Vom Gestank will ich lieber gar nicht erst anfangen.«

Oliver Grohmann zuckte die Schultern. »Fröhlich hat bestimmt irgendeine von diesen nach Kiefer oder Minze stinkenden Salben dabei, oder sonst irgendetwas, das ich mir unter die Nase schmieren kann.«

Jennifer seufzte und hatte gleichzeitig Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Oliver war der einzige ihr bekannte Staatsanwalt, der ohne weiteres riskierte, sich an einem Tat- oder Fundort vor anderen Beamten die Seele aus dem Leib zu kotzen. »Du musst es wissen. Sehen wir uns nachher bei der Obduktion?«

Oliver schüttelte den Kopf. »Ich habe leider noch Termine bei Gericht. Wenn du irgendetwas brauchst, ruf mich trotzdem an.«

»Klar.«

4

Freya Olsson begrüßte Jennifer mit einem fröhlichen »Guten Morgen!« und dem für sie typischen breiten Lächeln. Die quirlige Assistentin war meistens bester Laune. »Wie war dein Urlaub?«

»Schön, erholsam und zu kurz.« Um Freya gar nicht erst die Gelegenheit zu geben, ihre offensichtliche Lüge zu kommentieren, fragte Jennifer sofort: »Was hast du über das Grundstück und das Haus?«

»Gehört seit einer fehlgeschlagenen Zwangsversteigerung vor sieben Jahren der örtlichen Sparkasse.« Die Assistentin nahm einen Ausdruck zur Hand und reichte ihn Jennifer über den Tresen des Empfangsbereichs. »Ich habe bereits angerufen. Der zuständige Sachbearbeiter heißt Hagen Briese. Hier ist die Telefonnummer.«

»Kein großes Interesse?«

»Zuerst brach hektische Nervosität aus, als dann aber klar war, um welches Haus es ging, meinte er nur, sie würden für Fragen zur Verfügung stehen und hätten gerne eine kurze Mitteilung, sobald es wieder freigegeben ist.«

Immerhin besser als eine aus übertriebener Vorsicht eingeschaltete Rechtsabteilung, die ihren großen Auftritt wähnte. »Welche Fakten haben wir noch?«

Ein weiterer Ausdruck folgte. »Die Angaben zum Vorbesitzer und ein wenig Geschichte. Die Baugrundstücke sind vor fünfzehn Jahren entstanden, als das Feld eines Bauern geteilt wurde, um die Landstraße auszubauen. Er hat die Grundstücke an ein Immobilienunternehmen verkauft, das sie wiederum recht teuer weiterverkaufte, allerdings mit der Behauptung, die Stadt habe sich verpflichtet, eine Lärmschutzmauer zu errichten, und angeblich war für die anliegenden Felder die Umwandlung in ein familienfreundliches Wohnumfeld gesichert.«

»Alles Lügen«, mutmaßte Jennifer.

»Ja. Ich habe ein paar Presseartikel dazu gefunden und dir die Links gemailt. Die Gerichtsverfahren sind inzwischen abgeschlossen. Für die meisten Familien, die eines der Grundstücke gekauft hatten, bedeutete das den finanziellen Ruin, mitsamt Vollstreckungen und Insolvenzen.« Freya zuckte die Schultern. »Ich glaube, da setzt niemand mehr ein Haus hin.«

»Eher nicht, nein.« Jennifer hatte oben an der Straße und im Garten gestanden. Der Lärm der vorbeifahrenden Fahrzeuge war unerträglich laut gewesen. »Der Mann, der die Leiche gefunden hat, ist im Übrigen auf dem Weg hierher. Sei so gut und lass ihn durchs System laufen, wenn du seine Personalien hast. Nur Routine.«

Freya nickte. »Mach ich.«

»Sind Katia und Frank da?«

»Unterwegs, müssten aber spätestens in einer halben Stunde zurück sein. Ich soll dir von Katia ausrichten, dass sie dann direkt zu dir kommt.«

»Okay. Danke.«

Jennifer betrat ihr Büro mit gemischten Gefühlen. Wie sie vermutet und befürchtet hatte, erwarteten sie auf ihrem Schreibtisch gleich zwei Stapel mit Laufmappen und Akten. Ohne hineinzuschauen, räumte sie sie auf den Tisch beim Fenster. Ganz oben auf einem der beiden Stapel klebte ein gelber Post-it-Zettel mit einem Smiley und dem handschriftlichen Hinweis Freyas, dass sie die Unterschrift unter den betreffenden Bericht gerne bis Mittwoch hätte. Das würde wohl warten müssen.

Jennifer fuhr den Rechner hoch und checkte ihr Postfach. In ihren zwei Urlaubswochen hatten sich über zweihundert ungelesene E-Mails angesammelt. Sie scrollte kurz durch den Posteingang. Die meisten Nachrichten stammten glücklicherweise von Herzig und Mironowa, die ihre Urlaubsvertretung übernommen und sie jeweils ins CC gesetzt hatten.

Die allgemeinen Mails der Verwaltung landeten direkt im Papierkorb. Die Nachrichten zum Tod des Oberstaatsanwalts überflog sie lediglich. Trauerfeier und Beerdigung würden am Freitagmorgen stattfinden.

Der medizinische Dienst hatte einen Termin für eine turnusmäßige Untersuchung in der nächsten Woche angesetzt. Jennifer notierte sich kopfschüttelnd Datum und Uhrzeit in ihrem elektronischen Kalender.

Sie war siebenunddreißig Jahre alt, und obwohl sie sich im Dienst schon ein paar Verletzungen zugezogen hatte, war sie bis auf gelegentliche Migräneattacken kerngesund. Diese Untersuchungen waren reine Schikane und hatten nicht das Geringste mit Vorsorge zu tun.

Es blieben vierundvierzig Nachrichten übrig, die sie nicht direkt zuordnen konnte. Jennifer würde sich die Zeit nehmen müssen, sie zu lesen. Irgendwann.

Sie öffnete die zuletzt eingegangene Nachricht von Freya mit der angekündigten Link-Sammlung und überflog die Artikel, die allesamt aus der Lemanshainer Tageszeitung stammten. Dann las sie sich noch einmal die beiden Ausdrucke durch. Zwar tendierte sie gefühlsmäßig eher zu der Annahme, dass die Tote nichts mit dem Grundstück und seiner Geschichte zu tun hatte, von vornherein ausschließen wollte sie diese Möglichkeit aber trotzdem nicht. Zu viele zerstörte Existenzen und starke Emotionen schienen damit verknüpft zu sein, eine gefährliche Mischung. Außerdem hatten sie bis zur Identifizierung des Opfers ohnehin keine andere brauchbare Spur.

Jennifer überflog gerade den letzten Artikel, als Katia Mironowa in ihrer Bürotür erschien und unnötigerweise an den Rahmen klopfte. »Na, Urlauberin? Du bist genau rechtzeitig zurückgekommen.« Die blonde Kommissarin grinste. Sie trat ein und ließ sich auf den freien Stuhl gegenüber von Jennifers Schreibtisch fallen. »Ich bin wirklich froh, dass du wieder da bist und die Tote übernimmst.«

»Freu dich nicht zu früh. Könnte mit Drogen zu tun haben.«

»Aber keine Überdosis, sonst hättest du mich längst angerufen.« Katia lehnte sich entspannt zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und musterte ihre Kollegin. Dabei traten ihre Rippen unter dem T-Shirt deutlich hervor. Obwohl sie ordentlich aß, sah sie beinahe schon magersüchtig aus. »Du siehst fast erholt aus. Soll ich dir mit ein paar Neuigkeiten den Tag versüßen?«

Es war nicht schwierig, sich zusammenzureimen, worauf Katia anspielte. Jennifer hätte ihr den Spaß sofort verderben können, tat es aber nicht. »Was für Neuigkeiten?«

»Dass Oberstaatsanwalt Scholz gestorben ist und Grohmann seine Nachfolge abgelehnt hat, so sagt es zumindest der Buschfunk. Und dass wir übergangsweise dafür jemanden bekommen, der … Sagen wir, ihr Ruf eilt ihr noch weiter voraus, als es deiner damals getan hat.«

Jennifer unterdrückte einen genervten Seufzer. Katia würde vermutlich niemals aufhören, auf ihre Versetzung von Frankfurt nach Lemanshain vor knapp zwei Jahren anzuspielen. »Weiß ich schon alles.«

Mironowa hob eine Augenbraue. »Wie das? Dein Handy war ausgeschaltet, und selbst auf meine Mail hast du nicht reagiert.«

»Ich hatte angekündigt, dass ich nicht erreichbar sein würde.«

»Ja, das hattest du. Ich hätte allerdings nie gedacht, dass du das durchhältst. Aber egal. Woher weißt du dann davon?«

»Ich habe meine Quellen.«

Katia grinste. »Zuverlässige Quellen? Oder besonders … persönliche?«

Jennifer warf ihrer Kollegin einen bösen Blick zu. Seitdem Katia zufällig von ihrem Quasi-Date mit Oliver vor ein paar Monaten erfahren hatte, ließ sie ihr mit diesem Thema keine Ruhe mehr. »Bring mich lieber auf den neuesten Stand, was meine Fälle angeht, anstatt dir über derartigen Blödsinn den Kopf zu zerbrechen.«

Einen Moment lang musterte Katia Mironowa ihr Gegenüber noch intensiv, dann gab sie sich mit einem Seufzer geschlagen. Sie beugte sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf die Schreibtischplatte. »Steht alles in den Mails. Nichts hat sich bewegt, das Labor hinkt noch immer mit allem hinterher …«

Sie zuckte die Schultern. »Eine Anzeige wegen sexueller Belästigung hat sich bereits während der eingehenden Befragung aller Beteiligten in Luft aufgelöst. Deinen Aktenrückstand aufzuarbeiten, habe ich dir selbst überlassen.«

»Habe ich gesehen. Vielen Dank.« Jennifer wollte lieber keinen weiteren Blick auf die Aktenstapel riskieren. »Irgendetwas, was meiner sofortigen Aufmerksamkeit bedarf?«

Katia schüttelte den Kopf. »Nichts, was wichtiger wäre, als die tote Frau.«

»Das Haus steht mit Drogen in Verbindung«, stellte Jennifer fest. »Da drin sieht es aus, als würden dort regelmäßig ausschweifende Partys steigen.«

»Das kann ich mir vorstellen. Es gab aber nur drei Einsätze.«

So abgelegen, wie das Haus war, überraschte das nicht weiter. »Einen wegen des brennenden Feldes, und sonst?«

»Den Brand hat ein LKW-Fahrer gemeldet, die anderen beiden Male hat der Bauer angerufen, dem das Feld gehört. Er hat sich die Mühe gemacht, nachts rauszufahren und das Haus zu beobachten. Beide Male sind die Jungs in Uniform ausgerückt. Außer Platzverweisen und Ermittlungen wegen Drogenbesitzes keine Folgen. Ich schick dir gerne alle Infos zu den Fällen. Vielleicht ist die Tote ja eines der Mädchen, die vorübergehend festgenommen wurden.«

»Das wäre zumindest schon mal ein Anfang.« Ohne Hinweise und ohne Augen würde eine Identifizierung schwierig werden. Die Chancen, die Frau ohne Identifikationsmerkmale in der Vermisstenkartei zu finden, standen schlecht, und wegen des Zustands der Leiche würden sie kein Foto veröffentlichen können. »Irgendjemand dabei, der anderweitig auffällig geworden ist?«

»Keine Gewalttaten. Niemand, an den ich bei einer toten Frau sofort denken würde.«

»Was ist mit dem Bauern?«

Katia grinste. »Gutes Stichwort. Der Mann wollte das Haus unbedingt weghaben, meinte, wir müssten die Sparkasse zwingen, es abzureißen. Es würde seine Ernte, sein Eigentum gefährden. Aber seit einem Dreivierteljahr herrscht Ruhe.«

»Wäre auch ein bisschen arg krass, jemanden umzubringen und seine Leiche dort abzuladen, in der Hoffnung, dass die Sparkasse dann den Abbruch vornehmen lässt.«

»Eben.«

Was noch nicht hieß, dass es nicht so gewesen sein konnte. »Und um die Partys habt ihr euch nicht weiter gekümmert?«

»Lass es mich mal so formulieren: Es ist weitab vom Schuss, niemand wird gefährdet. Regelmäßige Einsätze hielten die Zuständigen nicht für zielführend, weil man die Drogensüchtigen lieber dort draußen als in der Innenstadt hat.« Katia zuckte die Schultern. »Ich habe die Entscheidung nicht getroffen.«

Das hatten andere getan. Leute, die nicht nur an der Verbrechensbekämpfung interessiert waren, sondern auch die Befindlichkeiten der Politik berücksichtigen mussten.

Katia Mironowa stand auf und ging Richtung Tür. »Wenn du Hilfe bei dem Fall brauchst, sag Bescheid. Wir greifen dir gerne unter die Arme.«

»Klar, danke.« Jennifer wandte sich wieder ihrem Rechner zu, sodass ihrer Kollegin nichts anderes übrig blieb, als den Raum zu verlassen. Sie mochte Katia, aber deren unverhohlene, teilweise schon penetrante Neugier konnte manchmal echt anstrengend sein. Allerdings war die gebürtige Ukrainerin auch die einzige Frau in Jennifers Umfeld, die sie als eine Art Freundin bezeichnen konnte.

Wie erwartet, schickte ihr Katia bereits wenige Minuten später die Verweise zu den Einsatzberichten. Jennifer ging die Personen durch, die festgenommen oder deren Personalien festgestellt worden waren, entdeckte aber niemanden, der ihr Interesse im Zusammenhang mit der Leiche weckte.

Bei dieser Arbeit wurde sie durch Jarik Fröhlichs Anruf unterbrochen. Die Techniker hatten den Boden, auf dem die Leiche gelegen hatte, und die unmittelbare Umgebung untersucht. Die gefundenen Spuren - oder vielmehr deren Fehlen – verstärkten Jennifers Vermutung, dass die Tote nicht in dem Haus gestorben, sondern lediglich dort abgelegt worden war.

Der Anruf von Meurers Assistent hielt sie wenig später erfolgreich davon ab, sich ihren ungelesenen E-Mails oder den wartenden Aktenstapeln zuzuwenden.

Die Leiche war wohlbehalten in der Rechtsmedizin angekommen.

5

Eine halbe Stunde später erreichte Jennifer die Privatklinik, in deren Erdgeschoss das Rechtsmedizinische Institut untergebracht war. Leander Meurer genoss als Rechtsmediziner einen ausgezeichneten Ruf, obwohl er seinem ursprünglichen Fachgebiet längst den Rücken gekehrt hatte und hauptberuflich die Diagnostikabteilung der Echtermann-Kliniken leitete.

Als Jennifer nach Lemanshain versetzt worden war, hatte sie nur den Kopf darüber schütteln können, dass diese kleine, wenn auch reiche Provinzstadt Geld dafür ausgab, dass sich ein renommierter Fachmann der überschaubaren Anzahl von Personen annahm, die keines natürlichen Todes gestorben waren. Inzwischen war Jennifer allerdings froh, über einen derart kompetenten Rechtsmediziner direkt vor Ort zu verfügen, denn der »Bodycount« in Lemanshain war in den letzten zwei Jahren sprunghaft angestiegen – korrelierend mit ihrer Versetzung, wie einige Pressevertreter nicht müde wurden zu betonen.

Jennifer selbst wäre niemals auf die Idee gekommen, in Lemanshain Dienst zu tun.

Ihr Frankfurter Vorgesetzter hatte ihr aber keine andere Wahl gelassen. Er war der Meinung gewesen, dass sie Ruhe brauche, runterkommen und ihre Einstellung zu ihrer Arbeit überdenken müsse. Und das nur, weil sie ein paar Überstunden zu viel geschoben und regelmäßig ihre Urlaubstage verfallen lassen hatte. Und weil sie, zugegebenermaßen, einem Verdächtigen den Kiefer gebrochen hatte.

Der Empfangsbereich der Rechtsmedizin war nicht besetzt, also ging sie den Flur hinunter und betrat direkt den Saal, in dem Professor Meurer zusammen mit seinem Assistenten die Obduktionen durchführte.

Die Tote lag bereits auf dem großen Stahltisch in der Mitte. Der Gestank nach Fäulnis und Verwesung hatte sich trotz des hervorragenden Belüftungssystems im gesamten Raum ausgebreitet.

Der Professor sah kurz auf, nickte ihr zu und fuhr dann fort, die Haltung der Toten zu korrigieren. Sein Assistent versuchte inzwischen, den verfilzten Haarknäuel zu entwirren, der jetzt, im kalten Neonlicht, blondiert aussah.

Jarik Fröhlich stand an einem Tisch etwas abseits des Geschehens und bereitete Beweismitteltüten und Spurenträger vor. Er hatte in einer durchsichtigen Flüssigkeit bereits einige Maden und Eier ertränkt, die sie brauchen würden, falls sie einen Entomologen hinzuziehen mussten, um den Todeszeitpunkt exakter zu bestimmen.

Auch ohne Overall war der Koordinator der Kriminaltechnik auf hundert Meter Entfernung zu erkennen. Er hatte seine schwarzen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, und auf seinem T-Shirt, das die tätowierten Arme freigab, prangte das Logo irgendeiner Metal-Band. Abgesehen von den Handschuhen, hätte man ihn direkt auf ein entsprechendes Festival beamen können.

Als er sich zu ihr umdrehte, grinste er und deutete wortlos auf eine kleine Salbendose auf dem Tisch. Jennifer hatte zwar einen robusten Magen, aber der Gestank würde noch viel schlimmer werden, wenn die Leiche geöffnet wurde, weshalb sie es vorzog, sich etwas von der stark nach Menthol riechenden Salbe unter die Nase zu reiben.

Leander Meurer diktierte seinen ersten Eindruck, der sich mit dem deckte, was er Jennifer bereits am Fundort gesagt hatte. Diesmal sah er sich die offensichtlichen Verletzungen allerdings genauer an und kam erneut zu dem Schluss, dass sie zu Lebzeiten entstanden waren. Noch mussten subkutane Blutungen, die bei einer äußeren Begutachtung nicht eindeutig von Leichenflecken zu unterscheiden waren, diese Vermutung untermauern. Am Lichtkasten hingen bereits zahlreiche Röntgenaufnahmen.

Jennifer trat an den Kasten heran. »Gott verdammt …« Selbst als Laie konnte sie sehen, dass kaum noch ein Knochen im Körper der Frau heil war. Wenn der Zustand des Körpers nicht dagegen gesprochen hätte, hätte sie anhand der Verletzungen angenommen, dass die Frau in irgendeiner Industriepresse gelandet oder am Grund einer Schlucht zerschmettert worden war.

Sie wollte den Professor nach den Brüchen fragen, wurde aber durch das Winken von dessen Assistenten abgelenkt. »Ich habe hier was«, verkündete er in routiniertem Tonfall. Eigenartigerweise machte er nur an Fundorten den Eindruck, als würde er sich amüsieren. »Eine Zigarette, oder zumindest den Rest davon.«

Er hatte die Haare inzwischen fast vollständig entwirrt und im Inneren des Knotens einen abgebrannten Zigarettenstummel gefunden. Jarik Fröhlich machte ein Foto, bevor er mit einer Pinzette nach der Kippe griff und sie ins Licht hielt. »Die wurde angezündet und geraucht. Da dürfte DNS dran sein.« Er begutachtete den Stummel noch einige Sekunden, bevor er ihn in eine Beweismitteltüte fallen ließ. »Eindeutig Marlboro.«

Eine Marke, die hunderttausend-, wenn nicht millionenfach in Deutschland geraucht wurde. »Könnte sie erst am Fundort in die Haare geraten sein, dort, wo die Leiche lag?«, fragte Jennifer Meurers Assistenten.

---ENDE DER LESEPROBE---