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In den Jahren 1915 bis 1918 berichtet Ernst Jünger in einer fesselnden Serie von Feldpostbriefen über seine Kriegserlebnisse. Wie erlebte ein junger Kriegsfreiwilliger den Ersten Weltkrieg, das Massenschlachten an der Westfront, Tod und Sterben der Kameraden, die eigenen Verwundungen? Und wie teilte er diese Erfahrungen seiner Familie mit? Ernst Jünger gibt in seinen Feldpostbriefen Einblicke in die Gemütslage eines Frontsoldaten, der dem Krieg als großem Abenteuer entgegenfieberte. Die 72 Briefe, Postkarten und Telegramme an die Eltern und den Bruder Friedrich Georg sowie ausgewählte Antwortbriefe zeigen einen jungen Mann, der mit kühler Rationalität die grausame Realität des Krieges beschreibt.
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Seitenzahl: 143
Ernst Jünger
Feldpostbriefe an die Familie 1915–1918
Mit ausgewählten Antwortbriefen der Eltern und Friedrich Georg Jüngers
Herausgegeben und mit einem Vorwortvon Heimo Schwilk
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Klett-Cotta
© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Klett-Cotta Design
Unter Verwendung eines Fotos von © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Fotografien im Tafelteil: © Nachlass Ernst Jünger im Deutschen Literaturarchiv (Marbach)
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-93950-7
E-Book: ISBN 978-3-608-10662-6
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20221-2
Dieses E-Book beruht auf der 2. Auflage 2014 der Printausgabe
Heimo SchwilkVorwort
Zur Edition
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Ernst JüngerFeldpostbriefe an die Familie1915–1918
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Bildteil
Zeittafel
»Der Anarch führt seine eigenen Kriege,selbst wenn er in Reih und Glied marschiert.«
Ernst Jünger
Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 und der darauf folgende Erste Weltkrieg beendeten schlagartig eine vierzigjährige Epoche des Friedens. Dieser Friede hatte Europa zu einem Kontinent mit fast grenzenlos erscheinendem Wachstum, mit wissenschaftlichen Höchstleistungen, beachtlichem sozialem Fortschritt und kulturellem Glanz gemacht. Die tödlichen Schüsse von Sarajewo bildeten den Auftakt zu einem Zivilisationsbruch, der nicht nur Europa, sondern die ganze Welt radikal veränderte. Die »Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts« (George F. Kennan) begann als patriotischer Massentaumel und endete mit dem Tod von Millionen auf dem Schlachtfeld, sie löste Revolutionen aus und führte zur Zerschlagung der europäischen Staatenwelt. Was als lokal begrenzter Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien begonnen hatte, weitete sich zum ersten globalen Krieg und mündete schließlich in einen Frieden, der den nächsten, noch viel furchtbareren Krieg bereits im Schoß trug.
Woher rührte die Lust am Untergang, die dieser Katastrophe vorausging? Den wenigen Warnern vor den Folgen eines Krieges im hochgerüsteten Europa standen Tausende Intellektueller gegenüber, die den Krieg als Befreiung propagierten und sich von ihm Läuterung oder Emanzipation versprachen. In der Lust an der Krise, die auch ein Thomas Mann mächtig befeuerte, steckte viel bürgerlicher Selbsthass, aber auch ein übersteigerter Erfahrungshunger, der alles Ökonomische, Soziale und Rationale als zivilisatorische Zumutung empfand. Die Errungenschaften der Gründerzeit wurden mit Egoismus, Materialismus und Sittenverfall in Verbindung gebracht, der Krieg dagegen versprach Aufbruch, Ideal und Bewährung, Opfer und Dienst. Er sollte das Ende von Langeweile und Sinnkrise bringen, setzte jenen vielkritisierten Nihilismus aber erst frei und realisierte Techniken der Vernichtung, die jedes Vorstellungsvermögen überschritten.
Die jungen deutschen Soldaten, die im August 1914 in blumengeschmückten Waggons an die Front rollten, ahnten nichts von dem Grauen, das sie erwartete. Man hatte mit den Vätern und Großvätern den alljährlichen »Sedan-Tag« gefeiert, den militärischen Triumph von 1871 über die Franzosen, der auch an den Schulen als Nationalmythos vermittelt wurde. Die ersten Siege, die blutige Erstürmung der Festung Lüttich und vor allem das Drama von Langemarck, bei dem Studenten, das Deutschlandlied singend, von französischen Maschinengewehren niedergemäht wurden, stifteten neue Mythen. Der Krieg begann, wie er 1871 geendet hatte: als Bewegungskrieg mit in breiter Formation angreifender Infanterie und vorwärts stürmender Kavallerie. Französische Wehrpflichtige zogen mit leuchtend blauen Röcken und roten Hosen in die Schlacht, Säbel baumelten an den Gürteln der Offiziere. Englische Offiziere nannten den Krieg im Westen ein »großes Picknick«, die Deutschen träumten von einem frisch-fröhlichen Blitzkrieg und der Einnahme von Paris in nur wenigen Wochen. Und tatsächlich hatte Frankreich den angreifenden deutschen Divisionen wenig Kampfkraft entgegenzusetzen, in den ersten Wochen starb eine Viertelmillion französischer Soldaten, ein ungeheurer Verlust, der alles übertraf, was man erwartet hatte. Die Spitzen deutscher Truppen konnten im September 1914 bereits die Türme von Paris sehen, der Stadtkommandant bereitete die Sprengung der Seine-Brücken vor. Doch dann erstarrte die Front im Geschosshagel der Artillerie. Über 700 Millionen Granaten wurden zwischen 1914 und 1918 an der Westfront abgefeuert, ein massenhaftes, grauenvolles Sterben vollzog sich in den Gräben und im Niemandsland zwischen den Stellungen. Die Überlebenden litten unter dem Gestank der verwesenden Leichen, wurden beim Sturmangriff zu brutalen Bajonettkämpfen gezwungen, mussten nach stundenlangen Artillerieattacken zwischen den zerfetzten Körpern ihrer Kameraden ausharren.
Maschinengewehre, die bis zu 600 Schuss pro Minute abfeuern konnten, Dumdum-Geschosse, Handgranaten, Flammenwerfer, Giftgas, Panzer, Flugzeuge und eine immer großkalibrigere, effektivere Artillerie brutalisierten die Kampfführung. Mobil gemacht wurden nicht nur Menschen, sondern auch Ressourcen und Industrien, man erfand die Kriegspropaganda als psychologische Waffe. 60 Millionen Soldaten aus fünf Kontinenten kämpften auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, 10 Millionen Soldaten starben, weitere 18 Millionen wurden verwundet, verstümmelt und traumatisiert. Allein während der Somme-Schlacht im Sommer 1916, bei der 20 Divisionen angriffen, verloren die Briten in wenigen Stunden 60000 Mann, die deutschen Verteidiger »nur« 6000. Zu den Verteidigern gehörte auch ein 21-jähriger Leutnant. Dass er bei Guillemont, im Brennpunkt der Schlacht, als höchst erfolgreicher Kompanieführer kämpfte, war nicht selbstverständlich.
Denn Ernst Jünger, der spätere Autor des Kriegsbuches »In Stahlgewittern« und von Kaiser Wilhelm mit dem höchsten preußischen Tapferkeitsorden Pour le Mérite, dem »Stern Friedrichs des Großen«, ausgezeichnet, war in den Monaten vor Kriegsausbruch 1914 haarscharf an dem vorbeigeschlittert, was man damals eine »verkrachte Existenz« nannte. Als Jünger sich am 4. August als Kriegsfreiwilliger beim Füsilier-Regiment 73 in Hannover einschreiben ließ, hatte er eigentlich längst mit einem bürgerlichen Leben abgeschlossen. Nach einer demütigenden Odyssee durch eine Reihe von Internaten war der miserable Schüler im Oktober mitsamt dem Schulgeld ausgerissen und in Verdun in die Fremdenlegion eingetreten. Zuvor schon hatte ihn sein Vater mit Hilfe eines Anwalts vor einem Strafverfahren wegen Randalierens bewahrt. Dem öden Kasernendrill im algerischen Sidi Bel Abbès hatte er sich eine Woche später durch eine weitere Flucht zu entziehen versucht. Er war gefasst und in eine Arrestzelle gesteckt worden. Seinem Vater gelang es, den Ausreißer mit diplomatischer Hilfe nach Deutschland zurückzuholen. Das schützte ihn davor, mit einer Haftstrafe belegt zu werden, was einen Dienst in der deutschen Armee automatisch ausschloss, aber auch jede andere bürgerliche Karriere verhindert hätte. Mit dieser energischen Rückholaktion hatte Ernst Georg Jünger ein deutliches Zeichen gesetzt, dass er die Eskapaden seines ältesten Sohnes nicht dulden würde.
Der Krieg veränderte über Nacht die Lebenssituation des Neunzehnjährigen. Patriotische oder gar chauvinistische Gefühlsausbrüche hat es im Hause Jünger nicht gegeben. Die Mobilmachung im Juli 1914 war für Ernst Jünger vielmehr eine Erlösung aus der unerträglich gewordenen Situation: Seine ausweglos erscheinende Lage als Schüler und der Zeitgeist koinzidierten. Nachdem er am 21. August in Hannover das Notabitur bestanden hatte, blieb ihm ein ganzes Schuljahr erspart. Schon dafür lohnte sich die freiwillige Meldung zum Kriegsdienst. Die überraschende Wendung ließ auch den ehrgeizigen Vater aufatmen. Der erfolgreiche Unternehmer, der im Kalibergbau zu Wohlstand gekommen war und in Rehburg am Steinhuder Meer eine repräsentative Villa besaß, war ein charmanter, aber in der Verfolgung seiner Interessen äußerst rationaler, bisweilen auch skrupelloser Mensch. Ernst Georg Jünger war überzeugt, dass man mit dem fünfundvierzigsten Lebensjahr eine so große finanzielle Unabhängigkeit erreicht haben müsse, um sich nur noch seinen Neigungen widmen zu können. Zu seinen Neigungen gehörten das Schachspiel und die Astronomie, vor allem aber die intensive Beschäftigung mit der Militärgeschichte. Der Anstoß, die Tagebücher, die Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg führte, zu einem Buch auszuarbeiten, ging von ihm aus. Ohne seinen Vater hätte es also für Ernst Jünger weder die Offizierslaufbahn noch den Pour le Mérite – und auch keine »Stahlgewitter« gegeben.
So ist der hauptsächliche Adressat der Feldpostbriefe, die Jünger in dichter Folge zwischen Januar 1915 und August 1918 an die Eltern sandte, in erster Linie der durchaus respektierte, aber immer auch ein wenig gefürchtete Vater, dem der Sohn über seinen atemberaubenden Aufstieg vom verkrachten Internatsschüler zum hochdekorierten Kriegshelden minutiös Rechenschaft gibt. Obwohl er selbst nur ein Jahr als Artillerist gedient hatte, verstand sich Ernst Georg Jünger als strategischer Kopf, korrespondierte mit Militärexperten und las die entsprechende Fachliteratur. Die Schlachten im siegreichen Frankreichfeldzug von 1870/71 stellte er mit Armeen von Zinnsoldaten nach und zeigte sich in den Wochen vor Kriegsausbruch über die Angriffspläne der deutschen Armeeführung gut informiert. Dass nun sein eigener Sohn als Soldat an einem welthistorischen Ereignis teilhaben würde, elektrisierte ihn. Ernst Jünger wiederum spürte von Anfang an die Erwartungshaltung seines Vaters und bediente sie geschickt. Offizier einer siegreichen Armee zu sein – das bot die Chance, dem bewunderten Vater zu imponieren.
Bevor Ernst Jünger am 27. Dezember 1914 mit seiner Einheit in die Champagne verlegt wird, hat er in Hannover eine dreimonatige, harte Grundausbildung zu absolvieren, lernt schießen und marschieren und das taktische Verhalten im Gefecht. Um das mit großer Spannung erwartete Abenteuer des Krieges festzuhalten, führt Jünger ein Tagebuch mit sich. Neben diesen Notizen hält er seine Erlebnisse auch in Briefen und Karten an die Eltern und vor allem an seinen Bruder Friedrich Georg fest, dem ihm Liebsten unter seinen vier Geschwistern. Schon der erste, undatierte Feldpostbrief von Anfang Januar 1915 an die Eltern enthält alle Ingredienzien der kommenden. Es ist eine detaillierte Schilderung des Grabenalltags, Jünger beschreibt die Stimmung unter den von Nässe, Kälte und Hunger geplagten Soldaten und betont die eigene Kaltblütigkeit. Weder das feindliche Granatfeuer noch das Schreien der Verwundeten oder der Tod der Kameraden hätten ihn erschüttert, er freue sich, dass seine Nerven so stark seien. Fast übergangslos notiert Jünger dann seine Bitte um ein Paket mit Lebensmitteln und Kleidung.
Vor allem die Mutter Karoline Jünger, genannt Lily, dürfte dafür gesorgt haben, dass das Gewünschte ihren Sohn erreichte, wie die wenigen Briefe aus ihrer Feder nahelegen. Aber auch die Großeltern senden Lebensmittelpakete an die Front. Die Wunschlisten sind meist ans Ende der Feldpostbriefe angefügt und oft sehr umfangreich. Jünger bittet um Tabak, Zigaretten, Alkohol, Schokolade, Wurst, Strümpfe und Hemden, Zeitungen und Bücher, sogar Feldstecher, Fotoapparate und eine Pistole sind aufgeführt. Ganz ähnliche Pakete hatte sich der Sechzehnjährige von seiner Mutter bereits ins Internat senden lassen. Auch die schnoddrige Diktion der Feldpostbriefe erinnert an die Schülerbriefe, in denen Jünger der Mutter von seinen Schülerstreichen berichtete. Nun geht es um Beförderungen und gelegentliche Auseinandersetzungen mit den Vorgesetzten, über die die Eltern informiert werden. Allerdings vermeidet es der Briefschreiber, über Disziplinverstöße oder Panikattacken unter Beschuss zu berichten. Anders als im Tagebuch und in den Schreiben an den Bruder Friedrich Georg herrscht ein Renommierton vor, der die Familie beeindrucken, vielleicht auch beruhigen soll, auch wenn die Eltern, was den Sieg und das Schicksal ihres Sohnes betrifft, in ihren Antwortbriefen Gelassenheit und Zuversicht an den Tag legen.
Geradezu enthusiastisch berichtet Jünger von den regelmäßigen Saufgelagen, die bei festlichen Anlässen von oben angeordnet und von den Soldaten mit Begeisterung als eine der wenigen Abwechslungen im Frontalltag mitgemacht werden. Illusionslos schildert er Karrierismus und Dünkel adliger Offiziersanwärter, die von der allgemeinen »Vetternwirtschaft« profitierten. Das heikle Thema Sexualität kommt in den Feldpostbriefen nicht vor. Weder in den Schreiben an die Eltern noch in denen an Friedrich Georg macht Jünger Andeutungen über die erotischen Liaisons mit jungen Französinnen in der Etappe, die er seinem Tagebuch anvertraut. Immer wieder ist dort von Infektionen die Rede, die mit verschiedenen Mitteln bekämpft werden und Ängste auslösen. Der studierte Pharmazeut Ernst Georg Jünger dürfte etwas geahnt oder darüber in den Notizheften gelesen haben, die ihm sein Sohn regelmäßig zusendet. Er versorgt ihn mit Kampher, aber vielleicht war das bittere Pulver auch nur zur Behandlung des immer wieder beklagten Rheumas gedacht, eine Folge der andauernden Feuchtigkeit in den Schützengräben.
Gelegentlich regt der nüchterne Vater, dem das Draufgängerische seines Sohnes, der sich sogar zum Jagdflieger ausbilden lassen will, allmählich unheimlich wird, an, Ernst solle sich einen »Druckposten« im sicheren Hinterland besorgen – ohne dabei seine Karriere als Offizier aus den Augen zu verlieren. Schon im Februar 1915 nimmt er auf Geheiß seines Vaters an einem »Offiziersaspiranten«-Kurs in Recouvrance bei Reims teil. Die Eltern bittet er, zu prüfen, ob sie vielleicht »Beziehungen« zu seinem aus Hannover stammenden Ausbilder hätten, um seine Karriere zu beschleunigen. Währenddessen ist sein Regiment in einer verlustreichen Abwehrschlacht zwischen Reims und Verdun eingesetzt. Die dort kämpfenden Soldaten dürfen sich jetzt »Löwen von Perthes« nennen, aber viele von ihnen haben ihr tapferes Standhalten mit dem Leben bezahlt. Hinweise auf gefallene Kameraden und das eigene, ihm bisweilen selbst unheimliche Überleben nehmen breiten Raum in Jüngers Feldpostbriefen ein, die, je länger der Krieg dauert, sich wie eine Gefallenenliste lesen. Trotz allem bedauert der Briefschreiber immer wieder, bei besonders gefährlichen Aktionen nicht dabei gewesen zu sein.
Die Berichte über die eigenen Verwundungen sind ähnlich nüchtern gehalten wie die Schilderungen der Kampfhandlungen. An keiner Stelle seiner Feldpostkorrespondenz verfällt Jünger ins Pathos, seine Sprache bleibt beherrscht, bisweilen aufreizend forsch. Nachdem er in seiner ersten Schlacht bei Les Eparges am 25. April 1915 durch einen Granatsplitter verwundet und ins Lazarett nach Heidelberg abtransportiert worden ist, berichtet er den Eltern lapidar, dass die Wirkung des Splitters durch das Leder seines Portemonnaies abgemildert worden sei und er schon wieder draußen herum»hinke«. Das Wetter sei schön und alle Kirschbäume blühten. Vergleicht man dies mit Zeugnissen aus der berühmten Sammlung »Kriegsbriefe gefallener Studenten«, so wird deutlich, wie voraussetzungslos Ernst Jünger in diesen Krieg hineingeraten war, allenfalls vorgeprägt durch die Lektüre antiker Schlachtenschilderungen oder populärer Kriegsromane des 19. Jahrhunderts aus der Bibliothek seines Vaters. Nirgends finden sich Sinngebungsversuche patriotischer oder religiöser Art, Jünger kämpft nicht »fürs liebe Vaterland … für Dichtung, Kunst, Philosophie, Kultur« wie der drei Jahre ältere Heidelberger Student Rudolf Fischer, der schon im Dezember 1914 in Vermelles fiel.1 Jünger kämpft den Krieg eines Einzelnen, durchaus bewundert, ja geliebt von seinen Soldaten, aber eben doch ein Einzelkämpfer, der sich für Ruhm und Orden in Gefahr begibt und nicht selten als einer der wenigen Überlebenden von den waghalsigen Aktionen zurückkehrt. Nicht der Glaube an Kaiser und Reich, sondern Selbstvergewisserung und Selbststeigerung, Lebensverachtung und Lust an der Sensation der Gefahr sind die bestimmenden Antriebe seines Handelns. Der Kitzel, Jäger und Gejagter zugleich zu sein, der rauschhafte Augenblick ist es für Jünger wert, getötet zu werden. Was der spätere Verleger Peter Suhrkamp über sich als Frontkämpfer schrieb, könnte auch für Ernst Jünger gelten: »Ich bin seit Oktober Patrouillenoffizier. Das bedeutet: dass ich mit einer Bande in die englischen Gräben einbreche und verstümmle und morde, dass ich allnächtlich zwischen unserm und dem feindlichen Draht liege, lüstern nach dem Gegner.« 2
Zwar klingen in den Briefen an die Eltern auch manches Mal Selbstzweifel oder Überdruss am Grabenalltag an, aber es dominiert die Gewissheit, diesen Krieg zur Selbstprofilierung nutzen zu können – und am Ende als Kriegsheld heimzukehren. Dass Jünger das »Duell« mit dem Gegner, besonders mit den englischen Soldaten, geradezu sucht und sich freut, wenn ihm ein tödlicher Treffer gelingt, beunruhigt die Eltern. Doch als Jünger im November 1915 zum Leutnant befördert wird, ist dies ein großes Ereignis für die Familie: »Papa freut sich von allen Jüngers am meisten darüber, daß Du Offizier bist«, schreibt Friedrich Georg ihm neidlos. Die Familie, das belegen die zwischen Draufgängertum und Kriegsmüdigkeit schwankenden Briefe Jüngers, ist der entscheidende Rückhalt seiner gefährdeten Existenz.
Die Korrespondenz der Brüder hat eine andere Färbung als die mit den Eltern, es dominieren Zwischentöne. Der Jüngere berichtet, was sich in Rehburg abspielt, über die Geschwister und die Schule, von seinen Streifzügen durch die Natur, von ersten Liebschaften und Geldnöten. Und immer wieder über seine ausufernde Lektüre und das Schreiben von Gedichten, in denen das gemeinsame Sehnsuchtsland Afrika thematisiert wird. Mit Friedrich Georg stehe er »in großer poetischer Korrespondenz«, vermeldet Ernst Jünger im Oktober 1915 etwas großspurig den Eltern. Seit Juli 1916 ist Friedrich Georg ebenfalls an der Front und kann dem bewunderten Bruder über eigene militärische Erlebnisse berichten. Ernst als der Erfahrenere gibt Ratschläge und sorgt dafür, dass Friedrich Georg nach seiner schweren Verwundung im Sommer 1917 in Flandern zum Eisernen Kreuz vorgeschlagen wird. Vom angeberischen Landserjargon, den Jünger bisweilen den Eltern gegenüber anschlägt, ist in den Briefen an Friedrich Georg kaum etwas zu spüren, auch wenn er dem Bruder gelegentlich von »Trophäen« berichtet, die er nach Hause schaffen wolle. Sogar von »Heimweh« ist die Rede und sehr gefühlvoll vom Tod des geliebten Schäferhundes Luxie. Da beide Brüder dem Füsilierregiment 73 angehören, kreuzen sich ihre Wege mehrfach. Nachdem er in der Somme-Schlacht zum zweiten Mal verwundet worden ist, wird Ernst Jünger im Oktober 1916 ein zweiwöchiger Heimaturlaub gewährt, und er kann in Hannover bei seinem Bruder sein, der dort stationiert ist. Die beiden treffen sich ein zweites Mal, als Friedrich Georg im Dezember 1916 mit seiner Einheit an die Somme verlegt wird. In Fresnoy-le-Grand bewohnen sie ein gemeinsames Quartier.