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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Seit Tagen tobte der Sturm um die dicken Mauern des Herrenhauses von Sophienlust. Wilde Böen rüttelten an den Fensterläden und rissen die letzten Blätter von den Bäumen. Das Herbstwetter fesselte die Kinder ans Haus. Wenn sie von der Schule heimkamen, liefen sie rasch die Stufen der Freitreppe hinauf und retteten sich in die gemütliche Wohnhalle. Auch die Hunde suchten dort Zuflucht. Oft gesellte sich die Hubermutter zu den Kindern und streckte ihre Hände dem Feuer im offenen Kamin entgegen. Sie blieb ein Stündchen, um den Kindern eine ihrer geheimnisvollen Geschichten zu erzählen. Dominik von Wellentin-Schoenecker, Nick genannt, blieb nun ganz in Sophienlust. Das geschah sehr zur Freude von Pünktchen, die nur dann wirklich glücklich war, wenn Nick da blieb. Denn sie liebte den älteren Jungen, der sie nach Sophienlust gebracht hatte, wo sie eine neue Heimat fand, am meisten von allen. Anfangs hatte sie sich geärgert, wenn die anderen sie wegen ihrer Schwärmerei für Nick neckten, doch jetzt nahm sie es gelassen hin. Nicks kleiner Bruder Henrik beneidete ihn sehr. Er hätte auch gern ein eigenes Zimmer in Sophienlust gehabt. Aber er musste jeden Abend nach Schoeneich zurück. Pünktlich holte ihn seine Mutter ab. »Wann bekomme ich endlich auch ein eigenes Zimmer in Sophienlust?«, fragte er an einem Samstagnachmittag seine Mutter. »Noch bist du zu klein dafür«, erwiderte Denise von Schoenecker. »Auch wären Vati und ich traurig, wenn wir beide allein in Schoeneich wohnen müssten.« »Aber ihr seid doch nicht allein, Mutti! Martha ist da, und das Hausmädchen Gusti und …« »Das ist etwas anderes, Henrik.«
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Seitenzahl: 147
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Seit Tagen tobte der Sturm um die dicken Mauern des Herrenhauses von Sophienlust. Wilde Böen rüttelten an den Fensterläden und rissen die letzten Blätter von den Bäumen. Das Herbstwetter fesselte die Kinder ans Haus. Wenn sie von der Schule heimkamen, liefen sie rasch die Stufen der Freitreppe hinauf und retteten sich in die gemütliche Wohnhalle. Auch die Hunde suchten dort Zuflucht. Oft gesellte sich die Hubermutter zu den Kindern und streckte ihre Hände dem Feuer im offenen Kamin entgegen. Sie blieb ein Stündchen, um den Kindern eine ihrer geheimnisvollen Geschichten zu erzählen.
Dominik von Wellentin-Schoenecker, Nick genannt, blieb nun ganz in Sophienlust. Das geschah sehr zur Freude von Pünktchen, die nur dann wirklich glücklich war, wenn Nick da blieb. Denn sie liebte den älteren Jungen, der sie nach Sophienlust gebracht hatte, wo sie eine neue Heimat fand, am meisten von allen. Anfangs hatte sie sich geärgert, wenn die anderen sie wegen ihrer Schwärmerei für Nick neckten, doch jetzt nahm sie es gelassen hin.
Nicks kleiner Bruder Henrik beneidete ihn sehr. Er hätte auch gern ein eigenes Zimmer in Sophienlust gehabt. Aber er musste jeden Abend nach Schoeneich zurück. Pünktlich holte ihn seine Mutter ab.
»Wann bekomme ich endlich auch ein eigenes Zimmer in Sophienlust?«, fragte er an einem Samstagnachmittag seine Mutter.
»Noch bist du zu klein dafür«, erwiderte Denise von Schoenecker. »Auch wären Vati und ich traurig, wenn wir beide allein in Schoeneich wohnen müssten.«
»Aber ihr seid doch nicht allein, Mutti! Martha ist da, und das Hausmädchen Gusti und …«
»Das ist etwas anderes, Henrik.« Sie strich ihm liebevoll über seinen braunen Haarschopf.
»Na ja, wenn es so ist.« Bedauernd richtete er seine Augen auf die Kinder in derWohnhalle. »Dann muss ich wohl gehen. Auf Wiedersehen! Morgen nach dem Frühstück bin ich wieder da.« Er winkte noch einmal und folgte seiner Mutter hinaus.
Ein Windstoß drückte ihn fast ans Portal. Lachend sprang er die Stufen hinunter. »Mutti, ein solches Wetter ist auch schön!«, rief er. »Magst du auch den Sturm?«
»Manchmal.« Denise öffnete die hintere Autotür. »Steig schnell ein, Henrik.«
Der Junge kletterte in den Wagen. Denise startete und fuhr langsam die Auffahrt hinunter bis zum Parktor.
»Findest du es nicht ungerecht, dass Nicks Urgroßmutter mich in dem Testament ganz vergessen hat? Schließlich ist sie auch meine Urgroßmutter gewesen.«
Denise lachte herzlich. »Als Nicks Urgroßmutter starb, hatte sie doch keine Ahnung, dass du eines Tages zur Welt kommst.«
»Das ist wahr«, meinte er. »Dafür erbe ich einmal Schoeneich. Ich werde ein ebenso guter Landwirt wie Vati. Ob Vati schon daheim ist?«
»Hoffentlich.« Das schöne Frauengesicht mit den dunklen Augen spiegelte Denises Sorge wider. Ihr Mann Alexander war heute früh mit dem Auto nach Frankfurt gefahren. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte bei diesem Sturm den Zug genommen. Aber er hatte erklärt, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, denn er sei ein sehr vorsichtiger Autofahrer.
Auch Denise fuhr vorsichtig die Schnellstraße zwischen den beiden Gütern Sophienlust und Schoeneich entlang. Als sie von weitem Licht im Herrenzimmer von Schoeneich erblickte, atmete sie befreit auf. Also war Alexander schon zurück.
Jedesmal, wenn Denise das Haus betrat, weitete sich ihr Herz vor Glück. Schoeneich war ihre wirkliche Heimat geworden. Die Erinnerungen an ihren ersten Mann, Dietmar von Wellentin, Nicks Vater, waren längst verblasst. Hätte es nicht Nick gegeben, würde sie geglaubt haben, dass die kurze Ehe mit Dietmar nur ein Traum gewesen war.
Alexander von Schoenecker, ein großer Mann mit einem schmalen sonnengebräunten Gesicht, dunklen Augen und braunen Haaren, trat aus der geschnitzten Eichentür, die ins Herrenzimmer führte, in die Wohnhalle. »Endlich«, sagte er. »Ich habe soeben in Sophienlust angerufen, um mich zu erkundigen, wann du kommst. Guten Tag, mein Sohn«, sagte er zu Henrik, dem einzigen Kind aus seiner Ehe mit Denise. »Lauf nach oben und sieh in deinem Zimmer nach, was ich dir mitgebracht habe.« Er lachte und legte seinen Arm um Denise. »Tut mir leid, Denise, dass ich dich gleich bitten muss, mit ins Herrenzimmer zu kommen. Du wolltest dich gewiss erst einmal umziehen.« Er sprach nun gedämpfter. »Aber wir haben Besuch.«
»Besuch? Wer ist es denn?« Sie sah an sich herunter. »Vielleicht sollte ich mich erst umkleiden.«
»Du siehst bezaubernd aus. Zudem glaube ich, dass Schwester Klara wenig Wert auf Äußerlichkeiten legt.« Er schmunzelte. Dann nahm er ihr den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe.
Warm leuchtete es in Denises dunklen Augen auf. »Wo hast du denn unsere Gemeindeschwester getroffen? Oder ist sie allein hierhergekommen?«
»Sie befand sich auf dem Weg nach Sophienlust. Mit ihrem Fahrrad. Aber sie hatte eine Panne. Als ich von der Autobahn abbog, sah ich sie schon von weitem am Straßenrand stehen und winken. Ich habe ihr Rad im Kofferraum verfrachtet und sie mitgenommen. Gusti hat ihr inzwischen trockene Sachen gegeben. Als ich Schwester Klara fragte, weshalb sie bei solchem Wetter unterwegs sei, sagte sie mir, sie müsse dich unbedingt sprechen, weil sie ein Problem habe. Mehr konnte ich von ihr nicht erfahren.«
Denise nickte und betrat das Herrenzimmer. Schwester Klara saß in einem der tiefen Sessel. Sie trug einen dicken Pullover und einen alten Rock. »Guten Abend, Frau von
Schoenecker«, begrüßte sie Denise und erhob sich. »Schauen Sie mich nicht an. Ich sehe fürchterlich aus. Aber Gusti trocknet gerade meine Schwesterntracht. Ich war bis auf die Haut durchnässt.«
»Setzen Sie sich, liebe Schwester Klara.« Denise mochte die ältere Gemeindeschwester sehr. Stets war sie unterwegs und half überall, wo Hilfe benötigt wurde. Keine Arbeit schien ihr zu viel zu werden.
»Ich werde mir wohl nun doch ein kleines Auto zulegen müssen. Einen Führerschein habe ich seit Jahren.« Schwester Klara nieste und lachte dann. »Ursprünglich wollte ich nach Sophienlust. Aber Ihr Mann meinte, ich sollte lieber mit nach Schoeneich kommen, denn um diese Zeit seien Sie schon daheim.«
»Ich habe mich heute ein wenig verspätet.« Denise lächelte sie an. »Wo drückt der Schuh?«, fragte sie.
»Es geht um ein Kind – um einen dreijährigen Jungen. Er heißt Ferdinand Herzog. Er ist ein süßes Bübchen mit blonden Haaren und hellen Augen. Seine Mutter war nicht verheiratet.«
»Aha.«
Denise wartete, als Schwester Klara eine Weile schwieg. Endlich fuhr sie fort: »Es ist die übliche Geschichte und wiederum auch nicht. Jede Geschichte einer ledigen Mutter ist anders.«
»Das stimmt«, pflichtete Denise ihr bei.
»Sie heißt Cordula Herzog und ist das einzige Kind eines Landarztes, der seine Praxis in Hinterstein hatte. Sie studierte Medizin und wollte zwei Semester in Paris bleiben. Aber sie hatte ihr Studium dort frühzeitig abgebrochen und kam nach München. Wie Sie wissen, war ich vor etwa dreieinhalb Jahren für einige Monate in München bei einem Kurs. Dabei lernte ich Cordula Herzog kennen. Sie fühlte sich damals hilflos und unglücklich. Dass sie sich in anderen Umständen befand, war nicht zu übersehen. Sie erzählte mir, ihr Vater, der so stolz auf sie sei, dürfe auf keinen Fall erfahren, dass sie ein uneheliches Kind erwarte. Wegen des Kindes wollte sie auch Gemeindeschwester werden.
Ganz sind mir die Zusammenhänge nicht klar geworden. Während ihrer Ausbildungszeit in München war der kleine Ferdi dann in einem Tagesheim untergebracht. Jeden Abend hat sie ihn von dort abgeholt, um ihn bei sich zu haben. Nun möchte sie in ihren Heimatort Hinterstein zurückkehren und später ihren Jungen nachholen.
Erst möchte sie sich bewähren. Auch will sie ihrem Vater beweisen, wie tüchtig sie als Gemeindeschwester ist. In einem kleinen Ort ist man leicht Vorurteilen ausgesetzt. Cordula glaubt, dass sie Ferdi bald zu sich holen kann. Als ich ihr vorschlug, ihn bis dahin in Sophienlust unterzubringen, war sie sofort einverstanden.«
»Und der Vater des Kindes?«, fragte Denise.
»Sie spricht nie von ihm. Sie hat mir auch nicht gesagt, wer er ist. Es ist so, als wolle sie ihn vergessen.«
»Glauben Sie, dass Cordula Herzogs Vater es als Arzt nicht verstehen würde, dass ihr das widerfahren
ist?«
»Ich weiß es nicht. Aber sie hat vor, ihren Vater in einigen Wochen von der Existenz ihres Sohnes, seines Enkels, zu erzählen. Cordula ist ein lieber Mensch. Wenn sie von ihrem Vater spricht, leuchten ihre Augen auf. Sie schildert ihn als wundervollen Menschen und guten Arzt. Aber er scheint leidend zu sein, denn er hat seine Praxis einem jüngeren Kollegen überlassen.«
»Bestellen Sie Fräulein Herzog, dass ich den kleinen Ferdi in Sophienlust aufnehmen werde. Er wäre dann das jüngste Kind bei uns. Schwester Regine wird sich seiner besonders annehmen. Unsere vierjährige Heidi wird entzückt über einen kleinen Freund sein.«
»Vielen Dank, Frau von Schoenecker. Dann will ich Sie nicht länger stören.«
»Das tun Sie gar nicht, Schwester Klara. Ich lade Sie zum Abendessen ein. Sie werden sicherlich einen ebensolchen Appetit haben wie ich. Nach dem Essen wird mein Mann Sie dann nach Hause bringen. Bis dahin werden Ihre Sachen trocken und gebügelt sein.«
Schwester Klara zierte sich nicht, die Einladung zum Abendessen anzunehmen.
*
Cordula Herzog war mittelgroß, schlank und sportlich. Sie hatte blondes Haar mit einem rötlichen Schimmer und große graublaue Augen, die meist sehr ernst in die Welt blickten. Auch an diesem frühen Morgen zeigte ihr herzförmiges Gesicht mit den hohen Backenknochen einen unglücklichen Ausdruck.
Nachdenklich richteten sich die hellblauen Augen des dreijährigen Ferdi auf sie. »Mami, warum bist du traurig?«, fragte er und drückte seinen großen Teddybär an sich. »Auch Teddy ist heute traurig. Er wollte keine Milch trinken.«
Cordula zwang sich zu einem Lächeln. »Aber ich bin doch nicht traurig, mein Herzchen«, sagte sie zärtlich und legte das neue blaue Wolljäckchen zusammen. Dann blickte sie sich in dem Zimmer um, in dem sie über zwei Jahre mit ihrem Kind gewohnt hatte. Obwohl es nicht besonders geschmackvoll möbliert war, mochte Cordula es. Sie hatte dem Raum nach und nach persönliche Note verliehen, was sie unbedingt brauchte, um sich an einem Ort heimisch zu fühlen. Das Kinderbettchen würde in kurzer Zeit zu klein für Ferdi sein, darum ließ sie es hier. Ihre Wirtin war immer sehr verständnisvoll gewesen. Sie mochte auch Ferdi sehr und war richtig unglücklich, weil er sie verließ.
Noch wusste Ferdi nicht, dass sie ihn heute nach Sophienlust bringen würde.
»Fahren wir fort?«, fragte Ferdi und deutete auf die Koffer und Taschen, die neben der Tür standen.
Cordula schloss den letzten Koffer und nickte. »Ja, wir verreisen, Ferdi. Zuerst zu einem wunderschönen Haus in einem großen Park. Dort gibt es Pferde, Ponys, Kühe, Gänse, Enten, Hühner und noch viel mehr Tiere. In der Nähe ist auch ein Tierheim. Dort bleibst du für einige Zeit.« Sie beobachtete den Kleinen besorgt. Entweder hatte er nicht begriffen, dass sie ihn allein in Sophienlust zurücklassen wollte oder er nahm es als Selbstverständlichkeit hin, denn er reagierte kaum.
»Teddy darf auch mitfahren?«
»Natürlich darf er das, Ferdi.« Cordula zog dem Jungen das pelzgefütterte Wildledermäntelchen an, das sie im vergangenen Jahr aus zweiter Hand billig für ihren Liebling erstanden hatte.
Frau Hubauer schluchzte, als Cordula sie zum Abschied umarmte und sagte: »Die Jahre bei Ihnen werde ich niemals vergessen. Wenn ich nach München komme, besuche ich Sie.«
»Selten habe ich so eine reizende Mieterin gehabt.« Frau Hubauer trocknete sich die Augen. »Auf Wiedersehen, Ferdi.« Sie strich dem Kind über die Wange. »Sei schön brav.«
»Aber ja, Frau Hubauer.« Ferdi stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte seine Arme der alten Frau entgegen. Diese nahm ihn hoch und küsste ihn auf beide Wangen.
»Aber nun müssen Sie gehen«, sagte sie zu Cordula und stellte den Jungen wieder auf den Boden. »Das Taxi wird schon da sein. Ja, es klingelt.«
Frau Hubauer stand an der Tür, als Cordula mit Koffer und Kind die ausgetretenen Holzstufen des alten Mietshauses hinunterstieg. Ferdi blickte nach oben und winkte noch einmal. Dann fiel die Autotür zu und das Taxi fuhr an.
Auf dem Münchener Hauptbahnhof sah sich Ferdi begeistert um. Als er neben seiner Mutti auf den Bahnsteig ging, hüpfte er vor Begeisterung. Und dann erst der Zug! Die Mitreisenden lächelten den herzigen kleinen Jungen nachsichtig an, als er ununterbrochen Fragen stellte. Ein älterer Herr schenkte ihm eine Tafel Schokolade und ein junges Paar kaufte ihm ein Paar Würstchen auf einer Station.
Als der Zug in den Frankfurter Hauptbahnhof einfuhr, bedauerte es Ferdi sehr, dass sie schon da waren.
»Wir steigen gleich in einen anderen Zug um«, sagte Cordula und fragte nach dem Bahnsteig, von dem aus die Züge in Richtung Maibach fuhren.
Endlich saßen sie in dem Maibacher Zug. Enttäuscht blickte sich Ferdi um. »Aber er ist lange nicht so schön wie der andere Zug. Und er fährt auch nicht so schnell«, stellte er fest.
»Wir steigen bald aus, Ferdi.« Cordula wurde es ganz weh zumute, als sie daran dachte, dass sie schon morgen ins Allgäu fahren würde, um dort ihre neue Stellung als Gemeindeschwester anzutreten.
»Und wenn wir da sind?«, fragte er.
»Dann fahren wir mit einem Bus nach Wildmoos. So heißt der Ort, wo das schöne Haus steht.«
»Und dann wohnen wir dort, Mami?« Er schlenkerte seine von dem zu hohen Sitz baumelnden Beine hin und her.
»Ja, Ferdi.« Cordula war der Meinung, dass sie so lange wie möglich warten sollte, bevor sie Ferdi sagte, dass sie ihn allein im Kinderheim zurücklassen würde.
»Fein, Mami.« Ferdi strahlte sie an. Jedesmal, wenn er sie aus seinen hellen Augen anblickte, wurde Cordula an die zugleich glücklichste und unglücklichste Zeit ihres Lebens erinnert. Ferdi glich seinem Vater sehr. Wahrscheinlich würde diese Ähnlichkeit noch markanter werden, wenn er erwachsen war. Schon heute hatte er dasselbe Lachen wie er – die gleichen Bewegungen wie der Mann, der ihr Leben völlig verändert hatte. Wäre sie ihm damals nicht begegnet, würde sie schon Ärztin sein. Dann hätte sie die Praxis ihres Vaters übernehmen können. So war es auch vorgesehen gewesen. Ihr Vater war nun bitter enttäuscht über ihre »Abtrünnigkeit«, wie er es nannte.
In den letzten drei Jahren hatte sie ihn kaum besucht. Jedesmal, wenn sie nach Hinterstein fuhr, war sie voll Nervosität und Unruhe, obwohl sie wusste, dass ihr Kind bei Frau Hubauer in den besten Händen war. Auch hatte sie unter der Spannung gelitten, die zwischen ihrem Vater und ihr entstanden war.
Ferdi kniete auf der Bank und presste sein Näschen gegen die Fensterscheibe. »Mami, sieh doch, lauter Kühe!«, rief er.
»Kühe wirst du jetzt täglich sehen – sind wir bald in Maibach?«, wandte sie sich an eine ältere Dame, die ihnen schräg gegenüber saß.
»Noch zwei Stationen.« Die Mitreisende lächelte und deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf das Kind. »Fahren Sie nach Sophienlust?«
»Ja, wir fahren dorthin.« Erstaunt sah Cordula sie an.
»Ich stamme aus Bachenau. Deshalb kenne ich das Kinderheim gut. Frau von Schoenecker, die es bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Nick verwaltet, ist eine reizende Dame. Und Nick ist überall beliebt wegen seines sonnigen Wesens. Sophienlust war früher ein Herrensitz, genauso wie Schoeneich. Nun haben sich die Wellentins und die Schoenecker zusammengetan.«
»Ja?« Interessiert richtete Cordula ihre klaren graugrünen Augen auf ihr Gegenüber.
»Alexander, den ich schon als Jungen kannte, hat die Witwe des letzten Wellentin geheiratet. Nick stammt aus ihrer ersten Ehe. Ich kann mich auch noch gut an die alte Baronin Sophie von Wellentin erinnern. Ihr gehörte Sophienlust und sie hat es ihrem Urenkel vererbt. Übrigens heiße ich Lauenstein. Unsere Familie lebt auch schon seit Generationen in dieser Gegend. Mein Vater besaß ein Gut, aber er hat es im Krieg verloren. Ich meine im ersten Weltkrieg. Ich bin nämlich schon über achtzig.«
»Das sieht man Ihnen aber nicht an«, erklärte Cordula. »Ich heiße Cordula Herzog.«
»Und ich heiße Ferdinand Herzog!«, rief Ferdi vergnügt und presste seine Nasenspitze dann wieder gegen die Scheibe.
»Und Ihr Mann?«, fragte Ilse Lauenstein.
»Mein Mann ist tot«, erwiderte Cordula, wobei sich ihr Gesicht verschloss.
»Mein Papi ist im Himmel beim lieben Gott und schaut auf mich herunter«, sagte Ferdi fröhlich. »Auch jetzt.«
»Das ist aber fein für dich.« Ilse Lauenstein sah die reizende junge Mutter mitleidig an. »Wir fahren gerade in Maibach ein. Ich fahre noch eine Station weiter bis Bachenau.«
Cordula zog Ferdi schnell das Mäntelchen an und schlüpfte auch in ihren Mantel. »Auf Wiedersehen«, sagte sie und lächelte die alte Dame freundlich an. »Die Unterhaltung mit Ihnen war für mich sehr interessant.«
»Ich hoffe, dass wir uns wiedersehen, Frau Herzog. Sicherlich werden Sie mit Ihrem Sohn auch das Tierheim Waldi und Co. besuchen. Es gehört dem Tierarzt Herrn von Lehn, der mit der Tochter aus Alexander von Schoeneckers erster Ehe verheiratet ist«, erzählte sie noch schnell.
Mit einem sanften Ruck blieb der Zug stehen. Ein junger Mann half Cordula beim Aussteigen. Zuerst reichte er ihr Ferdi hinunter und dann den schweren Koffer. Sofort fuhr der Zug weiter.
»Die Großmama winkt!«, rief Ferdi begeistert, als er sah, dass Frau Lauenstein aus dem Fenster blickte und die Hand hob. Er winkte fröhlich zurück.
Eine heftige Windbö fuhr über den leeren Bahnsteig. Cordula sah sich um. Ein großer schwarzhaariger Junge in einer Lammfelljacke und Jeans kam auf sie zu.
»Sind Sie Frau Herzog?«, fragte er freundlich. Dabei richteten sich seine dunklen Augen neugierig auf sie und den kleinen Jungen.
»Ja, die bin ich.«
»Ich bin Dominik von WellentinSchoenecker. Meine Mutter wartet in dem kleinen Café. Wir waren schon bei dem ersten Zug hier.«
»Dann sind Sie Nick?«, fragte Cordula.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Von einer freundlichen alten Dame, einer Frau Lauenstein.«
»Dann wissen Sie sicherlich alles«, erwiderte Nick lachend. »Und du bist gewiss Ferdinand?«
»Ja, der bin ich.« Ferdi blickte den großen Jungen mit den freundlichen Augen an. »Und du bist der
Nick?«
»So ist es. Kommen Sie bitte. Unser Wagen steht vor dem Café.« Er bemächtigte sich des Koffers.
»Es ist reizend von Ihnen, dass Sie mich …«
»Oh, bitte nicht!«, rief Nick. »Sie dürfen mich nicht siezen. So alt bin ich wiederum auch noch nicht.«