Feuer - Stürmisches Begehren - Coreene Callahan - E-Book
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Feuer - Stürmisches Begehren E-Book

Coreene Callahan

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Beschreibung

Die Liebe dieses Drachen ist brandgefährlich

Venom ist ein erfahrener und bewunderter Drachenkrieger im Nightfury-Clan – und dennoch ist er einsam, denn sein giftiger Atem ist tödlich für jeden, der ihm zu nahe kommt. Die Hoffnung, seine Seelengefährtin zu finden, hat er längst aufgegeben. Welche Frau könnte ihn schon lieben? Als er der schönen Evelyn Foxe begegnet, die auf der Flucht vor der Mafia ist, weiß der Drache in Venom sofort, dass Evelyn die Eine ist und dass er sie um jeden Preis beschützen muss. Doch Evelyn verschenkt ihr Vertrauen nicht so leicht, und plötzlich ist der schwerste Kampf, den Venom je ausfechten musste, der Kampf um Evelyns Herz ...

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Seitenzahl: 591

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DAS BUCH

Venom ist ohne Zweifel der schönste Drachenkrieger des Nightfury-Clans – und der tödlichste. Wer zu lange mit der Haut des Giftdrachen in Berührung kommt, ist unweigerlich dem Tode geweiht. Im Kampf gegen die feindlichen Drachenkrieger des Razorback-Clans ist diese Gabe für Venom ein unschätzbarer Vorteil, für sein Liebesleben ist sie jedoch eine Katastrophe: Niemals wird er eine geliebte Frau nachts in den Armen halten können, zu groß ist das Risiko, sie dabei versehentlich zu töten. Venom versucht zwar, sich mit schnellem Gelegenheitssex über die Leere in seinem Herzen hinwegzutrösten, doch seine Einsamkeit wird immer größer. Bis er eines Tages der zauberhaft schönen Evelyn begegnet, die wie durch ein Wunder immun gegen das Gift von Venoms Haut zu sein scheint. Gibt es für den Drachenkrieger möglichweise doch noch ein Happy End? Aber auch Ivar, der Anführer der Razorback, ist auf Evelyn aufmerksam geworden und setzt alles daran, sie in die Fänge zu bekommen …

Die FEUER-Serie:

Erster Roman: Tödliches Verlangen

Zweiter Roman: Verborgene Sehnsucht

Dritter Roman: Gefährliche Begierde

Vierter Roman: Verhängnisvolle Liebe

Fünfter Roman: Stürmisches Begehren

Die AUTORIN

Coreene Callahan arbeitete nach ihrem Psychologiestudium zunächst als Innenarchitektin, bevor sie beschloss, sich ausschließlich ihrer großen Liebe zu widmen: dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Kanada.

Weitere Informationen zu Autorin und Werk erhalten Sie unter:

www.coreenecallahan.com

www.heyne-fantastisch.de

Coreene Callahan

Stürmisches Begehren

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

FURY OF OBSESSION

Deutsche Übersetzung von Ingrid Klein

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Deutsche Erstausgabe 04/2016

Redaktion: Uta Dahnke

Copyright © 2015 by Coreene Callahan

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von shutterstock/CURAphotograpy

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-17637-2V001

www.heyne.de

Für Kallie Lane – danke, dass du mich immer

wieder ermutigst, wenn ich unsicher bin.

1

Stille herrschte in den düsteren Ecken des unterirdischen Ganges. Rote Knopfaugen blitzten auf, beobachteten ihn aus dichten Schatten. Venom, der hinter einem ausgebrannten Humvee in Deckung gegangen war, zog eine Grimasse und überdachte seine Lage. Unterirdisch in der Klemme. Allein ohne Rückendeckung. Und, oh ja … Ratten, ein ganzer Trupp der pelzigen kleinen Mistviecher.

Na toll. Einfach perfekt. Die passende miese Orchestrierung einer bereits beschissenen Nacht.

Er schluckte seinen Widerwillen hinunter und ging geduckt um die hintere Stoßstange herum, immer in enger Tuchfühlung mit dem zertrümmerten SUV. Dann schlich er bis zur Mitte des feuchten Ganges. Seine Kampfstiefel schrammten über aufgerissenen Beton. Die ungleichmäßigen Geräusche durchbrachen die Stille. Das Rattenpack, das an der Seitenwand entlanghuschte, fuhr auseinander und kreischte, so als hätte er eine zertrampelt. Super. Der Beschwerdestapel wurde ständig höher. Diese versiffte Ansammlung von Ekelpaketen hatte gerade seine Position verraten. Jetzt kannte der Feind genau seinen Standort, sodass er sich erneut wünschte, dass Wick auftauchen würde. Zur Hölle mit seinem besten Freund. Warum musste der Mann ihn ausgerechnet heute Nacht sich selbst überlassen. Er unterdrückte ein Knurren und aktivierte die Gedankenverbindung, ihr mentales Drachen-Handy, sandte einen Notruf aus und wartete. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Drei …

Keine Antwort.

Was nicht weiter überraschte. Am besten sollte er gleich alle Hoffnung fahren lassen. Jegliche Erwartung abhaken. Wick würde nicht kommen. War zweifellos anderweitig beschäftigt, spielte den …

Das schnelle Stakkato von Maschinengewehrfeuer durchbrach die Stille.

Den gekrümmten Finger am Abzug, wich Venom nach rechts aus. Kugeln flogen über seinen Kopf in Richtung Humvee. Metall prallte auf Metall. Funken stoben, erhellten die Dunkelheit, begleitet von einer heftigen Explosion und einem Höllenlärm. Mit zusammengebissenen Zähnen presste er den Gewehrkolben der Heckler & Koch an seine Schulter, zielte und veränderte seine Schussrichtung.

Langjährige Übung sorgte für effiziente Bewegungen seinerseits.

Erfahrung führte ihn hinunter in einen östlich gelegenen Tunnel.

Er musste das Ziel neu erfassen. Und zwar schnell. Bevor der Feind sich neu formierte und Verstärkung bekam. Einen Schützen konnte er in Schach halten. Aber ein halbes Dutzend? Da standen seine Chancen hundsmiserabel. Also genau, jetzt oder nie. Es wurde Zeit, den Mann fertigzumachen und ihm seine Reservemunition abzunehmen. Seine eigenen Vorräte aufzustocken wäre keine schlechte Idee. Den Pisser, der im unterirdischen Labyrinth Verstecken spielte, k. o. zu schlagen, sogar eine noch bessere. Venoms Kampfstiefel knirschten auf dem zerbrochenen Glas, während er sich an der Wand entlangschob, vorsichtig die Lage peilte und sich um die nächste Ecke pirschte. Schritte echoten, hallten von den Betonwänden zurück.

Venom unterdrückte ein Knurren. Kein schlechter Schachzug. Gute Strategie. Angesichts des Ganges, der sich ein Stück weiter vor ihm verengte, musste man kein Genie sein, um den Grund für den Rückzug des Typen zu erkennen. Praktisches Denken in Bestform – ein Ausweichmanöver, das den Engpass am Ende des Tunnels einkalkulierte. Eine Falle, kein Zweifel. Und auch eine ziemlich gute. Nicht, dass das Venom juckte. Den Feind auszuschalten und sicherzustellen, dass keiner überlebte, war das vorrangige Ziel. Nicht nur, was diesen Einsatz betraf, sondern auch für seinen Seelenfrieden. Also, scheiß drauf. Hinterhalt oder nicht, er würde direkt reinmarschieren und hoffen, lebend davonzukommen. Die Waffe im Anschlag, bog er in einen weiteren dunklen Gang ein und …

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr.

Venom reagierte. Er duckte sich seitlich weg, wich der Faust aus und schlug dem Feind die Handfeuerwaffe aus der Hand. Die Beretta überschlug sich in der Luft. Er packte den Drecksack bei der Kehle und griff nach seinem Jagdmesser. Stahl fuhr zischend aus Leder, als er die Waffe zog und zustieß. Die rasiermesserscharfe Klinge traf auf Haut, durchschnitt die Halsschlagader. Arterienblut spritzte durch die Luft und … oh ja.

Noch ein feindlicher Soldat tot. Das nächste Level erreicht und …

»Das Spiel ist aus.«

Venom nahm die Daumen von der Spielkonsole seiner Xbox und lehnte sich auf der Couch mit einem zufriedenen Grunzen zurück. Das Leder protestierte knarzend. Es folgte Langeweile, heftiger Missmut überfiel ihn. Er verkniff sich einen Fluch und lehnte den Kopf zurück, starrte mit schmalen Augen auf den Großbildschirm. Riesig. Teuer. Das Beste vom Besten. Der Flachbildschirm, der geradezu »Sieh mich an!« schrie, dominierte eine ganze Wand seines Schlafzimmers, umgeben von sämtlichen der Menschheit bekannten Videospielen. Diese Extravaganz sollte ihm eigentlich peinlich sein. Stattdessen machte sie ihn wütend. Aber nicht aus den üblichen Gründen. Er hatte nicht verloren. War von keinem seiner Nightfury-Kumpels in einem superschnellen Ballerspiel besiegt worden. Venom schnaubte. Verdammt, in einer Runde Ballerspiele fertiggemacht zu werden klang momentan geradezu fantastisch.

Es würde die größeren Probleme lösen.

Vielleicht sogar seine ständige unterschwellige Unzufriedenheit vertreiben. Und seine Ruhelosigkeit – dieses Gefühl der Isolation, diesen Abgrund, den man Einsamkeit nannte und der ihn total zu verschlingen drohte.

Venom fummelte an den Knöpfen herum und musterte finster die Steuerung. Grundgütiger. Wenn er es so betrachtete, ungeschönt benannte, kam er sich vor wie ein Weichei. Wie ein hilfsbedürftiger Mann, der nicht für sich selbst sorgen konnte. Und wie ein Arschloch, weil er sich wünschte, Wick wäre bei ihm statt auf der anderen Seite des Flurs bei J.J. – der Frau, die sein bester Freund nicht nur liebte, sondern vor beinahe drei Wochen sogar geheiratet hatte. Er schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter. Wenn das nicht total egoistisch war. Und so was von unangebracht. Erst recht, weil er sich für Wick freute. Na gut, zumindest die Hälfte der Zeit. In der anderen Hälfte dominierte ein total anderes Gefühl. Dann pumpten die kleinen grünen Monster Neid durch seine Venen, hinterließen einen faden Geschmack in seinem Mund und verhärteten sein Herz.

Du liebe Güte, so ein Bockmist aber auch. Ein totales Hin und Her. Mal freute er sich wahnsinnig für Wick und J.J., und gleich darauf war er unglaublich neidisch.

Venom rieb sich das Kinn und stieß die Spielkonsole beiseite. Das schwarze Gerät überschlug sich. Venom streckte seine nackten Füße auf dem Sitzsack aus, der gleichzeitig als Beistelltisch diente, und griff nach seinem Drink. Klare Flüssigkeit schwappte an den Rand des Tumblers. Eiswürfel stießen klickend aneinander, der Duft von Schnaps breitete sich aus. Der scharfe Geruch stieg ihm in die Nase. Venom ignorierte das Brennen und sah stattdessen der Spielkonsole hinterher, die langsamer rutschte und schließlich an der Lehne der Couchgarnitur liegen blieb. Er hob das Glas und nahm einen weiteren Schluck.

Jägermeister. Pur. Ein dreifacher.

Genau das, was er jetzt brauchte. Er wollte seine Sinne betäuben mit dem einzigen Getränk, das ihn betrunken machte. Das war nun mal sein Fluch, sein schreckliches Schicksal, wie er wusste. Bier wirkte bei ihm nicht. Genauso wenig wie Wein oder Whiskey. Nur der Meister führte ihn ans gewünschte Ziel … machte ihn sturzbesoffen, haute ihn total aus den Latschen. Die Wahrheit lag in jedem brennenden Schluck Rachenputzer, den er runterkippte. Andererseits hatte er sich nicht hinter seiner Schlafzimmertür verbarrikadiert, um Trost zu finden. Oder seinen Arsch auf der Couch geparkt, um einen imaginären Feind in einem Videospiel umzunieten und sich dabei selbst leidzutun. Er hatte sich eingeschlossen, um den Tatsachen ins Auge zu blicken.

Die erste Tatsache war sehr schlichter Natur.

Er sollte dankbar sein. Dankbar dafür, dass etwas – egal, wie schlecht es schmeckte – die Grenzen verschwimmen ließ, Vergessen versprach. Er brauchte die Auszeit, brauchte etwas, um seinen Kummer zu ersäufen und nicht immer an das Gleiche zu denken. Also ja. Sich mit diesem Schnaps sinnlos zu besaufen klang doch ganz gut. Nichts anderes konnte die giftige Brühe, die durch seine Adern floss, verdrängen. Nicht, dass er sich über seine tödliche Natur beschweren wollte. Die Vorteile, ein giftiger Drache zu sein, übertrafen bei Weitem die Nachteile. Venom schnaubte, was halb nach Lachen, halb nach Verzweiflung klang, und staunte über die Ironie, die darin lag.

Eine weitere gefühlsmäßige Zweiteilung. Gegensätze, die ungefähr so aussahen: Eben noch stolz auf seine Fähigkeiten – und das Erbe, das ihn antrieb – und gleich darauf all des Scheißdrecks leid, der damit einherging.

Immer die gleiche Leier, nur eine andere Zeit.

Jeder, der zu lange mit ihm in Berührung kam, erlitt die gleichen Schäden – Blutvergiftung durch die Toxine, die seine Drachen-DNA enthielt. Die in seinem Blut waren. An seiner Haut. Tief in seiner Muskulatur. Was bedeutete, dass zu ausgedehnter Kontakt mit wem auch immer keine gute Idee war. Einschließlich Frauen. Ein stechender Schmerz schnürte ihm die Brust ein. Es war nicht hinnehmbar. Total ungerecht. Er liebte Sex – die Hitze, die Lust, die verlockenden Geräusche, die eine Frau von sich gab, wenn er tief in sie eindrang und sie um mehr bettelte. Er sehnte sich nach der Verbindung. Liebte die Nähe. Genoss das Schäkern und … hm … war immer wieder aufs Neue begeistert, wie wunderbar das schwächere Geschlecht schmeckte.

Zu schade, dass keine seiner Begegnungen von langer Dauer war.

Die meisten hielten seine Berührung – die tödliche Wirkung, die von seiner Haut ausging – nicht länger als vierzig Minuten am Stück aus. Also blieb er auch nie lange in ihrer Nähe. Oder über Nacht. Hielt nie eine Frau hinterher in den Armen und genoß nie diese Momente der Intimität. Rein. Raus. Jeder Frau so viel Lust verschaffen, wie sie verkraften konnte, bevor er seine eigene zwischen ihren Schenkeln fand. Und dennoch, trotz des Kontakts fühlte er sich immer einsam. Ausgeschlossen von Normalität. Nicht gut genug und tödlich. Zweifelsohne war das zum Teil der Grund dafür, dass er so eifersüchtig auf Wick und die anderen verheirateten Nightfury-Krieger war. Er wünschte sich, was seine Waffenbrüder besaßen: eine Frau, die zu ihm gehörte. Eine, zu der er nach einer kampfreichen Nacht gegen seine Feinde, die Razorback-Arschlöcher, nach Hause kommen konnte.

Eine, die er durch seine Berührung nicht verletzte. Unabhängig davon, wie viel Zeit er mit ihr verbrachte.

Seufzend leerte Venom sein Glas und griff dann nach der eisgekühlten Flasche. Ohne hinzuschauen, schenkte er sich ein neues Glas ein. Der Schnaps schwappte gegen das geschliffene Kristallglas. Er nahm einen weiteren Schluck, ließ sich tiefer in die Couchkissen sinken und betrachtete das Deckengewölbe. Das von Wick gemalte Engelsfresko war ein Meisterwerk, zeugte vom Geschick seines Freundes im Umgang mit dem Pinsel. Wovon Venom allerdings bis vor Kurzem nichts gewusst hatte.

Es musste schnauben, so absurd war das Ganze. Sechzig Jahre hatte er in enger Nachbarschaft mit dem Mann gelebt und keinen Schimmer davon gehabt. Nicht die leiseste Ahnung. Sein Freund hatte dieses Schmankerl fest unter Verschluss gehalten, sich geweigert, auch nur die geringste Kleinigkeit von sich selbst preiszugeben, einschließlich der ganzen Kunstnummer, bis J.J. vor zwei Wochen angefangen hatte, seine Gemälde in ihrem Musikzimmer aufzuhängen. Jetzt bevölkerten Wicks Bilder zunehmend den Raum, brachten Farbe und Leben hinein, gerade so wie die Musikinstrumente, die er ständig für seine Gefährtin kaufte.

Verdammt, sie hatte sogar einige Leinwände über Venoms Kamin aufgehängt.

Er drehte seinen Kopf und beäugte die Gemälde. Nachdem er sie eine Minute lang angestarrt hatte, ließ er das Eis in seinem Glas kreisen und erhob sich von der Couch. Durch den Alkohol etwas unsicher auf den Beinen, schwankte Venom leicht. Sekundenlang verschwamm ihm alles vor Augen. Er blinzelte. Seine Sicht wurde wieder klarer, und er ging weiter. Er ging an der Längsseite der Couchgarnitur vorbei und quer durch den Raum. Der Holzboden kühlte seine nackten Fußsohlen. Den Blick fest auf die Gemälde gerichtet, nahm Venom die hohen Bücherregale kaum wahr. Er hatte die Bibliothek von Black Diamond – dem Schlupfwinkel, den er mit den anderen Nightfury-Kriegern teilte – vor fünf Jahren zu seinem Schlafzimmer erklärt.

Eine fantastische Entscheidung.

Er liebte Geschichten aller Art. Sachbücher und wissenschaftliche Abhandlungen auch. Ab und an durften es auch ein paar klassische Wälzer nur zum Vergnügen sein. Himmlisch. Dank Daimler – dem Butler und Mann für knifflige Fälle bei den Nightfury – quoll die Bibliothek nur so über von Lesestoff. Alles, was Venom brauchte, füllte die hohen Regale in dem großen Raum, der reine Eleganz verkörperte. Dunkles Holz. Helle Wände und ein Natursteinkamin. Das unglaubliche Fresko blickte auf all das hinunter. Aber die Krönung des Ganzen? Die Wendeltreppe, die zu einem schmalen umlaufenden Gang knapp vier Meter über dem Fußboden führte. Zwei Stockwerke absolute Perfektion. Jeder ledergebundene Band quasi in Reichweite seines breiten Doppelbetts, das mitten im Raum stand.

Sein Rückzugsort. Sein Lieblingsplatz, eine Zuflucht vor den Unbilden der Welt.

Aber nicht im Moment.

Heute Nacht konnte er seinen Blick nicht von den Gemälden losreißen. Präzise Linien. Akribische Details. Wirbelnde Farben – die gedämpften Töne des Winters in Prag. Wunderbar. Jeder einzelne Pinselstrich. Bis auf eins: Trotz der Schönheit der städtischen Straßen und des Schneefalls erinnerten ihn die Bilder viel zu sehr an sein Zuhause. An vergangene Misshandlungen und gegenwärtigen Kummer. An schmerzhafte Erinnerungen. An eine Nacht, an die er sich nicht erinnern wollte, die er aber nicht vergessen konnte. Sein Gewissen ließ es nicht zu. Schwere Selbstvorwürfe verstärkten die Schuldgefühle, erinnerten ihn an das, was er getan hatte …

An seinen Erzeuger, der tot vor ihm lag. Von Venom höchstselbst getötet.

Bei dem Gedanken daran verkrampfte sich sein Magen. Das Bedürfnis nach Vergessen zwang ihn, einen Schluck zu trinken. Kalte Flüssigkeit floss in seinen Mund. Venom schluckte schwer. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal leerte er das Glas und begrüßte das Brennen, genoss geradezu das Gefühl von Übelkeit, das der Alkohol in ihm auslöste. Er verdiente das. Konnte die Vergangenheit nicht wiedergutmachen, schon gar nicht auf Vergebung hoffen. Wünschen und Wollen änderten nie etwas an den Tatsachen. Und einige Dinge – egal, wie notwendig sein Handeln gewesen war – konnten nicht vergeben werden.

»Verdammte Inzucht.« Venom stellte das Glas auf den Kaminsims. Kristallglas prallte auf Stein. Eis klirrte. Das Glas bekam einen Sprung, ein scharfes Geräusch in der Stille, während Venom mit beiden Händen seinen Hinterkopf umfasste. Und zog. Angespannte Muskeln protestierten lauthals gegen die Dehnung, als der Schmerz ihm ins Rückgrat schoss. »Ich muss hier raus, verdammt noch mal.«

Ein hervorragender Plan.

Der beste, wirklich, bis auf eins.

Er durfte das Hauptquartier nicht verlassen. Nicht heute Nacht. Was scheiße war, so was von … Nicht, dass das eine Rolle spielte. Er konnte gar nichts vorbringen gegen die Logik, die hinter dem unfreiwilligen Eingeschlossensein lag. Bastian hatte schon recht. Alle seine Waffenbrüder brauchten hin und wieder eine kampflose Nacht. Ausruhen. Entspannen. Aufladen. Das tat dem Körper gut, obgleich er und seine Kameraden einige Zeit gebraucht hatten, um das zu schnallen.

Bis vor vier Monaten hatte sich keiner der Nightfury-Krieger auch nur eine Nacht frei genommen. Jeder hatte nur eine Sache im Sinn gehabt: Abtrünnige zu jagen, Mitglieder des Razorback-Clans, der Menschen verfolgte. Alles andere zählte nicht, wurde rigoros ausgeklammert. Seit jedoch Frauen das Hauptquartier bevölkerten, hatte sich das Leben der Nightfury gravierend verändert. Jetzt nahm jeder Krieger mindestens einmal pro Woche nicht an den Kampfhandlungen teil. Normalerweise paarweise, quasi zum Zeichen der Solidarität. Heute Nacht waren er und Wick an der Reihe. Leider, verdammt noch mal, weil … genau. Jetzt steckte Venom hier fest. Hatte den direkten Befehl, seinen Motor abkühlen zu lassen und – Gott helfe ihm – zu relaxen.

Kein Weg führte an diesen Regeln vorbei. Und es waren weder Wick noch Erleichterung in Sicht.

Venom ballte die Fäuste und ließ die Schultern kreisen, um seine Anspannung zu lösen, dann schüttelte er den Kopf. Er wollte abhauen. Drachengestalt annehmen, seine Flügel spreizen und wegfliegen. Sich bis zur Erschöpfung verausgaben, bis die Vergangenheit nur noch verschwommen vor ihm stand. Ein undeutliches Bild, das man beiseiteschieben und ignorieren konnte. Vielleicht wäre er dann in der Lage zu vergessen. Vielleicht würde dann der Schmerz in seinem Inneren nachlassen. Vielleicht könnte er dann schlafen. Hatte dieses Vorhaben wenig Aussicht auf Erfolg? Zweifellos, und dennoch, obgleich er wusste, dass er hierbleiben sollte, war die Versuchung, abzuhauen, riesengroß.

Bastian wäre nicht glücklich darüber.

Venom schnaubte. Glücklich. Na klar. Sagen wir lieber stinksauer, mindestens. Verdammt, sein Kommandant würde ihm eine Abreibung verpassen, und nicht nur eine, wenn Venom allein von Black Diamond wegflöge. Nicht gerade eine schöne Vorstellung. Erst recht nicht, weil Bas keinen Quatsch redete. Keinen direkten Befehl erteilte, den er nicht für unbedingt notwendig hielt. Also, genau, die Höhle zu verlassen war keine so tolle Idee. Der gesamte Clan wäre sauer. Würde ihn zur Rede stellen. Ihn in Bedrängnis bringen. Ihn einen Idioten nennen, aber … was auch immer. Mit den anderen würde er schon klarkommen. Sein Kommandant war jedoch ein ganz anderes Kaliber. Venom respektierte Bastian. Und, ehrlich gesagt, zur Sau gemacht zu werden, weil er Mist gebaut hatte, stand nicht gerade an erster Stelle auf seiner To-do-Liste. Aber, nun ja …

Heute Nacht auf das Protokoll zu pfeifen wäre es möglicherweise wert.

Es müsste schließlich keiner erfahren. Er könnte verschwinden, sich verschaffen, wonach er sich sehnte – nämlich Sex mit einem weiblichen Wesen –, und zurück sein, bevor irgendeiner seiner Kumpels nach Hause kam. Oder jemand innerhalb des Hauptquartiers es spitzkriegte, dass er sich für ein paar Stunden unerlaubt entfernt hatte. Als er sich das so nach und nach schönredete, sich die Möglichkeit immer realer vor Augen führte, sah er den perfekten Ort dazu vor sich: das Luxmore. Er spähte hinüber zu den Schiebetüren neben dem Kamin. Mondlicht strömte durch die Scheiben, warf einen breiten Streifen auf den Hartholzfußboden. Venom knetete seine Hände. Genau, definitiv. Das Luxushotel wäre genau das Richtige. Nicht, dass er es jemals zuvor besucht hätte. Bis vor einer Woche hatte er noch nicht mal davon gehört. Aber Sloan hatte gar nicht wieder aufhören können, davon zu schwärmen – oder vielmehr von den fantastischen Frauen in der schicken Bar des Luxmore, also …

Scheiß drauf.

Er wandte sich zur Terrassentür um. Öffnete sie kraft eines Gedankens. Die Schiebetür glitt zur Seite, und kühle Winterluft strömte herein. Venom zögerte nicht. Entschlossen trat er über die Schwelle nach draußen. Noch ein kleiner Fingerschnipp in Gedanken, und die Tür hinter ihm schloss sich wieder. Er ging über die geflieste Terrasse, die drei Stufen hinunter und …

Schwuppdiwupp. Schon wechselte er von Menschen- in Drachengestalt.

Die dunkelgrünen Schuppen der Drachenhaut legten sich wie fallende Dominosteine um seinen größer werdenden Körper. Durch rasselnde giftige Stacheln bis hinunter zu seinem Schwanz geschützt, breitete er seine schwarzen Schwingen aus. Sein Sonar meldete sich, gestattete es ihm, die Entfernung abzuschätzen. Fünfzehn Minuten allerhöchstens, und er würde beim Luxmore landen. So nah, und doch noch viel zu weit entfernt. Zitternd vor Erwartung, ballte Venom seine Pranken. Die rasiermesserscharfen Krallen rissen Furchen in den gefrorenen Rasen, er sprang hoch und … war unterwegs. Hoch über den Baumwipfeln. Mondlicht spiegelte sich auf seinen Schuppen. Er flog zum nordöstlichen Rand Seattles, vor sich das Versprechen duftenden weiblichen Fleisches und die Hoffnung auf baldige Erleichterung. Ganz egal, wie hart seine Brüder ihn dafür bestrafen würden.

2

Sie war vom Glück verlassen. Steckte bis zu den Haarspitzen im Schlamassel. War total im Eimer. Evelyn Foxe zog den Schlüssel aus dem Zündschloss ihres VW Golf, der schon bessere Tage gesehen hatte, und starrte über den Parkplatz. Durch die Windschutzscheibe sah sie auf das Luxmore Hotel. Ein hübscher Anblick von der fünfzig Meter entfernten Straße aus. Die steinerne Jugendstilfassade war in warmes Licht getaucht. Bogenfenster, Edelstahlakzente. Eine gepflegte Gartenanlage, die sich zu beiden Seiten der breiten, halbkreisförmigen Auffahrt erstreckte. Und genug stilvoll gekleidetes Personal, an dem die Leute sich erfreuen konnten.

Schön. Anspruchsvoll. Ein Zufluchtsort für die Wohlhabenden und Reichen. Ein traumhafter Ort für die meisten Menschen, um dort ihren Freitagabend zu verbringen.

Tja, für alle, bis auf sie.

Leider hatte sie keine andere Wahl. Es ging ums Ganze. Alles war gesagt und getan. Und jetzt ging es nur noch darum, in ihren acht Zentimeter hohen Stöckelschuhen über den Parkplatz zu gehen und diesen Spielplatz der Reichen – und manchmal Berühmten – aufzusuchen.

Vor drei Monaten hätte Evelyn nicht lange gefackelt, das schicke Luxushotel zu betreten. Sie hatte zu dieser Welt gehört. War zwar nicht wohlhabend gewesen, aber respektiert von denjenigen, die dazugehörten. Geld sorgte schließlich dafür, dass Menschen – besonders Bosse großer Unternehmen – hellhörig und aufmerksam waren. Gier befeuerte dieses Interesse natürlich noch zusätzlich. Andererseits war es ihr Job gewesen, dafür zu sorgen, dass die Firmen, die zu ihrem Portfolio gehörten, ehrlich blieben. Bilanzkosmetik mochte in einer Ellbogengesellschaft ja die Norm sein, aber am Ende zahlten sich anrüchige Geschäftspraktiken nie aus.

Eine Tatsache, die ihr früherer Arbeitgeber innerhalb seiner eigenen vier Wände hätte bedenken sollen.

Evelyn schnappte sich ihre Prada vom Beifahrersitz und legte sie auf ihren Schoß. Sie knipste sie auf und ließ ihre Autoschlüssel in dem teuren Lederteil verschwinden. Als Nächstes durchwühlte sie ihr Kosmetiktäschchen und holte ihren Lippenstift heraus. Sie zog die Hülle ab und drehte den Stift heraus. Blutrot à la Marilyn Monroe. Evelyns bevorzugte Farbe. Ironisch in mehrfacher Hinsicht, insbesondere, da sie und Marilyn nichts gemeinsam hatten.

Oh, Augenblick bitte. Das stimmte nicht ganz, oder?

Sie und die Beauty-Ikone mochten nicht die gleiche Hautfarbe haben, aber Problemen war das egal. Alter. Geschlecht. Reichtum, Intelligenz. Keine der Variablen spielte eine Rolle. Die Regeln blieben die gleichen. Die Welt drehte sich weiter. Und Unglück stellte immer gnadenlose Forderungen. Was sie wieder zu ihrem ursprünglichen Problem führte, nicht wahr? Keine Ausweichmöglichkeit. Kein Leugnen der Tatsachen. Einfach unumwunden den Realitäten ins Auge sehen … ihr Leben oder das Geld.

Ein Schauder lief ihr über den Rücken.

Als sie unter ihrem eleganten Cocktailkleid eine Gänsehaut bekam, kämpfte Evelyn um Gelassenheit. Nervosität würde ihr nicht helfen. Genauso wenig wie die Wut, die in ihr hochkochte. Mit Pragmatismus wäre ihr besser geholfen. Aber als Evelyn versuchte, den Kloß in ihrer Kehle herunterzuschlucken, in den Rückspiegel blickte und ihren Lippenstift ansetzte, bekam sie kaum noch Luft vor Wut.

Wie hatten diese Arschlöcher es wagen können?

Wie hatten sie es wagen können, so dumm zu sein? So egoistisch? Sich so sorglos über jegliche ethischen Regel hinwegzusetzen … und anderer Leute Leben? Hätte man doch die hohen Tiere zur Verantwortung gezogen – statt ihnen noch die Gelegenheit zu geben, ihrem größten Kunden zu helfen. Ihm bei seinen Millionenbetrügereien, die zum Amsted-Skandal führten, zu helfen. Dann wäre das Wirtschaftsprüfungsunternehmen nicht eingeknickt, und sie hätte ihren Job nicht verloren. Würde sich jetzt mit den Problemen einer ums Überleben kämpfenden Firma herumschlagen, als leitende Insolvenz- und Umstrukturierungsberaterin für Willis, Bower & Bloom nach einer finanziellen Lösung suchen. Stattdessen war sie den Job los, den sie liebte. Und Tausende hatten ihre Lebensersparnisse verloren.

Was für ein unglaublicher Schlamassel. Und so was von unfair. Besonders, da der Skandal ihr quasi keinerlei Regressansprüche gelassen hatte.

Oh, sie hatte sich natürlich um eine neue Stelle bemüht. Mindestens vier- oder fünfmal pro Woche hatte sie ein Vorstellungsgespräch nach dem anderen geführt. Große Unternehmen. Kleine Firmen. Es machte keinen Unterschied. Egal, zu wem Evelyn ging, sie bekam keine Chance. Harte Zeiten? Sicher, aber das war nicht der Grund, warum sie in ihrem Gebrauchtwagen vor einem schicken Hotel saß – arbeitslos, in Schwierigkeiten und ohne Perspektive. Der Name in ihrem Lebenslauf verschreckte alle. Das war eine bittere Pille in Anbetracht ihrer Verdienste und ihrer Reputation. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, die Personalchefs zu überzeugen, dass sie an der Korruption nicht beteiligt gewesen war oder an dem Vertuschungsversuch, den die Börsenaufsicht aufgedeckt hatte – keiner räumte einer früheren Angestellten von Willis, Bower & Bloom einen Vertrauensbonus ein.

Weswegen sie jetzt arbeitslos war. Verfolgt von einem bösartigen Buchmacher. Und nur einen Ausweg sah – das Luxmore und die reiche Kundschaft, die von ihm angezogen wurden wie Paparazzi von einem Promi-Tatort.

Ihr sank das Herz. Das passierte ihr immer, wenn sie über diesen schrecklichen Tag nachdachte. Die Implosion, wie sie ihn gern nannte. Die Nachrichten standen in einem Artikel der New York Times. Sie war in Europa gewesen, damit beschäftigt, die Anlagen einer österreichischen Gesellschaft zu durchforsten, auf der Suche nach Möglichkeiten, dreitausend Jobs zu retten durch Umstrukturierung, Stabilisierung und …

Es klopfte an ihrem Fenster.

Evelyn schreckte auf dem Fahrersitz hoch. Ihre Knie knallten gegen die Unterkante des Lenkrads. Reflexartig fuhr ihr Blick herum und …

Panik schnürte ihr die Brust ein. Pfeifend entwich die Luft aus ihren Lungen.

Du liebe Güte. Eine Pistole. Groß, schwarz und hässlich schwebte der Lauf zwei Zentimeter vor ihrer Fensterscheibe. Ein weiteres scharfes Klopfen. Als sie zusammenzuckte, beugte sich die Person, die die Waffe hielt, hinunter und blickte ausdruckslos durch die Scheibe, musterte sie mit blassblauen Augen und … Herr im Himmel, bitte schicke den schnellsten Schutzengel. Markov das Ungeheuer hatte sie aufgespürt. Der bezahlte Schläger, der für den Buchmacher arbeitete, dem sie Geld schuldete – nein, streichen wir das … nicht sie, aber ihre Mutter hatte es ihm geschuldet –, stand nur einen halben Meter entfernt vor ihr. Nichts als ein schwaches Türschloss, Sekurit-Glas und rostiges Metall zwischen ihnen.

Furcht machte sich in ihr breit, sorgte für ein heftiges Pochen in ihren Schläfen.

Mutlosigkeit setzte ein, untergrub ihren Widerstand. Evelyn holte zittrig Luft und bemühte sich nach Kräften, Haltung zu bewahren. Markov nährte sich von Furcht. Was bedeutete, sobald sie auch nur ein Anzeichen davon zeigte, würde er seinen Vorteil daraus ziehen, und sie wäre geliefert. Hinüber. Erledigt, ohne eine Fluchtmöglichkeit oder Orte, an denen sie sich verstecken konnte. Das zu wissen verringerte weder den wachsenden Druck in ihrem Kopf, noch verlangsamte es ihren rasenden Herzschlag. Sie war in ernsthaften Schwierigkeiten. Schwierigkeiten, denen sie bisher aus dem Weg zu gehen versucht hatte …

Sein dunkles Haar glänzte im Laternenlicht, während Markov wieder mit seiner Pistole gegen die Fensterscheibe klopfte. »Steig aus, Ms. Foxe.«

Mit zitternden Fingern packte Evelyn den Türgriff mit ihrer linken Hand. Die andere Hand um ihre Handtasche gekrallt, zögerte sie, dachte fieberhaft nach. Welche Möglichkeiten hatte sie. Sie brauchte einige, sofort. Bevor die Angst sie übermannte. Bevor die Situation sich weiter verschlechterte. Bevor Markov beschloss zu handeln. Aber … der Himmel helfe ihr. Sie konnte nicht klar denken. Nicht mit einer Pistole, die auf ihr Gesicht zielte. Eins war allerdings ganz sicher. Wegzufahren war keine gute Idee. Zumal sie niemals rechtzeitig an die Autoschlüssel in ihrer Handtasche gelangen würde. Der Schläger, der sie in Schach hielt, hätte das Glas zertrümmert und sie herausgezerrt, bevor sie den Golf gestartet und Gas gegeben hätte. Was bedeutete …

Keine Hoffnung auf Entkommen. Zeit, sich dem Ungeheuer zu stellen.

Wie auch der russischen Mafia.

Mit schmerzhaft angespannten Muskeln zog sie am Türgriff. Verrostete Angeln quietschten. Markov trat zurück, ließ ihr gerade genug Platz, um die Tür zu öffnen. Evelyn atmete einmal tief durch, schnallte sich ab und stieg aus. Sobald die Sohlen ihrer schwarzen Stilettos den Boden berührten und sie vor ihm stand, trat Markov auf sie zu. Evelyn reagierte instinktiv, indem sie nach links zur hinteren Stoßstange auswich in der Hoffnung, dass er sie in Ruhe und die Finger von ihr lassen würde. So viel Glück hatte sie aber nicht. Mit einer Schnelligkeit, die man bei seiner Größe nicht vermutet hätte, schlug er die Autotür zu und packte ihr Handgelenk. Sein Griff war eisenhart. Die Knöchel in ihrer Hand protestierten gegen den Druck. Schmerz schoss ihr in den Unterarm und wanderte hoch bis zur Schulter. Er verdrehte ihr den Arm, sodass ihr Ellbogen in der kalten Abendluft frei lag. Mit ihrer Gelassenheit war es vorbei, und sie schrie auf, als er sie zurückdrängte.

Ihr Hinterteil prallte seitlich gegen ihr Auto.

Die Kaschmirstola, die sie trug, glitt ihr von der Schulter und legte ein Stück nackte Haut frei. Es bildete sich eine Gänsehaut auf ihrem Oberarm. Eingeklemmt zwischen ihm und dem Auto, zeigte Evelyn ihm die Zähne. Einem Mann gegenüber Schwäche zu zeigen, der selbst keine hatte, wäre gleichbedeutend mit einem Todeskuss. Es würde Markov nur noch mehr anfeuern und sie verletzlicher erscheinen lassen. Nicht die beste Idee, wenn man es mit Widerlingen zu tun hatte, die sich wie große weiße Haie verhielten. Immer auf der Jagd. Immer daran interessiert, die schmackhafteste Beute zu erwischen. Und kein Erbarmen in Sicht.

Sie ballte ihre freie Hand zur Faust und reckte sie warnend. »Nimm deine Pfoten weg, Markov.«

Mit schmalen Augen betrachte er erst ihre geballte Faust, dann sah er wieder sie an. »Willst du mir etwa drohen?«

»Verletzte Menschen bezahlen keine Rechnungen.«

»Das ist falsch, Täubchen. Manchmal bezahlen sie sogar schneller«, sagte er mit diesem russischen Akzent, der so unglaublich an ihren angespannten Nerven zerrte. Leise. Ruhig. Beherrscht. Sein Tonfall erinnerte sie an eine giftige, zusammengerollte Schlange, bereit, zuzustoßen. »Ist es nicht so, Sergej?«

Der Name fiel wie eine dunkle Bedrohung in der Stille.

Eine leise Warnung. Eine hervorragende Erinnerung. Markov mochte ja ein Soziopath sein, aber zumindest hatte er das Konzept, was ausstehende Schulden betraf, geschnallt. Aber Sergej? Ihr Blick wanderte zu dem Schläger, der hinter Markov stand. In dem goldenen Kreis, den das Licht der Straßenlaterne erzeugte, stand der Russe in seinen Stiefeln reglos da … reinigte sich die Nägel mit der Spitze seines Jagdmessers. Die mörderisch aussehende Klinge ließ Evelyn erschaudern. Er wirkte wie die personifizierte Gewissenlosigkeit. Nicht die Spur von Mitgefühl erkennbar. Er besaß kein Gewissen. Sie sah die Wahrheit in seinen Augen. Der Typ war total durchgeknallt, ein schonungsloses Instrument, das nur einem Zweck diente.

Die zu jagen, die nicht zahlten.

»Scheint zu funktionieren.« Mit undurchdringlichem Blick hielt Sergej in seiner Nagelreinigung inne und hob die Klinge. Er überlegte kurz, dann wischte er die Klinge an seinem jeansbekleideten Schenkel ab. »Ist ein zusätzlicher Ansporn.«

»Zusätzlicher Ansporn.« Markov verzog den Mund. Er beugte sich vor, neigte den Kopf, nutzte seine Größe und Stärke, um sie einzuengen. »Das gefällt mir. Hübsche Formulierung.«

»Du weißt doch wohl, wie falsch das ist, oder?«, fragte sie, ohne zu wissen, warum.

Mit Mafiakillern zu argumentieren brachte nichts. Nicht, wenn Geld im Spiel war. Evelyn sollte es eigentlich besser wissen. Sie hatte es versucht seit dem Tag, an dem Markov aufgetaucht war auf der Beerdigung ihrer Mutter und darauf bestanden hatte, dass Evelyn die Schulden beglich. Genau einhundertfünfundzwanzigtausend Dollar. Das Geheimnis hinter der Summe war nicht schwer zu erraten gewesen. Mit ihrer Mutter war es – dank deren Spielsucht – seit Evelyns elftem Geburtstag stetig bergab gegangen.

Drogen. Alkohol. Illegale Blackjack-Tische. Egal, welches Laster, ihre Mutter hatte alle gehabt.

Ihr Dad hatte darunter gelitten, hatte in der Hafenbehörde von Seattle Doppelschichten gefahren, Kredite aufgenommen, versucht, seine Frau vor den jeweils aktuellen Buchmachern zu beschützen, hatte seine Beziehungen genutzt, um sie wiederholt eine Entziehungskur machen zu lassen. Nichts hatte geholfen. Egal, was Evelyn und ihr Vater versucht hatten, die Karten waren immer stärker gewesen, hatten ihre Mutter in den Abgrund gezogen, hatten Evelyn beide Eltern vor ihrer Zeit genommen. Ihr Dad hatte im Alter von neunundfünfzig einen Herzinfarkt erlitten. Ihre Mutter war erst vor neun Monaten mit ihrem Wagen auf der Interstate 5 – zufällig oder absichtlich – gegen einen Baum gefahren. Für die Polizei war es Selbstmord gewesen. Sie hatten eine Akte eröffnet. Und wieder geschlossen. Den Bericht geschrieben und die Sache abgehakt. Und obgleich alle Beweise dafür sprachen, hatte Evelyn immer noch Probleme damit, es zu akzeptieren.

Trotz deren Schwächen hatte sie ihre Mutter geliebt.

»Richtig. Falsch …« Markov hielt inne, dann zuckte er die Achseln. »Das hat nichts damit zu tun.«

»Es sind nicht meine Schulden.«

»Deine? Die deiner Mutter? Macht keinen Unterschied«, sagte er. »Mr. Stampkos will sein Geld. Das hatten wir bereits, Evelyn.«

»Man kann es nicht oft genug wiederholen.«

Der Griff um ihr Handgelenk wurde fester. »Muss ich wieder deine Großmutter aufsuchen?«

Sie erschrak heftig. Du liebe Güte … nein. Keine weiteren spätabendlichen Plaudereien in Granite Falls. Ihre Großmutter brauchte ihre Ruhe und konnte keine weitere Konfrontation mit Markov verkraften. Evelyn runzelte die Stirn. Na gut, das stimmte wohl nicht ganz. Mit neunundsiebzig Jahren besaß ihre Großmutter die Konstitution einer Grizzlybärin. Ließ sich von niemandem herumkommandieren, auch nicht von der russischen Mafia. Aber das änderte nichts an den Tatsachen. Ein weiterer Besuch von Markov würde nicht gut enden. Beim zweiten Mal wäre Schluss mit lustig. Ihre Großmutter könnte im Krankenhaus landen …

Oder es könnte noch schlimmer kommen.

»Nein«, flüsterte Evelyn, und ihre Kehle war so zugeschnürt, dass sie sehr schwach klang. Druckmittel. Markov hatte sie alle in der Hand. Würde ihrer Großmutter etwas antun, ihr die einzige Person nehmen, die Evelyn liebte, sie mutterseelenallein zurücklassen. »Bitte, lass sie in Ruhe.«

»Gut«, sagte er und nickte. »Wir verstehen uns, also … wo ist das Geld?«

»Ich habe noch einen Tag.«

»Vierundzwanzig Stunden. Nicht viel Zeit, um fünftausend Dollar aufzutreiben.«

»Ich sagte, ich würde das Geld beschaffen«, sagte sie und bemühte sich, gelassen zu bleiben. Aber Mannomann, es war echt schwer. Erst recht, weil der Schläger sie in seiner Gewalt hatte und der Schrecken ihr voll in die Glieder gefahren war. All die hässlichen Möglichkeiten tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, jede einzelne. Was wäre, wenn sie ihr Wort nicht halten konnte? Was wäre, wenn sie nicht genug Zeit hatte? Was wäre, wenn Markov ihre Großmutter erneut bedrohte? Schreckliche Fragen. Und nur eine Antwort: Treib das Geld auf, bezahl die nächste Rate. Kein leichtes Vorhaben. Ihre Ersparnisse waren futsch. Ihr Bankkonto gähnend leer. Und ohne Job? Unmöglich, von einer Bank einen Kredit zu bekommen. Sie war vom Pech verfolgt – der einzige Grund, warum sie hier stand, vor einem Luxushotel und kurz davor, etwas Gewissenloses zu tun. »Und das werde ich.«

»Wollen wir’s hoffen. Sonst kriegst du es mit Sergej zu tun.« Markovs helle Augen hielten ihren Blick fest, während er seine Nägel in ihren Arm bohrte. Evelyn unterdrückte ein Wimmern und versuchte sich enger ans Auto zu pressen, ihm zu entkommen, als er die andere Hand nach ihr ausstreckte. Schwielige Finger streiften ihren Wangenknochen. Sie wandte den Kopf ab, hasste ihre Hilflosigkeit beinahe genauso sehr wie seine Nähe. Zufrieden summend, verfolgte er die Linie ihrer Wangenknochen, dann hob er ihr Kinn an. »Du hast eine wunderschöne Haut, Evelyn. So weich und glatt. Viel zu schön, um sie mit einer Klinge zu beschädigen.«

Der Magen drehte sich ihr fast um. »Lass mich los.«

Er lachte und gab ihr Handgelenk frei. »Flieg weg, kleine Taube. Ich sehe dich morgen wieder.«

Sobald Markov zurückgetreten war, hob Evelyn ihre Handtasche vom Boden auf und floh, schlüpfte zwischen ihm und ihrem Auto hindurch. Ohne ihn ein einziges Mal anzusehen. Das roch stark nach Feigheit, was sie absolut nicht leiden, aber jetzt, in diesem Augenblick, auch nicht ändern konnte. Wenn sie ihm noch einmal in die Augen sähe, würde sie einknicken, eine Närrin aus sich machen, um Gnade bitten und um mehr Zeit. Was sie natürlich kein Stück weiterbringen würde. Markov kannte keine Gnade. Das konnte er sich nicht leisten in seinem brutalen Job. Und Seattle konnte, ehrlich gesagt, gut auf weitere arbeitslose Psychopathen verzichten, die keine anderen Interessen hatten.

Serienkiller waren nun mal so. Messerschwingende Irre wie Sergej auch.

Wieder überlief sie ein Schauder. Evelyn zog ihre Stola enger um sich. Verzweifelt versuchte sie sich vor der Kälte und der Bedrohlichkeit abzuschirmen. Sie spürte Markovs bohrenden Blick in ihrem Hinterkopf. Gefährlich. Unberechenbar. Wahnsinnig. Und als sie die rissige asphaltierte Straße mit ihren Stilettos überquerte und die halbkreisförmige Auffahrt des Luxmore betrat, fragte sie sich – und zwar nicht zum ersten Mal –, wie die Dinge derartig aus dem Ruder hatten laufen können.

Sie runzelte die Stirn. Gott konnte nicht viel von ihr halten.

Beweise seines Missfallens pflasterten ihren Lebensweg – finanzieller Ruin, gefühlsmäßiges Wrack, Selbstwertgefühl im Keller … verfolgt von der Mafia. Heiliger Strohsack, konnte es überhaupt noch schlimmer kommen? Aber gleich, nachdem ihr diese Frage durch den Kopf geschossen war, schob sie sie auch schon beiseite. Dumme Frage. Natürlich konnte es noch schlimmer werden. War es ja bereits. Der lebendige Beweis dafür zeichnete sich zehn Stufen vor ihr ab in Form prächtiger Hoteltüren und einer höllischen Nacht, die vor ihr lag.

Sie atmete tief durch, straffte sich und ging weiter in ihrem hautengen, knielangen Kleid. Die erfrorenen Pflanzen rund um die Auffahrt begrüßten sie. Tiefsitzende Furcht begleitete das Klackern ihrer hohen Hacken auf dem Kopfsteinpflaster, das nach Einsamkeit klang in der Nachtluft. Die Hoteldiener, die neben der chromverkleideten Jugendstilopulenz der Eingangstüren Posten bezogen hatten, hörten sie kommen. Während sie sich näherte, veränderte sie ihren Gang, wiegte sich in den Hüften, reckte das Kinn und trat aus den Schatten der bepflanzten Auffahrt. Der Portier, der ihr am nächsten stand, holte überrascht Luft. Eine Sekunde später fiel ihm die Kinnlade herunter. Evelyn lächelte. Gut. Seine Reaktion war ein hervorragender Start. Wenn sie die Angestellten in Staunen versetzen konnte mit ihrer Erscheinung – reich auszusehen und sich so zu verhalten –, würde keiner den Grund hinter ihrem Besuch heute Abend vermuten.

Ein großer Vorteil, wenn man bedachte, was sie wirklich vorhatte.

Die beiden Hoteldiener traten vor, während sie über den Fußweg auf das Luxmore zuging. Alle beide wünschten ihr einen guten Abend. Sie begegnete ihnen mit Schweigen, nickte ihnen nur knapp zu und wies auf die Mitteltür. Das Duo beeilte sich, sie für sie zu öffnen, stieß mit den Schultern zusammen vor Eifer, ihr zu Diensten zu sein. Evelyn hätte beinahe gelacht. Himmel, es war kinderleicht, Menschen glauben zu machen, dass man dazugehörte. Unvermeidlich, schätzte sie. Sie hatte die Kunst, sich anzupassen, perfektioniert. Unzählige Stunden in teuren Vorstandsetagen verbracht, die Autorität einer Führungskraft ausgestrahlt, mächtige Bosse überzeugt, die sich gar nicht gern die Wahrheit über die Firmenfinanzen anhörten.

Die Tür öffnete sich leise.

Ohne zu zögern, trat Evelyn über die Schwelle in die imposante Lobby. Sie war dreigeschossig und strömte reine Eleganz aus. Jugendstilperfektion mit kompliziert gemusterten Marmorfußböden, deren orangefarbene, dunkelgraue und schwarze Einlegearbeiten das Ganze abrundeten. Schwarzlackierte glatte Säulen standen Spalier entlang der hellen Wände, brachten eine ausladende Treppe zur Geltung, deren filigranes Treppengeländer in einen geschwungenen Handlauf überging.

Die Lobby war heute Abend gut besucht. Einige warteten zweifellos auf Tische in der Bar und im Restaurant. Andere waren damit zufrieden, ihre Drinks zu schlürfen und den Abend umgeben von Freunden und Luxus zu verbringen. Vom Rand des Geschehens aus überflog Evelyn die Szenerie auf der Suche nach ihrer Kontaktperson. Nicht auf den Sofas, die hinten an den Wänden standen. Nicht auf den vereinzelten Ledersesseln, die über die Lobby verteilt standen. Sie spähte nach links zu drei gepolsterten Hockern mit festen runden Sitzen. Eine Brünette in den Zwanzigern, die Chanel trug, begegnete ihrem Blick. Trixie, die Frau, die sie vor zwei Tagen an der Luxmore Bar kennengelernt hatte. Sie hatte sich um einen Job als Bardame beworben (Verzweiflung ließ sich nun mal nicht leugnen), und stattdessen war sie mit Trixie ins Plaudern gekommen.

Eine gewiefte Frau. Eine von der berechnenden Sorte und … eine der erfolgreichsten Escortservicebetreiberinnen Seattles. Nicht, dass die Polizei das wusste.

Trixie verstand ihr Geschäft und wusste, wie man unter dem Radar blieb. Sie nahm nur wenige Frauen auf und gab sich ausschließlich mit reichen Kunden ab. Wenn man noch Raffinesse und Unmengen von Charme hinzurechnete, dann … kein Zweifel. Die Bullen hatten keine Chance. Keiner wollte sich bei Trixie unbeliebt machen, einschließlich der Männer, die die Vorzüge ihres Escortservices genossen. Evelyn hatte keinen Zweifel, dass die ausgebuffte Zuhälterin ihr kleines schwarzes Buch schwenken würde – das mit den vielen Namen darin – um die Sicherheit ihrer Mädchen zu garantieren und um ihre eigene Haut zu retten.

Mit übergeschlagenen Beinen, total entspannter Haltung und absolutes Selbstbewusstsein ausstrahlend, lächelte Trixie sie an, als sie näher kam. Sie klopfte mit ihrer manikürten Hand auf den Nachbarhocker. »Ich hätte nicht gedacht, dass du heute Abend auftauchen würdest.«

Evelyn schluckte. »Ich auch nicht.«

Sie glitt auf den Hocker neben ihrer neuen Freundin und sah sich im Raum um. Reiche Männer in teuren Anzügen nippten an teuren Drinks aus VIP-Tumblern. Wohin sie auch blickte, registrierte sie die Trennlinie – die Habenichtse bedienten die Superreichen. Es schien nicht fair zu sein. Andererseits, was war schon fair im Leben? Nur sehr wenig. Ein Beweis war die Tatsache, dass sie in einem todschicken Hotel saß und kurz davor war, sich zu prostituieren, um ihren Hals zu retten. Widerwille breitete sich wie Gift in ihr aus, brannte ihr ein Loch in den Bauch. Meine Güte, es war verabscheuungswürdig. Und mehr als nur ein kleiner Rückschritt. Es schmeckte nach Versagen in großem Maßstab. Aber wer bankrott und kurz davor war, ermordet zu werden, konnte nicht wählerisch sein. Die stetige Verschlechterung ihrer Situation erforderte schnelles Handeln und Mut. Aber selbst als sie sich sagte, dass ihr keine andere Wahl blieb, packten sie Entsetzen und Angst, kreisten ihr die unvermeidlichen Fragen durch den Kopf.

Würde sie das hier wirklich tun? Könnte sie das wirklich bis zum Ende durchziehen?

Markovs Gesicht tauchte vor ihrem geistigen Auge auf.

Evelyn wandte ihren Blick von der Menschenmenge ab und glättete ihr Kleid mit den Handflächen. Jetzt ging es ums Ganze. Hatte sie das nicht vorhin schon gesagt? Ja. Absolut. Sie hatte keine Alternative, und es blieb ihr kein Ausweg.

»Es ist nicht für immer, Trixie.« Sie schlug ihre Beine übereinander und drehte sich zu der Escortservicebetreiberin um. »Ich brauche im Moment das Geld, das ist alles.«

Besorgnis blitzte in Trixies Augen auf. »Wirst du von jemandem bedroht?«

»Die Gründe spielen keine Rolle, ich möchte dich nur darauf hinweisen«, sagte sie und beschloss, ehrlich zu sein. »Sobald ich genug verdient habe, bin ich weg. Solange du das akzeptierst, haben wir keine Probleme.«

»Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen.«

»Fair Play ist eine meiner Stärken.«

»Meine auch. Von mir aus gibt es keine Einwände, im Gegenteil, ich werde dich unterstützen.« Trixie musterte sie aufmerksam. »Wenn du Fragen hast – egal, welche –, kommst du zu mir. Verstanden?«

Evelyn nickte.

Mit verständnisvollem Blick öffnete Trixie das Abendtäschchen auf ihrem Schoß. Eine schnelle Durchsuchung förderte eine Schlüsselkarte zutage, die sie Evelyn zuschob. »Zimmer 301 … nimm die Treppe, dann geh oben nach links. Die Suite ist zu deiner Rechten, in dem ersten Korridor.«

»Danke«, flüsterte Evelyn und … ah, Mist. So weit war es mit ihr gekommen, dass sie einer Puffmutter, die einen exklusiven Escortservice führte, dankte. Vergessen wir die Schande. Das Ganze war sowieso eine totale Katastrophe. Während sie sich erhob, strich Evelyn ein letztes Mal ihr Kleid glatt. »Bis später.«

»Evelyn?«

Mit einem Kloß in der Kehle blickte sie zurück über ihre Schulter.

Grüne Augen voller Verständnis musterten sie aufmerksam. »Das erste Mal ist immer das schwierigste, meine Liebe. Es wird leichter mit der Zeit.«

Du liebe Güte, das hoffte sie nun wirklich nicht.

Evelyn wollte nicht, dass es leichter wurde. Sie wollte dieses Gefühl konservieren, dieses Gefühl von Selbsthass und Elend. Es sollte nicht verblassen mit der Zeit. Genauso wenig wie der Gedanke daran, dass es notwendig war. Und während sie die Lobby durchquerte, reiche Kunden passierte, an wunderschönen Möbeln vorbeiging und die Stufen erklomm, wusste sie, dass das Abstoßende an dieser Situation sie für immer begleiten würde. Darauf ließ es sich reduzieren … es war ein absolut schrecklicher Moment für sie. Ihr Leben oder ihre Tugend. Es war traurig, aber im Augenblick konnte sie nicht beides gleichzeitig haben.

3

Durch seine Magie getarnt und für menschliche Augen unsichtbar, betrat Venom das Luxmore auf der Suche nach drei Dingen. Einem Drink, einer schönen Frau und Sex. Die Hitliste klang außerordentlich vernünftig. Und das vornehme Luxushotel? Er lächelte. Reine Perfektion. Das Erste auf seiner Liste würde leicht genug zu beschaffen sein: Jägermeister auf Eis, und zwar ein dreifacher. Dieses Versprechen lag eine Rechtsdrehung und fünfzig große Schritte durch die Lobby vor ihm, jenseits des Durchgangs zur Triton Bar. Eine Leichtigkeit unter normalen Umständen. Die allerdings heute Nacht nicht herrschten.

Leicht hatte nichts mit diesen Umständen zu tun. Nicht, solange er unterwegs in der Stadt war …

Ohne einen Waffenbruder, der ihm Deckung gab.

Er glitt in die Schatten neben der Eingangstür, bezog Posten neben einer Topfpflanze und lehnte sich mit den Schulterblättern an die Wand, die Hände in die Taschen seiner Jeans geschoben. Wahrscheinlich nicht ganz der richtige Aufzug. Die Levi’s, zusammen mit seinem T-Shirt und der Lederjacke, schrien geradezu »nicht korrekt gekleidet«. Venom war das schnuppe. Er war nicht nach Seattle gekommen, um sich mit der Elite der Stadt zu unterhalten und Kontakte zu pflegen. Das hatte er zur Genüge getan, als er noch in Prag lebte mit seinem Erzeuger … vor der Verwandlung. Bevor seine Drachen-DNA aktiviert wurde und es ihm ermöglichte, sich von Menschen- in Drachengestalt zu verwandeln. Es waren keine guten Erinnerungen. Dafür hatte sein Vater gesorgt. Der hatte ihn immer nur klein machen und verletzen wollen … ihn unterjochen wollen – egal, wie passend er gekleidet war oder wie gut er sich betragen hatte.

Sadistische Männer waren so, behandelten diejenigen, die sie für minderwertig hielten, brutal. Erfanden Vorwürfe. Bildeten sich Verstöße ein. Unbegründete Anschuldigungen. Das gehörte alles zum Gesamtpaket. Venom hätte nicht das Geringste tun können gegen die Raserei seines Erzeugers. Der General hatte keinen Grund gebraucht, um ihn zu misshandeln. Seine eigene Belustigung war ihm Grund genug gewesen.

Der Gedanke daran verursachte Venom Erstickungsgefühle.

Er schüttelte den Kopf. Er musste aufhören, daran zu denken. An den dicken Pfahl, der am Strand aufgerichtet war. Daran, dass er bei Ebbe an ihn gefesselt wurde – die Hände mit einem festen Seil gebunden, das Rückgrat eng am hölzernen Pfosten, mit wild hämmerndem Herzen, während das Salzwasser seine Füße umspülte und dann langsam immer höher stieg, bis es über seinen Kopf schwappte. Mist, er war erst neun Jahre alt gewesen, als sein Erzeuger mit den Bestrafungen anfing. Zu jung, um irgendetwas zu begreifen. Viel zu verletzlich, um sich zu verteidigen. Unfähig, sich vor dem Mann in Sicherheit zu bringen, der ihn hätte beschützen sollen, statt ihn zu misshandeln.

Klar, die Schläge hatten ihn nicht umgebracht.

Und er war auch nicht ertrunken.

Aber er war mehrmals sehr nahe dran gewesen. Er durchlebte das Entsetzen jedes Mal aufs Neue, wenn er die Augen schloss. Hatte Albträume, dass die Welt sich verdunkelte, dass Ärzte herbeieilten, um ihn wiederzubeleben, dass sein Vater ihn rügte wegen seines mangelnden Durchhaltevermögens – seiner Unfähigkeit, die Luft anzuhalten und über Wasser zu bleiben in dem schäumenden kalten Ozean. Venom erschauderte. Er konnte immer noch das Salzwasser riechen. Spürte immer noch die Flüssigkeit im Mund, wie sie ihm die Kehle hinunterrann, in seine Lungen drang. Egal, wie sehr er sich anstrengte, es zu überwinden, das Übel verfolgte ihn. Nie hatte er etwas richtig gemacht. Jedenfalls nicht in den Augen seines Vaters und schon gar nicht in denen der Aristokratie der Drachenblütigen, in die er hineingeboren war, sodass …

Scheiß auf die überbezahlten Topmanager in ihren teuren Anzügen und polierten Schuhen. Er interessierte sich einen Scheißdreck für die Etikette. Oder dafür, sich in die menschliche Welt einzufügen. Diese aufgeblasenen Arschgeigen konnten ihm alle so was von gestohlen bleiben, konnten seinetwegen zur Hölle fahren. Ohne über Los zu gehen. Ohne das übliche Geld einzukassieren.

Venom konzentrierte sich auf die Menschenmenge, legte seinen Tarnzauber ab und starrte auf den Eingang zum Barbereich. Genau. Ein Kinderspiel. Er war nur einen Katzensprung entfernt von einer Einrichtung voller weiblicher Wesen. Er wandte seinen Blick kurz ab von der Triton Bar und überflog erneut die Lobby. Wandleuchter und verchromte Kerzenständer tauchten den runden Raum in warmes Licht. Überall wurde geplaudert, männliche Stimmen vermischten sich mit weiblichen, das Geräusch driftete bis an die drei Geschosse höher liegende Decke. Aus reiner Gewohnheit checkte er ab, ob es irgendwo Ärger geben könnte. Sein Instinkt verriet ihm, dass die Luft rein war. Seine Drachensinne meldeten sich, unterstützten seine Intuition. Keine Gefahr in Sicht auf dem breiten Balkon am Ende der Treppe. Keine Razorback, die sich in der Menschenmenge versteckten. Absolut nichts Außergewöhnliches.

Venom nickte. Exzellent. Alles klar. Zeit, an die Arbeit zu gehen.

Und dennoch rührte er sich nicht vom Fleck.

Er knetete seine Hände und veränderte seine Haltung an der Wand. Sich hier allein aufzuhalten war nicht die beste Idee. Allerdings hatte er das schon gewusst, bevor er das Hauptquartier verlassen hatte. Und egal, wie schlecht sein Gewissen war und wie sehr die Vergangenheit ihn quälte, seine Absichten waren immer noch dieselben. Er brauchte Ablenkung. Etwas, was ihn lange genug beschäftigte, um seine Spannung abzubauen. Venom spürte, wie der Druck zunahm. Die gefährliche Woge trieb ihn näher an den Abgrund, sorgte dafür, dass seine Unzufriedenheit unter der Hautoberfläche brodelte.

Wirklich absolut keine tolle Ausgangsposition, um den Abend zu beginnen. Verführung erforderte Geduld und liebevollen Umgang. Dass er lange genug cool blieb, um sein Ziel zu erreichen. Ein guter Plan im Großen und Ganzen. Besonders, da Frauen erschrocken die Flucht ergriffen, sobald sie sein Temperament spürten, also … genau, Zeit, aufzuhören mit diesem Mist. Sonst bekäme er nicht das, wonach er sich sehnte – Kontakt und Nähe, das wunderbare seidige Hinein- und Hinausgleiten zwischen den Schenkeln einer Frau.

Allein bei dem Gedanken erbebte er erwartungsvoll.

Die Realität fuhr ihm allerdings schwer in die Parade.

Diese gottverdammte Einschränkung. Vierzig Minuten mit einer Frau waren einfach nicht genug. Er brauchte mehr heute Nacht. Mehr Zeit. Mehr als nur eine kurze Kostprobe. Und verdammt viel mehr Berührung. Er wollte festhalten und selbst festgehalten werden. Sich die ganze Nacht hindurch unterhalten, während er es genoss, in den Armen einer Frau zu liegen. Sich etwas zu wünschen bedeutete allerdings nie, dass es auch tatsächlich eintraf. Oder dass die Tatsachen sich änderten. Das Gift in seinen Adern würde eine derartige Intimität nicht zulassen.

Venom schluckte das bittere Gefühl von Enttäuschung herunter. Er war nun mal reduziert auf kleine Zeitabschnitte mit dem anderen Geschlecht. Was für eine verflixte Tragödie. Eine unveränderbare, die er auch klaglos akzeptierte. Nun ja, wenigstens meistens. Manchmal – wie heute Nacht … wenn seine Einsamkeit eskalierte – verfluchte er die Magie in seinem Blut. Und die Tatsache, dass er eine Frau töten konnte durch seine Berührung, wenn er nicht aufpasste.

Das Nervengift, das er über die Haut absonderte, wirkte schnell.

Ein wunderbarer Aktivposten, wenn er in Drachengestalt kämpfte. Nicht so toll, wenn er in einer Lobby voller Frauen stand, von denen die meisten die Intensität seiner Berührung nicht überleben würden. Frauen mit niedriger Energie konnten es auf gar keinen Fall. Also … egal, wie brennend seine Lust war, seine Strategie blieb dieselbe: Eine Frau mit guter Energie verführen – eine, die eine starke Verbindung zum Meridian hatte, dem elektrostatischen Band, das den Planeten umgab und alle Lebewesen nährte –, sich nehmen, was er brauchte, und dann nichts wie ab nach Hause.

Bevor irgendjemand im Black Diamnond mitbekam, dass er sich heimlich verdrückt hatte.

Der letzte Teil des Plans hatte höchste Priorität. Er wollte nicht, dass Bastian und die Jungs ihn suchten. Zumal er nicht hundertprozentig fit war. Der blitzartige Aufbruch von Black Diamond hatte die letzten Reste seiner Reserven verzehrt. Hinzu kamen noch der Alkohol und die Tatsache, dass er seit Tagen keine Frau mehr angerührt hatte und … keine Frage. Er musste sich dringend nähren. Er spürte, wie seine Energie stetig abnahm und seine Muskeln erschlafften. Ein Schuss weiblicher Energie würde ihn wieder aufmöbeln – seine Körperkräfte wieder aufladen, seinen Körper nähren, ihm geben, was er brauchte, um zu überleben.

Eine Notwendigkeit angesichts der Tatsache, dass er sich mit dem Meridian nicht selbst verbinden konnte.

Durch einen Fluch der Göttin aller Dinge vor mehreren Jahrhunderten war die Verbindung zwischen Angehörigen des Drachenbluts und der Quelle der Allmacht zerstört. Ein Totalschaden. Und keine Hoffnung darauf, ihn jemals zu beheben. Ein winzig kleiner Moment, der aber in seiner allumfassenden Wirkung unglaublich unfair war. Der Bruch veränderte alles. Jetzt stand seine Art am Rande des Abgrunds – zahlenmäßig mehrere Tausend zu eins den Menschen unterlegen, gezwungenermaßen auf Menschenfrauen angewiesen, um zu überleben, in vielerlei Hinsicht durch ihre Lebensumstände eingeschränkt, und das Zerwürfnis war so total, dass keine Magie der Welt es überwinden konnte. Nicht, dass er der Göttin ihren legendären Wutanfall übel nahm. Einige Dinge verzieh eine Frau schließlich nie.

ENDE DER LESEPROBE