Feuer - Verhängnisvolle Liebe - Coreene Callahan - E-Book
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Feuer - Verhängnisvolle Liebe E-Book

Coreene Callahan

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Beschreibung

Der geheimnisvolle Wick ist einer der mächtigsten Drachenkrieger des Nightfury-Clans, und doch hat er schwer an der Bürde seiner dunklen Vergangenheit zu tragen. Wick lässt niemanden an sich heran – bis er der attraktiven J. J. begegnet. Zwischen Wick und J. J. besteht eine geradezu magische Verbindung, und sie scheint die Einzige zu sein, die Wicks seelische Wunden heilen kann. Als J. J. unschuldig ins Gefängnis kommt, tut Wick etwas, das bisher unmöglich schien: Er wagt sich in die Welt der Menschen, um seine große Liebe zu retten ...

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Seitenzahl: 594

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DAS BUCH

Der geheimnisvolle Wick ist einer der mächtigsten Drachenkrieger des Nightfury-Clans. Zuverlässig und furchtlos ist er eine unverzichtbare Stütze für seine Brüder. Dennoch ist er in seinem Clan ein Außenseiter. Gequält von einer dunklen Vergangenheit verschließt sich Wick jeder Form von Beziehung und gilt als wortkarg und ruppig. Als er bei einer Mission der schönen J. J. Solares das Leben rettet, ist er zunächst fest entschlossen, sie auf Abstand zu halten, obwohl er sich sofort unwiderstehlich von ihr angezogen fühlt. Schließlich kann es nur ein böses Ende nehmen, wenn einer wie er sich auf die Liebe einlässt, oder? Aber auch J. J. spürt, dass zwischen ihr und dem sexy Drachenkrieger eine magische Verbindung besteht. J. J. kann Wicks Seelenqualen verstehen, denn auch sie selbst hat mit den Geistern ihrer Vergangenheit zu kämpfen. Langsam gelingt es J. J., Wicks Mauern zu durchbrechen, und zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren die beiden, was es bedeutet zu lieben und geliebt zu werden. Doch dann gerät Wick im Kampf gegen den feindlichen Drachenclan der Razorback in tödliche Gefahr …

Die FEUER-Serie:

Erster Roman: Tödliches Verlangen

Zweiter Roman: Verborgene Sehnsucht

Dritter Roman: Gefährliche Begierde

Vierter Roman: Verhängnisvolle Liebe

DIE AUTORIN

Coreene Callahan arbeitete nach ihrem Psychologiestudium zunächst als Innenarchitektin, bevor sie beschloss, sich ausschließlich ihrer großen Liebe zu widmen: dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Kanada.

Weitere Informationen zu Autorin und Werk erhalten Sie unter:

www.coreenecallahan.com

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

www.heyne-fantastisch.de

COREENE CALLAHAN

FEUER

Verhängnisvolle Liebe

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Fury of DESIRE Deutsche Übersetzung von Ingrid Klein
Redaktion: Uta Dahnke Copyright © 2013 by Coreene Callahan Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock/Halay Alex Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-13916-2V002
www.penguinrandomhouse.de

Für meine Leser, die so geduldig auf Wicks

Geschichte gewartet haben. Hier ist sie endlich.

1

Im Hauptquartier war es ruhig … ausnahmsweise, verdammt noch mal.

Die Kampfstiefel breitbeinig auf den Boden gepflanzt, den Arm voller Baupläne, verharrte Wick unter dem holzverkleideten Torbogen zwischen der Küche und dem Esszimmer. Mit geschärften Sinnen horchte er angestrengt. Nichts. Kein Gelächter. Keine polternden männlichen Stimmen, keine Pfiffe, kein gutmütiges Frotzeln waren zu hören. Er spähte nach links in den kurzen Gang, der um den steinernen Kamin in das Wohnzimmer führte. Der große Plasmabildschirm war dunkel. Irgendwelches Klackern von Billardkugeln war auch nicht zu vernehmen. So gut wie überhaupt kein Geräusch, nur das leise Knistern der Flammen in dem riesigen Kamin, aus dem der Geruch von brennendem Holz zu ihm drang.

Nichts und niemand.

Spitze. Es war amtlich.

Ruhe war eingekehrt und damit das beruhigende Wissen, dass er jetzt reichlich Zeit für sich allein vor sich hatte. Jedenfalls für die nächsten paar Stunden, innerhalb dieser wunderbaren Ruhephase, wenn der späte Vormittag in den frühen Nachmittag überging.

Danach würde die Hölle losbrechen. Aber bis seine Waffenbrüder aus den Federn krochen und sich bereitmachten für den Tag, hatte er Black Diamond – das Quartier, das er mit den anderen Drachenkriegern teilte – ganz für sich allein. Gott sei Dank. Er brauchte den Frieden und die Stille. Etwas Ruhe und Erholung könnte er auch vertragen, um die radikalen Veränderungen innerhalb des Nightfury-Clans im Verlauf der letzten Monate zu verkraften. Das Hauptquartier war früher ein Rückzugsort gewesen, eine Zuflucht, wenn sie mal wieder eine Nacht gegen die Razorback-Arschlöcher, die er Feinde nannte, gekämpft hatten.

Zu dumm, dass alle guten Dinge ein Ende hatten.

Ein Paradebeispiel gefällig? Die weibliche Invasion.

Himmelherrgott, verdammt noch mal, das war schlicht Wahnsinn hoch zwei. Wer hätte gedacht, dass drei Menschenfrauen eine derartige Unruhe verbreiteten? Oder Männern so leicht den Kopf verdrehten? Er jedenfalls nicht. Andererseits, was zum Teufel wusste er schon? Wick ging Frauen in der Regel weiträumig aus dem Weg. Er wusste nie, was er sagen oder wie er sich verhalten sollte in ihrer Nähe. Und nachdem er den Zirkus beobachtet hatte, den seine Kumpels veranstaltet hatten während der letzten paar Monate, und den man nur IRRSINN nennen konnte, wusste er, dass seine Strategie schlichtweg brillant war.

Weiblichen Wesen aus dem Weg zu gehen – ganz besonders solchen mit hoher Energie – war die bessere Lösung. Eine notwendige Maßnahme, die man auch Selbstschutz im weitesten Sinne nennen konnte … egal. Auf keinen Fall würde er wie seine Brüder enden: eng verbunden und auf bedauernswerte Weise entmündigt, während ihre Partnerinnen sie bewachten und den Ton angaben.

Wick stampfte über den Holzdielenboden zu dem Tisch, der die Mitte des Raums einnahm. Das polierte Mahagoniholz des Tisches glänzte unter dem Kronleuchter aus Kristall. Es war ein hübsches Möbelstück, französisch, achtzehntes Jahrhundert, aus einem eleganten Palais in Paris entwendet. Wie es hier gelandet war, quasi am anderen Ende der Welt, nur zwanzig Minuten von der Innenstadt Seattles entfernt, war kein Geheimnis.

Daimler. Der Numbai, der Mann für alle schwierigen Fälle der Nightfury, hatte einen guten Geschmack, was er regelmäßig unter Beweis stellte.

Was perfekt war. Eine echte Besser-geht’s-nicht-Nummer.

Ohne Daimlers Hilfe wäre Wick nie und nimmer zu seiner Kunstsammlung gekommen, ganz zu schweigen von der Landschaft von Gauguin, die über dem Kaminsims hing. Seine stete Niedergeschlagenheit ließ nach, als er das Gemälde studierte. Wirbelnde Farben. Präzise Linien, die sich verbanden. Kühne Pinselstriche und Ausgewogenheit bestimmten das Bild, vervollständigten das Ganze – Kunst, durchtränkt von Geschichte, einfach rundherum wohltuend.

Beste Erzählkunst, von der Hand eines Meisters.

Wick legte die dicken Rollen auf den Tisch und riss sich von dem Gemälde los. Später. Er würde noch Zeit genug haben, seine Schlafzimmertür zu verschließen und seiner Leidenschaft zu frönen, aber … später. Die gegenwärtige Situation verlangte, dass er handelte und sich nicht in Tagträumen verlor.

Mit einer schnellen Handbewegung zog er das Gummiband von der ersten Rolle ab und breitete die Blaupause auf der polierten Tischplatte aus. Er runzelte die Stirn. Das war die falsche. Zuerst brauchte er den Gebäudegrundriss, keinen Plan der Elektro- und Rohrleitungen. Er griff zum nächsten Plan und wiederholte die Prozedur, breitete jede Rolle aus, bis der Tisch unter dem schweren Papier verschwand und …

Verdammt. Hätte er sich auch gleich denken können. Die letzte Rolle enthielt die Information, die er suchte, nämlich den aktuellen Bauplan. Nicht, dass er diese ganzen Informationen brauchte, um in eine derartige Einrichtung der Menschen einzubrechen – Swedish Medical war ein Krankenhaus wie jedes andere –, aber Gründlichkeit war die beste Vorbereitung, und egal was der Rest der Krieger dachte, Wick war immer vorbereitet.

Er nahm es den Nightfury nicht übel, dass sie ihn dennoch für eine tickende Zeitbombe hielten. Wick wusste, dass seine Fick-dich-Attitüde schuld an dieser Einschätzung war. Wahrscheinlich sollte er mal was dagegen tun … Schritte unternehmen, seinen Ruf aufzupolieren und seinen Waffenbrüdern zu versichern, dass er nicht unter einem Todeswunsch litt. Das Problem? Jemanden vollzulabern war nie sein Ding gewesen. Etwas rücksichtslos, schnell und sauber durchzuziehen schon eher. Die anderen Krieger würden ihm entweder folgen. Oder nicht.

Das lag ganz bei ihnen.

Wick legte die Stirn in Falten angesichts der Zeichnung vor ihm, verfolgte mit seiner Fingerspitze einen der eingezeichneten Krankenhausflure. Mit einem »Hm« blätterte er eine Seite zurück. Das Dach des Gebäudes wurde sichtbar. Versehen mit einem Landeplatz für Rettungshubschrauber, war das Dach die beste Wahl. Auf einer offenen Fläche zu landen wäre nicht nur nützlich, sondern auch bequemer. Je mehr Platz er hatte, um heranzufliegen, zu landen und seine Drachenflügel anzulegen, desto besser. Zu wenig Platz konnte er nun mal nicht leiden. Beengtheit – allein der Gedanke daran – erzeugte ihm eine Gänsehaut, und …

Wick unterdrückte einen Schauder und verdrängte die Erinnerung, stopfte sie in das schwarze Loch in seinem Hinterkopf. Sich zu erinnern war nie eine gute Idee. Die Vergangenheit war Vergangenheit. Es hatte keinen Sinn, sie wieder auszukramen und Dinge aufleben zu lassen, die man am besten ruhen ließ.

Wick konzentrierte sich wieder auf die von Menschen angefertigte Bauzeichnung und plante den Kurs, merkte sich den Grundriss, überlegte, welches der brauchbarste Weg durch die labyrinthischen Korridore des Krankenhauses war. Sein Ziel war die Intensivstation. Oder vielmehr die verletzte Frau, die momentan bewusstlos in der Abteilung für Schwerverletzte lag.

Jamison Jordan Solares.

Wick verzog leicht den Mund. Jamison. Seltsamer Name für eine Frau, aber irgendwie gefiel er ihm.

»Jamison«, murmelte er, sprach ihn Silbe für Silbe aus, prüfte den Klang.

Hmm. Ihr Name hörte sich gut an, kam ihm leicht über die Lippen, flatterte durch die Stille, gab seiner selbstgewählten Einsamkeit etwas Würze. Wick schüttelte den Kopf, aus seiner Freude wurde Selbstironie. Ihr Name spielte keine Rolle. Genauso wenig wie sie, jedenfalls für ihn. Seine Aufgabe beschränkte sich darauf, sie aus der Intensivstation zu entführen, sicher ins Hauptquartier zu schaffen und Mac zu übergeben. Und das alles, um dem neuesten Mitglied des Nightfury-Clans eine Schuld zurückzuzahlen.

Die meisten Männer hätten wohl »vergiss es« gesagt. Hätten sich darüber hinweggesetzt, dass man eine Schuld begleicht.

Er nicht.

Mac hatte Venom das Leben gerettet, einem Mann, den Wick mehr als alle anderen schätzte. Ohne ihn …

Wicks Kehle verengte sich. Mist. Er wollte nicht über was wäre, wenn nachdenken. Venom war sein bester Freund, der einzige Mann, der ihn so, wie er war, akzeptierte, sein Retter in mehr als einer Hinsicht. Und ob es ihm gefiel oder nicht, ein derart großes Geschenk nahm man nicht einfach so hin. Es war für ihn eine Frage der Ehre, zum Dank etwas Gleichwertiges anzubieten, sodass … Keine Frage. Er würde die Schuld begleichen, indem er dem neuesten Mitglied seiner Gruppe auch ein Geschenk machte: Er würde ihm bringen, was die von Mac erwählte Frau sich wünschte und dringender brauchte als alles andere: ihre jüngere Schwester, sicher und gesund zurück im Schoß der Familie.

Das Knifflige daran war, wie er die schwer verletzte Jamison aus dieser Einrichtung der Menschen herausschaffen konnte, ohne dass die Arschlöcher, die sie bewachten, es merkten. Eine Herausforderung. Endlich. Etwas Kompliziertes, was eine solide Planung und einiges an Dreistigkeit erforderte. Wick summte, und seine Vorfreude stieg, als er sein Handgelenk drehte und auf seine MTM-Militär-Armbanduhr sah.

Noch sieben Stunden bis zum Sonnenuntergang.

Sein Mund verzog sich. Scheiße, aber er konnte es wirklich kaum erwarten, dass die Nacht anbrach. Sie aus dem Krankenhaus zu entführen und gleichzeitig einen Haufen ahnungsloser Menschen auszutricksen versprach, ein echter Spaß zu werden.

Venom stand im Esszimmer von Black Diamond und sah seinem besten Freund beim Schlafen zu. Wick hatte sich auf einen Lehnstuhl gefläzt und war über dem Tisch zusammengesunken. Unter seinen angewinkelten Ellbogen lag zerknittertes Papier, die Wangen ruhten auf den Unterarmen, und sein dunkles Haar glänzte im schwachen Licht. Der Tisch war übersät mit Bauplänen voller Eselsohren. Organisiertes Chaos. Das war mal wieder typisch. Wohin Wick auch ging, hinterließ er ein Durcheinander. Wie es aussah, hatte sich der Mann stundenlang mit den Plänen beschäftigt und Gott weiß was recherchiert.

Aber warum Wick hier war – hier im Esszimmer statt im Bett in seinem üblicherweise abgeschlossenen Schlafzimmer –, war ein Rätsel.

Stirnrunzelnd überflog Venom das Durcheinander erneut, bis sein Blick schließlich am schreibbereiten Stift zwischen den schlaffen Fingern seines Freundes hängen blieb. Er schüttelte den Kopf. Sehr seltsam. Er konnte sich nicht erinnern, wann er Wick das letzte Mal mit geschlossenen Augen gesehen hatte.

Oder so entspannt.

Was nicht wirklich überraschte. Wick war ganz besonders auf Verteidigung bedacht, war immer auf der Hut. Er gehörte zu den Männern, die den allermeisten misstrauten und nur äußerst selten so etwas wie Schwäche zeigten. Aber es war durchaus schon vorgekommen. Wie er Forge und Mac aus dem Abseits in ihren Clan geholt hatte, war ein Paradebeispiel für Wicks Bereitschaft, sich in die Schusslinie zu begeben. Doch wenn so etwas vorkam, waren seine Augen immer weit geöffnet, war sein Blick wachsam und argwöhnisch, war er mit seinem Körper, seinen Fäusten eine einzige tödliche Ladung in Bereitschaft.

Nicht, dass Venom ihm vorwarf, so vorsichtig zu sein.

Alle Nightfury waren es in einem gewissen Ausmaß. Das lag am Krieg, der veränderte einen Mann nun mal. Machte ihn misstrauisch Außenstehenden gegenüber und sorgte dafür, dass er immer und ständig mit Hinterhalten und Feinden rechnete. So musste es auch sein …

Jedenfalls außerhalb des Hauptquartiers.

Aber innerhalb desselben? Black Diamond diente ihnen als Zufluchtsort, war ein Ort des Trostes und der gegenseitigen Akzeptanz, der Sicherheit und des Vergnügens, wo die Nightfury-Krieger loslassen und sie selbst sein konnten. Die Tatsache, dass Wick es nicht konnte – sich nirgends wohlfühlte –, machte Venom ziemlich zu schaffen. Kein Mann sollte derart isoliert leben. Insbesondere kein geschätztes Mitglied eines Clans der Drachenblütigen.

Zu dumm, dass alte Gewohnheiten schwer abzuschütteln waren. Misstrauen war ein tückisches Luder, hielt Wick im selbstgewählten Gefängnis fest.

Keine Stahlstäbe oder Stacheldraht. Auch keine Wärter. Trotzdem war der Mann gefangen, grausame Erfahrung und vergangener Schmerz hatten ihn fest im Griff.

Den Blick auf seinen besten Freund geheftet, schluckte Venom den bitteren Geschmack der Enttäuschung herunter. Es war einfach zu viel Scheißdreck. Egal was er auch anstellte – oder wie sehr er es versuchte –, er konnte ihm nicht helfen. Oder es ihm erleichtern. Nicht, wenn Wick weiterhin so auf Distanz blieb.

Er war zwar immer anwesend, mit ihm zusammen, aber nicht wirklich.

Dieser Zustand war ein Dauerthema zwischen ihnen. Eins, das Venom quälte. Es wurde schlimmer. Die gefühlsmäßige Kluft zwischen ihnen wuchs von Tag zu Tag. Er spürte die Distanz, die zunehmende Entfremdung dieses Mannes, der total auf dem Rückzug war. Wick würde nur eine Augenbraue heben und ihm eine Abfuhr erteilen. Ihm sagen, dass er sich das einbildete, dass das Hauptquartier jetzt, zusätzlich von den drei Frauen bevölkert, ein belebterer Ort sei und er seine Ruhe brauche, Schluss aus. Aber Venom glaubte das nicht.

Etwas hatte sich geändert in den vergangenen Tagen.

Sein Freund stieß ihn zurück, errichtete psychologische Barrieren und emotionale Blockaden. Das war genau der Mist, an dem er seit Jahren mit Wick gearbeitet hatte, wovon er ihn zu befreien versucht hatte. Ein Rückschlag? Und ob. Einer der nervte? Absolut. Besonders, da sich Venom einsam fühlte. Verlassen und allein auf weiter Flur ohne das gewohnte und schützende Sicherheitsnetz. So hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er das Halsband von Wicks Hals gerissen, ihn aus dem Käfig gezerrt und aus dem Dreckloch gezogen hatte vor all den Jahren.

Die Geschichte sollte keine Rolle spielen, aber irgendwie tat sie es doch. Dass Wick ihn ausschloss – sich weigerte, mit ihm darüber zu reden, was ihn umtrieb –, fühlte sich wie Vertrauensbruch an. Wie ein Tritt in die Eier. Wie Exil ohne die Möglichzeit zur …

Venom biss die Zähne zusammen. Verdammt, nach allem, was sie erlebt hatten, verdiente er Besseres von Wick. Und zwar … was? Einbezogen zu werden. Informiert zu werden. Vertrauen von einem Mann zu erhalten, der hundertprozentig seins hatte. Also … Genau. Es ging wieder von vorn los. Er war wieder auf das Karussell aufgesprungen, dessen Hauptantrieb Kummer war. Das sich endlos mit Lichtgeschwindigkeit drehte, ab und zu aufgehalten durch die Einsicht »wir haben’s vermasselt«, sie aber beide im Prinzip in gefährliche Richtungen katapultierte.

Seufzend lockerte er die Schultern und setzte sich in Bewegung, ging zum Ende des Tisches. Zeit für eine Abrechnung. Zeit, dem sturen Mistkerl, den er seinen besten Freund nannte, eine zu verpassen und ihm die Leviten zu lesen. Oder ihm einen Arschtritt zu geben, damit er zur Vernunft kam.

Beides war Venom gleich lieb.

Keiner kämpfte schließlich so gemein wie Wick. Toller Plan, in jeder Hinsicht. Die Sache bedeutete nämlich, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Er würde den Kampf bekommen, nach dem er sich sehnte, während er gleichzeitig zur Sache kam. Und Wick? Die Prügelei würde seinen Freund genug entspannen, um sich mit ihm zu unterhalten, und ihm helfen, die Worte zu finden, die ihm immer so schwer über die Lippen kamen.

Geräuschlos ging Venom um die gepolsterten Stühle herum, die an der einen Tischseite aufgereiht waren. Wie Soldaten standen die Louis-XVI-Stühle an dem großen Mahagonitisch mit dem darüberhängenden Kronleuchter. Gedämpftes Licht brach sich in dem alten Kristall und warf alle Regenbogenfarben an die hohe Decke. Venom ignorierte sie und schlich zum Stuhl seines Freundes. Als er hinter ihm stand, schnellte seine Hand vor, und er schnippte gegen das Ohrläppchen seines Kumpels.

Wick erwachte knurrend und schoss hoch. Mit einem dumpfen Aufprall kam er auf die Füße, die großen Hände zu Fäusten geballt, wachsam, die goldenen Augen glühten. Mit dem Rücken zur Glastür trat Venom einen Schritt zurück und machte sich bereit für …

Mit einer schnellen Drehung schlug Wick zu. Venom wehrte den ersten Faustschlag ab, nicht aber den zweiten. Er grunzte, als Wick ihn traf, seine Deckung durchbrach und sein Gesicht rammte. Knöchel krachten gegen seinen Wangenknochen. Sein Kopf knickte nach hinten weg, ein gemeines Geräusch zerriss die Stille. Der Kronleuchter schwankte vor seinen Augen, und ein wirbelnder Schmerz fuhr ihm unter die Schädeldecke. Mit einem Knurren wich Venom nach links aus und verpasste seinem Freund einen kräftigten Kinnhaken.

Knack!

Getroffen. Genau auf den Punkt.

Wicks Kinn fuhr hoch, während sein Kopf nach hinten geschleudert wurde. Er taumelte zurück, geriet ins Rutschen. Venom fand sein Gleichgewicht wieder und ging erneut in Stellung, erwartete eine weitere Runde. Nur …

Dass sie nie kam.

Schweigen und Stille setzten stattdessen ein, als Wick sich den Schlaf aus den Augen rieb und innehielt, um die Lage zu peilen. Venom blinzelte, total überrascht. Seltsam. Ungewöhnlich in mehr als einer Weise. Und so ganz und gar nicht der übliche Stil seines Freundes. Wick zögerte nie, jemandem eine zu verpassen. Und Rückzug? Mann, das Wort hatte noch nie auf seinem Spielplan gestanden. Aber während eine Sekunde um die andere verging und Venom auf die nächste Attacke wartete, machte sein Freund genau das: Er trat den Rückzug an. Ließ die Hände sinken. Öffnete die Fäuste und nahm eine lockerere Haltung ein.

Wick strich sein zerknittertes Muskelshirt glatt und musterte ihn stirnrunzelnd. »Was zum Teufel ist los, Ven?«

»Klinge-linge-ling«, murmelte Venom und wusste nicht, was er von Wicks plötzlichem Verhaltenswandel halten sollte. War das etwas, was ihn beunruhigen sollte? Oder erfreuen? Venom hatte keinen Schimmer. Eins war jedenfalls sicher: Die Verhaltensänderung erforderte genaueste Beobachtung. »Der abendliche Weckruf.«

»Scheiße. Die Sonne geht unter.«

»Genau. Wir haben noch ungefähr eine Stunde.«

Wick spähte hinüber zur doppelten Glastür. Verdunkelt durch Zauber, wellte sich das Glas, wirkte wie laufendes Wasser und ließ keine tödlichen UV Strahlen durch. Immer das alte Lied. Die Fenster hatten ihren eigenen Willen. Was auch gut war. Kein Angehöriger des Drachenbluts konnte Tageslicht ertragen – er würde erblinden, wenn er dumm genug wäre, es zu versuchen –, sodass der magische Eingriff notwendig war, der den Zauber, der Black Diamond umgab, bewirkte. Der Vorteil? Dunkle Fenster tagsüber – Schutz in seiner reinsten Form –, die es ihm und seinen Kameraden ermöglichten, sich überall hinzubewegen, ohne befürchten zu müssen, von der Sonne gegrillt zu werden. Schon bald allerdings würde sich jede Scheibe erst aufhellen und nach und nach ganz klar werden, sodass das Mondlicht die oberirdischen Räume des Hauptquartiers durchfluten würde.

Wick knetete seine geprellten Fingerknöchel und ging zurück zum Tisch.

Venom folgte ihm, seine Neugier hatte die Oberhand gewonnen. Als er neben seinem Kumpel stehen blieb, wanderte sein Blick über den Stadtplan von Seattles Innenstadt, suchte nach dem Grund für Wicks Interesse. Die Überschrift einer der Blaupausen stach ihm ins Auge. Sieh mal einer an. War das nicht interessant? Wick … betrachtete die Baupläne eines Krankenhauses. Eine Ahnung – eine ganz vage – kam ihm. Venoms Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sein Blick auf die Notizen fiel, die auf einen gelben Notizblock gekritzelt waren.

Sah aus wie eine Einkaufsliste. Eine, die weniger mit Fressalien als vielmehr mit tödlichen Dingen zu tun hatte.

Er warf Wick einen Seitenblick zu und hob fragend die Augenbrauen. »Erzählst du mir, worum es hier geht?«

»Um einen Gefängnisausbruch.«

»Tanias Schwester?«

Wick nickte, wortlos wie immer.

Venom runzelte die Stirn. »Was zum Teufel soll das, Mann?«

»Ich schulde es Mac.« Wick hielt seinem Blick stand, sah ihn mit ernster Miene an. »Er hat dein Leben gerettet. Dich beschützt, als ich es nicht konnte. Ich muss es ihm zurückzahlen.«

»Das ist meine Verpflichtung, nicht deine, also …«

»Quatsch. Du bist mein Freund … meiner.« Wick rollte seine Schultern, so als fühlte er sich unwohl in seiner eigenen Haut, und wandte den Blick ab. Er konzentrierte sich wieder auf den Berg von Papier. »Ich schulde ihm was, also bezahle ich.«

Wicks leises Murmeln zerriss Venom geradezu, verwirrte ihn. Es waren nicht so sehr die Worte, sondern die Wucht hinter ihnen: der Besitzanspruch in Wicks Tonfall, die Sorge und der Kummer, das unmissverständliche Bekenntnis zu ihrer Freundschaft. Dazu, dass sie sich gegenseitig brauchten. Zu dem unlösbaren Band der Blutsbrüderschaft. Und in diesem Moment kapierte er … verstand er, warum Wick ihn wegstieß, sich weigerte, ihn an sich heranzulassen.

Selbstschutz. Um nicht gefühlsmäßig kaputtzugehen. Wick hatte Angst, ihn zu verlieren.

Und das war kein Wunder. Die Nacht, in der er verletzt worden war, war nicht gerade schön gewesen. Die Razorback hatten ihn beinahe umgebracht, hatten ihn der Länge nach aufgeschlitzt. Nur Wicks schnelles Denken und schnelles Handeln hatten ihm das Leben gerettet. Myst – die Gefährtin des Nightfury-Kommandanten – hatte den Rest übernommen, ihn zusammengenäht, nachdem Wick ihn zurückgebracht hatte ins Hauptquartier. Aber es war knapp gewesen, hatte echt eine Weile auf Messers Schneide gestanden, und …

Mensch. Kein Zweifel. Er hatte seinen besten Freund zu Tode erschreckt, hatte den nie aus der Ruhe zu bringenden Wick ins Schleudern gebracht. Das war eine gute Theorie. Ergab eine Menge Sinn, auch wenn es ihn höllisch überraschte, weil … Gefühle bei Wick? Die Erkenntnis, dass sein Freund so tiefe Gefühle hatte? Absolutes Hirni-Gebiet.

»Hey, Wick?«

»Was?«

»Du weißt, dass ich dich liebe, richtig?«

»Fick dich.« Wick machte eine kleine Drehung und stieß ihn mit seiner Schulter an.

Venom fing an zu schwanken, musste aber grinsen. Die sanfte Kollision war so gut wie jeder kleine, liebevolle Schubs. Sicher, Wick mochte nicht in der Lage sein, seine Gefühle mit Worten auszudrücken, aber der Mann konnte sie zeigen. Was schließlich und endlich das war, was zählte.

»Also …« Venom verstummte und änderte die Richtung, brachte die Unterhaltung wieder auf ihren Ursprung zurück. »Wir haben’s auf die Schwester abgesehen.«

»Jawohl.«

»Wir weihen Mac und Forge ein?«

»Und Sloan.« Wick schnappte sich den Stift vom Notizblock, beugte sich vor und stützte sich mit den Handflächen auf den Tisch. »Wir brauchen Rückendeckung. Sie ist verletzt.«

»Sie in Drachengestalt nach Hause zu fliegen fällt also aus.«

Wick nickte. »Mac und Forge werden uns einen Wagen für den Transport besorgen.«

»Warum keinen Krankenwagen nehmen?«

»Zu auffällig … Die Menschen werden den Diebstahl zu schnell spitzkriegen. Uns die Bullen auf den Hals hetzen.« Wick blickte mit schmalen Augen erneut auf den Stadtplan. »Zu riskant. Nein … wir transportieren sie in einem Geländewagen. Einem Kastenwagen vielleicht, kommt darauf an, ob wir eine Krankentrage brauchen oder nicht.«

»Und Sloan?«

»Krankenhauscomputer.« Wick tippte mit dem Stift auf den Notizblock. »Wir werden möglicherweise spontan irgendwelche Infos brauchen.«

»Und ganz sicher ihre medizinischen Berichte. Kopien ihrer Röntgenaufnahmen, Untersuchungsergebnisse und weiß der Teufel noch was. Myst will sie bestimmt sehen.«

»Genau.«

Das Wort – und die Begeisterung dahinter – amüsierten Venom. Seine Lippen zuckten. Das hatte es ja noch nie gegeben. Die Begeisterung, klar, aber auch die Tatsache, dass Wick mit ihm redete. Endlich mal eine verdammte Abwechslung. »Du genießt das.«

»Nun komm schon, Ven«, sagte Wick, und das »na, logo« in seinem Tonfall war nicht zu überhören. Eine Sekunde später stieß er sich vom Tisch ab, den Schalk in den Augen. »Wie oft holen wir schon jemanden aus dem Knast?«

Venom schnaubte. Wie oft, fürwahr.

Wie ein Idiot grinsend, ließ er seiner eigenen Begeisterung freien Lauf. Und warum auch nicht? Mit Wick, der gut drauf war, versprach die Nacht prima zu werden. Verdammt, was hieß das prima. Gottverdammt fantastisch kam schon eher hin, bis auf …

Ein winzig kleines Problem.

»Also«, sagte er vorsichtig, tastete sich an das Thema heran. Wick würden seine Einwände nicht gefallen, aber Teufel noch eins, es war nicht zu ändern. Auf keinen Fall würden sie sich die Frau schnappen, ohne vorher ein paar Grundregeln festzulegen. Was bedeutete, dass er unter heftigen Beschuss geraten würde durch seinen besten Freund. »Wir müssen einen Boxenstopp einlegen, bevor wir das Krankenhaus entern.«

Wick zog die Brauen zusammen. »Wofür das denn?«

»Ich muss auftanken.« Venom holte tief Luft und wappnete sich für das Schlimmste. »Und du auch.«

Ein Knurren ertönte in der Stille. Wicks Anspannung war so stark, dass seine Armmuskeln zuckten. Wick wandte den Blick ab, schüttelte den Kopf, dann trat er einen Schritt zurück.

»Wick …«

»Mir geht es gut.«

»Lüg mich nicht an.« Ein schneller Griff, und Venom verkrallte seine Hand in Wicks Shirt. Sein Freund wich zurück, suchte einen Fluchtweg. Verdammt noch mal. Wieder die alte Leier. Wick zu zwingen, sich zu nähren, begann und endete immer auf die gleiche Weise. Wick hasste es, berührt zu werden, und obgleich Venom die Panik verstand, die ihn umtrieb, konnte er Ausflüchte nicht gelten lassen. Der Mann musste sich von weiblicher Energie nähren, sich mit dem Meridian verbinden oder sterben. Um diese Tatsache kam er nicht herum. Um die Tatsache, dass ihresgleichen dazu verdammt war. Also hielt Venom fest, ließ Wicks Rückzug nicht zu. »Ich spüre, dass du nicht mehr genug Energie in dir hast. Du hast dich viel zu lange nicht genährt, du bist kurz davor, einen Heißhunger auf Energie zu entwickeln, zu gierig zu sein.«

»Ven…«

»Du kannst die Frau da nicht herausholen, wenn du hungrig bist. Tanias Energielevel ist hoch, was bedeutet, dass der ihrer Schwester wahrscheinlich auch hoch ist.« Venom setzte seinem besten Freund die Faust auf die Brust und knuffte ihn, hoffte, ihm etwas Verstand einzubläuen, dann ließ er ihn los. »Sie ist verletzt, Wick. Wenn du dich ihr in dieser Verfassung näherst … sie berührst, während du hungrig bist … Du könntest die Kontrolle verlieren, den Meridian anzapfen, ohne es zu wissen, und sie dabei töten. Eine höllische Art, es Mac zu vergelten, meinst du nicht auch?«

»Scheiße.«

Eine treffende Antwort mit einem unangenehmen Nachgeschmack. Und die Untertreibung des Jahrhunderts.

Aber egal wie sehr Wick sich dagegen sträubte, er würde das Richtige tun für seinen besten Freund. Leben oder sterben. Sich einlassen oder verlassen werden. Zwei Wahlmöglichkeiten, aber nur eine wirkliche Option. Venom würde für alles sorgen, was Wick brauchte, um weiterzuleben, oder bei dem Versuch sterben.

2

Jedes Mal, wenn sie wegdriftete, wachte Jamison Jordan Solares anschließend an einem anderen Ort auf. Reise nach Jerusalem für die Verletzten und unter Schlafentzug Leidenden. Nicht gerade tröstlich. Unvertraute Orte und fremde Menschen hatte sie noch nie gemocht. Und hier, umgeben von hellen Wänden, gedämpften, tiefen Stimmen und dem stechenden Geruch von Antiseptika, bekam fremd eine völlig neue Bedeutung. Sie kannte nichts und niemanden und wusste dennoch ganz genau, wo sie gelandet war.

Im Swedish Medical.

Oder genauer … in einem Krankenbett, das sich jetzt in gleichbleibendem Tempo über einen weiteren typischen Krankenhausflur bewegte. So eine schöne sanfte Fahrt. Zu dumm, dass sie der Fahrgast war.

Neonlampen strahlten über ihr. Sausten an ihr vorbei wie eine beleuchtete Landebahn in den endlosen Krankenhausfluren. Aber was wusste sie schon? Sie konnte sowieso nichts richtig erkennen. Nicht mit einem halb zugeschwollenen Auge und dem schmerzenden, dumpfen Pochen in ihrem Schädel. Ergänzt durch die vielen Stiche, Prellungen und … oh Gott. Sie hatte nicht die leiseste Möglichkeit, den Schmerz zu kontrollieren.

Oder sich vor dem zu retten, was als Nächstes kam.

J.J. versuchte es trotzdem, drehte ihr Gesicht weg, suchte Zuflucht in ihrem Kissen, bemühte sich verzweifelt, dem grellen Licht auszuweichen und sich zu fassen. Keine Chance. Der Schmerz wurde stärker, ging ihr bis auf die Knochen und sorgte dafür, dass sich ihre Muskeln verkrampften. Sie drehte sich um auf der Matratze, aber … Pech gehabt. Bewegung half nicht. Verschlimmerte es eher noch, denn gemeinerweise kündigte sich jetzt zu allem Überfluss auch noch Übelkeit an. Sie hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund. Verzweifelt versuchte sie zu schlucken, etwas Feuchtigkeit in ihren ausgetrockneten Mund und ihre wunde Kehle zu bekommen, und sie krallte die Fäuste in ihre Laken. Das Pflaster über der intravenösen Kanüle spannte sich und zerrte an der Injektionsnadel, die Flüssigkeit in ihre Vene ließ.

Eine weitere Welle Übelkeit erregender Qual überrollte sie. J.J. kämpfte gegen ihr heftiges Zittern an, verbiss sich ein Stöhnen und betete um Bewusstlosigkeit. Um Benommenheit. Um eine alles auslöschende, gnädige Ohnmacht. Sie kam nicht. Genauso wenig wie Erleichterung. Klar, war ja zu erwarten gewesen. Heftige Schmerzen waren nun mal die logische Folge, wenn man es überlebt hatte, von Daisy zusammengeschlagen beziehungsweise niedergestochen worden zu sein. Das verdiente einen Orden in vielerlei Hinsicht. Andere Häftlinge hatten nicht so viel Glück gehabt. Waren nicht mehr am Leben, um davon zu erzählen.

Sie wünschte nur, dass diese Ehrenicht so viele Prellungen, aufgerissene Haut und das Pochen eines gebrochenen Knöchels unter einem Gipsverband beinhaltete. Diese Verletzungen waren allerdings nichts im Vergleich zu den Stichwunden … mehreren Stichwunden. Eine hatte ihren rechten Unterarm aufgeschlitzt. Eine zweite begann am Schlüsselbein und reichte ihr bis zur Schulter. Während die dritte? Diese klaffende Wunde war echt der Hammer. Ein wahrer Beweis dafür, wie gut Daisy mit einer Klinge umzugehen wusste.

Ein Schauder lief ihr über den Rücken.

Meine Güte, es war wirklich knapp gewesen. Viel zu knapp. Hätte sie gezögert – wäre sie auch nur eine Millisekunde langsamer gewesen –, wäre sie jetzt tot. Hätte einen Stich ins Herz abbekommen. Würde jetzt in einem Autopsieraum liegen. Würde nicht mehr das Brennen der Messerwunde an ihrer rechten Seite spüren. So brutal wie die Frau, die sie ihr beigebracht hatte, verlief der Schnitt unter ihrer Brust quer über ihren Brustkorb. Eine schreckliche Verletzung, die sie Zentimeter für Zentimeter einer selbstgebastelten Stichwaffe verdankte, geführt von einer gemeingefährlichen Irren. Jetzt wurde sie von Nähten zusammengehalten, die kreuz und quer über ihre Haut verliefen und sowohl die Fähigkeiten des Chirurgen als auch ihren Lebenswillen bezeugten.

J.J. schloss die Augen und ließ sich fallen. Glück gehabt. Sie hatte unglaublich viel Glück gehabt.

Seltsam, es so zu betrachten. Zumal sie angegriffen worden war. Aber trotz der Stichwunden, der Prellungen und gebrochenen Knochen konnte sie nicht anders, als Dankbarkeit zu empfinden. Sie hatte überlebt. Es entgegen aller Wahrscheinlichkeit geschafft und war lebend davongekommen. Also Schluss mit dem Jammern. Scheiß auf die Umstände und die Schmerzen. Die Tatsache, dass sie überhaupt irgendetwas fühlte, war eine Gnade.

Ein unglaubliches Wunder, wenn sie in Betracht zog, wer ihren Tod gewollt hatte.

Officer Griggs. Der ganz spezielle Gefängniswärter. Nichts anderes als ein Verbrecher mit einer Dienstmarke im Frauengefängnis des Staates Washington, das sie ihr Zuhause nannte.

Sie ignorierte den pulsierenden Schmerz und schüttelte den Kopf. Oh, was für eine Ironie. Viereinhalb Jahre Haft. Insgesamt vierundfünfzig Monate, ohne sich auch nur einmal am Papier geschnitten zu haben, und jetzt lag sie hier … zusammengeschlagen und ein einziges Schmerzbündel. Ein weiteres Opfer von Griggs hundsgemeinen Machtspielen.

Es war die reinste Besessenheit.

Wäre er in sie vernarrt gewesen, hätte J.J. ihm aus dem Weg gehen können. Ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen können. Ihn reinlegen können. Ihn gnadenlos manipulieren können, um ihre eigene Haut zu retten. Aber leider war es nicht so einfach. War es nie, wenn ihre Schwester involviert war. Tania bedeutete ihr mehr als alles andere auf der Welt. War die einzige Person, die sie ihre Familie nannte und die ihr am Herzen lag, also … keine Frage. Von der Sekunde an, da Griggs sich auf Tania fixiert hatte – sie belästigte, wenn sie sie im Gefängnis besuchte, J.J. als Druckmittel benutzte, um Tania zu Sex mit ihm zu zwingen –, war er von einem x-beliebigen Gefängniswärter zum Feind Nummer eins geworden.

All das war jedoch kurz davor gewesen, sich zu ändern. Griggs hatte das gewusst. Genau wie sie und Tania.

Es begann und endete mit einer Sache … der Ankunft eines Briefes. Einem, der an das Gefängnis gerichtet war und vom Bewährungsausschuss kam. Man mochte es Karma nennen. Oder Glück. Oder eine Belohnung für gute Führung und abgeleistete Zeit. Aber wie auch immer man es bezeichnete, Hoffnung war die wichtigste Botschaft. J.J.s Kehle verengte sich. Mein Gott, Freiheit. Eine zweite Chance zu einem wirklichen Leben. Die Gelegenheit, etwas wiedergutzumachen, anderen zu helfen und irgendwie etwas zurückzugeben. Vielleicht sogar dafür zu sorgen, dass andere junge Frauen nicht die gleichen Fehler machten, die sie gemacht hatte.

Sie hätte nur einen Monat gebraucht.

Mickrige einunddreißig Tage, und danach hätten Freiheit und Sicherheit gewinkt. Aber oh nein, das war zu viel verlangt gewesen. Reine Luftschlösser mit dem Wiesel Griggs im Nacken. Dieser Betrüger schnüffelte zu gern herum, und sobald er den Brief in ihrer Akte entdeckt hatte? Abpfiff. Er war wie der Teufel hinter ihr her gewesen, hatte ihr Daisy und ihre Mannschaft auf den Hals gehetzt, um sie in der Bibliothek in die Enge zu treiben. Seine Überlegung war ganz simpel: Wenn er sie verletzte, verletzte er Tania. Eine exzellente Strategie … mit üblen Folgen. Solchen, die bei ihr offensichtlich waren – lebensbedrohende Verletzungen und jede Menge Schmerzen. Aber noch schlimmer, zumindest für sie? Niemand anders wusste um seinen Anteil an dem Angriff auf sie. Und sie konnte es nicht beweisen.

Daisy würde nicht reden. Als Lebenslängliche, die ihre Zeit absaß für einen dreifachen Mord, würde sie es unterm Deckel halten. Jegliche Kooperation zu verweigern war schließlich das A und O jedes Häftlings. Je weniger der Gefängnisdirektor und die Wärter wussten, desto besser. Was bedeutete, dass die Wahrheit über Griggs niemals herauskommen würde. Nicht, solange er seine Karten richtig ausspielte: Insassen Vergünstigungen versprach, diejenigen bedrohte, die nicht spurten, das System gnadenlos manipulierte. Und was bedeutete das für J.J.? Sie war geliefert, und zwar total.

Keine Beweise. Keine Glaubwürdigkeit. Kein Ausweg.

Vor vierundzwanzig Stunden hätte sie möglicherweise eine Chance gehabt. Aber du meine Güte, wie schnell sich ihr Glück gewendet hatte. J.J.s Kehle verengte sich, ihr tat die Brust weh. Es war nicht fair. Sie war so kurz vorm Ziel gewesen. So nah dran. Jetzt waren die Chancen, dass sie das Gefängnis als freie Frau verließ, gleich null. Kämpfe duldete der Direktor nicht. Inzwischen untersuchte er bestimmt schon den Vorfall und hatte J.J.s Termin beim Bewährungsausschuss auf Eis gelegt, während er versuchte herauszufinden, wer für den Zwischenfall verantwortlich war. Und ob Anklage erhoben werden sollte.

Und das alles, ohne dass J.J. da gewesen wäre, um sich zu verteidigen.

Vor Kummer und Schmerz brannten Tränen in ihren Augen. Und zu wissen, dass der Direktor kein Idiot war, half auch nicht. Logik und die Realität, die das Gefängnissystem antrieb, diktierten den Weg und erforderten ein gewisses Maß an Pragmatismus. Hoffnung war etwas, was sie sich nicht leisten konnte. Und Glück? Sie schnaubte. Genau. Das Glück war genauso launisch wie das Schicksal. J.J. hatte nie gewusst, wohin das eine oder das andere sie werfen würde – ob es etwas Gutes oder der ganz große Schlamassel werden würde.

Letzteres schien plausibler. Besonders nach dem, was sie getan hatte.

Mörder wurden nicht auf freien Fuß gesetzt. Die Gesellschaft glaubte an diesen Grundsatz und sie auch. Zweite Chancen bekamen andere Menschen, nicht sie. Niemals sie. Und als Reue sie packte und ihr Schuldbewusstsein wuchs, sah J.J. die Sinnlosigkeit ein. Wie sie es machte, war es verkehrt, so oder so. Ihr brutaler Freund hatte sie in diese Lage gebracht, sie gezwungen, zwischen ihrem und seinem Leben zu wählen. Ein Selbstläufer alles in allem. Der Selbsterhaltungstrieb war nicht verhandelbar und siegte am Ende immer. Das war die einfache Wahrheit. In dem Moment, als er ihr drohte, sie zu töten, wenn sie nicht bei ihm blieb, war es eine einfache Entscheidung, war der Weg klar …

Abdrücken. Ihn ausschalten oder selbst in einem Leichensack enden.

Unfair? Klar. Ein notwendiges Übel? Absolut. Ihr Fehler? Ohne Zweifel.

Sie hatte sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Hatte eine falsche Entscheidung nach der anderen getroffen. Ihm viel zu schnell vertraut und sich auf einen gewalttätigen Mann eingelassen, der bereit war, seine Fäuste einzusetzen, um sie bei der Stange zu halten. Ihr Fehler. Ein schweres Päckchen, das sie tragen musste. Davon freigesprochen zu werden blieb in weiter Ferne. Gott würde ihr das nie verzeihen. J.J. machte ihm das nicht zum Vorwurf. Sie würde sich selbst das auch nie verzeihen, also …

Ein scharfer Knall ertönte über ihr.

Erschrocken zuckte J.J. zusammen. Ihre wunden Muskeln protestierten, stachen sie mit unsichtbaren Nadeln, als sie aufblickte. Sie sog die Luft ein. Ein anderer Typ. Nicht der ruhige Krankenwärter, der sie aus dem Aufwachraum gefahren hatte vor einer Weile. Sondern an seiner statt? Ein großer Fremder mit breiten Schultern und großen Händen, die er auf das Kopfende ihres Bettes stützte.

Umringt von schwarzem Eyeliner, blickten blaue Augen sie an. »Hey, Sie sind ja wach.«

Sie blinzelte. Ihr verletztes Auge protestierte und begann zu tränen, während ein pochender Schmerz in ihrer Schläfe einsetzte. Sie kniff die Augen zusammen, zwang sich, genauer hinzusehen und … heiliger Strohsack! Ein Spinnennetz-Tattoo mit einer hässlichen roten Spinne in der Mitte prangte seitlich an seinem Hals. Ihr Blick fiel wieder auf seine gepiercte Nase. Der schwarze Metallknopf glitzerte unter dem Oberlicht und zwinkerte seinem Zwilling zu, der gleich darüber in der Augenbraue des Typen zu Hause war.

Ein ganzer Chor von »was zum Teufel« machte die Runde in ihrem Kopf.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er und klang genervt. Lange Ponyfransen, durchzogen von burgunderroten Strähnen, hingen ihm in die Stirn, ein hübscher Kontrast zu der Igelfrisur, die ansonsten seinen Kopf schmückte. »Ich sehe nicht aus wie ein Krankenpfleger, aber vertrauen Sie mir … ich bring Sie hier raus. Und auch schneller als schnell, keine Sorge.«

Ihm vertrauen? Einem Gothic-Typen mit verrücktem Spinnen-Tattoo? J.J. öffnete ihren Mund, um zu … tja, ehrlich gesagt, sie war sich nicht sicher. Vielleicht dem Keine-Sorge-Kommentar zu widersprechen? Oder ihn nach seinem Namen zu fragen? Leider gelang ihr weder das eine noch das andere. Ihr Gehirn war wie im Leerlauf, parkte irgendwo zwischen verwirrt und scharfsinnig. Das war absolut nicht lustig, aber genauso wenig hatte es oberste Priorität. Wenigstens im Moment nicht. Warum nicht? Weil der Gothic-Typ Geschwindigkeit aufnahm. Er schnalzte mit seinem Kaugummi und schob sie samt ihrem Krankenbett und allem um eine scharfe Kurve. Was … lieber Gott, hilf mir … zu einer Frage führte. Was um alles in der Welt meinte er mit »schneller als schnell«?

Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf, summten in ihren Schläfen. Ihr Blick flackerte, verschwamm immer wieder. »W-wohin …?«

Er hob eine Augenbraue. »Wohin wir gehen?«

Schien eine wichtige Frage zu sein. Eine absolut lebensnotwendige, wenn man berücksichtige, dass er aussah wie ein Vampir. Oder wie ein Axtmörder. Andererseits sollte sie sich vielleicht die Kombipackung gönnen, sozusagen die Zwei-ineinem-Nummer, weil … Scheiße aber auch. Vampir/Axtmörder passte zu ihm wie angegossen.

Er öffnete den Mund, zweifellos, um die hochwichtige Antwort zu liefern.

»Keine w-weiteren Tests«, sagte sie und kam ihm damit zuvor. Sie würde keine weitere Runde mit einem Arzt aushalten. Kein weiteres Herumstochern, Abklopfen oder irgendwelche Spritzen. Nichts, was irgendetwas mit Untersuchung zu tun hatte. »Keine weiteren …«

»Nee, bei Ihnen ist alles okay. Die Computertomografie war die letzte.« Putzmunter beugte er sich mit seinem buschigen Pony über ihr Kopfende und grinste, sah lustig aus so kopfüber. »Der Arzt sagt, Sie haben Glück gehabt. Haben ’nen hübschen Schlag abbekommen, das ist mal sicher. Sie haben nur eine leichte Gehirnerschütterung.«

Nur. Was für ein idiotisches Wort. »Super.«

Ihre sarkastische Antwort brachte ihn zum Lachen. Eine Sekunde später blies er sein Kaugummi zu einer rosa Blase auf. »Wir müssen zwei Etagen nach oben. Ihr Zimmer ist fertig.«

Die Räder des Bettes rumsten über ein unebenes Stück des Flurs. Unbeeindruckt von Bodenschwellen, schob Grufti sie auf eine Doppeltür zu. Die Kollision war unvermeidlich, und J.J. wappnete sich für den Aufprall. Die Rollen ihres Bettes verkanteten sich, Stahl und Metall schepperten, die Matratze unter ihr vibrierte, und …

Mehr brauchte es nicht. Sie war mit ihren Nerven am Ende. J.J. unterdrückte ein Stöhnen. O Gott, tat das weh. Sie konnte einfach nicht mehr. Und während Schmerzen ihr ein giftiges Schlaflied sangen, nahm der Druck auf ihren Brustkorb zu, schnürte ihr die Luft ab und presste ihre Lungen zusammen, sodass ihr schlecht wurde. Keine gute Idee. Zu kotzen würde ihr wirklich nicht guttun und ihr erst recht keine Freunde verschaffen.

J.J. biss die Zähne zusammen und verkrallte beide Hände in das Laken. Die Infusionsnadel wurde hin und her gezerrt und zwickte sie, riss am Pflaster. Blut quoll hervor auf ihrem Handrücken, und der Schlauch, der sie mit dem medizinischen Cocktail verband, schlug gegen das Bettgitter.

Magensäure schwappte ihr in die Luftröhre.

Innerlich fluchend, schluckte J.J. die ätzende Säure herunter, öffnete ihre Fäuste und presste ihre Handflächen flach auf das Laken, um sich zu stabilisieren. Nach und nach hörte die Welt auf, sich zu drehen, sodass sie endlich wieder dringend benötigte Luft holen konnte. Die schwarzen Flecken vor ihren Augen verschwanden, und …

Der Gothic-Typ produzierte eine neue Kaugummiblase und ließ sie geräuschvoll platzen.

J.J. kämpfte gegen den Reflex an, sich zu übergeben, und dankte Gott, als der Typ langsamer wurde und sie vor einen Fahrstuhl rollte. Mit einem leisen Klingeln glitten die Türen auf. Die Räder quietschten, als er ihr Bett herumschwang und rückwärts in den Fahrstuhl fuhr. Er drückte mit der Faust auf den Knopf für die fünfte Etage. Mit einem leisen Plop schlossen sich die Türen. Der Boden gab nach und hob sich wieder, schleuderte sie förmlich nach oben. Ihr Magen gurgelte, mochte die Bewegung nicht. J.J. flüsterte ein aufrichtiges Gebet, bot Gott ihre Dienste in der Gefängniskirche an, sollte sie den Transport von einem Raum zum anderen überstehen, ohne kotzen zu müssen.

Ein wahrscheinlicher Ausgang? Wunschdenken? J.J. konnte es nicht sagen. Das letzte Wort war noch nicht gesprochen bei Grufti. Und man konnte es auch nicht in positivem Licht betrachten, weil …

Mann, veranstaltete er einen Lärm: knallte immer mit seinem Kaugummi, summte vor sich hin, verursachte ihr Kopfschmerzen, indem er ihr Kopfende als Trommel benutzte. Mit fliegenden Händen setzte er jetzt zu einer neuen Runde an, schlug einen Rhythmus, der garantiert jeden – ob verletzt oder nicht – laut hätte protestieren lassen.

Die Fahrstuhltüren glitten einladend auf. Der Gothic-Typ verstand den Hinweis und beeilte sich, den Flur zu betreten, das Bettende voraus und … oh, Mist. So schnell wie ein Rennwagen. Der Typ hatte sie nicht mehr alle. Fuhr schneller als ein außer Kontrolle geratener Einkaufswagen.

»H-halt«, krächzte sie und krallte sich am Laken fest.

Er stellte sich taub und sauste auf eine T-Kreuzung im Flur zu. J.J. würgte, als er weit ausholte und die Kurve zu schnell nahm. Sie hüpfte auf und ab im Bett, kullerte hin und her unter Decken und Laken. Als ihr Schädel kurz vorm Platzen war vor Schmerzen, kam eine Theke in Sicht, voller Aktenordner und hoher Papierstapel. J.J. konzentrierte sich auf einen schiefen Stapel. Sie musste sich zusammennehmen, und jede Ablenkung war hilfreich, jedenfalls so lange, bis …

»Hey!« Die verärgerte fremde Stimme ließ sich, kurz bevor ein Frauenkopf hinter der hohen Theke auftauchte, vernehmen. Dunkle Augen verengten sich und funkelten Grufti wütend an. Er bremste ab, kam ins Schleudern und vor dem Schwesternzimmer mehr oder weniger zum Stehen. »Wir sind hier in einem Krankenhaus, nicht auf der Rennbahn. Also schön langsam!«

»’tschuldigung«, sagte er grinsend und sah alles andere als zerknirscht aus. Wieder ließ er seinen Kaugummi knallen. Das Geräusch hallte in J.J.s Schädel wider, als sie zu dem Typen hochblickte. Die rosa Blase verschwand in seinem Mund. »Aber mir wurde gesagt, dass ich sie hierherbringen soll … und zwar schnell.«

»Der Himmel bewahre mich …« Schnaubend wuchtete sich die Schwester aus ihrem Stuhl und kam hinter der hohen Theke hervor. Korpulent mit einem runden Gesicht und dunkler Haut, maß sie Grufti mit einem weiteren vernichtenden Blick. Laufschuhe quietschten, als sie sich J.J.s Bett näherte. »Ist Ihnen klar, dass es einen Unterschied gibt zwischen effizient und irre?«

»Wollte nur helfen«, murmelte er, und seine Augen schimmerten ein bisschen, nun ja … J.J. wusste es nicht genau. Beunruhigend? Nicht vertrauenswürdig? Streitlustig und zugleich amüsiert? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein. Konnte ein bisschen aus der Spur sein, nicht ganz bei sich angesichts der Schmerzmittel, die über einen Tropf in ihren Kreislauf gepumpt wurden. »Also … wohin soll ich sie bringen?«

Argwöhnisch musterte die Schwester ihn. Sie musterte ihn prüfend mit gerunzelter Stirn. »Ich kenne Sie nicht. Wie heißen Sie?«

»Bin neu hier.« Seine großen Hände flogen wieder über das Kopfende, so als wollte er das große Trommelfinale spielen. Das rhythmische Geräusch driftete in den verlassenen Flur. »In Ordnung, ich hau ab. Kümmern Sie sich gut um sie, Schwester.«

»Warten Sie eine Minute, Mister. Ich brauche Ihre …«

»Nee, brauchen Sie nicht.«

Die Schwester sah ihn stirnrunzelnd an.

Er zwinkerte ihr zu. Einen Moment später begegnete sein Blick J.J.s. Er verzog die Lippen, tippte sich ans Kinn und ließ ihr Bett los. »Bis dann, Schätzchen.«

Als er sich umdrehte, blinzelte J.J.; der Kosename hatte sie total überrascht.

»Impertinenter Lümmel.« Stocksauer sah die Schwester dem Kerl hinterher, der zurück zum Fahrstuhl ging. Als er um die Ecke verschwand, schüttelte sie den Kopf. »So ein hirnverbrannter Idiot. Ich weiß wirklich nicht, wo sie die aufgabeln heutzutage, aber dem Typen müsste man erst mal Manieren beibringen.«

»Und Fahrstunden geben.«

Die Schwester grinste. »Hat Sie ordentlich durchgeschüttelt, was?«

»Ich habe mich wie ein James-Bond-Martini gefühlt.«

»Ha! Geschüttelt, nicht gerührt. Der war gut, Süße.«

Ein Dankeschön wäre jetzt angemessen gewesen. Aber als J.J. den Mund öffnete, verengte sich ihre Kehle, und die Worte wollten nicht kommen. Die heftige Übelkeit allerdings meldete sich rechtzeitig, schoss geradezu ihre Speiseröhre hoch. Als der Würgereflex eintrat, legte sich Druck auf ihren Magen, der sich verkrampfte. Sie drehte ihr Gesicht ins Kissen und stöhnte.

»Ach du liebes bisschen.« Die Schwester wandte sich um und schnappte sich etwas von der Theke. Schnell wie der Blitz zurück, umfasste sie J.J.s Nacken und hob ihren Kopf an. Als J.J. trocken über einem Nierenbecken würgte, spannte sich ihre Haut schmerzhaft über ihren vielen Messerstichen. Sie wimmerte. Die Schwester murmelte etwas, versuchte sie in sachlichem Tonfall zu beruhigen: »Schön durchatmen. Ein durch die Nase, aus durch den Mund. Genau so, Kindchen. Das machen Sie sehr gut.«

Schweiß trat ihr auf die Stirn. Schüttelfrost setzte ein, und ihre Zähne klapperten. J.J. klammerte sich an die Stimme der Schwester und lauschte ihrem Herzschlag. Das Pochen nahm zu, ihr Puls schlug dreimal so schnell, während sie wieder trocken würgen musste, gleichsam eine weitere qualvolle Welle erklomm. Aber als sie auf der anderen Seite hinunterglitt und tief in das Tal der Leiden eintauchte, passierte etwas ganz Wunderbares. Betäubung setzte ein und half ihren Muskeln, sich zu entspannen. Sie sog gierig die Luft ein, war dankbar, dass sie überhaupt atmen konnte.

»Sehr gut. So ist es fein.« Die Schwester hielt immer noch die Nierenschale und griff nach ihrem Handgelenk. Sie fühlte J.J.s Puls und sah dabei auf die große Wanduhr hinter der hohen Theke. »Schon viel besser. Ihr Puls beruhigt sich. Atmen Sie schön weiter. Das bringen wir schon wieder in Ordnung.«

Auf der Seite zusammengerollt, nickte J.J. Der Plan gefiel ihr. Besonders, wenn in Ordnung bringen so viel hieß wie eine weitere Runde Schmerzmittel.

»Gut.« Die Schwester ließ J.J.s Handgelenk los und legte ihre Hand auf das Bett. »Es gibt ein paar Dinge, die Sie wissen sollten. Ich bin Schwester Ashford. Ich werde mich eine Weile um Sie kümmern. Wie geht es Ihnen jetzt? Besser?«

J.J. nickte leicht. Das war zwar keine richtige Antwort, aber das war alles, was sie zustande brachte. Alles, was ihr bei ihren protestierenden Muskeln möglich war, da die Übelkeit sie immer noch im Griff hatte, jetzt aber auch Müdigkeit einsetzte.

»Das kann schon mal passieren, wenn man Demerol bekommt«, sagte Schwester Ashford leise und voller Mitleid. Sie zog die Bettdecke glatt und sah J.J. an. Dann streckte sie die Hand aus. J.J. verspannte sich, war es nicht gewohnt, berührt zu werden, machte sich auf das Schlimmste gefasst. Aber es kam nicht. Stattdessen lächelte Schwester Ashford und tätschelte leicht ihr Knie. »Machen Sie sich keine Sorgen, Jamison. Sie werden sich in null Komma nix besser fühlen. Ruhe und Frieden haben. Sie brauchen jetzt ganz viel Schlaf. Der Arzt kommt bald zur Kontrolle, aber jetzt wollen wir Sie mal auf Ihr Zimmer bringen, damit Sie sich ausruhen können, okay?«

Freundliche, mitfühlende Worte.

Die Tränen, die J.J. so lange zurückgehalten hatte, drängten an die Oberfläche. Als alles vor ihren Augen verschwamm und ihr die Brust abschnürte, schluckte sie, kämpfte gegen den Ansturm an. Weinen würde nichts helfen. Erfahrung war ein großer Lehrer, aber … wow. Das hatte sie nicht erwartet. Nicht diese Geduld. Auch nicht diese Freundlichkeit. Verurteilte Verbrecher bekamen das in der Regel nicht oft zu spüren. Verdienten es auch nicht. Aber als Schwester Ashford weiter mit ihr plauderte und sie weiterschob, das Quietschen der Räder auf dem Flur widerhallte, breitete sich in J.J. Dankbarkeit aus. Ein Geschenk. Ob die Schwester es wusste oder nicht, sie hatte ihr ein unglaubliches Geschenk gemacht. Eins, das J.J. ihre Würde wiedergab. Ihr das Gefühl vermittelte, normal zu sein. Geschätzt. Sodass sie sich zur Abwechslung mal wie ein normaler Mensch fühlte und nicht wie ein völlig verkommener.

»Schwester Ashford?«

»Was ist, Kindchen?«

»Vielen Dank.« Sie legte den Kopf schräg und sah die Schwester an.

»Machen Sie sich keine Gedanken. Mein Bruder sitzt im Gefängnis, und die Dinge sind nie so, wie sie scheinen.« Mit ernster Miene begegneten die braunen Augen der Schwester über den Rand des Kopfendes hinweg ihrem Blick und hielten ihn fest. »Stimmt’s, Jamison?«

»Ja, Ma’am«, sagte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

In einem ruhigen Tempo – sehr ungothicmäßig – schob Schwester Ashford sie zu einem Krankenzimmer. Die Glastür stand offen und ermöglichte J.J. einen ungehinderten Blick ins Innere. Ihr Verstand machte eine Momentaufnahme, katalogisierte Details, vermittelte Informationen. Helle Wände, das leise Piepen medizinischer Geräte, eine hölzerne Schrankwand, die das Bett umgab, und … nein. Das war nicht ihr Zimmer. Zimmer Nummer 532 war bereits belegt, der große Umriss mitten in dem Bett ein zwingender Beweis. Sie spähte den Flur hinunter und erblickte einen weiteren Eingang. Während sie sich näherten, trat ein Mann in den Flur. Stiefelsohlen knarrten, er schwenkte in ihre Richtung. Das Flurlicht spiegelte sich in der Dienstmarke, die an seine Brust geheftet war.

Angst packte J.J., schnitt ihr die Luft ab. O nein … nein, nein, nein. Das konnte nicht sein. Es konnte einfach nicht sein. Sie weigerte sich zu glauben, dass die Welt derartig gemein war. Aber als sein nur allzu vertrauter Blick sie traf und sie den Kopf schüttelte, traf die Wahrheit sie volle Breitseite. Sie war eine tote Frau, das Wie und Wann nichts als eine Formsache.

Sie wusste es im tiefsten Inneren, wo sowohl Verstand als auch Gefühl herrschten.

Officer Griggs. Der Mann, der für ihre Verletzungen verantwortlich war, der den Angriff geplant und Daisy geschickt hatte, um sie in der Gefängnisbücherei zu stellen. Mit stockendem Atem starrte J.J. ihn an, ihre Gedanken wirbelten, ihr Verdacht wuchs, Panik stieg in ihr auf … Der Grund, warum er hier im Krankenhaus war, war nur allzu klar.

Er war gekommen, um es zu Ende zu bringen.

Sie konnte es an dem kalten Glitzern seiner Augen erkennen. Er verfolgte einen einfachen Plan: den Fehler korrigieren. Sie zum Schweigen zu bringen, bevor sie redete und er und seine Aktionen unter das Mikroskop des Gefängnisdirektors gerieten. Typen wie Griggs hatten etwas gegen genaue Untersuchungen. Sie gediehen im Schatten, an dunklen Orten, von denen die meisten nichts wussten, geschweige denn, dass sie sie aufsuchen wollten. Und als er seine glänzenden für den Gefängnisgebrauch vorgesehenen Handschellen von seinem Gürtel löste und auf sie zukam, begann J.J. zu beten.

Um göttlichen Beistand. Um irgendein Wunder. Einen cleveren Einfall – etwas, irgendetwas, was das Schicksal aufhalten, das Unvermeidliche hinauszögern und ihr Leben retten würde. Griggs war einfach so schrecklich hinterhältig, eine unglaublich falsche Schlange. Auf die eine oder andere Weise würde er einen Weg finden, sie zum Schweigen zu bringen. Unfälle passierten nun mal. Insassen wurden ständig aus verschiedensten Gründen verprügelt: weil sie die Klappe aufrissen gegenüber den Wärtern, wegen Schmuggelei … Während eines Fluchtversuchs.

All das führte möglicherweise zum Einsatz tödlicher Gewalt.

Ein Szenario, das Griggs zu seinem Vorteil nutzen könnte. Er würde auch dafür sorgen, dass es gut aussah. Den Schauplatz inszenieren. Sicherstellen, dass es unschön endete und er eine weiße Weste behielt. Alles, um seinen eigenen Arsch zu retten. Und da Griggs bis zum Hals in der Scheiße steckte und schnell sank, würde eine Vertuschung der Angelegenheit oberste Priorität haben, also … genau. Auf keinen Fall würde er zögern, sie zu begraben.

3

Übersät mit mehr Sternen als Wick zählen mochte, glitzerte der Himmel über ihm, erstreckte sich mit majestätischem Funkeln über städtische Randgebiete. Ein seltener Anblick. Einen, den er schätzte, zumal, als die Wolkendecke sich verzog. Die Flügel weit gespreizt, drosselte er seine Fluggeschwindigkeit. Kalte Luft glitt über seine Schuppen, rüttelte an dem Gewebe seiner ineinandergreifenden Drachenhaut.

Eigentlich hätte seine feurige Seite eine Grimasse schneiden, sich beschweren müssen über den Übergang vom Herbst zum Winter. Seine Drachenseite gab jedoch keinen Laut von sich. Protestierte nicht. Wünschte sich weder wärmeres Wetter noch weiter südlich zu fliegen. Zeigte nicht einmal einen Schauder des Unbehagens. Das Stillschweigen war eine Anomalie, ein Teil seiner Unberechenbarkeit. Die meisten Feuerdrachen hassten Frost und Schnee, verbrachten mehr Zeit drinnen als draußen, wenn die kühle Bergluft vom Norden in den Süden wehte und Temperaturen unter null Grad über die kanadische Grenze kamen.

Er nicht. Lebenslange Entbehrungen hatten dafür gesorgt, bestimmten den Maßstab.

Er fand sich schlicht mit der Kälte ab, flog hinaus, um den Feind zu bekämpfen, egal, welches Wetter herrschte. Rikar, ein Frostdrache und stellvertretender Kommandant der Nightfury, liebte ihn dafür. Eisregen. Schneestürme. Das dichteste Schneegestöber. Es spielte keine Rolle. Wick ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Hatz auf die Razorback zu machen. Was bedeutete, dass er, während die anderen Krieger lieber vor einer ganz bösen Sturmbö in Deckung gingen, als Rikars Partner fungieren konnte. Spitzenmäßig in jeder Hinsicht. Das Arrangement verschaffte beiden, was sie brauchten – einen guten harten Kampf –, während sie gleichzeitig die Regeln befolgten. Bastian ließ keinen Scheiß zu, tolerierte keinen Ungehorsam. Keiner flog ohne Rückendeckung aus dem Hauptquartier.

Und wenn einer bekloppt genug wäre, es zu versuchen? Dann würde Bas dem Krieger den Arsch aufreißen.

Nicht empfehlenswert … oder auch nur andeutungsweise spaßig. Die Regeln existierten aus einem bestimmten Grund, nämlich den Nightfury-Clan gesund und am Leben zu halten. Und sosehr Wick Chaos genoss, seine Waffenbrüder schätzte er viel zu sehr, um ihr Leben wegen einer Dummheit aufs Spiel zu setzen. Klugheit war immer willkommen. Dämlichkeit jedoch?

Nicht so sehr.

Was bedeutete, dass er keinen Mist bauen oder sich unerlaubt von der Truppe entfernen durfte. Nicht mit Venom und dem Rest der Jungs, die hinter ihm flogen. Wick biss die Zähne zusammen. Scheiße, er hätte sich gern mal eine Auszeit von der Routine gegönnt. Hätte zu gern seinen Lieblingsort tief im Mount Rainier angeflogen und sich neben einem Lavastrom eingerollt, während seine Kumpels passende Frauen suchten und sich nährten. Er schnaubte angewidert. Magmatröpfchen waberten um seine Nüstern, jagten über seine Hörner, als er sein Haupt schüttelte. Verflixt aber auch. Durch die Brutalität seines Entführers hatte er sich schon in jungen Jahren eine Berührungsphobie eingehandelt: Er hasste es, angefasst zu werden, und schon gar nicht mochte er selbst jemanden berühren.

Ein schlechter Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Wick schluckte und kämpfte gegen sein Unbehagen an. Mann. Er war ein echtes Weichei, ein Hasenfuß wegen seiner Aversion. Die meisten Männer fanden es toll, Zeit mit dem anderen Geschlecht zu verbringen. Genossen das Fummeln. Sehnten sich nach Kontakt und gegenseitiger Befriedigung. Er nicht. Ihm graute davor, er fühlte sich unzulänglich, nicht bereit. Unfähig, weibliche Wesen in Ekstase zu versetzen, was sie aber erwarteten, während Männer seiner Art sich an ihnen nährten. Mist. Er wusste nicht mal, was das hieß. Hatte nie wirkliche Lust erlebt, geschweige denn, einem anderen Lebewesen welche verschafft.

Zu dumm, dass Druck und Hunger sich einen Dreck darum scherten.

Er war ein Sklave seiner Natur und der Energie, die seine Art zum Überleben brauchte. Die Göttin aller Dinge hatte dafür gesorgt, hatte Seinesgleichen vor langer, langer Zeit verflucht. Einige behaupteten, dass sie sie aus Rache verzaubert hatte. Andere hielten es für eine höchstrichterliche Fehlerkorrektur. Wick ging beides am Arsch vorbei. Alles, was ihn interessierte, war das Ergebnis, die völlige Abhängigkeit Drachenblütiger von Menschenfrauen – nicht nur, um sich fortzupflanzen, sondern auch, um sich mit dem Meridian zu verbinden, dem elektrostatischen Strom, der seine Spezies nährte. Die Energiequelle, die den Planeten umgab, nährte Pflanzen und Tiere gleichermaßen. Es funktionierte automatisch bei allen Lebewesen, mit Ausnahme der Angehörigen des Drachenbluts. Dank der Göttin – und ihrem ungeheuren Frust – war die direkte Verbindung zwischen dem Meridian und seiner Art gekappt. Jetzt brauchte ein Mann eine Frau, um zu überleben. Was bedeutete, dass die Verbindung zum Energiestrom des Meridians nur durch sie möglich war. Durch Nähe und Intimität, so nahe, dass Haut auf Haut traf und …

Wick unterdrückte einen Schauder. Brutale Bestrafung mit scharfen Zähnen und einem gemeinen Biss. Unfair? Ohne Frage. Leider hatte fair nicht das Geringste damit zu tun. Silfer, der Drachengott, hatte es verbockt, hatte die falsche Gottheit erzürnt mit seinen Betrügereien. Jetzt büßten alle Drachenblütigen für seine Dummheit. Was unglaublich nervte, aber hey …

Es war, wie es war. Schließen wir die Akte. Legen wir sie ab unter »Vermasselt« und machen weiter.

Gute Strategie. Die beste, wirklich … logisch, klar, präzise. Leider keine, die ihm half. Er konnte das Grauen nicht abstellen. Seinen Verstand nicht abschalten, während er sich dem Ziel näherte, über Gebäude und Asphalt unter ihm schwebte. Unsichtbar durch den Tarnzauber, überflog er die Straßen der Stadt. Es war viel los in Seattle heute Nacht. Es wimmelte von Menschen, die, in ihre Mäntel gehüllt, die Kragen hochgestellt, die Hände in die Taschen gesteckt hatten. Das schnelle Klackern hochhackiger Schuhe ertönte, während sie über die Bürgersteige eilten. Musik driftete nach oben, wummernde Bässe drangen aus den Nachtclubs und lockten Männer und Frauen aus Taxis zu den Neonlichtern und geschlossenen Türen.

Eine weitere Freitagnacht. Und immer das Gleiche.

Menschen feierten gern. Der schwache Geruch von Alkohol und Parfüm sagte ihm, dass die Party voll im Gange war. Gut für Venom. Nicht so toll für ihn. Es bedeutete, dass es viele geben würde, zwischen denen er wählen konnte, und mehr Betrieb herrschte, als ihm lieb war.

Der Gedanke hellte seine Stimmung nicht gerade auf. Er wollte das einfach nicht tun. Andererseits … er wollte es nie. Fremde Hände, die seinen Körper streiften, die unangenehme Gefühlsaufwallung – allein der Gedanke daran ließ ihn zusammenzucken und sich winden, fort von dem kribbelnden Schmerz der Überlastung. Dem heftigen Druck und verrückt machenden Hunger, an der Grenze der Erträglichkeit, der ihn um seine Beherrschung brachte.

Kämpfen oder fliehen.

Eine instinktive Reaktion, eine ganz natürliche und eine, der Wick sich nicht entziehen konnte. Nicht, dass er es nicht versucht hätte … immer wieder. Aber Venom hatte recht. Er konnte Jamison nicht entführen und seine Schuld begleichen, solange er hungrig war. Er wollte die Frau retten, nicht in Gefahr bringen. Also, es führte kein Weg daran vorbei. Es gab keine Ausflüchte welcher Art auch immer. Er musste sich mit einer Fremden zusammentun und Nähe zulassen. Mit einer, der er scheißegal war. Einem menschlichen Wesen, das nur eins im Sinn hatte … die Verheißung von Lust, und das möglichst prompt.

Wick zog eine Grimasse, flog einen Bogen und verharrte dann wie ein Raubvogel quasi stehend in der Luft über einem niedrigen Dach. Lust.