Fiktion und Wirklichkeit:  Die Darstellung Rosa Luxemburgs in der biographischen und literarischen Prosa - Julia Killet - E-Book

Fiktion und Wirklichkeit: Die Darstellung Rosa Luxemburgs in der biographischen und literarischen Prosa E-Book

Julia Killet

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Beschreibung

Rosa Luxemburg ist eine bedeutende Vertreterin der internationalen Arbeiterbewegung. Ihre Gedanken und ihr Einsatz für die Revolution und den demokratischen Sozialismus sind auch über 100 Jahre nach ihrer Ermordung noch immer aktuell. Dies bezeugen nicht nur zahlreiche Konferenzen weltweit zu ihrem Wirken und Denken, sondern auch mehr als 40 Biographien sowie Dramen, Lyrik, Dokumentationen und Filme. Im Mittelpunkt der vorliegenden Dissertation steht das Rosa-Luxemburg-Bild in der deutschsprachigen Prosa von 1919 bis ins 21. Jahrhundert.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Dank

Widmung

1. Einleitung

2. Biographischer Teil

2.1 Rosa Luxemburgs Leben und Wirken im Überblick

2.2 Luxemburgismus

3. Die Darstellung Rosa Luxemburgs in der Prosa

3.1.1 Persönliche Erinnerungen

3.1.1.1 ‚Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht‘ von Clara Zetkin

3.1.1.2 Leben und Kampf unserer Genossin Rosa Luxemburg von Karl Radek

3.1.1.3 Rosa Luxemburg. Ein Gedenkbuch von Luise Kautsky

3.1.1.4 Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat von Paul Frölich

3.1.2 Wissenschaftliche Biographien

3.1.2.1 Rosa Luxemburg von Peter Nettl

3.1.2.2 Rosa Luxemburg. Im Lebensrausch, trotz alledem von Annelies Laschitza

3.1.3 Populärwissenschaftliche Biographien

3.1.3.1 Rosa Luxemburg. Eine biographische Skizze von Fred Oelßner

3.1.3.2 Rosa Luxemburg von Helmut Hirsch

3.1.3.3 Rosa L. Die Geschichte der Rosa Luxemburg und ihrer Zeit von Frederik Hetmann

3.1.3.4 Die Aufrechten von Jakow Drabkin

3.1.3.5 Meine liebste Mathilde. Geschichte zum Berühren von Heinz Knobloch

3.1.3.6 Rosa Luxemburg. Ein Leben von Elżbieta Ettinger

3.1.3.7 Rosa Luxemburg oder: Der Preis der Freiheit von Jörn Schütrumpf

3.1.3.8 Rosa Luxemburg. Leben – Werk – Wirkung von Dietmar Dath

3.2.1 Kindheit und Jugend

3.2.1.1 Rosalie von Maria Seidemann

3.2.1.2 Die Sehnsucht der Rosa Luxemburg von Horst Hensel

3.2.2 Der Erste Weltkrieg

3.2.2.1 ‚Friedrichsfelder Gedanken‘ von Heinz Knobloch

3.2.2.2 November 1918. Eine deutsche Revolution. Karl und Rosa von Alfred Döblin

3.2.3 Der Tod von Rosa Luxemburg

3.2.3.1 ‚Rettungsgürtel an einer kleinen Brücke‘ von Egon Erwin Kisch

3.2.4 Postmoderne

3.2.4.1 Das Luxemburg-Komplott von Christian von Ditfurth

3.2.4.2 Die Wunde Woyzeck von Heiner Müller

4. Exkurs: Die DarstellungRosa Luxemburgs in Filmen

4.1 Trotz alledem! und Solange Leben in mir ist von Günter Reisch

4.2 Rosa Luxemburg von Margarethe von Trotta

5. Fazit

6. Anhang

6.1 Zeitstrahl Leben und Wirken Rosa Luxemburgs

6.2.1 Primärtexte von Rosa Luxemburg

6.2.1.1 Gesammelte Briefe (GB):

6.2.1.2 Gesammelte Werke (GW):

6.2.1.3 Weiteres:

6.2.2 Schriften von Rosa Luxemburg

6.2.2.1 Briefe von Rosa Luxemburg:

6.2.2.2 Aus dem Werk von Rosa Luxemburg:

6.2.3 Primärliteratur

6.2.4 Sekundärliteratur

6.2.5 Filme / Dokumentationen

6.2.6 (Online-)Zeitungsartikel

6.2.7 Online Dokumente

6.3.1 Archive, Zeitschriften, Zeitungen

6.3.2 Weitere Abkürzungen

6.4 Abbildungen

Julia Killet

Fiktion und Wirklichkeit: Die Darstellung Rosa Luxemburgs in der biographischen und literarischen Prosa

Dritte Auflage

Dezember 2022

Kulturmaschinen Verlag

Ein Imprint der Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt)

20251 Hamburg

Die Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt) gehört allein dem Kulturmaschinen Autoren-Verlag e. V.

Der Kulturmaschinen Autoren-Verlag e. V. gehört den AutorInnen.

Und dieses Buch gehört der Phantasie, dem Wissen und der Literatur.

Umschlaggestaltung: Sven j. Olsson

Druck: Booksfactory, Polen

Hinterlegt in BoD (Libri)

978-3-96763-040-4                (Kart.)

978-3-96763-048-0                (Geb.)

978-3-96763-076-3                (ePUB)

Dissertation

zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.)

Eingereicht an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam

von Julia Killet M.A.

bei Prof. Dr. Helmut Peitsch (Doktorvater), Universität Potsdam und Prof. Dr. Sven Hanuschek (Zweitbetreuer), Ludwig-Maximilians-Universität München

Potsdam, März 2018

Die vorliegende Arbeit wurde in ihrer ursprünglichen Fassung am 2. Oktober 2018 an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam unter dem Titel ‚Fiktion und Wirklichkeit: Die Darstellung Rosa Luxemburgs in der Prosa’ als Dissertation angenommen. Die Dissertation wurde von Prof. Dr. Helmut Peitsch (Doktorvater), Universität Potsdam, und von Prof. Dr. Sven Hanuschek (Zweitbetreuer), Ludwig-Maximilians-Universität München, betreut. Für den Druck wurde das im März 2018 abgeschlossene Manuskript überarbeitet und ergänzt.

Julia Killet studierte Germanistik und Politikwissenschaften. Sie promovierte an der Universität Potsdam und ist Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in München.

DANK

Ich danke allen, die mich bei dem Entstehungsprozess meiner Dissertation begleitet haben. An erster Stelle möchte ich mich bei meinem Doktorvater bedanken, Prof. Dr. Helmut Peitsch von der Universität Potsdam, für seine kritische Unterstützung und die anregenden Diskussionen, auch im Kreise seiner Studierenden. Erst durch ihn bin ich auf das Thema aufmerksam geworden. Einen großen Dank richte ich auch an meinen Zweitgutachter, Prof. Dr. Sven Hanuschek von der Ludwig-Maximilians-Universität München, für seinen herzlichen Empfang und seine konstruktiven Anregungen.

Meinem Freund und Mentor, Dr. Heinz Vestner, danke ich für den geistigen Austausch über politische Ereignisse und Literatur sowie seine ausdauernde redaktionelle Hilfe. Meiner Freundin und Kommilitonin, Dr. Hannelore Sánchez Penzo, danke ich für den unermüdlichen literaturwissenschaftlichen Gedankenaustausch und ihre gewinnbringenden Anstöße. Meinem Freund Oliver Brenner danke ich für das Schlusslektorat meiner Arbeit. Danken möchte ich auch dem Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dr. Florian Weis, sowie meinen Kollegen, Dr. Lutz Kirschner und Andreas Thomsen. Ein durch sie möglich gemachtes Sabbat-Jahr erlaubte es mir, diese Dissertation zu beginnen. In diesem Zusammenhang danke ich auch Max Steiniger, der mich in dieser Zeit im Regionalbüro Bayern der Rosa-Luxemburg-Stiftung vertreten hat, ferner meinem Kollegen Niklas Haupt. Die inzwischen leider verstorbene Historikerin Prof. Dr. Annelies Laschitza (†), Dr. Holger Politt und Dr. Jörn Schütrumpf haben mir zu jeder Zeit bei der Beantwortung meiner Fragen zur Seite gestanden und mich inhaltlich beraten. Darüber hinaus danke ich meinem politischen Mentor Peeter Raane und meiner Freundin Dr. Eve Sattler für ihre stetige Motivation, diese Dissertation fertigzustellen. Außerdem bedanke ich mich bei Laura Pöhler, Dr. Marion Schütrumpf-Kunze, Dr. Michael Ewert, Helga Schwarz, Dr. Friedrich Villis, Dr. Dr. Peter Ullrich und Dr. Lilli Korowski (†) für ihre kritische Sichtung des Manuskripts. Dem Schriftsteller Horst Hensel danke ich für seine Beratung. Samantha Bosch, Sergio Cicciari und Werner Hartl vom IG-Metall-Jugendbildungshaus am Schliersee haben mir einen Arbeitsplatz bereitgestellt und mich freundschaftlich begleitet. Ein weiterer Dank gilt Efthimia Ntzani, Sandy Schilling, Simona Uhlemann, Christian Brinkmann, Elfi Padovan, Sabrina und Konrad Ceccherini-Päsch für ihre freundschaftliche Unterstützung.

Zum Schluss möchte ich einen sehr persönlichen Gruß und Dank an meine Eltern, meine Schwester, meine Familie und meine drei Patenkinder in Nordrhein-Westfalen richten, die oft auf einen Besuch von mir verzichten mussten und dennoch in jeglicher Lebenslage für mich da waren.

München, März 2018

Julia Killet

Ich widme diese Arbeit Annelies Laschitza, die am 10. Dezember 2018 verstorben ist.

1. EINLEITUNG

Von den einen wurde sie verehrt, von anderen angefochten: Die Person und die Politikerin Rosa Luxemburg erhitzt bis in die heutige Zeit die Gemüter. Seit die gebürtige Polin um die Jahrhundertwende ins Deutsche Kaiserreich zog, verging kein Jahr, in dem ihre revolutionären Reden und Schriften nicht die politische Debatte befeuerten. Dabei konzentrierte sich Rosa Luxemburg nicht nur auf das Land, in dem sie lebte, sondern sie mischte sich zudem kritisch in die Entwicklung der Sozialdemokratie in Polen, Russland und Frankreich ein. Überall machte sie sich mit ihrer Kritik an den herrschenden Zuständen – auch in ihren eigenen Parteikreisen – und ihrer Suche nach alternativen politischen Lösungsansätzen sowohl Freunde als auch Feinde.  Die ebenso mutige wie intelligente Frau äußerte neue politische Ideen oder stellte männliche Überlegungen in Frage. Ihr politisches Hauptziel, das sie zeitlebens verfolgte, war der demokratische Sozialismus. Dafür musste sie letztlich mit ihrem Leben bezahlen.

Auch 100 Jahre nach ihrem Tod ist die bedeutende Vertreterin der internationalen Arbeiterbewegung noch immer aktuell. Dies bezeugen nicht nur zahlreiche Konferenzen1 sowie eine weltweite2 Beschäftigung mit Rosa Luxemburgs Wirken und Denken sondern auch mehr als 40 Biographien sowie Dramen, Lyrik, Dokumentationen in verschiedenen Sprachen und Filme.3 Im Mittelpunkt der vorliegenden Dissertation steht das Rosa-Luxemburg-Bild in der deutschsprachigen4 Prosa von 1919 bis ins 21. Jahrhundert.

Rosa Luxemburg lebte und wirkte in einer entscheidenden Epoche des europäischen Sozialismus. Sie vertrat ihre sozialistische Politik mit dem Ziel, den Kapitalismus zu überwinden. Außerdem wurde sie als Autorin leidenschaftlicher Liebesbriefe bekannt und als begeisterte Tier- und Naturfreundin. Diese Charakterfacetten zwischen politischer Konsequenz und teilnehmendemHumanismus finden sich in verschiedenster Gewichtung auch in der über sie verfassten Prosa wieder.

Für die Analyse der Darstellung Rosa Luxemburgs in der Prosa werden im ersten Teil der Arbeit 14 Biographien aus den Jahren 1919 bis 2010 herangezogen. Ausschlaggebend für die Auswahl der Biographien waren einerseits der persönliche und politische Standpunkt der Biographen5 (z.B. Kautsky6, Frölich7, Zetkin8, Radek9), andererseits wurden biographische Standardwerke (Nettl10, Laschitza11) und ‚populärwissenschaftliche Biographien‘ berücksichtigt, die etwa eine besonders hohe Auflage (z.B. Hirsch12) erzielten oder aus einem besonderen geographischen Standpunkt geschrieben wurden (z.B. Ettinger13, Drabkin14).

Im zweiten Teil der Arbeit stehen acht literarische Prosa-Werke von 1925 bis 2005 mit Rosa Luxemburg als Protagonistin15 im Mittelpunkt. Angeordnet sind diese Werke chronologisch nach ihren Lebensabschnitten und ihrem Nachleben, so dass die Vielschichtigkeit der Luxemburg-Prosa sichtbar wird. Die literarische Analyse beginnt mit dem Kinderbuch Rosalie16vonMaria Seidemann, das die Kindheit und Jugend Rosa Luxemburgs thematisiert. Horst Hensel geht in seinem Roman Die Sehnsucht der Rosa Luxemburg17 auf die Liebesbeziehung zwischen Rosa Luxemburg und Leo Jogiches ein, die in der Schweiz – Rosa Luxemburgs erster Station nach Verlassen ihres polnischen Elternhauses – begann. In der Reportage ‚Friedrichsfelder Gedanken‘18 von Heinz Knobloch steht vor allem Rosa Luxemburgs Engagement gegen den Krieg und ihre Zeit im Gefängnis während des Ersten Weltkrieges im Mittelpunkt der Beschreibung. Die Zeit der Novemberrevolution greift Alfred Döblin in einem Roman der ErzählwerkreiheNovember 1918auf, den er Karl und Rosa19 widmete. Für das Thema des Todes Rosa Luxemburgs und die Dramatik ihrer Ermordung wurden zwei Werke ausgewählt: die Reportage ‚Rettungsgürtel an der kleinen Brücke‘20 von Egon Erwin Kisch und die Erzählung Der Selbstmord der Rosa Luxemburg.21 von Hans Pfeiffer. Mit der Zeit nach ihrem Tod beschäftigen sich Christian von Ditfurth in seinem Roman Das Luxemburg-Komplott22 und Heiner Müller in seiner Büchner-Preis-Rede Die Wunde Woyzeck23.

In einem Exkurs werden die einzigen beiden Spielfilme über Rosa Luxemburg ausgewertet, um die Sichtweise auf die historische Persönlichkeit in zwei verschiedenen Gesellschaftssystemen – der BRD24 und DDR25– zu erweitern.

Im Zentrum der Interpretation stehen die Gattungseinordnung, die Erzählintention der Biographen, die Darstellung ihres Lebens und Schaffens sowie der Umgang der Biographen mit dem konstruierten Vorwurf des Luxemburgismus26. Vor allem im zweiten Teil wird aus erzähltech­nischerSichtuntersucht, inwiefernhistorischesReferenzmaterial in die literarisch-fiktionale Darstellung einfließt oder von der historischen Wirklichkeit abweicht. Als Quellen dafür werden die Gesammelten Werke27 und Briefe28 Rosa Luxemburgs herangezogen wie auch Zeitungsartikel über sie.29

Das vorherrschende Bild von Rosa Luxemburg in der Öffentlichkeit hat sich bis in die heutige Zeit immer wieder geändert. Die Rosa-Luxemburg-Rezeption polarisiert und wird äußerst kontrovers geführt. Um die Vielfältigkeit dieser Debatte zu illustrieren, wird im Folgenden eine Auswahl dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen nach ihrem Tod dargestellt.

Rosa Luxemburgs Ermordung im Jahr 1919 wurde in der nationalistischen Presse geradezu gefeiert. In der Täglichen Rundschau vom 16. Januar 1919 hieß es zum Beispiel: „Blut schrie nach Blut! Das Blutbad, das Liebknecht und Luxemburg angerichtet, verlangte Sühne. Sie ist schnell eingetreten und war bei Rosa Luxemburg grausam aber gerecht. Man schlug die Galizierin tot. Der Volkszorn, übermächtig und ungeheuerlich geworden, verlangte die Rache.“30 In der Deutschen Tageszeitung war am gleichen Tag zu lesen:

„Unrühmlich haben die Häupter des deutschen Bolschewismus, die noch vor wenig Tagen die Massen fanatisierten zum Wüten wider Vernunft und eigene Existenz, geendet. […] Fanatiker einer vernunftwidrigen Idee, in deren Bann sie jeden Maßstab verloren hatten […]. Belastet mit einer ans Pathologische grenzenden Eitelkeit, die sie verhinderte, sich über ihre Fähigkeiten wie über den wahren Umfang ihrer Gefolgschaft und Gefolge klar zu sein.“31

In einigen sozialdemokratischen Zeitungen hingegen wurde die Ermordung als „schwerer Rückschlag in dem Bemühen um eine Beruhigung der inneren Konflikte“32 aufgefasst, wie der Politikwissenschaftler Detlef Lehnert beschreibt. In einigen Zeitungen und Teilen der MSPD33 wurde das Verbrechen aber auch gerechtfertigt. Der Vorwärts betrieb „den propagandistischen Feldzug gegen die beiden KPD-Führer sogar noch in der Stunde ihres traurigen Schicksals“34. Zwei Tage nach der Ermordung war in diesem Parteiorgan zu lesen: „Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind […] Opferdes blutigen Todes geworden, den sie – gegen alle Bitten und Beschwörungen ihrer einstigen Freunde und Parteigenossen –, von einer Wahnidee vorwärtsgepeitscht, selber ins Land gerufen hatten.“35 Am gleichen Tag druckte der Vorwärts die offizielle Stellungnahme des einflussreichen sozialdemokratischen Politikers zu jener Zeit, Philipp Scheidemann, ab. Darin hieß es:

„Sie haben Tag für Tag das Volk zu den Waffen gerufen und zum gewaltsamen Sturz der Regierung aufgefordert. Sie sind nun selbst Opfer ihrer eigenen blutigen Terrortaktik geworden. Bei Frau Luxemburg, einer hochbegabten Russin, ist mir der Fanatismus begreiflich, nicht aber bei Liebknecht, dem Sohn Wilhelm Liebknechts, den wir alle verehrten und noch verehren. Sein Sohn, der nunmehr tote Karl Liebknecht, hat sich leider vollkommen in die russisch-terroristische Taktik einspannen lassen.“36

Scheidemann legitimierte den Mord hier nicht nur, sondern unterschied ferner noch zwischen den Ermordeten und bezichtigte Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht verführt zu haben.37

Diese Berichterstattung stimmte wieder ein in die „stereotype Melodie von der ‚roten Rosa‘, ‚blutigen Rosa‘ und ‚blutigroten Rosa‘“38, die bis in die heutige Zeit nachklingt. Wie der Luxemburg-Biograph Frölich angibt, finden sich erste Belege für diese Zuschreibung seit 1901 in der bürgerlichen, aber vor allem in der nationalistischen Presse. Zu diesem Zeitpunkt bekam Rosa Luxemburg die Leitung der Leipziger Volkszeitung übertragen. Frölich beschreibt die Reaktionen in der Presse: „Der christlich-soziale Nationalist Pfarrer Naumann zeterte im Chor mit der ‚Frankfurter Zeitung‘ über die ‚blutige Rosa‘, und die reformistischen Brüder stimmten mit kaum gedämpfter Trommel in den Chor ein.“39 Von da verwendeten ihre Feinde die Bezeichnung als inoffiziellen Namen für Rosa Luxemburg immer wieder.40Auf dem Jenaer Parteitag von 1905 verfestigte Rosa Luxemburg dann selbst dieses Bild. In einer Debatte um die Russische Revolution und Rosa Luxemburgs Forderung nach dem Massenstreik im Parteistatut der SPD rief sie in einer Rede:

„[W]ir sehen doch an der Geschichte, daß alle Revolutionen mit dem Blut des Volkes erkauft sind. Der ganze Unterschied ist, daß bis jetzt das Blut des Volkes für die herrschenden Klassen verspritzt wurde, und jetzt, wo von der Möglichkeit gesprochen wird, ihr Blut für ihre eigene Klasse zu lassen, da kommen vorsichtige sogenannte Sozialdemokraten und sagen, nein, dies Blut ist zu teuer.“41

Von diesem Zeitpunkt an wurde Rosa Luxemburg diese Zuschreibung nicht mehr los. Am Tage von Rosa Luxemburgs Ermordung brachte der Redakteur des Berliner Tagesblattes, Erich Dombrowski, unter dem Pseudonym Johannes Fischart in der Zeitschrift Die Weltbühne ein Portrait über Rosa Luxemburg: „In Berlin tobt der Bürgerkrieg und die blutige Rosa ist, als das Pulverfaß in Berlin explodierte, ins Reich gefahren, um auch hier die Brandfackel in die aufgeregte Masse zu schleudern. Röslein, Röslein, Röslein rot: Deutschland steht in Flammen.“42 In einer ausführ­lichen Analyse kam der Luxemburg-Forscher Ottokar Luban zu dem Schluss: „Die Spartakusführerin wurde niemals zur ‚blutigen Rosa‘, nie zu einer putschistischenoder gar terroristischen Politikerin, sondern Rosa Luxemburg hat ihre demokratischen Grundsätze – auf dem Boden des Räte­systems, […] während des Januaraufstandes 1919 voll aufrechterhalten.“43 Dem schließt sich der Historiker Gerhard Beier an, wenn er schreibt, dassRosa Luxemburgs Kompromisslosigkeit und Radikalität durch nichtsirreführender interpretiert würde als das entstellende Klischee von der ‚blutigen Rosa‘. In ihren Briefen fänden sich ergreifende Zeugnisse rührenden Mitleids und geradezu ‚franziskanischer‘ Einfühlung in die leidende Kreatur.44

Erst die Herausgabe von Briefe aus dem Gefängnis im Jahr 1920 trug ein Stück weit dazu bei, die negative Sicht auf Rosa Luxemburg zu relativieren.45 Darin lernten die Leser erstmalig auch Rosa Luxemburgs private Seite kennen und bekamen einen authentischen Eindruck von ihren politischen Überzeugungen und ihrem bedingungslosen Kampf für eine gerechte Gesellschaft. In den Briefen erschien Rosa Luxemburg als leidenschaftliche, liebende Frau, die sich neben der Politik für die Natur, Malerei und klassische Literatur interessierte. „Es gab viele Zeugnisse, Selbstanklagen von Männern und Frauen, die ihre Mitschuld bekannten, weil sie befriedigt Kenntnis genommen hatten vom Tode dieser Frau und jetzt sahen, wie tief ihre Täuschung gewesen war“46, bezeugt Rosa Luxemburgs Biograph Paul Frölich.

Einer dieser Briefe beeindruckte den österreichischen Schriftsteller Karl Kraus derart, dass er ihn 1920 in seiner Zeitschrift Die Fackel veröffentlichte.47 Es war der berühmte Brief mit der Büffelszene, in dem Rosa Luxemburg ihr Mitleid für das durch einen Wärter gequälte Tier so poetisch und feinfühlig beschreibt, dass das Lesen zu Tränen rührt.48 Karl Kraus trug den Brief außerdem in zahlreichen Lesungen in Berlin, Dresden, Prag, Wien und Karlsbad vor.49 „Der tiefste, je in einem Saal bewirkte Eindruck war die Vorlesung des Briefes von Rosa Luxemburg“50, schrieb Karl Kraus in der Fackel. Daraufhin erhielt Kraus einen Leserbrief der adligen Guts­besitzerin Ida von Lill-Rastern von Lilienbach aus Ungarn. Sie sei der Meinung, dass das Leben der Rosa Luxemburg „viel ersprießlicher und erfreulicher […] verlaufen wäre, wenn sie sich statt als Volksaufwieglerin etwa als Wärterin in einem Zoologischen Garten od. dgl. betätigt hätte, in welchem Fall ihr wahrscheinlich auch das ‚Kittchen‘ erspart geblieben wäre.“51Weiter führt sie aus: „Bei ihren botanischen Kenntnissen u. ihrer Vorliebe für Blumen hätte sie jedenfalls auch in einer größeren Gärtnerei lohnende u. befriedigende Beschäftigung gefunden u. hätte dann gewiß keine Bekanntschaft mit dem Gewehrkolben gemacht.“52 Karl Kraus veröffentlicht diesen Brief im November 1920 in der Fackel unter dem Titel ‚Antwort an Rosa Luxemburg von einer Unsentimentalen‘ und antwortete mit einer, wie Pfäfflin meint, „ungewöhnlich scharfe[n] Reaktion“53:

„Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenenlebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck – der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle anderen zu deren Bewahrung und mit dem Trost, daß das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieser […] Gesellschaft der ausschließlich Genußberechtigten […] wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen.“54

Diese Erwiderung Karl Kraus’ bezeichnete Walter Benjamin 1931 als ein „Bekenntnis, an dem alles erstaunlich, unverständlich aber allein das eine ist, daß nicht die größten Lettern der Fackel es aufbewahren, und daß man diese stärkste bürgerliche Prosa des Nachkriegs in einem verschollenen Hefte der ‚Fackel‘: – November 1920 – […] suchen“55 muss. Der Literaturwissenschaftler Helmut Peitsch ergänzte, dass Benjamin das Antwortschreiben Kraus’ gar als sein „politische[s] Credo“56 bezeichnete.

In der Weimarer Republik setzten sich ihr langjähriger Lebensgefährte und Vertrauter, Leo Jogiches, sowie ihr Anwalt und späterer Geliebter, Paul Levi, dafür ein, die Vertuschung der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts aufzuklären. Der Historiker Wolfram Wette bezeichnet den Gerichtsprozess im Mai 1919, bei dem Mörder von Rosa Luxemburg als Richter eingesetzt wurden, als eine „Justizposse, die als einer der großen Justizskandale unseres Jahrhunderts bezeichnet werden muss.“57 Nach dem Prozess wurde es zunächst ruhig um Rosa Luxemburg, bis ihre politischen Positionen innerhalb der Kommunistischen Internationale58 und KPD unter dem Vorwurf des Luxemburgismus zu Fehlurteilen diffamiert wurden.59

Im Nationalsozialismus wurde das gesamte Werk Rosa Luxemburgs verboten, auf die schwarze Liste für ‚Politik und Staatswissenschaften‘ gesetzt und bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Berlin verbrannt.60 1934 sind die Mörder Rosa Luxemburgs und die am Mord beteiligten Offiziere amnestiert worden. Obendrein wurden Haftentschädigungen an sie gezahlt.61 Wilhelm Pieck hielt auf dem Gedenkzug zum Todestag am 15. Januar 1933 noch eine Rede; zwei Jahre später zerstörten Nationalsozialisten Ludwig Mies van der Rohes Revolutionsdenkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf dem Sozialistenfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde.62 Werke dieser Zeit, in denen Rosa Luxemburg dargestellt wird, konnten nicht ermittelt werden.

Gut lässt sich die polarisierende Wahrnehmung Rosa Luxemburgs in der BRD und DDR in all ihrer Bandbreite verdeutlichen anhand von Rosa Luxemburgs Abbildung auf Briefmarken. Angesichts der historischen Situation in der BRD – dem Antikommunismus und der Zeit des Kalten Krieges – ist es umso erstaunlicher, dass die Deutsche Bundespost in den 1970er Jahren eine Sonderbriefmarke mit dem Portrait Rosa Luxemburgs drucken ließ. Noch zwölf Jahre zuvor war die Ermordung Rosa Luxemburgs im Bulletin der Bundesregierung63 als „standrechtliche Erschießung“ gerechtfertigt worden.64 Die 40-Pfennig-Marke erschien auf den Tag genau zu Rosa Luxemburgs 55. Todestag, am 15. Januar 197465, in der Briefmarkenserie ‚Bedeutende deutsche Frauen‘ zusammen mit Postwertzeichen mit den Konterfeis der Frauenrechtlerinnen Luise Otto-Peters66, Helene Lange67 und Gertrud Bäumer68. Noch vor dem Druck, nach der ersten Bekanntgabe in den Tageszeitungen folgte eine Welle der Empörung in der Öffentlichkeit, die der Luxemburg-Biograph Frederik Hetmann ausführlich dokumentiert hat.69

„Dagegen ist Ulrike Meinhof geradezu ein harmloses Schäfchen …“, schrieb ein Leser in der Rheinischen Post vom 19. Juni 1973.70 In einem Leserbrief vom 8. September 1973 wurde Rosa Luxemburg als „ein zwiespältiger, jedoch von Fanatismus blinder Mensch“ beschrieben und „daß die Widmung einer Sondermarke die selbstzerstörerische Verherrlichung einer kommunistischen Diktatur“ sei.71 Die Redakteure der rechten Veteranen-Zeitschrift Soldat im Volk forderten gar „eine Überprüfung und Aufhebung dieser letzten Entscheidung um unserer Frauen und um unseres Staates willen.“72Wie Hetmann weiter beschreibt, wurde in der Folge auch von Institutionen wie der Wiesbadener Industrie- und Handelskammer die Annahme von Briefen mit dem Motiv der Rosa Luxemburg abgelehnt.73

Der damalige Bundespostminister Horst Ehmke74 von der SPD-Regierung verteidigte jedoch den Vorschlag des Referenten für Postwertzeichen und veröffentlichte die Marke in einer Auflage von 20 Millionen Stück zum geplanten Zeitpunkt.75

Frederik Hetmanns Recherchen nach erhielt der Minister dafür rund 200 Protestbriefe.76 Auch der Parlamentarische Staatssekretär der SPD, Volker Hauff, verteidigte die Briefmarke gegen die Kritik der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und fragte in einer Pressemitteilung: „Ist es wirklich die Absicht dieses Unternehmerclubs, die reaktionäre Tradition der Diffamierung von Kriegsgegnern zu erneuern?“77 Selbst im Bundestag wurde das Erscheinen der Luxemburg-Briefmarke debattiert.78 Richard Stücklen von der CSU beschuldigte den Bundespostminister Ehmke, er „marschiere im Geiste bei der SED mit.“79 Ehmke seinerseits stellte Rosa Luxemburg vor als eine „glühende Pazifistin, eine Frau, die lange vor unserer Zeit wußte, daß es jenseits des Friedens keine Existenz gibt, eine Frau, die schließlich für ihr Eintreten gegen den Krieg erst ins Gefängnis geworfen und dann in viehischer Weise ermordet worden ist“. Er fragte anschließend: „Sollte nicht allein der Respekt vor dem Opfer es über parteipolitische Grenzen hinweg möglich machen, sich darin zu einigen, daß dies eine der großen Frauen der deutschen Geschichte ist?“80Doch die Bemühungen des Postministers fanden nicht nur in der Opposition, sondern auch in Teilen der Bevölkerung keinen Anklang. Die Wochenzeitung Das Ostpreußenblatt schrieb am 23. Februar 1974: „Zahlreiche Kunden lehnen das Postprodukt ab und verlangen andere 40-Pfennig-Marken […]. Viele Kunden betonen ausdrücklich beim Markenkauf: ‚nicht das Flintenweib‘ oder ‚das rote Weib wollen wir nicht.‘“81

Auch in der DDR war Rosa Luxemburgs Darstellung auf einem „staatlichen Symbolträger“82 zu Beginn umstritten. Zum 30. Todestag 1949 erschien in der sowjetischen Besatzungszone zwar eine Briefmarke, die ihr und Karl Liebknecht gewidmet war.83 Doch zum 2. Geburtstag der DDR am 7. Oktober 1951 wurde auf eine Abbildung Rosa Luxemburgs verzichtet und nur Karl Liebknecht dargestellt.84 Anlass war der 80. Geburtstag Karl Liebknechts85, wobei offenbar absichtlich übersehen wurde, dass auch Rosa Luxemburg im gleichen Jahr geboren wurde. Vermutlich war dies dem Vorwurf des Luxemburgismus geschuldet.86 Der Historiker Maoz Azaryahu stellt zwar fest, dass im gleichen Jahr im März - also zu ihrem Geburtstag - eine Ausstellung über sie stattfand, in der sie jedoch lediglich als Figur der deutsch-polnischen Freundschaft geehrt wurde. Auf einen Hinweis zu ihrer jüdische Religion wurde ebenso verzichtet wie auf eine Darstellung Luxemburgs als kommunistische Heldin.87

Erst nach Stalins Tod 1953 wurde sie in der DDR wieder auf Briefmarken abgebildet: 1955 erschien sie in einer Reihe ‚Führer der deutschen Arbeiterbewegung‘ zusammen mit Karl Liebknecht, August Bebel, Franz Mehring,Ernst Thälmann, Clara Zetkin und Wilhelm Liebknecht, wobei Rosa Luxemburgmit 60 Pfennig der höchste Wert zugemessen wurde.88 Zu ihrem 40. Todestag, im Jahr 1959, erschien eine Marke, auf der sie aufrecht, mit erhobener linker Faust und einem Manuskript in der Hand in Mitten einer Schar von Arbeitern abgedruckt wurde.89 Weiter war Rosa Luxemburg noch in den Jahren 1966 im Rahmen des 50. Jahrestages der Reichskonferenz der Spartakusgruppe,901968 zusammen mit Karl Liebknecht zum 50. Jahrestag der Novemberrevolution91 und 1971 in einem zusammenhängenden Satz mit Karl Liebknecht zum 100. Geburtstag der beiden auf Briefmarken der DDR zu finden.92

Zur gleichen Zeit sorgte die Diskussion über ein Rosa-Luxemburg-Denkmal in West-Berlin für lang andauernde Auseinandersetzungen in der BRD. Wie der französische Luxemburg-Biograph Gilbert Badia beschreibt, war in West-Berlin schon seit 1968 versucht worden, die Revolutionärin in Form eines Denkmals oder einer Gedenktafel zu würdigen.93 Die erste Tafel, die der ‚Marxistische Arbeitskreis‘ der Westberliner SPD 1971 genehmigt bekam, wurde bereits kurz danach von Neonazis geschändet.94 Der zweite Versuch, ein Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu errichten, wurde 1980 vom Berliner Senat verhindert. Als es 1987 durch einen Vorstoß der Grünen erneut zu der Einweihung von zwei Gedenktafeln kam, wurde das Denkmal abermals geschändet.

Eine neue Initiative für ein Denkmal kam von der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger auf einem Bundesparteitag der PDS 1995.95 Da den Genossen der PDS eine wiederholte Debatte um ein Denkmal aus Bundesgeldern wohl zu lange dauerte, sammelten sie kurzerhand selbst Mittel für eine Rosa-Luxemburg-Statue. Das damit erworbene Bronze-Kunstwerk von Rolf Biebl platziertensie vor dem Karl-Liebknecht-Haus am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, mussten jedoch die Statue nach Kritik an dieser eigenständigen Aktion wieder entfernen.96 Schließlich entschloss sich die PDS 1999, die Bronze-Statue der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Leihgabe zu überlassen. Dort, amFranz-Mehring-Platz 1, steht sie bis heute. Damit war das Thema jedoch noch nicht erledigt. SPD und PDS im Berliner Senat beschlossen 2002 in ihrem Koalitionsvertrag den Bau eines Denkmals. Die Koalition schrieb einen Wettbewerb für ein Denkmal am Rosa-Luxemburg-Platz aus. Der Journalist Uwe Rada schrieb dazu in der taz: „Damit hatte sich die rot-rote Koalition […] ihr erstes Geschichtssymbol geschaffen […].“97 Tatsächlich setzten die beiden Parteien damit ein versöhnliches Zeichen ihrer gemeinsamen Geschichte.98Die Ausschreibung ging zum Schluss an den New-Yorker Künstler Hans Haacke, der 60 Zitate aus Rosa Luxemburgs Werk in Messingbuchstaben gegossen im Boden rund um die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verewigte. Seit 2006 kann das Kunstwerk mit dem Titel ‚Denkzeichen Rosa Luxemburg‘ betrachtet werden.

Rosa Luxemburg stand auch im Mittelpunkt einer Debatte, die zwischen dem bundes- und ostdeutschen P.E.N.99-Zentren ausgetragen wurde. Hintergrund war ein Vorfall auf der sogenannten LL-Demonstration, die seit 1919 mit Unterbrechungen100 in der Zeit des Nationalsozialismus auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde zum Gedenken an den Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht stattfindet. Am 17. Januar 1988 trugen Demonstrationsteilnehmer Transparente mit dem von Rosa Luxemburg stammenden und meistzitierten Satz „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“101, um damit die Unterdrückung der Freiheit in der DDR anzuprangern. Folge waren rund 120 Verhaftungen bis hin zu Ausweisungen aus der DDR.102 Weil der Präsident des ostdeutschen P.E.N., Heinz Kamnitzer, diese Repression durch die Staatssicherheit befürwortete103, fühlte sich der westdeutsche P.E.N. zu einer Stellungnahme gezwungen104:

„Es kann doch in der Deutschen Demokratischen Republik keine Teilung der Gesellschaft in solche Menschen geben, die sich auf Rosa Luxemburg berufen dürfen, und in solche, die kein Anrecht darauf haben. […] Es kann doch die Berufung auf Rosa Luxemburg nicht dazu führen, mit dem Hinauswurf aus der DDR bestraft zu werden.“105

Rosa Luxemburg polarisiert, Rosa Luxemburg führt zu Auseinandersetzungen – auch noch im 21. Jahrhundert. Erst im Mai 2009 geriet ihr Namewieder in die Schlagzeilen. Es hieß, man habe möglicherweise Rosa Luxemburgs Leiche in der Berliner Charité gefunden. Der Leiter der Rechtsmedizin der Charité, Michael Tsokos, fand im Keller des Krankenhauses einen nicht identifizierten Frauentorso und war der Meinung, dass dieser Fund die sterblichen Überreste Rosa Luxemburgs sein müssten.106 Es wurde versucht, eine DNA-Analyse vorzunehmen, was jedoch daran scheiterte, dass keine vergleichbare DNA von Rosa Luxemburg gefunden wurde.107 Später wurde dem Rechtsmediziner Tsokos vorgeworfen, er hätte mit der Nachricht nur Publicity für sein kurz zuvor erschienenes Buch Dem Tod auf der Spur. Dreizehn spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin machen wollen.108 In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hieß es 2010 dazu: „Bis zum November waren es noch zwölf Fälle, seitdem prangt ein roter Hinweis auf dem Cover: ‚Jetzt mit seinem neuesten Fall Rosa Luxemburg.’109 Der Verleger und Luxemburg-Forscher Jörn Schütrumpf suchte vergeblich nach brauchbaren DNA-Spuren –auch unter der Annahme, dass ihre Identifizierung kurz nach dem Fund der Leiche 1919 fehlerhaft verlaufen sein könnte.110Der Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger kommt nach ausführlicher wissenschaftlicher Auswertung der Dokumente zum Tod Rosa Luxemburgs zu folgendem Schluss: „Es bleibt festzustellen, die Leiche, die am 31. Mai 1919 gefunden, am 3. Juni 1919 obduziert und am 13.6.1919 begraben wurde, war nach heutigem Erkenntnisstand die Leiche Rosa Luxemburgs.“111

Während die vorangegangenen Beispiele für unterschiedliche Darstellungen und Wahrnehmungen Rosa Luxemburgs in der Geschichte gezeigt haben, dass es durchgängig zu Konfrontationen zu ihrer Person kam, ist es auffällig, dass es bei der Aufnahme Rosa Luxemburgs in die 20-teilige, im Jahr 2010 ausgestrahlte ZDF-Serie ‚Die Deutschen‘ keinen Aufschrei gab. Rosa Luxemburg war neben Hildegard von Bingen die einzige Frau, die in der Reihe portraitiert wurde. Ist sie damit im bürgerlichen Spektrum respektiert und angekommen? Das 21. Jahrhundert ist zum Teil geprägt von einer neuen Generation, die nicht mehr von der Propaganda des Kalten Krieges sozialisiert ist und deren kritisch-demokratisches Denken durch die 1968er-Bewegung eingeleitet wurde. Zu einer neuen Sichtweise auf den demokratischen Sozialismus trug auch die Initiative bei, die parteinahe Stiftung der LINKEN nach Rosa Luxemburg zu benennen. Diese historische Persönlichkeit schaffte es, sich in der äußerst heterogen zusammengesetzten Partei als Identifikationsfigur zu etablieren.

Man hatte sich im Gründungsjahr 1990 für eine Frau als Namenspatronin der Stiftung entschieden, um sich „von den übrigen […] Bildungseinrichtungenabzusetzen.“112 Der Name Rosa Luxemburg hatte sich unter Vorschlägen wie „Alexandra Kollontai, Clara Zetkin, Larissa Reissner, Franz Mehring und Paul Levi“ durchgesetzt. Dabei trug auch dazu bei, dass „der reine Männerklub aus Friedrich Ebert, Konrad Adenauer, Friedrich Naumann, Hanns Seidel und Heinrich Böll […] dringend ein weibliches Gegenüber“ brauche, erinnert sich das Gründungsmitglied Marion Schütrumpf-Kunze.113 Ausschlaggebend sei schließlich gewesen, dass Rosa Luxemburg „wie keine andere Frau die Werte und Ziele des demokratischen Sozialismus“ verkörperte.114 Diese Namensgebung regte nicht nur in der Forschung der Stiftung eine neue wissenschaftliche Beschäftigung mit Rosa Luxemburg an.

Die jüngste Debatte um Rosa Luxemburg entbrannte 2013 abermals in Verbindung mit den bereits erwähnten LL-Demonstrationen. Eine Gruppe jüngerer Menschen aus dem Kreis der SJD - Die Falken in Kooperation mit der Grünen Jugend Berlin sowie einigen Strukturen rund um die Linksjugend ['solid], übte Kritik an dem traditionellen Gedenken und beanstandeten, dass die LL-Demonstration inhaltlich wenig reflektiert sei und Luxemburg-Abbildungen auf Fahnen gleich neben Stalin und Mao Zedong getragen würden. Unter dem Namen ‚Karl und Rosa Demo‘ initiierten sie parallel zur LL-Demo eine alternative Demonstration115 mit dem Anspruch, Rosa Luxemburg nicht nur als Ikone sondern auch als marxistische Theoretikerin zu verstehen: „Ein paar hundert vor allem junge Leute wollten auf diese Weise zeigen, dass es so etwas wie ein neues Nachdenken über die Ikonen der Linken gibt – und darüber, wie es mit dem Sozialismus weiter gehen könnte“116, erklärte ein Teilnehmer der Initiative in einem Interview. Beanstandet wurde der ihres Erachtens fehlende bildungspolitische Austausch über Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und ihre Zeit. Dazu organisierten sie entsprechende Veranstaltungen, in denen sie sich kritisch mit dem Leben und Werk Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts auseinandersetzten.117

Dass das junge Bündnis auch von Sozialdemokraten und der sozialdemokratischen Jugendorganisation Jusos unterstützt wurde, führte zu weiteren Diskussionen, weil die Verantwortung für den Tod von Luxemburg und Liebknecht in Teilen der Linken auch den Sozialdemokraten zugeschrieben wird. Die Jusos ihrerseits hofften durch ihre Teilnahme auf eine Geschichtsreflexion in ihrer eigenen Partei: „Wir wollen auch mit dem Ammenmärchen aufräumen, dass die SPD mit den Morden von damals nichts zu tun hatte“118, sagte ein Juso-Teilnehmer.

Auch 100 Jahre nach ihrer Ermordung ist Rosa Luxemburg noch immer aktuell. Die folgende Betrachtung geht der historischen Persönlichkeit aus literaturhistorischer Perspektive auf die Spur.

1.1                 Forschungsstand

Die Darstellung Rosa Luxemburgs in der Literatur wurde in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher kaum beachtet. Die erste und einzige Übersicht veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Helmut Peitsch im Jahr 2013 unter dem Titel Rosa Luxemburg in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts in der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte.119Peitsch richtet seinen Blick in seinem Aufsatz auf die Darstellung Rosa Luxemburgs in deutschen Gedichten, Dramen, Romanen und Essays. Er analysiert darin Literatur der Schriftsteller Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Peter Weiss, Heiner Müller, Heinz Knobloch, Karl Grünberg und Herta Müller. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Darstellungen in der ost- und westdeutschen Literatur beschäftigt er sich unter anderem mit dem Bild Rosa Luxemburgs als Märtyrerin in der Literatur. Ferner greift er zahlreiche Themen auf – von der Debatte um Rosa Luxemburg auf einer Briefmarke, über die Suche nach einem Standort für ihr Denkmal, die Beurteilungen ihres Todes, Rosa Luxemburg als Europäerin, Jüdin und Intellektuelle bis hin zu literarischen Darstellungen, die religiöse Motive beinhalten. Die vorliegende Arbeit knüpft an den Aufsatz von Peitsch an, der zur wissenschaftliche Weiterforschung anregt.

In diesem Aufsatz stellt Helmut Peitsch zum Forschungsstand fest, dass das Luxemburg-Bild aus literaturwissenschaftlicher Sicht bisher vernachlässigt wurde und regelrecht von einem „Ausschluss“ Rosa Luxemburgs aus „(Geschichts)Politik und (Literatur-)Wissenschaft kontrastiert in der (Gegenwarts-)Literatur“120 gesprochen werden kann. Rosa Luxemburg finde sich entsprechend auch nicht in einschlägigen Motiv-Lexika der Literatur.121

Lediglich manche Speziallexika, wie das Lexikon sozialistischer Literatur122, widmen Rosa Luxemburg ein Kapitel. In diesem wird jedoch in erster Linie auf „ihre literarischen (und künstlerischen) Theorien und ihr eigenes literarisches Werk, ihre Fähigkeiten als Journalistin, Polemikerin und Schriftstellerin“123eingegangen. Genannt werden im Eintrag außerdem einige wenige Ausgaben zum Thema Rosa Luxemburg in Kunst und Literatur, darunter das Fernsehspiel Die rote Rosa von Walter Jens, Alfred Döblins November 1918, Meine liebste Mathilde von Heinz Knobloch, der Filmtext zu Margarethe von Trottas Film Rosa Luxemburg sowie Max Gallos Luxemburg-Biographie.124

Ähnlich verhält es sich mit Gilbert Badias Aufsatz über Rosa Luxemburg als Erinnerungsort, der ebenfalls nur am Rande auf literarische Luxemburg-Darstellung eingeht. Der Autor nennt darin zwar die Grabinschrift Bertolt Brechts für Rosa Luxemburg, die Romantrilogie November 1918 von Alfred Döblin und den eingangs bereits erwähnten Briefdiskurs von Karl Kraus in der Fackel– eine Analyse der Werke bleibt jedoch auch hier aus.125

Die Germanistin Lisa Ann Rainwater van Suntum aus den USA legte 2002 eine englischsprachige Dissertation zum Mythos Rosa Luxemburg unter feministischer Perspektive vor.126 Neben dem genannten Aufsatz von Helmut Peitsch, kommt Suntums Arbeit dem Thema der vorliegenden Dissertation am nächsten. In sechs verschiedenen Zeitspannen127 untersuchte sie anhand von „collected editions of proletariat literature, Arbeiterliteratur, single author works, little magazines, newspapers, archives, bibliographic referencing, and even the Internet”128 die Darstellung Rosa Luxemburgs. Dabei geht sie unter anderem auf die unterschiedlichen Sichtweisen von Frauen und Männern auf Rosa Luxemburg ein, wie auch auf Rosa Luxemburgs eigene frauenpolitische Sicht. Im Mittelpunkt steht jedoch der Mythos Rosa Luxemburg. Neben Liedern, Zeitungsartikeln, Biographien, Reden, Plakaten, Grafiken, Dramen, Gedichten und Filmen analysiert sie auch Romane von Alfred Döblin, Klaus Kordon und befasst sich mit der literarischen Reportage von Egon Erwin Kisch und dem Roman-Fragment über Rosa Luxemburg von Bertolt Brecht.129 Die Arbeit konzentriert sich darauf, Rosa Luxemburg in ihre historische Zeit einzubetten und beschreibt ausführlich den Umgang mit Rosa Luxemburg in Ost- und West-Deutschland. Dadurch geraten ihre Literaturanalysen zeitweise etwas in den Hintergrund. Romane wie der von Maria Seidemann werden zwar genannt, aber nicht weiter analysiert. Trotzdem ist es überaus bemerkenswert, was für eine Fülle an Material – beispielsweise für dieInterpretation des Romans Karl und Rosa von Alfred Döblin, dem sie ein eigenes Kapitel widmet – Rainwater van Suntum für ihre Analyse zusammenträgt.

Der Historiker und Luxemburg-Biograph Helmut Hirsch, den Helmut Peitsch ebenfalls in seinem Forschungsstand nennt, beschäftigt sich mitRosa Luxemburg in Kunst und Literatur unter besonderer Beachtung des jüdischen Aspektes.130 Dieser Text ist für die vorliegende Arbeit jedoch nicht ergiebig, weil Hirsch sich in erster Linie mit Filmen und Biographien mit dem Fokus auf Rosa Luxemburgs jüdische Herkunft beschäftigt und auf Literatur über Rosa Luxemburg nicht eingeht.

Wie gezeigt wurde, ist die Forschungslage zu dem Thema der Dissertationäußerst desolat. Die Mehrzahl von der für die Analyse herangezogenen Primärliteratur wurde weder in den gerade genannten Arbeiten behandelt, noch ist sie in den wenigen existierenden Rosa-Luxemburg-Bibliographien131zu finden. Mit der vorliegenden Dissertation soll also ein nahezu unbearbeitetes Gebiet deutscher Literaturgeschichte erschlossen werden.

1.2                 Fiktion und Wirklichkeit

„Kaum ein literaturwissenschaftliches Thema ist so ausführlich erörtert worden wie das Verhältnis zwischen Fiktion respektive Literatur und Wirklichkeit.“132

Schon die Beschäftigung mit den Begriffen ‚Fiktion‘ und ‚Wirklichkeit‘ macht deutlich, wie vielseitig, aber auch unpräzise das Thema betrachtet werden kann. Wolfgang Iser spricht in seinem Standardwerk Das Fiktive und das Imaginärevon den Begriffen „Wirklichkeit und Fiktion“ und unterteilt die Begriffe später in eine Triade des „Realen, Fiktiven und Imaginären“133. Ansgar Nünning verwendet in seiner Abhandlung zum historischen Roman den Begriff „Literatur“ analog zu „Fiktion“134 und später die Begriffe „Wirklichkeit und Wahrheit“135. Er verweist im zweiten Teil seiner Analyse zur Geschichtsdarstellung in narrativ-fiktionalen Texten auf weitere „etablierte begriffliche Gegensätze wie ‚Realität vs. Fiktion‘, ‚Subjekt vs. Objekt‘ und ‚Literatur vs. Historiographie‘“136. Ina Ulrike Paul und Richard Faber benutzen in ihrer Aufsatzsammlung zum historischen Roman die Begriffe „Literarizität und Historizität“ synonym mit „Literatur und Wissenschaft“, „Literarizität“ vs. „Geschichtsschreibung“, sowie „Künste im Gegensatz zu Wissenschaften“.137 Bernhard von Becker spricht in seiner Darstellung über Fiktion und Wirklichkeit im Buch Esra auch von „parallele[r] Wirklichkeit.“138Die Reihe der Begriffspaare wird von Nathalie Jacoby in ihrer Dissertation zur fiktionalen Biographie um die Begriffe „Wissenschaftlichkeit und Poetizität“139ergänzt. Während sich die zuvor genannten Autoren alle mit dem historischen Roman beschäftigen, geht es Jacoby um die fiktionale Biographie, die sich jedoch „die ständig bewußte Ko-Präsenz und transparente Produktivität von Faktischem und Fiktivem“140 mit dem historischen Roman teile.

Die verschiedenen Bezeichnungen der Gegensatzpaare ließen sich noch beliebig fortführen. Die Verwendung scheinbar unterschiedlicher Begrifflichkeiten zeigt die Komplexität, aber auch die Unstrukturiertheit der Debatte zum Thema. Eine richtungsweisende Bestimmung oder theoretische Einordnung der Begriffe gibt es nicht.141

Die Beschäftigung mit der „Opposition von Fiktion und Wirklichkeit“142 hat eine lange Tradition. Bereits Aristoteles setzte sich damit auseinander.143 Im neunten Kapitel von Aristoteles Poetik heißt es dazu:

„[…] daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist, zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich […] vielmehr darin, daß der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte. Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen.“144

Aristoteles betrachtete die Begriffe Fiktion und Wirklichkeit hier aus der Perspektive der Verfasser von entsprechenden Texten. Der Dichter steht bei ihm für die Fiktion und der Historiker für die Wirklichkeit.

2100 Jahre später äußert sich auch Johann Wolfgang von Goethe zu diesem Thema: „Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter, darf gar nicht aufgeworfen werden; sie konkurrieren nicht miteinander, sowenig als der Wettläufer und der Faustkämpfer. Jedem gebührt seine eigene Krone.“145

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schreibt Franz Mehring in der Einleitung der ersten Marx-Biographie:

„Alle Geschichtsschreibung ist zugleich Kunst und Wissenschaft, und zumal die biographische Darstellung. Ich weiß im Augenblick nicht,welcher trockene Hecht den famosen Gedanken geboren hat, daß ästhetische Gesichtspunkte in den Hallen der historischen Wissenschaft nichts zu suchen hätten. Aber ich muß, vielleicht zu meiner Schande, offen gestehen, daß ich die bürgerliche Gesellschaft nicht so gründlich hasse wie jene strengeren Denker, die, um dem guten Voltaire eins auszuwischen, die langweilige Schreibweise für die einzig erlaubte erklären. Marx selbst war in diesem Punkte auch des Verdachts verdächtig: mit seinen alten Griechen rechnete er Klio zu den neun Musen. In der Tat, die Musen schmäht nur, wer von ihnen verschmäht worden ist.“146

Im historischen Wörterbuch der Philosophie bezeichnet der Begriff der ‚Wirklichkeit‘ (=Realität) im alltäglichen Gebrauch etwas, das als „wahr“, „tatsächlich bestehend“ oder „echt“ aufgefasst wird.147 Der Begriff bezeichnet also unsere gesamte reale Lebenswelt, in die wir hineingeboren werden und fortan darin leben; also alles, was evolutionär und historisch geworden ist. Eben das ist gemeint im berühmten ersten Satz in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“148 Für die hier vorliegende Analyse wird der Begriff als Abgrenzung und Antonym zu dem Begriff der ‚Fiktion‘ verwendet.

Zur Analyse von Wirklichkeit in literarischen Texten empfiehlt Ansgar Nünning im Handbuch Biographie die Suche von „Wirklichkeitssignalen“149, bei denen „zwischen (1) kontextuellen, (2) paratextuellen und (3) textuellen Signalen zu unterscheiden“150sei. Darunter versteht Nünning1. den äußeren Rahmen, in welchem ein Text rezipiert wird, beispielsweise bei einer Lesung oder einem Vortrag an der Universität; 2. die Hinweise, die der Text implizit liefert, beispielsweise in seinem Untertitel; und 3. Hinweise im Text selbst, die nicht referenziell sind.151 Anita Runge wiederum klassifiziert im Handbuch Biographie die Merkmale historiographischer Texte folgendermaßen: „das Vorhandensein von typischen Gliederungsmodi, wissenschaftlichen Zitierformen und Anmerkungsapparaten, von Registern und Bibliographien.“152

Zum Begriff ‚Fiktion‘ findet sich in Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur folgende, vom lateinischen Wort fictio (= Bildung, Gestaltung)abgeleitete Definition: „jede Erdichtung als Schilderung eines nicht wirklichen, nicht verifizierbaren, aber doch möglichen Sachverhalts in e[iner] Weise, die ihn als wirklich suggeriert […] ohne indessen einen nachprüfbaren Bezug zur außerdichter[ischen] tatsächlichen Wirklichkeit zu behaupten, so daß sie weder verifiziert noch falsifiziert werden kann.“153 Fiktion wird an diese Definition anschließend im Folgenden als eine frei erfundene Welt verstanden.

Jeder sprachlich und schriftlich fixierte Text, sei es in naturwissenschaftlicher, historiographischer oder literarischen Textgestalt, unterliegt dem Prinzip der Referenz und der Möglichkeit der Verifikation, insofern er sich auf ‚Wirklichkeit‘ im obigen Sinn bezieht oder beziehen soll. Der sprachliche Signifikant ‚Baum‘ bezieht sich auf das Signifikat Baum, also alle Bäume der Welt. Darin liegt seine Referenzialität und dadurch werden alle Signifikanten kommunikabel und erlangen somit intersubjektive Gültigkeit in der Wirklichkeit, wie oben definiert.

Im Akt des Schreibens, also bei der Produktion eines Textes, vollzieht der literarische Autor eine Apriori-Suspendierung der sprachlichen Referenz auf ‚Wirklichkeit‘, um einen fiktionalen Text zu erzeugen. Im Augenblick des Lesens eines fiktionalen Textes tritt der Leser aus seiner persönlichen Wirklichkeitheraus und betritt einen fiktionalen Sprachraum. Der Autor verwendet sämtliche Sprachzeichen – vom Komma bis zum Wort und Satz nur noch ‚ikonisch‘ zwecks Erzeugung der von ihm gewollten ‚fiktionalen Welt‘ mit ‚fiktionalen Figuren‘. Umberto Eco nennt dies „ikonische Aussagen“154. Damit ist gemeint, dass nicht-referenzielle Sprachzeichen (Wörter, Begriffe, Gegenstandsbezeichnungen etc.) verwendet werden. Sie rufen im Bewusstsein Anschauungen, Vorstellungen und Gedanken hervor, die normalerweisejener Gegenstand, jener Zustand von Dingen oder jenes Ereignis hervorrufen würden, die nun lediglich beschrieben sind. Deshalb spricht Adam Schaff auch von der Verwendung „substitutiver Zeichen“155.

Dessen ist sich sowohl der Autor wie auch der Leser, von Wolfgang Iser vorzugsweise als ‚Rezipient‘ bezeichnet, bewusst: der Autor, wenn er mit der (ikonischen) Konstruktion seiner fiktionalen Welt beginnt, ebenso wie der Rezipient, wenn er mit der Lektüre beginnt. Jede Zeile eines Romans ist nur eine Art ‚Regieanweisung‘ an den Leser, in dessen Lese-, beziehungsweise Bewusstseinsakt erst die jeweilige fiktionale ‚Wirklichkeit‘ entsteht oder entstehen soll. Welche fiktionale Wirklichkeit in dessen Phantasie entsteht, kann der Autor nicht beeinflussen, weshalb jeder Rezipient jeden Roman ‚anders‘ liest und im semiologischen Sinn ‚interpretiert‘.

Im Akt des Schreibens steht es dem Autor frei, aus der (historischen)Wirklichkeit ‚Daten‘ (Referenzen) – also Personen, Schauplätze oder Ereignisse – zu entnehmen und in seinen fiktionalen Text zu integrieren, ‚hineinzukomponieren‘, ohne dem Prinzip der Referenz und Verifizierbarkeit unterworfen zu sein. Die dabei verwendeten Daten kann der Autor im Sinn seiner Erzählstrategie positiv oder negativ ‚verzerren‘ oder anders ‚positionieren‘. Klassisches Beispiel für diese Vorgehensweise ist der historische Roman.

Im Folgenden wird eine methodische Abgrenzung zwischen Historiographie, Biographie und historischem Roman vorgenommen.

Historiographie

Im Fall der Historiographie recherchiert der Historiker so korrekt, also wirklichkeitsnah wie möglich die zugänglichen Quellen und Lebensäußerungen und ‚ordnet‘ sie zu einem konsistenten Textgebilde, welches stets den Prinzipien der Referenz und Verifikation verpflichtet ist, also mit der historischen Wirklichkeit übereinstimmen soll beziehungsweise muss. Darin liegt der ‚Wahrheitsgehalt‘ einer Historiographie.

Dass auch Historiker in ihrer Darstellung von Geschichte auf Fiktionalität kaum verzichten können, ist Gegenstand einer langjährigen Diskussion zwischen den Geschichts- und Literaturwissenschaften, die bis heute nicht abgeschlossen ist.156 Ansgar Nünning weist darauf hin, dass es „zwischen literarischen und historiographischen Diskursen eine Vielzahl von Parallelen und Überschneidungen gibt.“157 Als „wichtigste Parallele“ nennt er die „narrative Form“ und verweist damit auf „die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Auffassung […], daß auch die Geschichtsschreibung eine Kunst sei“.158 Gleichzeitig verweist er auf Theoretiker, die eine strikte Trennung von Historiographie (Faktizität) und Literatur (Fiktionalität) wahren wollen wie beispielsweise Dorrit Cohn und Gérard Genette.159

Sven Hanuschek stellt dazu in seinem Beitrag über Referentialität im Handbuch Biographie fest, dass „Biographen wie andere Autoren des historischen Fachs im Zuge ihrer Darstellungen [notgedrungen] Fiktionen [verwenden]“.160 Einer der wichtigsten Vertreter der These der ‚Fiktion des Faktischen‘ ist der Historiker Hayden White.161 Sein Ausgangspunkt ist die „Historie“ als „Teil der Rhetorik“, das heißt, er analysiert Narrativitätin historischen Darstellungen.162 Ein historischer Text ist, nach White, immer nach dem gleichen „Deutungsmuster“ aufgebaut und verwendet die gleichen literarischen Tropen.163 Hanuschek bringt Whites Annahme auf den Punkt: „Er ist der Überzeugung, dass alle Texte, die Erfahrung in Sinn verwandeln, identische Strategien benutzen (Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie).“164 Historische Ereignisse brauchen demnach narrative Elemente, damit Spannung oder Dramatik erzeugt wird und „damit aus ihnen eine verständliche Geschichte entsteht.“165 Ansonsten würde eine historische Darstellung nur aus einer Aneinanderreihung von Quellen bestehen. Hanuschek schreibt:

„Ein Dokument allein erklärt wenig oder nichts, es reißt die Vergangenheit nicht in die Gegenwart, es lebt nicht, ja es entfernt sich aus dem anthropologischen Zusammenhang – jede Erfahrung, auch die alltägliche, ist durch (mündliche mehr noch als schriftliche) Erzählung vermittelt. Damit aus Dokumentensammlungen […] historische Erklärungen werden, müssen sie in einen Erzählzusammenhang eingebunden werden“166.

Als Beispiel sei hier das Herbarium Rosa Luxemburgs genannt.167  Dieses enthält zahlreiche Blumen, Pflanzen, Blüten, Gräser und Blätter, die Rosa Luxemburg im Laufe ihres Lebens – auch im Gefängnis – sammelte, darin einklebte und akribisch mit lateinischen Bezeichnungen sowie Ort und Datum versah. Abgesehen von der Einleitung des Herbariums ist das Buch in dieser Form lediglich eine Sammlung von eingeklebten Pflanzen, also eine Auflistung von Fakten. Doch allein anhand dieser Angaben könnte eine vollständige Biographie Luxemburgs geschrieben werden – wozu es jedoch einen Erzählzusammenhang bräuchte.168. Betrachtet man zum Beispiel die Blüten, Gräser und Tannennadeln, die Rosa Luxemburg in den jeweiligen Gefängnishöfen während ihrer Haftstrafen fand, so könnte daraus eineGeschichte entstehen: Warum war sie im Gefängnis, was schrieb sie über die Pflanzen in ihren Briefen? Was bedeutete die Natur für sie?

Ein weiteres Beispiel für eine Fakten-Sammlung im Falle Luxemburgs sind die Gesammelten Werke und Gesammelten Briefe Rosa Luxemburgs.169 Die Herausgabe der ersten fünf Bände mit Schriften und Briefen Rosa Luxemburgs in den 1970er Jahren in der DDR170 führte zu einer umfassenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburg. Ab 1973 fanden internationale wissenschaftliche Konferenzen in unterschiedlichen Ländern statt. Durch die Herausgabe der Quellen wurden die Wissenschaftler zu neuen Schriften über Rosa Luxemburg angeregt.

Biographie

Eine Verknüpfung von Fiktion und Wirklichkeit findet sich in der Gattung der Biographie. Schon die Gattungsbezeichnung macht deutlich, dass es sich bei diesem Genre um einen Kristallisationspunkt in der Diskussion um Fiktion und Wirklichkeit zwischen Historikern und Literaturwissenschaftlern handelt.

Falko Schnicke beschreibt in seiner Darstellung zur Begriffsgeschichte der Biographie im Handbuch Biographie die etymologische Herkunft des Wortes Biographie:

„Als spätantikes Kompositum aus bios (Leben) und graphein (für einritzen, zeichnen oder schreiben) […] ist ‚Biographie‘ (biographia) – nur im Sinne des narrativen Produktes – kulturell als Gesamtwürdigung bedeutender Personen von kontext- und zeitabhängig relativer Totalität und unterschiedlicher Perspektivierung codiert.“171

Helmut Scheurer weist in seiner gattungstheoretischen Arbeit zur Biographie auf „die Mittlerposition der Biographie zwischen Kunst und Wissenschaft“172hin. Ausschlaggebend sei bei beiden Gattungen „im Grenzbereich zwischen Historiographie und Literatur, […] als Zwischenform zwischen (seriöser) Geschichte und (unseriöser) Literatur“173 die „Ko-Präsenz von Fiktivem und Faktischem im fiktionalen Text […], die ein Merkmal von Literatur überhaupt ist.“174

In Verruf kam die Biographie, als sie in der Weimarer Republik zur Mode und damit zur Tendenz wurde. Ihr wichtigster Vertreter war zu dieser Zeit der Schriftsteller Emil Ludwig, der mit historisch-biographischer Belletristik über Napoleon, Bismarck, Goethe, Rembrandt, Stalin und Lincoln Weltruhm erlangte. Ab 1926 wurde Ludwig in geschichtswissenschaftlichen Kreisen massiv angegriffen, wobei sich die Kritik schließlich bis hin zu antisemitischen Vorwürfen gegen den jüdischen Autor steigerte. Ihm wurden historische Ungenauigkeit und Verzerrungen von Quellen vorgeworfen. Die Kritik der Fachhistoriker konzentrierte sich zunächst auf Ludwigs Biographien, innerhalb der breiter werdenden Debatte wurden jedoch auch Verfasser von historischen Romanen oder Biographien im Allgemeinen angegriffen.175

Hans Erich Bödeker weist in seinen Annäherungen an den aktuellen Forschungsstand zur Biographie mit Blick auf den westeuropäischen Raum darauf hin, dass die Gattung Biographie heute „in den verschiedenen historischen Disziplinen, von der Geschichte über die Literaturwissenschaften bis hin zur Wissenschaftsgeschichte“176 Verwendung findet und seit den1980er Jahren ein Comeback erlebt. Den Grund dafür sieht er darin, dass neuetheoretische und methodische Strukturen die Gattung prägten.177 Die Darstellung des Subjekts in der Biographie unterliege neuen Betrachtungsweisen. Bödeker fasst zusammen, welche Themen in der aktuellen Biographie-Forschung relevant sind:

1. Das Subjekt wird in den historischen Kontext, historische Ereignisse, Gesellschaft, Politik, Kultur und soziale Gruppen eingebettet178: „Die neue, reflektierte Biographie begreift den untersuchten Menschen zwar als ein einzigartiges, moralisch gesprochen autonomes, historisches Individuum, doch zugleich begreift sie ihn als Teil seiner historischen Lebenswelten.“179 Weiterhin steht nicht mehr nur eine berühmte historische Persönlichkeit im Interesse der Biographie, sondern es werden auch Personen beschrieben, an denen sich die zeitgenössische Geschichte und Gesellschaft widerspiegelt.180

2. Außerdem wird die Selbstinszenierung des Subjekts, also seine eigene Identitätsbildung betrachtet, wobei auch das Werk und das Wirken des Subjekts eine Rolle spielen: „Das soziologische Konzept der Persönlichkeit, von dem die neue Biographie ausgeht, begreift damit den einzelnen Menschen zugleich auch als Konstrukteur seiner eigenen Biographie.“181Bödeker empfiehlt in diesem Zusammenhang nach dem Grund und dem Zeitpunkt der Selbstinszenierung zu fragen.182 Gleichzeitig spielen Zuschreibungenaus der Gesellschaft auf das Subjekt eine ausschlaggebende Rolle in der neuen Biographie.183 Wie wird die Person von außen wahrgenommen? Gibt es Vorurteile, Unterstellungen oder (bewusste) Konstruktionen auf die Biographie des Subjektes von außen? Dazu schreibt Bödeker:„Insbesondere der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der untersuchten ‚Helden‘ wird von dem biographisch arbeitenden Historiker besondere Bedeutung zugesprochen.“184

3. Auch der Aufbau und die Darstellung einer Biographie unterliegen neuen Vorstellungen. So wird die rein chronologische Beschreibung eines Subjekts allein schon im Hinblick der zuvor beschriebenen Themen unterbrochen und erweitert. Durch die von Bödeker beschriebene „Narrativitätsdebatte“185 ergibt sich die Möglichkeit für den Biographen, die Chronologie des Lebens des Subjekts zu unterbrechen, indem er seine Biographie mit dem Tod beginnt, Vor- und Rückblenden in die Beschreibung einbaut oder „nach einer thematischen Struktur an[…]ordnet“186.

4. Zum Schluss weist Bödeker darauf hin, dass auch die Subjektivität des Biographen – seine eigene Lebensgeschichte, seine Perspektive und seine Wahrnehmung des Subjekts – bedeutsam sei: „Jede Biographie ist wie jede historische Forschung abhängig von der Perspektive des Forschers.“187 Die Biographie lasse sich sowohl als Medium der Reflexion der Geschichtlichkeit des Subjekts als auch des Biographen verstehen, stellt Bödeker fest.188Aus welcher Intention heraus beschäftigt sich ein Biograph mit seinem Gegenstand? Steht er dem Subjekt ablehnend oder anerkennend gegenüber?

Die Auseinandersetzungen zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft in Bezug auf die Biographie sind durch diese neuen Betrachtungsweisennicht beendet worden. Vielmehr sei das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur wieder neu belebt worden, wie Bödeker feststellt.189

Die Biographie-Forschung in der DDR190 hatte bereits seit den 1970er Jahren erkannt, dass ein biographiertes Subjekt nicht aus seiner Zeit und seinem sozialen Umfeld herauszulösen war, auch wenn man sich im Vergleich zur BRD von Biographien einen anderen Vorteil versprach.191 Im Mittelpunkt der Biographie-Forschung der DDR steht der Gewinn für den Leser. So seien Biographien im Vergleich zu allgemeinen Geschichts­beschreibungen für den Leser „plastischer“, „lebendiger“, „bewusstseinsbildend […]“, ließen sich besser „zu einem typischen Bild verdichten“, hätten eine „emotionale Wirkung“ auf den Leser und „regen zum persön­lichen Vergleich an“.192 Dies führt die Historikerin Annelies Laschitza zu einigen Voraussetzungen für die Biographie aus:

1. Das Subjekt in der Biographie müsse trotz Berühmtheit als eine alltägliche Person dargestellt werden, „als lebendige, inmitten von Konflikten, Widersprüchen und Kämpfen des Lebens agierende Persönlichkeit“193. Wie auch bei Bödekerrichtet sich die Biographiewürdigkeit eines Subjekts nicht nach dem Bekanntheitsgrad:

„Die historische Biographie kann das Bedürfnis nach individuellem Umgang mit der Vergangenheit stillen helfen, wenn sie Persönlichkeiten verschiedener Klassen und Schichten, Nationen und Religionen mit unterschiedlicher weltanschaulicher, politischer und kultureller Herkunftdokumentarisch belegt, geistreich komprimiert und so wahr wie möglich in ihrer Zeit darstellt.“194

2. Das Subjekt in der DDR-Biographie wird in seiner Darstellung dialektisch von zwei Seiten aus betrachtet und in sein kulturelles, ökonomisches, politisches und soziales Milieu eingebettet. Überprüft werden „persönliche wie gesellschaftliche Lebensumstände, […] Reife- und Entwicklungsprozesse, […] Widersprüche und Konflikte […]“195. Laschitza empfiehlt bei der Beschreibung des sozialen Milieus auch Quellen aus anderen Perspektiven als dem Subjekt in der Biographie heranzuziehen. Dabei könne auch die Sicht der Feinde spannend sein: „Durch Einblendungen von Auffassungen und Praktiken der Gegner können obendrein spannende Kontraste gestaltet werden.“196

3. Gefragt werden soll auch nach dem Wirken des Subjekts in der Gesellschaft,wozu der Biograph in erster Linie der Psyche des Subjekts nachkommen solle, um Schlüsse über sein Handeln und Wirken zu ziehen197:

„Besondere Aufmerksamkeit verdienen daher Herkunft, Kindheit, Familienklima, Schul-, Lehr- bzw. Studienzeit, der Freundeskreis sowie die Frage, unter welchen Einflüssen sich Charaktereigenschaften, Fähigkeiten, Neigungen, Interessen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen ausbildeten.“198

4. Des Weiteren sollen Biographen den Reifeprozess des Subjekts nachzeichnen: „wann und warum die Persönlichkeit vor wichtigen Entscheidungenstand, welchen Spielraum, welche Alternativen, welche Reibungen und welche Grenzen es gab, zu welchen Konflikten es kam, warum und wie diese gelöst wurden und zu welchen Auswirkungen das führte.“199 Gerade durch die Beschreibung von dem Umgang des Subjekts mit Rückschlägen und Schwierigkeiten werde hier das Menschliche im Gegensatz zum Heldenhaften herausgestellt und ein besserer Identifikationsrahmen für den Leser geschaffen.200

Historischer Roman

In diesem Spannungsverhältnis steht auch die Gattung des historischenRomans201. Historische Romane „verbinden Literatur mit Wissenschaft, Fiktion mit historischer Realität und Unterhaltung mit Erkenntnis“202, erklären Ina Ulrike Paul und Richard Faber die Gattung. Ansgar Nünning203 stellt dazu fest, dass es gerade die „Grenzüberschreitungen“ sind, die „zu den konstitutiven Gattungsmerkmalen des historischen Romans zählen“.204 Historische Romane verschieben die „Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, indem sie Referenzen auf reale Elemente in einen fiktiven Kontext integrieren“205, so Nünning weiter.  Dabei spielt es keine Rolle, ob genaue Zeitangaben, bestimmte historische Schauplätze, Orte oder Personen aus der Wirklichkeit entnommen werden.

„[D]ie Besonderheit des historischen Romans besteht […] darin, daß er vorrangig auf Elemente des zeitgenössischen Wissens von einer vergangenenRealität zurückgreift“206, stellt Ulrich Kittstein in seiner Abhandlung über das historische Erzählen fest. Die historischen Quellen, die ein Schriftsteller verwendet, müssen im Roman nicht gekennzeichnet werden. Quellen können im historischen Roman erweitert oder geändert, Ereignisse herausgestellt oder Personen erfunden werden.

Im Vergleich zur Historie ist „einzig der historische Roman […] imstande, den Leser unmittelbar an den Gedanken und Gefühlen“ der historischen Persönlichkeiten „teilhaben zu lassen, indem er sie etwa in Form des inneren Monologes präsentiert“207, wie Kittstein schreibt. Der Schriftsteller kann seine Figuren in direkter Rede sprechen oder in einen Dialog treten lassen. Diese Möglichkeiten hat ein Historiker nicht, da er sich auf Quellen beziehenmuss, die nur selten das gesprochene Wort beinhalten. Weitere Vorteile eines historischen Romans fasst Kittstein wie folgt zusammen:

„Der historische Roman kann einen auktorialen Erzähler einführen,die personale Perspektive einer agierenden Figur wählen, sich als Ich-Erzählung, als nüchterne Chronik oder als Sammlung fiktiver Dokumente präsentieren; je nachdem stehen dann wiederum unterschiedliche ‚Redeweisen‘ wie Erzählbericht, Dialog, erlebte Rede oder innerer Monolog zur Verfügung.“208

Möglich ist auch eine Betrachtung eines historischen Ereignisses jenseits der großen Persönlichkeiten der Geschichte. So kann beispielsweise die Novemberrevolution in Deutschland aus der Sicht einer Arbeiterin, aus der Sicht einer bestimmten politischen Gruppe oder gar eines Kindes (Klaus Kordon, Die roten Matrosen) erzählt werden. Die Schriftstellerin Gertrud Fussenegger schreibt dazu:

„Zwischen den Randfiguren der Weltgeschichte darf sich also der Schreiber historischer Romane am wohlsten fühlen. Hier ist nahezu unbegrenztes Gebiet, in dem er sich bewegen kann, hier ist die epische Phantasie herrlich ermächtigt, frei zu schalten, zu vermischen, zu verformen, zu neuen Perspektiven durchzustoßen und zu deuten.“209

Figur versus historische Person

„Die Suche nach Vorbildern für literarische Figuren hat von jeher Rezensenten, Literaturwissenschaftler und Leser fasziniert und zu nahezu detektivischen Untersuchungen angeregt.“210Im Mittelpunkt der vorliegenden Analyse steht Rosa Luxemburg als historische Persönlichkeit in der Prosa. Daher ist hier eine Begriffsabgrenzung der ‚historischen Persönlichkeit‘ und der fiktionalen ‚Figur‘ notwendig: „Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler […] sprechen nicht von ‚Figuren‘ […]. Vielmehr reden sie von historischen ‚Personen‘ und streiten darüber, was sich wissenschaftlich über solche Personen aussagen lässt“211, erklärt Johannes Süßmann.

Ansgar Nünning bezeichnet Figuren im historischen Roman ebenso wie die weiteren „etablierten literaturwissenschaftlichen Kategorien wie Zeit, Raum [und] Handlung“ als „außertextuelle Referenzen“.212 Denn es werden historische Persönlichkeiten in den Erzähltext integriert, die wirklich gelebt haben. Die Darstellung von historischen Personen in fiktionalen Texten setzt „die vorhandene Kenntnis“ des Lesers voraus, „daß sie historische, also reale Personen verkörpern“ und „sich von den erfundenen Romanfiguren unterscheiden.“213 Es ist möglich, dass der Autor bereits in der Einleitung oder im Prolog auf die Darstellung einer historischen Persönlichkeit hinweist:

„Die Tatsache, daß die Figur mit der realen Person, die sie angeblich darstellt, den Namen gemeinsam hat, reicht für die Bildung der Illusion, daß sie mit ihr identisch sei, meist schon aus. Der Name fungiert dabei als ein Zeichen, das dem Leser die Realität der Figur, und das heißt zugleich: ihre Identität mit der Person gleichen Namens bedeutet. Wenn in ihrer Erzählung eine Figur mit einem historischen Namen auftritt, wird der Leser keinen Augenblick daran zweifeln, daß die reale Person dieses Namens gemeint ist: Er ist von der Wirklichkeit der Figur spontan überzeugt.“214

Allerdings darf im historischen Roman keine genaue Nachzeichnung der historischen Person erwartet werden: „Reale Objekte, so wie sie in fiktiven Geschichten vorkommen, sind in gewisser Hinsicht grundsätzlich von den tatsächlichen Objekten der Wirklichkeit verschieden. Sie besitzen Eigenschaften, die ihre realen Entsprechungen nicht besitzen und nicht besitzen können.“215

Der Literaturhistoriker und Philosoph Georg Lukács hebt Mitte der 1950er Jahre noch einen Punkt hervor, der auch für die vorliegende Arbeit von Bedeutung ist. Er beschreibt, worauf es bei der Darstellung einer historischenPersönlichkeit ankommt: „In erster Linie darauf, dass solche individuellen Schicksale gestaltet werden, in denen die Lebensprobleme der Epocheunmittelbar und zugleich typisch zum Ausdruck gelangen.“216 Lukács geht es darum, dass bei der Darstellung historischer Persönlichkeiten nicht so sehr die Person als „Einzelschicksal“217 im Mittelpunkt steht, sondern dass sich in ihr „alle großen Probleme der Zeit berühren, mit ihnen organisch verbunden sind, aus ihnen notwendig herauswachsen.“218 Lukács präzisiert das folgendermaßen:

„Das Porträt eines bedeutenden Menschen in wirklich guter historischer Darstellung kommt dadurch heraus, daß die persönliche Eigenart, die intellektuelle Physiognomie des betreffenden Menschen, die Eigenart seiner Methode, die objektive Bedeutsamkeit dieser Methode im Zusammenhang mit den wichtigsten Zeitströmungen, die von der Vergangenheit in die Zukunft geführt haben, an deren Kreuzungspunkt er steht, deren Entwicklung er in eigenartiger Weise beeinflußt hat, in einer sehr verallgemeinernden, aber eben darum wissenschaftlich konkreten Form mit richtigen wissenschaftlichen Mitteln dargestellt werden.“219

Lukács positioniert sich gegen den Heldenkult eines Subjekts beziehungsweise einer Figur in einem Werk und stellt stattdessen die „Gegenwartsnähe, Gegenwartsbedingtheit der historischen Thematik“220 heraus, die mit der Vergangenheit in Beziehung stehen müsse. Zur Verdeutlichung zieht Lukács beispielhaft Heinrich Manns historischen Roman Henri Quatreheran: „Wenn Heinrich Mann den Kampf um die Konstituierung der französischenNation historisch darstellt, so ist er in seiner Thematik ebensoaktuell, wie es zu seiner Zeit Schiller mit seiner ‚Jungfrau von Orleans‘ gewesen ist.“221 Lukács meint also, dass gesellschaftspolitische Situationen oder Ereignisse miteinander im Verhältnis stehen sollen, damit aus dem historischen Roman Schlüsse für die Gegenwart gezogen werden können.