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Herzzerreißend, warmherzig und unvergesslich!
Als Julie in Boston ankommt, um dort zu studieren, muss sie erst einmal bei einer Studienfreundin ihrer Mutter wohnen. Doch irgendwas stimmt nicht im Hause der Watkins. Die 13-jährige Celeste tut keinen Schritt ohne die lebensgroße Pappfigur ihres Bruders Finn. Der befindet sich zwar gerade auf Weltreise, schreibt aber E-Mails, die Julies Knie butterweich werden lassen. Doch wieso zögert er seine Rückkehr immer weiter hinaus? Weshalb stört sich niemand an seinem Doppelgänger? Warum verkriecht sich Celestes Bruder Matt in seinem Zimmer und verbietet Julie, zu viele Fragen zu stellen? Julie spürt, dass sie auf einen tiefen Schmerz gestoßen ist. Aber hat sie das Recht, sich einzumischen, um Celeste und ihrer Familie zu helfen?
Band 1 der Flat-out-Reihe mit Bonus-Story FLAT-OUT MATT
»Das Buch hat mich umgehauen. Ich liebe die Charaktere mit all ihren liebenswerten Macken.« THE READING DATE
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Seitenzahl: 653
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Motto
1. Teil
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
2. Teil
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
3. Teil
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
Danksagung
Flat-Out Matt
Anmerkung der Autorin
Zusammen
#PappFinnZurRettung
Bleiben
Der Fahrstuhl
Unter dem Weihnachtsbaum
Neujahr
Das Neujahrsschwimmen
Die Pyjamaparty
Der Sprung
Mach weiter
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Jessica Park bei LYX
Impressum
Jessica Park
FLAT-OUT LOVE
MIT BONUSGESCHICHTE FLAT-OUT MATT
Roman
Ins Deutsche übertragen von Bea Reiter (Roman) und Bettina Ain (Novella)
Als Julie in Boston ankommt, um dort das College zu besuchen, muss sie erst einmal bei einer Studienfreundin ihrer Mutter wohnen, die sie noch nie gesehen hat. Doch irgendetwas stimmt nicht im Hause der Familie Watkins. Die dreizehnjährige Celeste tut keinen Schritt ohne die lebensgroße Pappfigur ihres ältesten Bruders Finn, während sich der nerdige Matt die meiste Zeit in sein Zimmer zurückzieht und sich weigert, Julies Fragen zu »Papp-Finn« zu beantworten. Der echte Finn, so erfährt sie immerhin, befindet sich gerade auf Weltreise – und als Julie ihn auf Social Media kontaktiert, antwortet er sofort und schreibt ihr Mails und Nachrichten, die ihre Knie butterweich werden lassen. Doch wieso zögert er seine Rückkehr immer weiter hinaus? Und wieso lässt auch der verschlossene Matt ihr Herz auf einmal höherschlagen? Während Julie versucht, ihre verwirrenden Gefühle zu sortieren, setzt sie zugleich alles daran, Celeste aus ihrem Schneckenhaus zu locken und herauszufinden, was in aller Welt es mit Papp-Finn auf sich hat.
Für Lori,
die sich ihre Scharniere selbst macht
Es geht nicht darum,
was du weißt oder wann es dir bewusst wird.
Es geht um den Weg dorthin.
Julie Seagle starrte das Gebäude vor sich an und schwor, nie wieder eine Wohnung über Craigslist zu mieten. Der Gurt ihrer vollgestopften Reisetasche schnitt ihr in die Schulter, weshalb sie sie auf die beiden Koffer fallen ließ, die auf dem Gehweg standen. Schließlich war es ja nicht so, dass sie ihre Sachen jetzt noch irgendwohin bringen musste. Fassungslos musterte Julie die blinkende Neonreklame, die die angeblich besten Burritos in Boston anpries. Auch ein erneuter Blick auf den Ausdruck der E-Mail konnte nichts daran ändern. Jepp, es war die richtige Adresse. Sie hatte zwar absolut nichts gegen einen guten Burrito einzuwenden, und das kleine Restaurant sah auch ganz nett aus, aber es schien ziemlich klar zu sein, dass in dem flachen Gebäude keine Dreizimmerwohnung versteckt war. Julie seufzte und holte ihr Handy aus der Handtasche.
»Hallo, Mom.«
»Julie! Bist du in Boston angekommen? In Ohio fehlst du uns jetzt schon. Ich kann einfach nicht glauben, dass du aufs College gehst. Gefällt dir die Wohnung? Hast du deine Mitbewohner schon kennengelernt?«
Julie räusperte sich. Ihr Blick ging zum Flachdach des Restaurants. »Die Wohnung ist sehr … luftig.«
»Wie ist dein Zimmer? Winzig?« Ihre Mutter klang besorgt. »Aber selbst wenn es winzig ist, ist es immer noch besser als ein Zimmer in einem dieser Betonbunker, die sie als Studentenwohnheime bezeichnen, stimmt’s?«
»Mein Zimmer? Oh … Das ist … ähm … ziemlich minimalistisch, würde ich sagen.« Julie setzte sich auf einen ihrer Koffer. Direkt hinter ihr kam mit quietschenden Bremsen ein Stadtbus zum Stehen. Das schrille Geräusch ließ sie zusammenzucken.
»Was war das denn? Geht dein Zimmer direkt auf die Straße raus? Oh Gott, du bist doch nicht etwa im Erdgeschoss? Das ist gefährlich, Julie. Ins Erdgeschoss kann man viel leichter einbrechen! Kannst du die Fenster abschließen? Ich werde deinen Onkel fragen. Vielleicht kann man dein Zimmer irgendwie sicherer machen.«
»Mom, im Moment sehe ich gar keine Fenster.« Julie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Es war ein einziger Albtraum. Sie war jetzt seit einer Stunde in Boston – genauer gesagt, in Jamaica Plain –, und ihre Pläne für ein schillerndes Studentenleben fingen schneller an, sich in Luft aufzulösen, als sie sich das je hätte vorstellen können. »Ich glaube, ich habe gar kein Zimmer.«
Ihre Mutter schwieg einen Moment. »Was soll das heißen, du hast kein Zimmer? Ich habe doch wie verlangt zwei Monatsmieten und die Kaution an den Vermieter geschickt. Per Bankscheck, Herrgott noch mal! Hat er dein Zimmer etwa an jemand anderen gegeben?« Die aufsteigende Panik in der Stimme ihrer Mutter war keine große Hilfe.
»Ich stehe vor der korrekten Adresse. Der Taxifahrer hat mir versichert, dass ich hier richtig bin. Aber mein angebliches Apartmentgebäude ist ein Burrito-Restaurant.«
»Burritos! Großer Gott!«
»Ich weiß. Burritos sind immer ein Alarmzeichen.« Julie sah sich um. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. »Mom, was mach ich denn jetzt?« Obwohl sie ihrer Mutter nicht unnötig Angst einjagen wollte, gelang es Julie nicht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie war allein in einer fremden Stadt, kannte hier keine Menschenseele und saß auf einem Berg von Gepäck.
In einer belebten Straße gestrandet zu sein hatte zumindest den Vorteil, dass sie überhaupt nicht auffiel. Inzwischen waren schon eine Menge Leute an ihr vorbeigegangen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war die erste Septemberwoche, und sie war in einer Universitätsstadt. Auf den Straßen waren zahlreiche Umzugswagen zu sehen, die sich durch den dichten Verkehr zwängten und Studenten mitsamt deren Habe vor richtigen Wohnungen, die nicht gleichzeitig ein Restaurant waren, absetzten. Julie wischte sich die Tränen ab und schob sich die Sonnenbrille vor die Augen. Sie würde alles geben, jetzt in einem dieser Umzugswagen mitzufahren, eingeklemmt zwischen einigen ihrer Freunde.
»Ich habe kein Zimmer. Und das viele Geld, das du ausgegeben hast … Es hätte billiger als im Wohnheim sein sollen. Und es hätte nicht nach Burritos riechen sollen.« Julie war gerade erst von zu Hause ausgezogen. Dass sie auf einen Betrüger hereingefallen war, viel Geld für eine Wohnung bezahlt hatte, die es gar nicht gab, und jetzt ohne ein Dach über dem Kopf in Boston auf der Straße stand, war ein herber Schock für sie.
»Julie, mach dir keine Gedanken wegen des Geldes. Es ist nicht deine Schuld. Ich habe die Anzeige auch für echt gehalten. Du bleibst erst mal, wo du bist, und ich rufe beim College an und frage, ob dir dort jemand helfen kann, okay? Das dauert nur ein paar Minuten. Alles in Ordnung mit dir?«
Julie schniefte. »Ja, mir geht’s gut.«
»Du rührst dich nicht vom Fleck. Ich rufe dich gleich zurück, und dann bringen wir das in Ordnung.«
Julie setzte ihre Kopfhörer auf und verbrachte die nächsten quälend langen zwanzig Minuten damit, düstere Musik zu hören, den dunkellila Nagellack, den sie am Abend zuvor aufgetragen hatte, abzukratzen und einen Instagram-Post mit einem Bild des Burritoladens zu erstellen.
Julie Seagle Boston, 1. Tag: Weigere mich, diese Stadt als »Beantown« zu bezeichnen, ich bin doch kein Tourist. Wohne schließlich hier, auch wenn ich genau genommen gar keine Wohnung habe.
Der Straßenbelag strahlte eine gewaltige Hitze ab, und bis jetzt konnte sie dieser schwülheißen Stadt nichts abgewinnen. Ein bisschen Selbstmitleid schien angebracht zu sein. Sie wollte doch nur ganz normal aufs College gehen und die Chance bekommen, ihr Studium zu genießen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob ihre Freunde es komisch finden würden, wenn sie wüssten, dass sie gern lernte. Es musste gar nicht die teuerste Universität des Landes oder eines der renommierten Elite-Colleges sein. Sie wollte einfach nicht mehr das Gefühl haben, sich verstellen zu müssen. Es wäre schön, endlich einmal zugeben zu können, dass sie sich für Literatur begeisterte, dass sie es toll fand, sich mit einem Lehrbuch in der Hand auf dem Sofa zusammenzurollen, und dass sie nichts lieber wollte, als sich an lebhaften Diskussionen mit anderen Studenten zu beteiligen. Und daher fand Julie es auch nicht zu viel verlangt, dass sie ein Dach über dem Kopf haben wollte, wenn sie ihr Studium begann.
Die Leute vom Whitney College würden doch sicher nicht zulassen, dass ein inzwischen schon ziemlich nervöser Neuankömmling aus Ohio ganz allein in Boston zurechtkommen musste? Natürlich konnte sie die Nacht in einem Hotel verbringen, aber eine langfristige Lösung wäre ihr eindeutig lieber. Es musste doch ein paar Studenten geben, die in letzter Minute ihre Pläne geändert und ihr Zimmer im Wohnheim zurückgegeben hatten, oder? Vielleicht.
Das Burrito-Restaurant suchte jedenfalls Bedienungen, und vielleicht war das ja ein Zeichen, dass sie ihr Spanisch aufpolieren und Interesse für die mexikanische Küche entwickeln sollte …
Julies Handy hatte noch gar nicht richtig geklingelt, als sie auch schon ranging: »Mom?«
»Dieses verdammte College war überhaupt keine Hilfe. Offenbar haben sämtliche Unis im Umkreis von fünfzig Kilometern Probleme damit, ihre Studenten unterzubringen, und Whitney weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als sie in Hotels zu stecken. Aber mir ist da etwas anderes eingefallen. Kannst du dich noch an Erin Watkins erinnern?«
»Deine Mitbewohnerin vom College? Die Topanwältin? Ich wusste gar nicht, dass ihr noch befreundet seid.«
»Na ja, genau genommen sind wir das nicht. Ich hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr, aber in meiner Ehemaligen-Zeitung habe ich gelesen, dass sie in Cambridge lebt. Da stand auch, dass sie jetzt Dozentin in Harvard ist, und es war reines Glück, dass ich sie eben in ihrem Büro erwischt habe.«
»Oh Gott, ist das unangenehm, aber weiß sie vielleicht was von einer freien Wohnung?«, fragte Julie erwartungsvoll.
»Nein. Aber sie hat darauf bestanden, dass du bei ihr wohnst, bis du etwas Passendes gefunden hast. Ihr Sohn Matthew ist losgefahren, um dich abzuholen. Ich habe ihr die Adresse gegeben. Sie hat gesagt, das sei nicht gerade die beste Gegend der Stadt und es sei gut, dass es erst vier Uhr ist und noch nicht dunkel wird. Er fährt einen blauen Volvo und dürfte jeden Moment da sein.«
»Okay. Matt. Gefährliche Stadt. Blauer Volvo. Für den Fall, dass ich in das falsche Auto steige, ermordet werde und als Leiche in einer dunklen Gasse wieder auftauche, solltest du wissen, dass ich dich sehr lieb habe. Und untersteh dich, einen Blick in die dritte Schublade meines Schreibtisches zu werfen.«
»Das ist nicht lustig. Jedenfalls studiert Matthew am MIT, du weißt schon, das berühmte Massachusetts Institute of Technology, irgendwas mit Physik. Oder war es Mathematik? Ist das zu fassen? Aber angesichts von Erins Genen sollte es mich eigentlich nicht überraschen, dass sie ein Genie zum Sohn hat.«
»Ich bin sicher, dass er ein unglaublich cooler Typ ist. Mir wird schon ganz warm und schwummerig, wenn ich das Wort ›Physik‹ nur höre.«
»Julie, ich will dich doch nicht mit ihm verkuppeln. Ich versuche lediglich, dich an einen sicheren Ort zu bringen, damit ich mir keine Sorgen um dich machen muss.«
»Schon okay, Mom. Ich finde sicher eine andere Partnervermittlung für Boston.« Julie stand auf und strich die Vorderseite ihres Oberteils glatt. Sie drehte sich zur Straße hin, erleichtert darüber, dass sie jetzt endlich so aussah, als wartete sie darauf, von jemandem abgeholt zu werden, und nicht mehr krampfhaft versuchen musste, nicht deplatziert zu wirken. »Wann hattest du eigentlich das letzte Mal Kontakt mit Erin?«
»Das ist schon Jahre her. Nach dem Studium haben wir uns nicht mehr oft getroffen. Aber Freunde, die man auf dem College findet, hat man sein Leben lang, auch wenn man mal ein paar Jahre keinen Kontakt hat. Du wirst schon sehen.«
Ein dunkles Auto wurde langsamer, hielt an und parkte direkt vor Julie in zweiter Reihe. »Mom, ich muss jetzt aufhören. Ich glaube, dieser Matt ist hier.«
»Bist du sicher, dass er es ist?«
Als das Autofenster heruntergelassen wurde, warf Julie schnell einen Blick ins Innere. »Der Typ sieht irgendwie verrückt aus. In der einen Hand hält er bunte Süßigkeiten, und mit der anderen schwenkt er eine bluttriefende Sichel. Oh! Er winkt mich zum Wagen. Das muss er sein.«
»Julie, hör auf!«, befahl ihre Mutter. »Du hast keine Ahnung, wie man sich fühlt, wenn das einzige Kind in Boston gestrandet ist. Wenn ich nur bei dir sein könnte! Vergewissere dich, dass es auch tatsächlich Matthew ist. Lass dir seinen Führerschein zeigen.«
»Mach ich. Ich melde mich, wenn ich es bis zum Haus geschafft habe. Bis dann, Mom.«
»Bis dann, Schätzchen. Dieser Schlamassel tut mir so leid. Sag Erin Danke von mir. Ich werde dann später mit euch beiden reden.«
Julie beendete das Gespräch und blickte dem jungen Mann, der um das Auto herumging und auf sie zukam, erwartungsvoll entgegen. »Matt?«
»Den Koffern nach zu urteilen, musst du Julie sein. Falls nicht, entführe ich gerade die Falsche.« Er lächelte leicht und hielt ihr die Hand hin.
Er war groß, mindestens eins achtzig, mit dunkelblonden Haaren, die ihm bis in die Augen hingen. Seine blasse Haut verriet Julie, dass er im Sommer nicht viel Sonne gesehen hatte, und nach einem Blick auf sein T-Shirt wusste sie auch, warum. Auf dem Shirt, das er in seine schlecht sitzende Jeans gesteckt hatte, stand: Nietzsche is my hero. Er gehörte mit Sicherheit nicht zu den angesagten Typen, und Julie vermutete, dass er sich den ganzen Sommer lang in irgendeiner dunklen Bibliothek vergraben hatte. Aber er war so nett gewesen, alles stehen und liegen zu lassen, um sie zu holen. Außerdem hatte Julie auch ein paar Seiten an sich, die nicht unbedingt massenkompatibel waren – allerdings war sie nicht so dumm, sie auf einem T-Shirt zu verkünden. Sie versteckte sie. So wie jeder andere mit ein bisschen sozialer Kompetenz.
»Danke, dass du mich abholst. Ich wusste wirklich nicht, was ich tun sollte. Hoffentlich mach ich dir nicht zu viele Umstände.« Sie half Matt, ihr Gepäck in den Kofferraum zu laden, und ließ sich dann auf den Beifahrersitz fallen. Die Septembersonne hatte den Wagen aufgeheizt, und Julie fächelte mit dem Saum ihres Oberteils, um etwas Luft an ihre Haut zu bekommen.
»Kein Problem. Tut mir leid, dass es hier drin so heiß ist. Die Klimaanlage funktioniert nicht, und bis jetzt hat sich niemand darum gekümmert, sie reparieren zu lassen. Aber wir müssen nicht weit fahren.« Matt drehte den Schlüssel um und wollte den Motor starten, doch der gab nur ein lautes Stottern von sich, und Julie befürchtete schon, dass sie noch länger an diesem inzwischen verhassten Ort gefangen war. »Keine Angst. Das macht er immer, wenn ich versuche, ihn kurz nach dem Ausmachen wieder anzulassen. Er will nur ein bisschen mehr Benzin … Na bitte!«
Julie warf einen Blick in den Außenspiegel. Sie sah total mitgenommen aus. Und verschwitzt. Allerdings war es nicht die Art von verschwitzt, die man als »glitzernd« bezeichnen konnte. Schnell wischte sie den braunen Eyeliner am unteren Lidrand weg, der ganz verschmiert war, und versuchte, ihren Pony zu glätten, der langsam anfing, sich zu wellen. Das schwülheiße Wetter war Gift für ihre von hellen Strähnen durchzogenen braunen Haare. Sie hatte nicht vor, eine Puderdose aus der Tasche zu holen und die Sommersprossen auf ihrer Nase abzudecken, aber es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie bei der ersten Begegnung mit der Familie Watkins einen besseren Eindruck gemacht hätte.
Plötzlich riss Matt das Lenkrad nach rechts und schaffte es gerade noch, einem zu schnell fahrenden Auto auszuweichen, das ihn geschnitten hatte. »Willkommen in Boston, das vor allem für seine aggressiven Autofahrer bekannt ist.«
»Ich liebe diese Stadt jetzt schon. Abgesehen davon, dass ich übers Ohr gehauen wurde, total pleite bin, kein Zimmer habe und das Semester schon angefangen hat, ist doch alles super gelaufen, findest du nicht auch?« Julie lächelte leicht und lehnte den Kopf an den Fensterrahmen, um frische Luft zu bekommen.
»Es könnte schlimmer sein. Du könntest im dritten Semester noch bei deinen Eltern wohnen, so wie ich. Und ich bin sicher, dass du Boston lieben wirst. Jede große Stadt hat ihre Nachteile, aber zum Studieren ist Boston toll. Wenn du dich erst einmal eingelebt hast, wird es dir hier gefallen. Du fängst am Whitney College an?«
»Ja. Das MIT ist es natürlich nicht«, erwiderte sie mit einem spöttischen Lächeln. »Grundkurs Literatur kann sicher nicht mit deinen Vorlesungen konkurrieren, wie auch immer sie heißen mögen. Vielleicht Anbetung von Differenzialgleichungen?«
Matt lachte. »Fast. Das war letztes Jahr dran. Dieses Jahr ist es Zwanghafte Beschäftigung mit der Fourier-Analysis und deren Anwendungen. Und meine Lieblingsvorlesung, Quantenphysik II: Amouröse Verstrickungen von Energie und Materie.«
Julie sah ihn an. »Du studierst zwei Hauptfächer? Physik und Mathe? Großer Gott.«
»Ich weiß. Nerd.« Er zuckte mit den Schultern.
»Nein. Ich bin beeindruckt. Ich frage mich gerade, wie deine Gehirne in deinen Kopf passen.«
»Ich wurde mit einem speziellen Kompressionsfilter geboren, mit dem ich überschüssige Informationen speichern kann, bis ich sie brauche. Es ist nur die Betaversion, daher können Fehler auftreten. Dafür kann man mich wirklich nicht verantwortlich machen.«
»Danke für die Warnung.« Julie nickte ernst. »Ich weiß noch gar nicht, in welchem Fach ich meinen Abschluss machen werde. Vielleicht Psychologie? Oder Englisch? Ich schwanke. Sind wir eigentlich noch in Jamaica Plain?«
»Nein. Jetzt sind wir in Cambridge. Und das da«, erklärte er, als sie abbogen und über eine Brücke fuhren, »ist der Charles River. Wir sind auf dem Memorial Drive, und Harvard Square ist gleich da vorn. Wenn du möchtest, fahren wir hin.« Julie nickte begeistert.
»Direkt an dem Platz ist eine Station der T, so wird die U-Bahn hier genannt, und bis zum Haus meiner Eltern sind es nur ein paar Minuten zu Fuß.«
Zum ersten Mal, seit ihr Flugzeug gelandet war, freute sich Julie darüber, hier zu sein. Der Fluss war herrlich und voll von Leuten, die Kanu oder Kajak fuhren. Ihre Schwimmwesten waren leuchtende Farbpunkte auf dem Wasser. Sie fuhren an Torbögen und schmiedeeisernen Pforten vorbei, an überfüllten Gehsteigen, gepflasterten Gässchen und einer bunten Mischung aus Geschäften und Restaurants. Julie gefiel, wie lebendig es hier war.
»Wie weit ist es bis zu meinem College? Vielleicht finde ich ja hier eine Wohnung.«
»Wenn du die T nimmst, ist es nicht weit. Whitney ist in der Back Bay, das ist nicht in Cambridge, sondern drüben in Boston. Du müsstest dann am Hynes Convention Center aussteigen. Dein College liegt ganz in der Nähe des Berklee College of Music.«
»Toll. Wenn ich das Bedürfnis verspüre, ein bisschen Lady Gaga zu schmettern, finde ich dort bestimmt ein paar Background-Sängerinnen.« Julie runzelte die Stirn, als sie Matts verständnislosen Blick bemerkte. »Lady Gaga? Die mit den durchgeknallten Kopfbedeckungen? Und den überdimensionierten Schulterpolstern? Hat die Musikwelt vor einigen Jahren im Sturm erobert? Hautenge Kostüme, Federn, Leder, Schnallen? Noch immer nichts?«
»Ich kann dir nicht ganz folgen«, erwiderte er. »Jedenfalls sind wir jetzt da.« Matt lenkte den Wagen in die Einfahrt eines großen, blaugrau gestrichenen Hauses mit schwarzen Holzläden und weiß abgesetzten Fenstern und Türen. Die ruhige Seitenstraße war mit Bäumen und prächtigen Gärten gesäumt, und jedes der erhabenen alten Häuser stand hinter einem weißen Holzzaun oder einer immergrünen Hecke. Es war schwer zu glauben, dass eine Hauptstraße und der verkehrsreiche Harvard Square gleich um die Ecke lagen. Man musste kein MIT-Student sein, um sofort zu wissen, dass das hier ein sehr wohlhabendes Viertel war.
»Meine Mutter dürfte inzwischen zu Hause sein. Sie wollte hier sein, wenn du kommst. Mein Vater und Celeste sind vermutlich noch unterwegs. Er hatte einen Termin in ihrer Schule.«
»Deine Schwester?«, riet Julie.
Matt stieg aus. »Genau. Sie ist gerade dreizehn geworden. Ich hoffe, du magst geliefertes Essen. In meiner Familie hat seit Jahren niemand mehr eine richtige Mahlzeit gekocht.«
»Solange es keine Burritos sind, ist mir alles recht.«
Matt öffnete den Kofferraum, zögerte dann aber. »Julie? Ich sollte dir vermutlich sagen, dass …« Er zögerte.
»Ja?« Sie sah Matt an. »Was ist? Stimmt was nicht? Oh nein, wie peinlich. Es gibt Burritos, stimmt’s?«
Er schüttelte den Kopf. »Oh. Ich hab’s gewusst. Deine Eltern sind sauer, weil ich ihnen quasi aufgedrängt wurde. Niemand will eine Fremde im Haus haben.«
»Nein, nein. Überhaupt nicht. Es geht nur darum, dass Celeste …« Er schien zu überlegen, wie er es ihr sagen sollte. »Na ja, sie ist ein interessantes Mädchen.«
»Interessant gefällt mir«, meinte Julie, während sie eines ihrer Gepäckstücke aus dem Kofferraum zerrte. »Interessant gefällt mir sogar sehr.«
Julie fragte sich, ob sie statt in einem Privathaus nicht vielleicht doch in einer Bibliothek gelandet war. An sämtlichen Wänden der großen Diele standen weiße Regale, die mit Büchern vollgestopft waren. Und es waren keine billigen Krimi- und Thrillerausgaben. In diesem Haus war kein Platz für leichte Lektüre. Rechts davon schloss sich ein kleiner, sonnendurchfluteter Raum an, in dem ein Flügel den meisten Platz einnahm. Sie folgte Matt nach links ins Wohnzimmer, dessen Einrichtung ihr auf Anhieb gefiel. An den Wänden hingen afrikanische Masken und Gemälde, und auf den zwei Beistelltischen, die eine gemütlich aussehende Couchgarnitur in Beige einrahmten, bemerkte sie einen Globus und einen dicken Weltatlas.
Julie fiel der starke Kontrast zwischen diesem Haus und dem ihrer Mutter auf. Ihre Mom hatte eine Schwäche für Schottenkaros, gelbe Wände und Trödel vom Flohmarkt, und das Haus war immer aufgeräumt und frisch geputzt. Das alles gefiel Julie. Ihr Zuhause war einfach, aber gemütlich. Doch als sie sich jetzt umsah, musste sie zugeben, dass diese wilde Mischung aus ungewöhnlichen Statuen, bunten Kissen in schrillen Mustern und Gelehrtenstube einen ungeheuren Reiz besaß.
»Matt? Bist du das? Hast du sie gefunden?« Aus einem anderen Raum drang eine Stimme zu ihnen, gefolgt vom Geräusch schneller Schritte. Als Julie den Kopf hob, sah sie das erleichterte Gesicht einer Frau, die ins Wohnzimmer kam. »Julie Seagle! Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich bin Erin Watkins. Willkommen. Gott sei Dank hat deine Mutter mich erreichen können.« Sie ging auf Julie zu und schüttelte ihr die Hand.
»Vielen Dank, dass Sie mir aus der Klemme helfen. Es ist wirklich nett von Ihnen, dass ich hier übernachten kann. Ich werde gleich morgen früh auf Wohnungssuche gehen.«
Erin war fast so groß wie Matt. Als Julie sie begrüßte, spürte sie die Knochen in Erins kalter Hand. Großer Gott, war die Frau dünn. Nicht ungesund dünn, aber ungemein schmal.
Erin hob abwehrend die Hand und strich sich eine Haarsträhne, die ihrem strammen Knoten entwischt war, aus dem Gesicht.
»Für Kate tu ich alles, daher ist es überhaupt kein Problem, dass du hier wohnst, bis du etwas Passendes gefunden hast. Da wir gerade von deiner Mutter sprechen – du solltest ihr sagen, dass alles in Ordnung ist. Ich geh mit dir nach oben und zeig dir dein Zimmer, dann kannst du sie anrufen.«
»Das mach ich schon.« Matt strebte entschlossen auf Julies Gepäck zu.
»Unsinn. Ich weiß, dass du noch für die Uni zu tun hast. Ich ruf dich, wenn dein Vater und Celeste mit dem Abendessen hier sind. Julie, komm mit.« Erin ging durchs Wohnzimmer und nahm einen von Julies Koffern. »Ich hoffe, dass es dir bei uns gefallen wird. Ich weiß, dass du heute in deine eigene Wohnung ziehen wolltest, aber hier ist es immer noch besser als in einem Hotel.«
»Mom, ich muss dringend mit dir reden.«
»Jaja. Matt, jetzt entspann dich mal«, erwiderte Erin.
Julie packte ihre restlichen Sachen und folgte Erin, während Matt wie angewurzelt stehen blieb. »Noch mal danke fürs Abholen«, rief sie ihm über die Schulter zu.
Matt nickte und wippte auf den Fußsohlen hin und her, die Hände in den Hosentaschen. »Gern geschehen.«
Er schien ziemlich nett zu sein, und man konnte sich gut mit ihm unterhalten. Zwar sah er nicht supertoll aus, aber er war mit Sicherheit intelligent und hatte Humor. Vermutlich war er ein bisschen merkwürdig, aber mit merkwürdig konnte Julie umgehen. Sie mochte Herausforderungen, und außerdem war sie froh, dass er so anders war als ihre langweiligen Mitschüler in Ohio.
Sie gingen die luftige Treppe hoch in den ersten Stock. Von der großzügigen Galerie zweigten vier Türen ab, die vermutlich zu den Schlafzimmern führten, und ein kurzer Flur ging zur Seite weg. Auch hier wieder weiße Wände und teuer aussehende Kunstwerke.
»Dein Zimmer ist gleich hier«, sagte Erin, während sie die Tür mit der Schulter aufstieß.
Das Schlafzimmer mit der dunklen Bettwäsche, den Holzregalen, Büchern, Bildern, der Stereoanlage und den DVDs wirkte eindeutig maskulin. Gegenüber dem Bett hing ein kleiner Flachbildfernseher an der Wand, und auf dem Schreibtisch war gerade so viel Platz frei, dass ein Laptop hinpasste.
»Mach’s dir bequem. Das Bad ist am anderen Ende des Flurs. Ich lege dir gleich ein paar frische Handtücher hin und … Oh, das ist sicher Roger.«
Erin lauschte auf das Klingeln eines Telefons, das aus einem anderen Zimmer zu ihnen drang. »Magst du thailändisches Essen?«
»Oh ja. Vielen Dank.«
»Lass dir ruhig Zeit. Und falls du auspacken willst – die Schubladen in der Kommode sind leer«, meinte Erin, während sie rückwärts aus dem Zimmer ging, um den Anruf entgegenzunehmen.
Julie setzte sich auf das Bett und sah sich im Zimmer um. Ja, es gehörte eindeutig einem Jungen. Nicht, dass sie etwas dagegen hatte, schließlich mochte sie Jungs. Aber am liebsten wäre sie sofort zum nächsten Einrichtungsgeschäft gefahren und hätte mit einem Teil des Geldes, das sie bei ihrem Ferienjob verdient hatte, ein paar Mädchensachen gekauft. Zum Glück hatte sie den Aufsatzwettbewerb gewonnen, den der Schulbezirk veranstaltet hatte, sonst hätte sie ihre ganzen Ersparnisse für einen Computer ausgeben müssen. Es hatte Wochen gedauert, den Text über den Umgang der amerikanischen Regierung mit Naturkatastrophen zu schreiben, aber dafür hatte sie auch ein nagelneues MacBook bekommen. Es war gut, dass ihre Freunde sich vor allem für Sport, Partys oder Bandwettbewerbe interessierten, sonst wäre sie von ihnen gnadenlos aufgezogen worden, weil so etwas ja dermaßen uncool war.
Genau genommen war es so, dass ihre Freunde sie nicht wirklich verstanden. Ihre Mutter verstand sie auch nicht, obwohl sie natürlich stolz auf Julies gute Noten war. Trotzdem hatte ihre Mutter geheim gehalten, dass Julie nachmittags freiwillig in eine Literatur-AG gegangen war. Ihre Freunde hätten sich vor Lachen den Bauch gehalten. Julie hatte kein Problem damit gehabt, ein paar Stunden ihrer Freizeit zu opfern, um sich anzuhören, was ihr Lehrer über Graham Greene zu sagen hatte, aber sie war nicht bereit gewesen, ihren weniger lernbegierigen Freunden zu erklären, warum sie es getan hatte. Schule war für die anderen einfach nicht so wichtig wie für sie, und die Hälfte der Zeit schienen sie gar nicht zu verstehen, worüber Julie eigentlich redete. Jared, ihr Exfreund, hätte angesichts der Vorstellung, dass jemand freiwillig Zeit fürs Lernen opferte, die Augen verdreht.
Als sie an Jared dachte, fragte sich Julie, was ihr Ex wohl gerade machte. Vermutlich trug er eine Toga und wurde an der mittelmäßigen Uni, an der er studierte, von zwei Freunden mit dem Kopf nach unten über ein Bierfass gehalten. Sie hoffte, dass er in der Menge aus geistigen Tieffliegern unterging und von jeder vollbusigen, spaghettiträgertragenden, sonnenstudiogebräunten Tussi, die er anbaggerte, einen Korb bekam. Arizona konnte ihn ruhig haben. Trotzdem wollte Julie unbedingt wissen, ob er ihren Instagram-Post kommentiert hatte.
Sie stellte ihren Laptop auf den Schreibtisch und schaltete ihn ein. Natürlich hätte sie auch alles auf dem Smartphone erledigen können, aber sie war einfach kein Fan der Minitastatur. Julie legte Wert auf Großbuchstaben und ein Minimum an Zeichensetzung, und die Fehlerquote auf dem kleinen Gerät war einfach zu groß. Wo immer möglich, musste es eine richtige Tastatur sein.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ja ein Passwort brauchte, um sich ins Netz der Watkins einzuloggen. Na, großartig. Erst platzte sie in ihr Familienleben rein, und dann musste sie auch noch danach fragen. Aber Internetzugang kam vor Stolz. Julie erwischte Erin, als diese gerade ihr Telefongespräch beendete.
»Mrs Watkins? Es tut mir leid, dass ich Sie störe, aber könnte ich vielleicht das WLAN-Passwort haben, damit ich online gehen kann?«
»Sag Erin zu mir. Und du. Bitte. Natürlich kannst du das Passwort haben. Ich muss nur Matthew fragen. Er hat einen völlig sinnlosen Zufallscode generiert, damit keiner der Nachbarn auf unser Netz zugreifen kann. Er ist unser privater Sicherheitsexperte. Warte eine Sekunde.« Erin verschwand für einen Moment und kam dann mit einem Zettel in der Hand zurück.
»Danke.« Julie nahm den Zettel und starrte auf das fünfzehnstellige Passwort. War hier jemand paranoid? Das konnte sich doch niemand merken. Bis auf Matt, wie es schien.
»Ich sag dir Bescheid, wenn wir essen.« Erin machte die Tür hinter sich zu.
Julie ging auf Instagram. Sie hatte schon acht Kommentare unter ihrem Post, von besorgten Freunden, denen sie im Grunde genommen völlig egal war (»Was ist passiert???«, »Was machst du denn jetzt?«, »OMG! Ruf mich an!«), aber nichts von Jared.
Jared hatte kalte Füße bekommen und verkündet, dass sie nicht einmal versuchen sollten, eine Fernbeziehung zu führen, und er deshalb schon mal prophylaktisch mit ihr Schluss mache. Was aber eigentlich auch egal war. Er war nicht der Richtige für sie, und Julie hätte ihm schon vor Monaten den Laufpass geben sollen. Sie war selbst schuld, dass sie diese ausgelutschte Beziehung nicht früher beendet hatte. Vielleicht hätte sie keinen besorgten Kommentar von ihrem Ex erwarten sollen, aber eine freundliche Nachfrage hätte ja wohl nicht geschadet. Sie hätte sich gefreut, wenn sie wenigstens zivilisiert miteinander hätten umgehen können, aber möglicherweise war Julie auch zu sauer auf sich selbst, als dass sie das zugelassen hätte – selbst wenn Jared es versucht hätte.
Jetzt war sie nicht mehr in der kleinen Stadt in Ohio, nicht mehr in dieser unterdurchschnittlichen Highschool und nicht mehr in einem sozialen Umfeld, in dem Mädchen ihre Freunde beim Sport frenetisch anfeuerten.
In Boston konnte alles anders sein. Es würde anders sein. Sie konnte sein, wer sie war, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihr Vokabular auf das geistige Niveau der anderen herunterschraubte oder ihr Interesse für die Schule versteckte.
Julie warf noch einen letzten Blick auf Jareds Profil und seine neuen Ringerkumpane und wünschte ihm im Stillen alles Gute (oder zumindest nichts Schlechtes). Dann entfolgte sie ihm. Was sollte sie als Nächstes posten? Sie machte ein Foto von der Zimmertür.
Julie Seagle Habe die Straßen von Boston ohne bleibende Schäden überlebt (bis auf mein angekratztes Ego, weil ich so blöd war, unbesehen ein Zimmer über eine Schwindel-Website zu mieten) und befinde mich zurzeit in einem sicheren Hafen.
Julie lehnte sich zurück. Sie zögerte einen Moment, rief dann aber das Gmail-Konto auf, das sie eingerichtet hatte. Ihr Vater war der Einzige, der diese E-Mail-Adresse kannte. Der Posteingang war leer. Er würde schreiben, wenn er Zeit hatte. Sie klappte den Laptop zu.
Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus, blies sich den Pony aus den Augen und nahm das gerahmte Foto auf dem Schreibtisch in die Hand. Jemand in dicker Winterkleidung stand mit einem Snowboard in der Hand auf einem verschneiten Berghang. Er sah nicht aus wie Matt, obwohl das auf dem unscharfen Foto schlecht zu erkennen war.
Julie packte noch ein paar Sachen aus, faltete ihre Kleidung ordentlich zusammen und legte sie in die Schubladen der Kommode. Ein paar ihrer Kleider hängte sie auf die Bügel im Schrank. Sie hasste es, den Rest in den Koffern zu lassen, wo alles verknittern würde, aber es schien irgendwie nicht richtig zu sein, alles auszupacken, so als hätte sie vor, länger hierzubleiben.
Nach dem Essen würde sie online gehen und anfangen, nach einem Zimmer oder einer Wohnung zu suchen. Ihr Orientierungskurs für Erstsemester begann am Donnerstag, daher hatte sie den ganzen nächsten Tag Zeit, etwas zu finden. Sie wollte das möglichst schnell erledigen, und in einer so großen Stadt musste es doch einfach etwas Passendes für sie geben.
Nach einem Blick in den Spiegel wühlte sie kurz in ihrem Gepäck, bis sie ihr Make-up-Täschchen und das Glätteisen gefunden hatte. Ein paar Minuten später sah sie wieder halbwegs menschlich aus. Vielleicht nicht nach Cheerleader-Maßstäben, aber sie würde das Abendessen überstehen, ohne jemanden zu erschrecken. Und bevor sie ins Bett ging, würde sie eine lange, heiße Dusche nehmen.
»Julie? Brauchst du noch was?« Matt klopfte in dem Moment, in dem sie die Tür öffnete.
»Ich dachte, du solltest lernen«, zog sie ihn auf. »Danke, ich hab alles. Wessen Zimmer ist das eigentlich?«
»Finns.« Mit leerem Blick starrte er über ihre Schulter in das Zimmer. »Er ist nicht da. Er ist verreist.«
»Finn ist dein Bruder?«
»Genau. Er ist mein Bruder.«
Julie lächelte. Du meine Güte, Matt war … merkwürdig. »Älter oder jünger?«, half sie ihm.
»Älter. Zwei Jahre.«
»Und damit wäre er …?«
Er ließ den Kopf hängen, sodass ihm die Haare in die Augen fielen, und lachte leise. »Dreiundzwanzig.«
»Dann bist du jetzt einundzwanzig. Und erst im dritten Semester? Wann hast du Geburtstag? Hast du nach der Highschool ein Jahr Pause gemacht?«
»Hab ich. Irgendwie scheinst du dich für Mathe zu interessieren. Diese offenkundige Begeisterung für Zahlen könnte bedeuten, dass du ein neues Hauptfach gefunden hast.«
Julie verschränkte die Arme vor der Brust. »Unwahrscheinlich. Im Gegensatz zu dir habe ich keinen dieser hypermodernen Kompressionsfilter.«
»Ich könnte beim Entwickler ein gutes Wort für dich einlegen. Vielleicht setzt er dich ja auf die Liste für das Nachfolgemodell.«
»Lieber nicht, aber danke für das Angebot.«
»Du hast recht. Meine Betaversion ist auch nicht das Gelbe vom Ei.«
Julie lächelte. »Echt jetzt? Ich finde sie ganz in Ordnung.«
»Das Essen kommt in ein paar Minuten. Du hast sicher schon einen Bärenhunger.« Erin griff in einen Küchenschrank und holte einen Stapel Teller heraus. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt eine Leinenbluse zu einer schwarzen Jeans. Die langen Haare hatte sie wieder fest im Nacken zusammengesteckt.
Die Klimaanlage im Haus linderte die schwüle Hitze, mit der Julie schon den ganzen Tag gekämpft hatte, und ihr kam der Gedanke, dass sie es genießen sollte, solange sie konnte. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie eine Wohnung mit Klimaanlage finden würde. Julie nahm Erin die Teller ab. »Das mach ich.«
»Danke. Matthew hat die Platzdeckchen und das Besteck.« Sie wies mit dem Kopf in Richtung Esszimmer. »Oh, Julie? Hast du deine Mutter erreicht?«
»Ja. Und sie hat mich gebeten, noch einmal Danke von ihr zu sagen.«
»Das braucht sie doch nicht. Zum Glück hat sie den Rest deiner Sachen noch nicht hergeschickt, sonst würde jetzt alles an der Straße stehen. Ich habe ihr gesagt, dass sie alles zu uns senden soll, dann kann Matthew dir beim Umziehen helfen, wenn du eine Wohnung gefunden hast.«
Als Julie ins Esszimmer kam, legte Matt gerade die letzte Gabel auf den Tisch. Sie stellte die Teller hin und runzelte die Stirn, während sie nachzählte. »Wir sind doch zu fünft, oder nicht? Du, ich, Erin, dein Dad und Celeste? Das ist ein Gedeck zu viel.« Julie wollte einen Teller wegnehmen.
»Nein. Lass … ähm …« Matt räusperte sich. »Lass ihn einfach stehen. Ich sollte dir wohl besser sagen«, fing er an, während er an den Servietten herumfingerte, »dass Celeste so eine Art Marotte hat. Sie … Man nennt das, glaube ich …«
Julie wartete, während er noch einmal ansetzte, aber wieder ins Stocken geriet. So ging das noch ein paarmal, bis sie sich schließlich zu ihm beugte und flüsterte: »Ich muss noch mehr richtige Wörter hören, um dich zu verstehen.«
»Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.« Er seufzte. »Celeste …« Die Haustür wurde geöffnet und Matt murmelte etwas.
Julie sah ihn fragend an. »Wie bitte?«
Er schüttelte den Kopf. »Versuch einfach, dir nichts anmerken zu lassen.«
Das Essen war gut. Die Thai-Restaurants in Cambridge kochten eindeutig besser als das einzige Thai-Restaurant in ihrer Heimatstadt, in dem großzügige Portionen von ausgesprochen unappetitlichen Gerichten serviert wurden. Und die Gespräche während des Essens waren sehr unterhaltsam, allerdings abwechselnd überwältigend oder komplett unverständlich.
Erin hatte pausenlos geredet, unter anderem über Politik in Massachusetts (»ein verworrenes Netz aus Korruption, Konfusion und Konfrontation«), die Hierarchie von Harvard-Professoren und die Chancen auf eine Festanstellung an der Universität (»Das kommt alles von einer ganz miserablen sozialen Infrastruktur!«) und die Geschichte von Bostons öffentlichem Verkehrssystem (»eine gemeingefährliche Mischung aus schlechter Planung und veralteter Technik«). Gerade als Julie schon zu befürchten begann, dass Erin die Luft ausgehen und sie mit dem Gesicht nach unten in ihrer Mahlzeit landen würde, gelang es ihr, Erins Mann Roger zu fragen, was er beruflich mache. Das veranlasste den eher ruhigen Familienvater dazu, eine wahre Flut von Informationen von sich zu geben.
»Ich interessiere mich besonders für die Nährstoffdynamik und interdisziplinäre Erforschung von Küstenbiotopen.« Und schon war Roger mitten in einer komplizierten Erklärung seiner letzten Forschungsarbeit. Er war Wissenschaftler am Labor für Mikrobielle Ozeanografie und hatte gerade ein Stipendium für eine Reise durch Südostasien bekommen. »Aber bei meinem Aufenthalt werde ich mich vor allem auf die Abwehrmechanismen und Immunmodulation von Garnelen zur Verbesserung der Nachhaltigkeit und der Reduzierung des Einsatzes von Antibiotika in Garnelenkulturen konzentrieren.«
Julie stocherte in ihrem Curry herum. »Garnelenkulturen. Sehr interessant.« Genau genommen hatte sie keine Ahnung, worüber Roger eigentlich redete, aber seine Begeisterung gefiel ihr. Mit seinem Button-down-Hemd, der khakifarbenen Hose, Mokassins ohne Socken, den schütter werdenden grauen Haaren, sanften blauen Augen und seinen charmanten Lachfältchen sah er wie der Prototyp eines Vaters aus.
Roger rückte seine Brille gerade und beugte sich mit seinem schlanken Körper über den Tisch, während er mit einem Stück Saté-Hühnchen auf seiner Gabel gestikulierte. Trotz seiner weit ausholenden Handbewegungen war seine Stimme leise und ruhig.
»Die Methoden zur Bestimmung der Abwehrmechanismen von Garnelen müssen unbedingt verbessert werden. Phagozytäre Aktivität, Phenoloxidase-Aktivität und natürlich Bakterien-Clearance. Bei meiner Reise wird es viel zu entdecken geben.« Er rieb mit der Serviette auf seinem zerknitterten Hemd herum, auf das Erdnusssoße getropft war. »Das erinnert mich daran, dass ich nachher wieder ins Büro muss. Der für das Stipendium zuständige Ausschuss möchte noch ein paar Unterlagen haben.«
Erin griff nach der Pappschachtel mit den Ingwernudeln. »Ich muss heute Abend auch noch mal ins Büro. Ich habe jede Menge zu arbeiten, außerdem muss ich den Lehrstoff für die Seminare festlegen, die ich in diesem Semester unterrichten werde. Tut mir leid, Julie. Und, Matt, auch für dich beginnt nächste Woche das Semester, daher solltest du langsam mal anfangen, Material für dein Studienprojekt zu sammeln. Ich bin sicher, dass du etwas Anspruchsvolleres finden könntest als die Artikel, die du kürzlich gelesen hast.« Sie sah ihn missbilligend an.
Matt, der beim Essen die meiste Zeit geschwiegen hatte, verzog nicht einmal das Gesicht. »Ja klar. Gern.« Doch in seiner Stimme lag ein scharfer Unterton, der das Gespräch für einen Moment verstummen ließ.
Erin legte ihre Gabel aus der Hand. »Matthew, jetzt sei doch nicht gleich beleidigt. Einer der Artikel, um die du so viel Aufhebens gemacht hast, ist in einer völlig unbekannten Zeitschrift erschienen und war es wirklich nicht wert, dass du ihn gelesen hast.«
»Vielleicht kann Julie ihm ja helfen?«, schlug Celeste vor.
Julie lächelte Celeste an, die ihr gegenübersaß. Die Dreizehnjährige war unglaublich hübsch, und Julie fand sie allein schon wegen ihres Äußeren faszinierend. Sie sah aus wie eines jener bedauernswerten Kinder, die so gerne gezwungen wurden, sich Flügel umzuschnallen und für Engel-Kalender vor der Kamera zu posieren. Mit den langen blonden Haaren, die ihr in zerzausten Locken bis zur Taille fielen, und den durchdringenden blauen Augen wirkte Celeste eindeutig … na ja, wie ein himmlisches Wesen, auch wenn das merkwürdig klang.
»Celeste, ich bin mir sicher, dass Julie null Interesse daran hat, mit mir zusammen in den Onlinedatenbanken des amerikanischen Physikerverbands zu wühlen«, erwiderte Matt. »Wenn sie da einen Blick reinwirft, denkt sie wahrscheinlich, ich will sie verarschen.«
»Oh!« Celeste schlug die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Lachen. »Matt hat ein böses Wort gesagt!«
»Ich sagte ›verarschen‹, nicht ›Arsch‹.«
»Das war jetzt aber eindeutig ein böses Wort«, kreischte Celeste.
Erin stieß einen lauten Seufzer aus. »Matthew, ist das wirklich notwendig?«
»Das ist doch nur ein wenig Konversation beim Essen, Mom. Nichts, worüber man sich aufregen müsste. Außerdem bist du doch diejenige, die gern mit Begriffen wie ›Penitenz‹, ›rektifizieren‹ und ›Annalen der Rechtsgeschichte‹ um sich wirft.«
»Matthew! Das reicht!«, rief Erin, um sich trotz Celestes lauten Kicherns Gehör zu verschaffen. Sie runzelte missbilligend die Stirn, doch Julie meinte, den Anflug eines Lächelns in ihrem Gesicht zu sehen. »Celeste, beherrsch dich bitte.«
Julie musste sich auf die Lippen beißen, um nicht ebenfalls laut loszulachen. »Ich vermute, dass ich für Matt eher ein Klotz am Bein als eine Hilfe sein würde. Wenn ich mein erstes Semester hinter mir habe, ist das vielleicht anders.«
Celeste, die sich inzwischen wieder beruhigt hatte, musterte Julies Gesicht. »Du siehst zu intelligent für Whitney aus.«
»Herrje, Celeste!«, fuhr Erin sie an. »Julie, ich muss mich für sie entschuldigen. Ich weiß nicht, was heute los ist.«
Julie lachte. »Schon okay. Ich nehme das als Kompliment. Mir ist klar, dass Whitney nicht gerade das renommierteste College ist.«
»Aber warum hast du dir ausgerechnet Whitney ausgesucht?«, fragte Roger. »Du bist ziemlich weit von zu Hause weg. Bietet das College einen Studiengang an, der dich besonders interessiert?«
Julie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ihr war klar, dass ein Studium am Whitney College die Harvard/MIT/Labor-für-Mikrobielle-Ozeanografie-Fraktion am Tisch kaum beeindrucken würde. »Ich glaube, ich wollte einfach mal etwas Neues ausprobieren. In eine Großstadt ziehen. Und um ehrlich zu sein, einige der anderen Colleges, für die ich mich beworben habe, haben mich nicht genommen«, gab Julie zu. »Meine Noten und die Testergebnisse waren zwar gut, aber bei den Zulassungsstellen der Colleges hat meine Highschool vermutlich keinen besonders guten Ruf. Bei ein paar von den bekannteren Colleges hätte ich zwar einen Studienplatz bekommen, aber nicht das Stipendium, das ich dafür gebraucht hätte. Wenn ich mit meinem Studium fertig bin, muss ich sowieso schon ein Riesendarlehen zurückzahlen.«
»Whitney hat einen guten Ruf«, versicherte ihr Erin. »Der Zulassungsprozess für die Colleges ist so gut wie gar nicht zu durchschauen. Und wenn du am Whitney gute Noten hast, kannst du immer noch an ein anderes College wechseln.«
»Hast du dir schon deine Vorlesungen und Seminare ausgesucht? Ich könnte dir helfen«, bot Celeste an. »Als Finn am Brandeis College war, habe ich das gesamte Onlinevorlesungsverzeichnis gelesen. Er hatte Kreatives Schreiben als Hauptfach und Journalismus als Nebenfach.«
Julie lächelte. »Ich muss mich am Freitag einschreiben und würde mich freuen, wenn du mir hilfst.«
Celeste war zierlich und kam mehr nach ihrem Vater als nach Matt. Sie hatte noch Babyspeck im Gesicht und irgendwie etwas Unreifes an sich, obwohl sie offenbar sehr intelligent und fast schon zu redegewandt war. Ihr hellgrünes Schürzenkleid hätte allerdings besser zu einer Zweitklässlerin als zu einem Teenager gepasst. Julie wäre mit so etwas nicht mal nachts auf die Straße gegangen, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie das Teil bei Celestes Mitschülerinnen ankam.
Doch das Auffälligste an Celeste befand sich auf dem Stuhl neben ihr.
»Oh, Julie, ich habe dich ja noch gar nicht richtig vorgestellt«, plapperte Celeste fröhlich. Dann drehte sie sich zur Seite. »Papp-Finn, das ist Julie. Julie, das ist Papp-Finn.«
Erin goss sich noch etwas Mineralwasser ein, Roger war geistig abwesend und träumte wohl von Salzwasser, aber Julie war sicher, dass Matt den Atem anhielt. Ihr Blick ging wieder zu dem Stuhl neben Celeste.
Eigentlich hatte sie ja gehofft, das Essen zu überstehen, ohne dieses Thema ansprechen zu müssen.
Bisher hatte sich noch niemand dazu geäußert, aber Julie war sicher, dass Matt ihr genau das hatte sagen wollen. An dem Stuhl lehnte eine lebensgroße Pappfigur von Matts und Celestes Bruder Finn, den Blick starr auf die Deckenlampe gerichtet.
Das Lustige daran war, dass Papp-Finn trotz seines starren Blicks richtig süß war. Genau genommen war er sogar ausgesprochen sexy, was Julie für einen geschmacklosen Gedanken hielt, weil er eine Menge mit einer Gummipuppe gemein hatte, aus der jemand die Luft herausgelassen hatte. Den echten Finn hatte Julie auf dem Snowboard-Foto nicht so richtig erkennen können, aber in dieser Version hatte er dekorativ zerzauste blonde Haare, eine gesunde Gesichtsfarbe und einen schlanken, aber muskulösen Körper.
Finn war einfach hinreißend. Sogar, wenn er platt wie ein Pfannkuchen war.
Julie sah zur anderen Seite des Tisches und versuchte, nicht zu lange zu zögern. »Schön, dich kennenzulernen, Papp-Finn. Ich dachte, du wärst verreist.«
Celeste rümpfte die Nase. »Finn ist der, der verreist ist. Zurzeit arbeitet er ehrenamtlich in einem Wildreservat für gerettete Tiere. Das hier ist Papp-Finn. Er ist eine symbolische Darstellung meines Bruders.«
Okay, das war eindeutig nicht normal. Es war sogar ausgesprochen merkwürdig. Aber Julie war Gast hier, und sie nahm sich vor, Papp-Finn genauso höflich zu behandeln wie den Rest der Familie. »Wenn das so ist, Papp-Finn – möchtest du etwas von der Ente mit Basilikum und Zitronengras?«
Celeste schüttelte schnell den Kopf. »Er hat schon gegessen. Er versucht gerade, nach fünf Uhr nichts mehr zu sich zu nehmen, weil er davon ausgeht, dass er damit seinen Stoffwechsel anregt und besser in Form kommt. Sagt er. Er interessiert sich sehr für Frauen und glaubt, dass er ohne seine kleinen Speckröllchen mehr Erfolg bei ihnen hat.« Sie verdrehte die Augen und flüsterte: »Ich weiß, dass das seltsam klingt. Schließlich sieht er jetzt schon gut aus, so wie er ist.«
»Ich bewundere seine Disziplin«, sagte Julie. »Mal sehen, ob ich auf Eiscreme um Mitternacht verzichten kann.«
»Er bezweifelt das. Aber ich denke, dass er nur neidisch ist, weil du von Natur aus so schlank bist.«
»Wenn Papp-Finn das, was er Speckröllchen nennt, los ist, lade ich ihn zur Belohnung auf ein Eis ein. Aber nur eins.«
»Abgemacht. Und Mom sollte ihm besser keine Oreo-Kekse zustecken. Die isst er nämlich am liebsten.«
»Versprochen.« Erin hob die Hand und schwor, dem stummen Zwilling ihres Sohnes keine Kekse anzubieten.
Julie sagte nichts. Papp-Finns Anwesenheit machte ihr nichts aus, und wenn alle so tun wollten, als wäre es völlig normal, mit der platt gedrückten Kopie eines Familienmitglieds zu reden, war das okay für sie. Schließlich war die Pappfigur höflich, eine ausgesprochene Augenweide und wollte nicht mehr als ihren gerechten Anteil an den kleinen Thai-Klößchen. Zugegeben, Papp-Finns Konversationsfähigkeiten ließen zu wünschen übrig, aber vermutlich war er einfach nur schüchtern, wenn er jemanden noch nicht kannte …
Schließlich hat ja jeder ein paar Macken, oder nicht? Sie hatte vermutlich auch einige, und das war eben Celestes Macke. Großer Gott, es gab Schlimmeres. Vielleicht nichts, was so skurril war, aber es gab Schlimmeres. Vermutlich.
»Julie, rate mal, wo Finn jetzt ist«, forderte Celeste sie gespannt auf.
»Antarktis?«
»Nein.«
»Syrien? Mongolei? Neuseeland? Tallahassee? Nein? Dann muss es Boise, Idaho, sein.«
»In Boise gibt es keine Wildreservate. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Er ist in Südafrika. In der Provinz Ostkap, direkt am Indischen Ozean. Gestern hat er mir Fotos von Antilopen geschickt und gesagt, dass ich das nächste Mal ein Bild von einem weißen Tiger bekomme. Die sind sehr selten.«
»Cool«, stimmte Julie ihr zu. »Wie lange wird er weg sein?«
»Das ist noch nicht klar«, gab Celeste Auskunft. »Er ist jetzt seit Monaten auf Weltreise, und es gibt noch eine Menge Orte, die er sich ansehen möchte. Egal, wohin er kommt, er sucht sich einen Job und arbeitet außerdem für Wohltätigkeitsorganisationen, er ist also kein verzogenes Balg, das Dauerurlaub macht. Vielleicht besteigt er sogar den Kilimandscharo.«
»Das klingt Furcht einflößend«, sagte Erin. »Ich habe Höhenangst, aber Finn macht das nichts aus. Er hat den Mount McKinley und den Mount Rainier bestiegen.«
»Wirklich?«, erwiderte Julie. »Beeindruckend.«
Matt hustete und streckte demonstrativ den Arm über den Tisch, um sich eine der Pappschachteln mit Essen zu nehmen.
»Ja. Später zeige ich dir Fotos davon«, versprach Celeste.
Erin lächelte. »Finn war schon immer sehr abenteuerlustig. Als er acht Jahre alt war, kam ich einmal von der Arbeit nach Hause und sah ihn ganz oben auf dem Telefonmast vor unserem Haus sitzen. Die Babysitterin hing am Telefon und hatte gar nicht bemerkt, dass ihr Schützling zwölf Meter nach oben geklettert war. Ich habe sie natürlich gefeuert, und als ich Finn fragte, warum um Himmels willen er das getan hat, sagte er, er habe gehofft, einen Blick in Ellie Livingstons Schlafzimmerfenster werfen zu können.«
»Er hat versucht, bei einem Mädchen aus seiner Klasse zu spannen?«, mutmaßte Julie.
Erin lachte. »Genau genommen bei ihrer Mutter. Als Mrs Livingston davon gehört hat, war sie sehr geschmeichelt. Sie hat einen Teller mit selbst gebackenen Keksen und eine Dankeskarte rübergeschickt. Finn war so ein interessantes Kind.« Erins Finger krallten sich in ihre Serviette, dann tupfte sie sich den Mund ab und stand auf. »Ich sag’s nicht gern, aber jetzt muss ich wirklich los.«
»Wenn du zu Fuß gehst, begleite ich dich«, sagte Roger. »Es ist so ein schöner Abend. Ich dürfte um elf rum fertig sein. Passt das?«
»Perfekt. Julie, du kannst gern das Auto haben, wenn du dir morgen ein paar Wohnungen ansehen möchtest. Die Schlüssel hängen in der Küche. Wir gehen beide sehr früh zur Arbeit, daher sehen wir uns dann erst am Abend zum Essen. Und ich würde mich freuen, wenn du mir noch mehr über deine Mutter erzähltest.« Erin schob ihren Stuhl an den Tisch. »Also dann, gute Nacht.«
Erin und Roger verschwanden schneller, als Julie »Gute Nacht« sagen konnte, und ließen sie und Matt mit Celeste und Papp-Finn zurück.
Matt schob seinen Stuhl zurück und sah Julie mit einem ironischen Grinsen an. »Interessant genug für dich?«
Julie musterte Celestes Gesicht, während diese durch das Vorlesungsverzeichnis des Whitney College blätterte. Sie saßen seit einer halben Stunde zusammen auf dem Sofa und sprachen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Kurse, aus denen Julie auswählen konnte. Es war merkwürdig, wie konzentriert die Dreizehnjährige das Vorlesungsverzeichnis las, aber um ehrlich zu sein, war sie Julie eine erstaunliche Hilfe bei der Zusammenstellung ihres Stundenplans gewesen. Julie gewöhnte sich sogar langsam an ihre etwas steife Ausdrucksweise.
Im Haus war es ziemlich kühl geworden, da die Klimaanlage auf vollen Touren lief. Celeste zog eine leichte Decke über ihre Beine. Julie rückte ihren Laptop zurecht, den sie auf ihrem Schoß balancierte, und legte die Finger auf die Tastatur. Sie warf einen Blick auf Celestes Anmerkungen. »Also, welches Englischseminar nehme ich? Das um acht Uhr dreißig?«
»Nein. Englisch ist dienstags und donnerstags um zehn und Einführung in Psychologie ist montags, mittwochs und freitags um zwölf. Schreib dir die Kursnummern auf.« Celeste deutete auf die Seite und wartete, während Julie die Nummern eintippte. »Weißt du, du musst Freitagmorgen absolut perfekt vorbereitet sein, sonst bekommst du nicht den Stundenplan, den du haben willst. Wenigstens kannst du dich online einschreiben und musst dich nicht mit lauter nervigen Leuten in einer Schlange anstellen.«
»Du glaubst also, dass meine Kommilitonen nervig sein werden? Ich hatte ja gehofft, ein paar Freunde zu finden, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher …«
Celeste klappte das Vorlesungsverzeichnis zu. »Normale Leute können ungemein nerven, wenn sie sich in einer nervigen Situation befinden.«
»Stimmt. Dann hast du recht. Ich bin froh, dass ich mich online einschreiben kann.«
Celeste lehnte sich zurück. »Hattest du zu Hause viele Freunde? Und einen Freund? Ich wette, du hast einen Freund. Sieht er gut aus?«
»Ich habe immer noch eine Menge Freunde zu Hause. Sie haben sich nicht in Luft aufgelöst, als ich abgereist bin. Ich werde sie nur nicht mehr so oft sehen wie bisher. Ich hatte einen Freund, und ja, er war süß, aber er war auch eine hirnlose Nervensäge.«
»Hast du Fotos von deinen Freunden?«, fragte Celeste.
»Ja klar.« Julie öffnete das Fotoprogramm und blätterte durch ihre Alben, bis sie einen Ordner mit Fotos vom August gefunden hatte. »Die hier sind von meiner Abschiedsparty. Meine Mom hat für mich ein Grillfest in unserem Garten geschmissen.«
»Du hattest eine große Party? Das sieht toll aus!«, rief Celeste begeistert aus.
»Ja. Es gab Hotdogs, Nudelsalat mit geronnener Mayonnaise, eine Torte, auf der mein Name falsch geschrieben war … Alles, was dazugehört. Das bin ich mit Kristen und Mariam. Und hier ist ein Foto von Amy und meiner Mom.« Julie blätterte durch die zahllosen Fotos, während Celeste nach allen möglichen Details fragte.
»Hast du auch ein Bild von deinem Vater?«
Julie fuhr fort, die Fotos durchzugehen. »Nein. Er war auf einer Geschäftsreise. Aber er hat mir das beste Smartphone geschenkt, das es auf dem Markt gibt. Und er hat während der Party angerufen.«
»Das war nett von ihm. Von Zeit zu Zeit ist auch mein Vater bei solchen Ereignissen nicht anwesend, aber er ruft mich dann nicht an.«
»Oh.«
»Einmal veranlasste er, dass Matt Papierpuppen unter mein Kopfkissen legte. Kleine Papp-Finns. Ich fand das eine intelligente und ungewöhnliche Art, mir zu zeigen, dass er mich vermisst.«
»Ja, das war eine coole Idee. Gefällt mir.«
»Er macht so etwas allerdings nicht allzu häufig. Ich wünschte, er täte das öfter.«
Julie verstand, was Celeste meinte. Es war schwierig, wenn ein Elternteil abwesend war, auch wenn dieses Elternteil einen vergötterte.
Celeste zeigte auf den Bildschirm. »Ist das dein Kuchen?«
»Wahnsinn, oder?«
»Wer ist das da? Hat da eine Band gespielt? Ist das dein Freund? Dein Kleid ist sehr hübsch.« Celeste wollte jede Kleinigkeit wissen. »Wo hast du es gekauft? Wie bist du da rein und wieder rausgekommen? Dein Busen sieht riesig aus! Kein Wunder, dass du einen Freund hattest!«
»Erstens, das Kleid ist gar nicht so eng. Es ist tailliert. Und mein Busen sieht normal groß aus. Und wir reden nicht über meinen Busen. Aber ja, die Party war toll. Ich wollte nicht so viel Aufwand machen, daher war es einfach perfekt. Wie feierst du deinen Geburtstag?«, fragte Julie.
Celeste sah starr geradeaus, anscheinend völlig fasziniert von einem Gegenstand in einem der Regale. »Ich gebe eigentlich keine Partys mehr. Ich fühle mich dabei nie so richtig wohl«, sagte sie lediglich. »Wir müssen Papp-Finn das rote Kleid zeigen. Es wird ihm gefallen! Und das Foto von deiner Abschlussfeier auch. Du hast so glücklich ausgesehen, als du dein Zeugnis bekommen hast.«
Celeste schob die Decke zur Seite und holte die Pappfigur ihres Bruders, die sie neben dem Klavier in dem kleinen Raum neben der Diele gelassen hatte. Celeste zufolge hasste es Papp-Finn, Tonleitern zu üben, aber er wusste, dass Erin es ihm übel nehmen würde, wenn er dabei schlampte. Selbst Pappbrüder fühlten sich verpflichtet, es ihren Eltern recht zu machen. Als Celeste wieder ins Wohnzimmer kam, trug sie die Pappfigur vor sich her, wodurch der unheimliche Eindruck entstand, dass Papp-Finn von selbst über den Boden glitt. Sie stellte ihn neben den Couchtisch in die Nähe von Julie und rückte dann die Laschen an seinen Füßen zurecht, die ihn aufrecht hielten, doch auf dem dicken Teppich fanden sie keinen richtigen Halt.
»Jetzt mach schon, Papp-Finn!«, murmelte sie, während die Figur über ihr schwankte. Als sie den Kopf hob und Papp-Finn ins Gesicht sah, fielen ihr die blonden Locken aus dem Gesicht und Julie sah den verbissenen Blick in ihren Augen. »Bitte«, sagte Celeste aufgeregt. »Du musst ein bisschen mithelfen.«
Sie hob die Hand und stützte damit das Mittelteil ab, während sie hektisch versuchte, Papp-Finn in der Senkrechten zu halten. Doch jedes Mal, wenn sie die richtige Stellung für das Fußteil gefunden zu haben schien, schwang er bedrohlich nach vorn oder hinten, was Celeste dann mit ihrer freien Hand zu verhindern versuchte. Julie war klar, dass die Figur unmöglich auf dem Teppich stehen bleiben würde. Celestes Wangen wurden rot, ihre Frustration stieg. Sie schien sogar in Panik zu geraten.
»Du hast das doch schon mal gemacht, Papp-Finn! Du kannst das!«, flehte sie.
Julie verfolgte die Szene und fragte sich, in was zum Teufel sie da eigentlich reingeraten war. Celeste sah völlig fertig aus. Julie ertrug es kaum, sie in dieser Verfassung zu sehen, daher stand sie auf und packte Papp-Finn an den Schultern. Wenn alle anderen so taten, als wäre das hier normal, konnte sie das auch.
»Weißt du was? Jungs lümmeln doch immer gern auf dem Sofa rum. Sie sind einfach faul. Ich frage mich, ob er es nicht genauso machen will.« Julie fiel auf, dass Matt auf der anderen Seite des Raums stand und irgendwie nervös wirkte, als überlegte er, ob er sich einmischen sollte oder nicht. Er machte einen Schritt auf sie zu. Als Julie ihm schnell einen Blick zuwarf, ging er wieder zurück.
»Außerdem«, sagte sie an Celeste gewandt, »kann Papp-Finn von dort oben gar nicht den Bildschirm sehen. Er sollte bei uns auf der Couch liegen.«
Celeste starrte Julie einen Moment an, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Ich glaube, das würde ihm gefallen.«
Julie hob Papp-Finn hoch, drehte ihn in der Luft herum und legte ihn mit der Seite auf die Couch.
»Sei vorsichtig«, bat Celeste, die noch immer auf dem Teppich kauerte.
»Ihm geht’s gut. Und wir beide passen trotzdem auf die Couch.« Julie setzte sich wieder, ließ aber genug Platz zwischen sich und Papp-Finn, damit er nicht noch platter gedrückt wurde, als er sowieso schon war. »Du darfst dich nur nicht zurücklehnen, sonst bekommen wir Schwierigkeiten. Setz dich neben mich und sag mir, welche Fotos er sehen möchte.«
Celeste ging um den Tisch herum und setzte sich behutsam hin. Dann beugte sie sich über Julies Schoß und warf einen Blick auf Papp-Finns Gesicht, das hinter Julies Rücken hervorragte. »Die Fotos mit dem roten Kleid möchte er bestimmt zuerst sehen. Er hat gehört, wie ich darüber gesprochen habe, und vermutet, dass du verführerisch und sexy aussiehst. Hat er gesagt, nicht ich.«
Julie lachte. »Ich halte Papp-Finn für einen Perversling und bin sicher, er wird enttäuscht sein, aber die Fotos kann er trotzdem sehen.« Julie öffnete eines der Fotos und wartete auf das Urteil. Sie musste zugeben, dass sie an dem Tag richtig süß ausgesehen hatte.
Das Kleid war zwar etwas tief ausgeschnitten und endete sehr weit über dem Knie, aber es war aus einem weichen, fließenden Stoff. Die Träger verliefen kreuzweise auf dem Rücken und konnten zu einer Schleife gebunden werden.
Celeste wartete einen Moment. »Er ist nicht enttäuscht. Er findet, dass du wunderschön aussiehst und dass du ihm auf Instagram folgen solltest.« Sie machte wieder eine Pause. »Er meint das nicht so anzüglich, wie es klingt.«
Julie musste schlucken. »Papp-Finn ist bei Insta?« Sie brannte darauf, seine Beiträge zu sehen. Wurde heute auf das Autodach geschnallt und zu Starbucks gefahren. Hätte ja gern einen Caramel Mocha getrunken, kann aber meine Arme nicht bewegen und musste das köstliche Heißgetränk daher sehnsüchtig anstarren. Hat die Qual denn nie ein Ende?
Celeste seufzte genervt, weil Julie so dumm war. »Nicht Papp-Finn. Finn. Such ihn bei Instagram. Du bist doch bei Insta, oder? Matty und Finn sind es jedenfalls, und ich kann bei Matty mitlesen, damit ich Finns Beiträge sehen kann. Sie veröffentlichen beide gern alberne Text-Posts … Psst«, murmelte sie, während sie den Finger an die Lippen legte. »Mom und Dad würden das überhaupt nicht gut finden. Sie hassen sämtliche sozialen Netzwerke und halten es für ein Anzeichen geringer Intelligenz, wenn man sie nutzt.«
»Auf Twitter ist er wohl auch?«
»Nein. Du?«
Julie schüttelte den Kopf. »Ich habe eine tiefe Abneigung gegen Twitter, aber aufgrund einer sozialen Verpflichtung fühlte ich mich gezwungen, hin und wieder reinzuschauen und Promis nachzuspionieren. Ich verstehe nicht, was die Leute an Twitter finden. Es ist unmöglich, einer Unterhaltung zu folgen, und viel zu einfach, stundenlang auf irgendwelche Namen zu klicken. Und schwups, ist man süchtig nach Fotos von den Kardashians.«
Celeste starrte sie an. »Bist du jetzt bei Instagram oder nicht?« Puh. Dieses Mädchen war ganz schön anstrengend.
»Ja, bin ich. Und wenn du es deinen Eltern nicht verrätst, verrat ich das über dich und Matt auch nicht. Und es wäre mir eine Ehre, wenn Finn meine Anfrage annimmt.« Julie öffnete Instagram.
»Finneas oder Finn?«, fragte sie Celeste.
»Immer Finn. Er hasst Finneas. Aber bei Instagram heißt er Finn ist Gott.«
Julie lachte. »Warum denn das?«
»Weil er kein Interesse daran hat, dass jeder ihn findet. So kann er sich ein bisschen verstecken. Wählerisch sein. Das ist ihm wichtig.«
Julie fand den richtigen Finn und schickte ihm eine Follower-Anfrage. Im Vergleich zu Julie mit ihren etwa vierhundert Followern waren seine zweiunddreißig tatsächlich überschaubar. Als sie Matts Namen auf Finns Liste sah, schickte sie auch ihm eine Anfrage. Julie war der Meinung, dass man nie zu viele Kontakte haben konnte. Zumindest virtuelle. Sie hatte ein paar aus Fleisch und Blut, auf die sie gern verzichten konnte.
»Du musst etwas posten«, befahl Celeste. »Irgendwas Lustiges.«
Julie überlegte kurz. »Wie wär’s damit?« Sie suchte ein passendes GIF heraus.
Julie Seagle ist eiskalt und hart wie Wackelpudding!
Celeste lehnte ihren Kopf an Julies Schulter. »Das gefällt mir. Es ist zweckmäßig und witzig. Papp-Finn gefällt es auch. Schreib was für ihn.«
Das war etwas Neues. Julie hatte noch nie etwas für den Pappbruder von jemandem schreiben müssen. Sie bastelte eine Text-Grafik im Stil eines Inspo-Posts.
Julie Seagle findet nicht fiele finnische Finken für Papp-Finn, fersucht es aber mit feinen Fingermalfarben für ein finales Finale. Fielleicht.