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Eine Joggerin, Studentin der Philosophie, wird auf den ›Winzerer Höhen‹, nahe der SEIDENPLANTAGE, getötet. Routinemäßige Polizeiarbeit läuft an. Obwohl Kommissarin Martina Cuscunà, Köstlbachers neue Kollegin, einen außergewöhnlichen Spürsinn an den Tag legt, tappt die Kripo zunächst im Dunklen. Es fehlt an einer Spur. Es fehlt an einem Motiv. Es fehlt an einem Tatverdächtigen. Alles bewegt sich fast ausschließlich im Bereich der Spekulation. Bis dann Köstlbachers Sekretärin Edith Klein den entscheidenden Hinweis liefert. Ein Krimi, basierend auf diversen wissenschaftlichen Erkenntnissen der ›Forensischen Psychiatrie‹ zur dunklen Seite der Frauen.
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Seitenzahl: 283
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Inhaltsverzeichnis
Danke!
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Nachtrag
Eine Auflistung der wichtigsten Namen zum neuen Krimi für alle Leser, die zu viele Namen verwirren:
Weitere Krimis aus der Köstlbacher-Reihe
Vollständige e-Book Ausgabe 2021
© 2021 SPIELBERG VERLAG, Neumarkt
Umschlaggestaltung: coMedia
Umschlagbild: © pixabay.com, RitaE
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
(e-Book) ISBN: 978-3-95452-111-1
www.spielberg-verlag.de
Gewidmet meiner lieben Frau Virginia
Danke!
Für die Bereitschaft, Pate zu stehen für die eine oder andere Figur in diesem Krimi, teilweise sogar unter dem eigenen Namen, danke ich:
Martina Cuscunà, die im realen Leben in einer Bank arbeitet, aber auch gerne bei der Kripo als Ermittlerin gelandet wäre.
Conny Beckers. Sie spielt erneut, wie schon im Krimi KÖSTLBACHERS RÜCKKEHR, die bezaubernde Staatsanwältin Dr. Simone Becker.
Petra Maria Herrmann, der Betreiberin der ›Dayspa‹ im Anwesen SEIDENPLANTAGE.
Carlo Müller, Künstlername Dante Farrazzano, Chef der ›Fattoria La Vialla‹ in Rosenhof, Petra Herrmanns Ehemann.
Zudem danke ich Herrn Peter Schober, der mir die Erlaubnis gab, einen Teil meines Krimis vor und in seinem Anwesen SEIDENPLANTAGE hoch oben auf den ›Winzerer Höhen‹ anzusiedeln.
Für ein erstes Korrekturlesen bedanke ich mich bei Herrn Dr. Thomas Holzmann, mit dem mich die Freude am Lindy Hop verbindet. Es ist immer wieder überraschend, wie viele Fehler man als Autor selbst übersieht.
Last but not least möchte ich mich bei Simone Heuberger bedanken, der neuen Pächterin der Alten Kuchl am Königshof in Regensburg, dem neuen Stammlokal unseres Kommissars Edmund Köstlbacher, die ihr Restaurant unter anderem zu einem Treffpunkt aller Köstlbacher-Freunde zur Verfügung stellen wird. Dort werden auch Lesungen und, falls Interesse besteht, hin und wieder persönliche Treffen mit dem Autor möglich sein.
Vorwort
Nach der Sache mit dem illegalen Organhandel kehrte erst einmal für längere Zeit Ruhe in Regensburg ein. Manche vermuteten, dass dem Klientel entsprechender krimineller Kreise das Regensburger Pflaster schlichtweg zu heiß geworden war. Das hatte allerdings mit der exzellenten Arbeit der Kripo vor Ort weniger zu tun. Weit eher war dies eine direkte Folge enorm erhöhter Polizeipräsenz. Die 2020 einsetzende Corona Pandemie brachte gravierende Einschränkungen im öffentlichen und privaten Leben mit sich, die es von der Exekutive zu überwachen galt.
Der erkrankte Abteilungsleiter Christian Kapplmeier war zwar wieder genesen, aber seine Rückkehr im Frühjahr 2020 wäre genau mit dem ersten massiven Lockdown seit Ausbruch der Pandemie zusammengefallen. Da hat es sich der Kapplmeier anders überlegt und kurzfristig um seinen vorzeitigen Ruhestand eingegeben. Was jeder verstand und was man ihm auch bereitwillig gestattete.
Der Köstlbacher blieb bei seinem Entschluss, nicht mehr auf den Abteilungsleitersessel zurückkehren zu wollen. Es gab diesbezüglich auch keine Einwände seitens der Entscheidungsträger oben in München. Zwar versuchte ihn die Staatsanwältin Dr. Simone Becker noch umzustimmen, aber der Köstlbacher hatte die Entscheidung endgültig gefällt.
Ein bisschen verstimmt war seine Frau Anna, weil die natürlich schon vorschnell mit der Beförderung ihres Mannes bei der einen oder anderen Freundin geprahlt hatte. Aber am Ende hat auch die Anna eingesehen, dass ihr Edmund sich nicht für den Posten eines Sesselfurzers eignet.
Letztendlich wurde der aus Landshut stammende Tobias Lenz zum neuen Abteilungsleiter bestellt. Er schien ganz passabel zu sein. ›Schien‹, deswegen, weil sich bis dato noch keine Gelegenheit ergeben hatte, in der er seinen Charakter und seine Kompetenz hätte unter Beweis stellen können. Der von ihm zum Antritt spendierte Sekt und die Canapés kamen jedenfalls gut an. Und seine Rede? Na ja, besonders viel gesagt hat er nicht.
Kapitel 1
Aber dann ist halt doch wieder was passiert! Auch wenn’s erst lange so ausgesehen hat, als ob langsam alle zwangsläufig zu Sesselfurzern werden würden, und der Kaffeekonsum ins Unermessliche gestiegen ist, damit diese ereignislosen Tage wenigstens halbwegs wach durchgestanden werden konnten.
Der Köstlbacher ist richtig hochgeschreckt, als ihn sein Diensttelefon unsanft aus seinem in letzter Zeit immer öfter auftretenden Sekundenbüroschlaf gerissen hat. Er ist umso heftiger hochgeschreckt, weil fast zeitgleich der Baldauf vorbei an seiner Sekretärin Edith Klein zu ihm ins Zimmer gestürzt kam und aufgeregt mit der Hand in der Luft herumfuchtelte:
»Eine Leiche, Chef! Oben auf den ›Winzerer Höhen‹! Irgendwo zwischen dem ›Krematorium‹ und der SEIDENPLANTAGE! Die Spusi ist schon alarmiert.«
»Wer hat die Leiche gemeldet?«, wollte der Köstlbacher wissen, während er dem Kollegen Baldauf auf dem Weg zum schwarzen Dienstaudi hinterherhechelte, den das Team in aller Regel nahm, wenn es galt, möglichst schnell zu einem Einsatzort zu kommen.
»Wenn ich richtig verstanden habe, dann hat ein gewisser Carlo Müller einen Notruf abgesetzt, weil sein Hund beim Gassi gehen eine Leiche gefunden hat.«
Kapitel 2
Einige Stunden zuvor. Es war noch stockfinster.
Eine von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete Gestalt, mit einem dem Outfit angepassten schwarzen Mundund Nasenschutz nicht eindeutig als Mann oder Frau identifizierbar, verschmolz selbst für den aufmerksamen Beobachter mit einem der Bäume gegenüber des Anwesens SEIDENPLANTAGE ›AufderWinzererHöhe15‹.
Die Morgendämmerung hatte endlich eingesetzt. Trotz des wolkenverhangenen Himmels und der Nebelschwaden, die sich von der Donau bis hoch hinauf auf die ›Winzerer Höhen‹ schoben, wurde die Sicht zusehends besser.
Die ›WinzererHöhen‹ am Nordufer der Donau sind der Ausgangspunkt mancher Wanderrouten, die oft beim ›Krematorium‹ starten und erst einmal entlang der Straße ›Auf denWinzerer Höhen‹ verlaufen. Während ein Großteil der Wanderer bei schlechtem Wetter den geplanten Ausflug zu Fuß gerne auf einen Tag mit Sonne und guter Sicht auf Regensburg verlegt, lassen sich eingefleischte Jogger von Regen, Nebel oder gar Schnee kaum aufhalten. Sie ziehen ihr Sportprogramm durch, egal wie gut oder schlecht der Wettergott es mit ihnen meint.
So auch die junge Frau, die ihren Mini wie immer auf dem Parkplatz vor dem ›Krematorium‹ abgestellt hatte, um von dort aus ihre geplante, knapp zweistündige Runde zu beginnen. Vor dem ›Krematorium‹, dem sich der ›Städtische FriedhofDreifaltigkeitsberg‹ anschließt, ist trotz der vielen Parkplätze nicht immer eine freie Lücke zu finden. Vor allem, wenn eine Beerdigung ansteht. Aber morgens um diese Zeit findet nie eine Beerdigung statt, und selbst für die üblichen Friedhofbesucher öffnen sich die Tore erst um 7:00 Uhr. Es wäre selbstverständlich auch jederzeit möglich, weiter oben am Rande der Straße ›Auf den Winzerer Höhen‹ zu parken. Aber gerade diese erste etwas steilere Wegstrecke macht den Reiz. Der Kreislauf kommt in Schwung und man fühlt sich, oben angekommen, frei und fit für das weitere Laufpensum.
Die dunkle Gestalt duckte sich noch etwas tiefer ins Dunkel hinter einen Baum, sobald die Joggerin in Sichtweite auftauchte. Leichtfüßig kam sie näher. Drei Schritte einatmen, drei Schritte ausatmen. Die Morgenkühle machte die ausgeatmete Luft in Form kleiner Dampfwölkchen sichtbar. Tritt, Tritt, Tritt einatmen. Tritt, Tritt, Tritt ausatmen. Völlig mechanisch. Die Technik des Joggens war für sie nichts, was sie auch nur im Ansatz bewusst tat. Routine bestimmte das Training. Während ihr Körper automatisch ein Programm abspulte, hing sie ihren eigenen, ganz persönlichen Gedanken nach.
Sie genoss diesen Nebeneffekt, den ihr das Laufen brachte. Während ihre Physis an Fitness auf dieser Route, von der sie nur in Ausnahmefällen abwich, zunahm, ging ihr Geist auf Reisen. Nicht etwa in ferne Länder, ans Meer, ins Gebirge oder in eine der schönen Metropolen dieser Erde. In Zeiten von Corona waren das ohnehin nur Illusionen, die zumindest momentan keinen hohen Stellenwert mehr hatten. Die junge Frau war Realistin und hasste es, sich mit der Frage ›Waswäre,wenn?‹ auseinanderzusetzen. Schon dreimal nicht im Zusammenhang mit Corona. Anders im konkreten, alltäglichen Leben. Dort schien es ihr durchaus interessant, Vermutungen anzustellen, was zum Beispiel passiert wäre, wenn sie gestern dem attraktiven Mann, der in letzter Zeit schon öfter auf Abstand neben ihr im Hörsaal gesessen hatte, keinen Korb gegeben hätte und seiner Einladung auf einen Kaffee gefolgt wäre. Diese Fantasie vertiefen konnte und wollte sie allerdings nicht. Sie hatte bereits eine Affäre. Eine weitere würde sie vom Studium dann doch zu sehr ablenken. Auch wenn sich einige ihrer Kommilitoninnen diesen Luxus durchaus gönnten.
Als junger Mensch macht man sich noch keine Gedanken darüber, wie das letzte Stündchen wohl dereinst aussehen könnte. Halbwegs realistisch vorstellen kann man sich vielleicht einen Unfalltod, weil diese Todesart bei jungen Menschen kaum weniger häufig vorkommt als bei solchen, die schon ein langes und erfülltes Leben hinter sich haben. Einen Unfalltod verbindet man mit Schnelligkeit. Es macht einen Rums, und das Licht geht aus.
Dass ein Messer, das einem ins Herz fährt, auch kaum mehr als einen Rums macht, bevor das Licht ausgeht, daran zumindest hatte die Joggerin nicht in ihren surrealsten Träumen gedacht, obgleich sie Thriller mochte und Szenarien dieser Art schon oft genug gelesen oder in Filmen gesehen hatte. Aber etwas lesen, am Bildschirm oder im Kino sehen oder es am eigenen Leib verspüren, das ist eben grundlegend verschieden.
***
Während an sonnigen Wochenenden Hunderte von Spaziergängern an den beiden Toren zur SEIDENPLANTAGE, vor allem dem zum Haupteingang hin, gaffend stehenbleiben, beeindruckt von der Schönheit des Gebäudes, das viele noch aus ihrer Jugend als den ›Handerer‹ kennen, wo man sich am Samstagabend zum Tanzen traf, war die Straße heute gähnend leer. Noch parkte kein einziges Auto auf dem seitlichen Parkstreifen, auch keines des Personenkreises, der in der SEIDENPLANTAGE bald seiner Arbeit nachgehen würde.
So fiel auch bisher niemandem das blutige Messer in der Einfahrt hinter dem Haupttor auf. Da es etwas seitlich lag, sollte es noch Stunden dauern, bis es entdeckt wurde.
Kapitel 3
Als der Köstlbacher mit seinem Kollegen Baldauf auf Höhe des Friedhofs am Dreifaltigkeitsberg links abbog, sahen sie schon weiter oben vor der SEIDENPLANTAGE zwei Streifenfahrzeuge mit laufendem Blaulicht stehen. Da es immer noch nebelverhangen war, erzeugten die Blaulichter eine gespenstische Atmosphäre. Ein Beamter wollte gerade ansetzen, den dunklen Audi zu stoppen, – sowohl von unten nach oben als auch von oben nach unten hatte man die Zufahrten zur SEIDENPLANTAGE abgesperrt – gab den Weg aber schnell frei, als er den Köstlbacher erkannte. »Sie werden erwartet!«, nickte er den beiden Kriminalern zu.
Es ist nicht etwa so, dass in der viertgrößten Stadt Bayerns jeder Polizist den Polizeihauptkommissar Edmund Köstlbacher persönlich kennt. Seiner inzwischen unbestritten regionalen Berühmtheit, die er nicht zuletzt der Mittelbayerischen Zeitung, dem lokalen Fernsehsender TVA und hin und wieder sogar dem BR zu verdanken hat, ist es jedoch geschuldet, dass zumindest innerhalb der Polizei diesem Hauptkommissar ein Ruf voraneilt, gemäß dem ihm jeder Kollege respektvoll begegnet.
Fast zeitgleich mit dem Köstlbacher kam auch der Leiter der Spurensicherung Kommissar Bernd Jung in Begleitung seines Teams am Tatort an. Der Köstlbacher nickte ihm zu und sagte irgendetwas, das wegen seines Mundund Gesichtsschutzes aber kaum zu verstehen war. Ein großer Nachteil dieser Maskenpflicht. Wer da nicht laut und deutlich artikuliert, der kann seinen Mund gleich zulassen. In dem Falle war das allerdings weiter nicht von Bedeutung, weil das Begrüßungsritual an einem Leichenfundort immer das gleiche war.
Einer der Beamten, die schon vor Ort waren, deutete zur Böschung am Rande des Parkstreifens gegenüber der SEIDENPLANTAGE:
»Eine weibliche Leiche! Sieht nach einer Joggerin aus! Ein gewisser Herr Müller, beziehungsweise sein Hund, hat sie beim morgendlichen Gassi gehen gefunden.«
Der Köstlbacher, sein Kollege Baldauf und das Spusi-Team nahmen die Leiche in Augenschein. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei eine Joggerin gestürzt und auf dem Bauch liegend nicht mehr hochgekommen. Ihr Gesicht, von dem nur eine Hälfte zu sehen war, drückte keine Schmerzen aus. Eher Überraschung. Die Augen, beziehungsweise das Auge, das zu sehen war, stand weit offen. Dass sie von einem Auto angefahren worden war, konnte man weitgehendst ausschließen. Dazu lag sie zu weit von der Fahrbahn entfernt. Ein blutiges Rinnsal hatte sich von ihr weg auf dem abschüssigen Parkstreifen gebildet, das nach kaum mehr als einem Meter in einem Schlagloch versickerte.
Voreilige Mutmaßungen sind in so einer Situation wenig hilfreich. Das war dem Köstlbacher klar. Darum überließ er erst einmal dem Jung mit seiner Mannschaft das Feld und drehte sich suchend nach dem Herrn Müller um, der die Tote gefunden hatte. Der Köstlbacher musste nicht erst nachfragen. Wegen der vorbildlichen Absperrung stand nur eine einzige zivile Person in der Nähe. Und da neben dieser Person ein Hund Platz genommen hatte, konnte es sich nur um Herrn Müller handeln.
»Herr Müller? Köstlbacher. Kripo Regensburg. Sie haben die Tote gefunden?« Auf formelle Begrüßungsworte verzichtete der Kommissar. Nicht weil er bewusst unfreundlich sein wollte. Aber wer den Köstlbacher kennt, der weiß, dass überschwängliche Freundlichkeit nicht zu seinen Markenzeichen gehört, auch wenn keine bewusst negative Absicht dahintersteht.
Herr Müller nickte. »Genau genommen hat Gino sie gefunden. Er ist schon 14 Jahre alt und fast blind, aber auf seine Nase kann er sich noch vollends verlassen. Ein typischer ›Nova Scotia Duck Tolling Retriever‹ eben!« Stolz leuchteten bei diesen Worten Herrn Müllers Augen, während seine Hand den Kopf des Hundes tätschelte.
»Das wird im Protokoll vermerkt. Aber reden werde ich trotzdem mit Ihnen müssen. Einen Hund kann ich schlecht befragen«, scherzte der Köstlbacher. Ein seltenes Lächeln umspielte dabei seine Lippen. Wegen der Maske aber nicht sichtbar. »Haben Sie, bevor Ihr Hund auf die Tote aufmerksam geworden ist, irgendwelche Beobachtungen gemacht? Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Hier oben ist überwiegend nur Anliegerverkehr. Nicht so, wie weiter unten, wo viele aus Lappersdorf durchfahren. Heute habe ich kein einziges Auto gesehen. Und zu Fuß war auch niemand unterwegs. Außer der Toten. Die kam hier regelmäßig vorbei. Wäre ich nur etwas früher dran gewesen. Vielleicht würde sie dann noch leben.«
»Sie kennen die Tote?«, fragte der Köstlbacher erstaunt und sah sich zum ersten Mal den Herrn Müller genauer an. Großgewachsen, schlank, sportlich, die langen, gewellten, graumelierten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, Vollbart. Eine im Alltag kaum zu übersehende Erscheinung.
Ein verschmitztes Lächeln umspielte Herrn Müllers Lippen. Da er keine Maske trug, entging es dem Köstlbacher nicht.
»Nicht jede hübsche Blondine, die hier vorbeiläuft, kenne ich. Aber wenn Sie unter ›kennen‹ verstehen, dass ich sie schon öfter gesehen habe, dann ja. Wie gesagt, sie kommt, besser gesagt kam hier regelmäßig vorbei. Mehr oder minder täglich. Da hin und wieder meine Frau mit Gino Gassi geht, sehe ich sie nicht jeden Tag. Gesprochen habe ich allerdings noch nie mit ihr, wenn man von einem beiläufigen ›Hallo!‹ einmal absieht.«
»Hat vielleicht Ihre Frau …?«, fragte der Köstlbacher.
»Ob sie schon mit ihr geredet hat? Nicht dass ich wüsste. Falls doch, dann haben wir jedenfalls nie miteinander darüber gesprochen.«
»Und Sie und Ihre Frau wohnen …?«, fragte der Köstlbacher.
»Dort im Nebenhaus der SEIDENPLANTAGE. Aber das hatte ich Ihrem Kollegen bereits gesagt.«
Der Köstlbacher äußerte sich dazu nicht. Die Personalien aufzunehmen geschieht natürlich immer bei der allerersten Kontaktaufnahme. Aber das entsprechende Protokoll würde ihm erst zurück in seinem Büro vorliegen. Herr Müller schien sich so etwas schon gedacht zu haben, denn er holte nun doch von sich aus etwas weiter aus:
»Meine Frau heißt Petra Herrmann. Sie betreibt gemeinsam mit unserer Tochter Stephanie das ›Dayspa‹ im Haupthaus der SEIDENPLANTAGE. Ich betone bewusst den Familiennamen Herrmann meiner Frau und meiner Tochter, da ich, wie Sie ja wissen, Müller heiße.«
Der Köstlbacher tat, als ob er diesen Hinweis überhört hätte. Dabei war ihm durchaus klar, wie sehr unterschiedliche Familiennamen in der Vergangenheit schon die Ermittlungsarbeit erschwert hatten. Mit dem Begriff ›Dayspa‹ konnte er nichts anfangen. Aber das musste er diesem Müller schließlich nicht gleich auf die Nase binden.
»Kann ich mit Ihrer Frau sprechen?«, fragte er.
»Sie dürfte inzwischen schon drüben im ›Dayspa‹ sein. Aber das wäre wohl kaum ein Problem.«
In dem Moment winkte dem Köstlbacher der Kommissar Jung zu. Das konnte nur eines bedeuten: Er war jetzt soweit. Zeit für eine erste Einschätzung aufgrund der gesichteten Faktenlage.
»Ich melde mich später!«, beendete der Köstlbacher abrupt sein Gespräch mit Herrn Müller und ging zum Leichenfundort hinüber. Auf seinen fragenden Blick hin meinte der Jung:
»Bei der Toten handelt es sich um eine junge Frau. Joggerin. Vermutlich um die 25 Jahre alt. Gestorben ist sie an einer Stichwunde. Ich würde sagen, direkt ins Herz. Aber das muss die Gerichtsmedizin erst bestätigen. Todeszeitpunkt 6:30 Uhr heute Morgen plus/minus 30 Minuten. Eine Tatwaffe haben wir nicht gefunden.«
»Irgendwelche Spuren vom Täter? Gab es einen Kampf?«
»Letztendlich kann auch das erst in der Gerichtsmedizin abgeklärt werden. Meine Einschätzung ist negativ. Kein Kampf! Was Täterspuren betrifft, ebenso negativ. Es sieht zwar danach aus, als ob er hier hinter diesem Baum dem Opfer aufgelauert hat. Das herbstlich welke Gras ist auf kleinem Raum niedergetreten. Aber das kann auch ein Hase gewesen sein, der es sich gemütlich gemacht hatte. Sichere Hinweise auf die Anwesenheit eines Menschen fanden wir jedenfalls keine. Auch keine verwertbaren Abdrücke von Schuhsohlen. Aber vielleicht würde die Hündin der Kollegin Koch etwas entdecken, was uns entgangen ist.«
»Du meinst die Mina?« Der Kollege Jung nickte, worauf der Köstlbacher sofort die Zentrale anfunkte und die Kommissarin Koch mit Hündin Mina herbeorderte.
»Wer macht sowas?«, fragte der Jung und unterstrich seine Frage mit einer hilflosen Geste.
»Wer bringt eine junge Frau um, die sich offensichtlich nichtsahnend zum Joggen aufmacht? Ein Irrer? Ein Eifersüchtiger? Ein … Keine Ahnung! Wird nicht einfach werden, das herauszufinden.«
»Übrigens« setzte der Jung noch hinzu, »Papiere hatte sie keine bei sich. Hätte mich auch gewundert. Nur einen Autoschlüssel. Scheint zu einem Mini zu gehören.«
»Was darauf schließen lässt, dass sie nicht von zu Hause aus losgelaufen ist«, folgerte der Köstlbacher.
»Ich vermute sogar, dass ihr Wagen ganz in der Nähe stehen müsste. Ihre Wäsche weist noch keinerlei Schweißflecken auf. Weit gelaufen kann sie noch nicht sein, bevor sie ermordet worden ist«, fügte der Jung hinzu.
»Gib mir den Autoschlüssel! Ich schicke eine Streife auf die Suche nach dem Wagen.«
»Und die Leiche? Erlangen? Wie immer?«, fragte der Kommissar Jung.
»Ja, leite das in die Wege! Ich muss mit diesem Müller noch ein Wörtchen reden«, antwortete der Köstlbacher.
Kapitel 4
Während der Jung den Abtransport der Leiche in die Gerichtsmedizin nach Erlangen veranlasste, die nach wie vor für Regensburg zuständig ist, und während sich eine Streife auf die Suche nach dem Auto der Ermordeten machte, wandte sich der Köstlbacher erneut dem geduldig in Sichtweite wartenden Herrn Müller zu.
»Sie stehen ja immer noch da! Passt mir wunderbar, weil ich noch ein paar Fragen an Sie hätte«, sagte der Köstlbacher.
»Das habe ich mir schon gedacht, Herr Kommissar. Mir ist da noch etwas eingefallen.«
Köstlbachers fragender Blick ließ den Herrn Müller weiterreden, ohne ihn mit einer Antwort zu unterbrechen.
»Gestern hat meine Frau Gino rausgelassen, weil ich schon sehr früh zur Arbeit musste.«
»Sie arbeiten nicht in dieser ›Dayspa‹?«, fragt der Köstlbacher.
»Aber nein! Mein Arbeitsplatz ist in Rosenhof in der ›Fattoria La Vialla‹. Biodynamische Feinkost aus der Toskana! Wir beliefern unter anderem auch die ›Dayspa‹. Aber ansonsten ist sie das Reich meiner Frau und unserer Tochter. Wie gesagt, gestern musste ich schon vor der üblichen Zeit zur Arbeit, weil wir eine LKW-Ladung aus Italien erwarteten, und mein Typ als Chef im Zusammenhang damit gefragt war.«
»Ist Ihrer Frau etwas aufgefallen?«, wollte der Köstlbacher wissen, den natürlich Fakten zum Mordfall interessierten und weniger Details zu Herrn Müllers Arbeit.
»Na ja, sie erzählte mir am Abend, dass sie eine ganz in Schwarz gekleidete Person auf dem leeren Parkstreifen hier vor dem Anwesen sah. Sie hat sich noch gewundert, warum die Person sogar einen Mundschutz trug. Innerhalb der SEIDENPLANTAGE ist ein Mundschutz selbstverständlich Pflicht, inzwischen ja auch drunten in großen Teilen der Stadt, aber in der freien Natur? Noch dazu, wenn niemand unterwegs ist? Übrigens ebenfalls in Schwarz. Der Mundschutz meine ich.«
»Handelte es sich um einen Mann, oder eine Frau?«, fragte der Köstlbacher, sichtlich interessiert.
»Im morgendlichen Dämmerlicht schien das nicht deutlich erkennbar gewesen zu sein. Petra betonte noch, dass es nicht zu unterscheiden war, ob die Person ein Mann oder eine Frau gewesen ist. Die Person schien auf jemanden zu warten. Zumindest blickte sie immer wieder hinunter in Richtung Friedhof. Aber meine Frau schien ihn oder sie zu irritieren. Jedenfalls entfernte sich die seltsame Erscheinung plötzlich eilig.«
»Wissen Sie, in welche Richtung?«
»Nein! Das müssen Sie meine Frau fragen. Wir haben das Thema nicht vertieft. Schien zu dem Zeitpunkt ja auch nicht wirklich wichtig.«
Der Köstlbacher brummte nur etwas Unverständliches, was seinen Unmut zum Ausdruck bringen sollte. Aber Recht hatte dieser Herr Müller sicherlich. Warum hätte ihn eine dunkel gekleidete Person, egal ob Mann oder Frau, interessieren sollen. Heutzutage laufen schließlich viele Leute in diesem Einheitsschwarz herum.
»Ihre Frau ist zu Hause, sagten Sie?«
»Vermutlich inzwischen im ›Dayspa‹. Ich erwähnte das bereits. Aber noch sind keine Kunden hier. Wenn Sie wollen?« Herr Müller machte eine einladende Handbewegung und ging dem Köstlbacher voraus in die heiligen Hallen im Erdund Untergeschoß der SEIDENPLANTAGE, in denen dieses ›Dayspa‹ etabliert war.
Der Köstlbacher gab dem Baldauf schnell noch einige Anweisungen und folgte dann dem Herrn Müller und seinem Hund, der freudig mit seinem Schwanz wedelte, weil er sich endlich wieder bewegen durfte. Wenig später bekam er einen ersten Eindruck von dem, was ein ›Dayspa‹ war. Und, das wurde dem Köstlbacher schnell klar, es war ein ›Dayspa‹ der absoluten Luxusklasse.
Schwer beeindruckt von der orientalisch anmutenden Schönheit der teilweise schon vom Eingangsbereich aus einsehbaren Räumlichkeiten im Anwesen der SEIDENPLANTAGE, stoppte er schon nach wenigen Schritten, da er mit seinen verschmutzten Straßenschuhen das eigentliche Heiligtum selbstverständlich nicht betreten durfte. Frau Petra Herrmann kam ihm entgegen. Ihr Mann Carlo hatte sie via Handy vorabinformiert.
Kommissar Köstlbachers erster Eindruck war wie ein Déjàvu. Frau Herrmann erinnerte ihn spontan an seine Staatsanwältin, Frau Dr. Simone Becker. Zugegeben, Frau Herrmann war älter. Aber mindestens ebenso attraktiv. Und das lag absolut nicht nur an ihren blonden Haaren, der wohl größten Übereinstimmung mit Frau Dr. Becker.
»Sie wollten mich sprechen?«, begrüßte Frau Herrmann den Kommissar.
Der zuckte erst, wollte ihr die Hand schütteln, rief sich aber schnell wieder die Corona-Regeln ins Bewusstsein, nickte und stellte sich vor:
»Kommissar Köstlbacher. Kripo Regensburg. Vermutlich hat Ihnen Ihr Mann schon gesagt, was passiert ist. Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie.«
»Gerne! Entschuldigen Sie, wenn ich Sie nicht hereinbitte. Die Hygienevorschriften. Sie verstehen?« Dabei wanderte ihr Blick deutlich erkennbar hinab zu seinen Schuhen, deren Verschmutzung vermutlich den dünnen Überziehern aus Folie, die für Gäste bereitlagen, nicht Stand gehalten hätte.
Der Köstlbacher verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, erweiterte den Abstand zu Frau Herrmann, schob seine etwas verrutschte Maske wieder zurecht und meinte:
»Kein Problem! Zum augenblicklichen Zeitpunkt habe ich ohnehin nur wenige Fragen. Ihr Mann sprach eine Beobachtung an, die Sie beim Gassi führen ihres Hundes gemacht hätten?«
»Er meint vermutlich das mit der in schwarz gekleideten Person? Ja, es stimmt, sie fiel mir auf. Eigentlich fiel sie mehr Gino auf als mir. Wenn er nicht spontan zu bellen angefangen hätte, hätte ich die Person vermutlich gar nicht gesehen. Sie hob sich zum noch dunklen Hintergrund in der Morgendämmerung kaum ab. Aber als Gino bellte, bewegte sie sich. Erst irgendwie unentschlossen. Dann aber fast wie von einer Tarantel gestochen. Gino hat aber auch immer heftiger zu bellen begonnen. Das macht er eigentlich eher selten.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte der Köstlbacher.
»Nun, entweder er freut sich sehr. Dann klingt das Bellen aber anders. Oder er hat Angst. Dann klingt es auch wieder anders.«
»Und wie hat es gestern geklungen?«, wollte der Köstlbacher wissen.
»Gestern? Irgendwie aggressiv. Er mochte die dunkle Gestalt offensichtlich nicht. Hunde sind diesbezüglich sehr sensibel. Gino ist schon alt. Er sieht kaum noch. Seine Welt besteht aus Gerüchen. Und das, was er hier in die Nase bekam, schien ihm nicht gefallen zu haben.«
Der Köstlbacher machte sich dazu ein paar handschriftliche Notizen in ein kleines schwarzes Büchlein, das an ein Gebetsbuch erinnerte.
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Ich habe es ja viel mit Menschen zu tun, aber sehr eigenartig fand ich, dass ich nicht unterscheiden konnte, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelte. Schon seltsam, oder? Aber vielleicht war doch nur das schlechte Licht daran schuld. Und ganz ehrlich, ich habe dann auch nicht weiter darüber nachgedacht, weil die Person hinab in Richtung Friedhof im Halbdunkel verschwand, während ich mit Gino die andere Richtung einschlug.«
»Hm! Vorher schon einmal gesehen haben Sie diese Person nicht?«
»Definitiv nicht. Daran würde ich mich erinnern.«
»Ach ja, Ihr Mann sagt, Sie kennen diese Joggerin vielleicht?«
»Kennen ist nicht der richtige Ausdruck. Ich habe sie schon hin und wieder gesehen und das eine oder andere Mal ein ›Hallo!‹ mit ihr gewechselt. Mehr nicht.«
»Und sie kam immer bergauf hier vorbei?«
»Ob sie das immer so machte, das kann ich nicht sagen. Aber ich habe sie nie anders hier vorbeikommen sehen. Vielleicht drehte sie eine Runde. Aber bezeugen kann ich das nicht, weil ich so gut wie nie im Laufe des Vormittags mit Gino rausgehe. Zudem sind später so viele Leute hier unterwegs, dass man auf eine einzelne Person nicht mehr achtet.«
»Hm!«, brummte der Köstlbacher erneut, nicht besonders zufrieden mit dem, was er zu hören bekommen hatte. Weitere Fragen würden im Moment zu nichts führen. Daher bedankte er sich und verließ das Anwesen. Am immer noch offenstehenden Tor kam ihm der Baldauf entgegen.
»Die Kollegen von der Streife haben ihren Wagen gefunden. Einen Mini. Jetzt wissen wir auch, um wen es sich bei der Toten handelt.«
Kapitel 5
Die Kommissarin Martina Cuscunà hielt im Präsidium der Kripo in der Bajuwarenstraße 2c die Stellung. Ihr Chef, der Köstlbacher, war mit dem Baldauf immer noch oben in der SEIDENPLANTAGE, die Kommissarin Koch mit ihrer Hündin unterwegs zu ihm. Und alle anderen Kollegen und Kolleginnen hatten Ortstermine wegen anderer Ermittlungen. Seit Wochen ein seltener Zustand, dass jeder einer Beschäftigung nachging, die nicht nur zum Todschlagen von Dienstzeit angeordnet worden war.
Nicht etwa, dass das Nichtstun bei der Polizei, insbesondere bei der Kripo, der Normalzustand wäre. Es ist in der Tat eher der Ausnahmezustand. Aber seit dieses Virus das öffentliche Leben derart lahm legte, passierte einfach nicht mehr so viel. Zumindest nicht bei der Kripo. Die in den Straßen patrouillierende Polizei hingegen musste Überstunden schieben. Letztendlich eine Begleiterscheinung von COVID-19, zumindest der daraufhin angeordneten Einschränkungen und Vorschriften, deren Einhaltung es zu überwachen galt. Natürlich stieg im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie die häusliche Gewalt, die ein Einschreiten der Kripo allerdings nur in Ausnahmefällen nötig machte. Zumindest dem Köstlbacher seine Truppe wurde in aller Regel erst gerufen, wenn schwere Körperverletzung vorlag, und der Tathergang nicht eindeutig war. Zum Glück hielten sich solche Vorkommnisse in Regensburg in Grenzen.
Mag sein, in Berlin oder Hamburg, vielleicht sogar in München, war die Sachlage anders. Millionenstädte waren immer schon anders dimensioniert. Wenn in Regensburg 150 Leute an einer Demo mitmachen, und das Wort ›randalieren‹ den meisten davon ein Fremdwort ist, dann geben sich in Berlin vor dem Brandenburger Tor schnell mal 20 Tausend und mehr Demonstranten ein Stelldichein. Und ein paar, die so eine Demo gerne dazu nutzen, gehörig Dampf abzulassen, sind immer darunter. Aber in Regensburg …? Natürlich gibt es auch in Regensburg ein paar Bescheuerte, aber die wären notfalls auch mit einer Wasserpistole zur Ruhe zu bringen. Ob die Polizei in Regensburg über einen Wasserwerfer, quasi die professionelle Version der Wasserpistole, verfügt, das ist ernsthaft zu bezweifeln.
Also gingen seit dem Ausbruch der Pandemie größere Straftaten, bei denen Personen zu Schaden kamen, erst einmal zurück. Bis sich die neue Situation dann einzupendeln begann. Vielleicht auch, weil sich einiges aufgrund all der Einschränkungen aufgestaut hatte.
Vergleichen lässt sich das gut mit dem Geschehen in einem Vulkan. Lange passiert nichts. Der Druck wird stärker, was höchstens an einigen Rauchwölkchen zu erkennen ist. Aber irgendwann steigt der Druck ins Unermessliche und er bricht aus. So einen triebgeleiteten Verbrecher zum Beispiel, den können äußere Umstände durchaus einmal längere Zeit davon abhalten, wieder aktiv zu werden. Aber eben nur längere Zeit und nicht für immer.
Jedenfalls bekam die Kripo plötzlich wieder alle Hände voll zu tun. Das oben in der SEIDENPLANTAGE war dabei erst der Anfang.
Trotzdem schlug zumindest für den Moment eine damit in aller Regel einhergehende Hektik bis ins Präsidium noch nicht durch. Die Kommissarin Martina Cuscunà hatte noch immer nichts Konkretes zu tun und träumte, während sie an ihren Fingernägeln herumfeilte, vom letzten Jahnspiel, wo sie geschlagene 90 Minuten am Stück ganz ungeniert all die attraktiven Spieler beobachten konnte, ohne deswegen gleich als Voyeurin verdächtigt zu werden.
Frau Cuscunà war noch nicht besonders lange im Team vom Köstlbacher. Böse Zungen behaupteten, sie hätte diesen Posten nur erhalten, weil sie eine Freundin der Staatsanwältin Dr. Simone Becker war. Eine dieser bösen Zungen war die Edith Klein, die Sekretärin vom Köstlbacher. Aber wer die Edith Klein kennt, der kann sich denken, warum die so etwas erfand. Martina Cuscunà konnte es als einzige im direkten Team vom Köstlbacher mit seiner Sekretärin in punkto Aussehens aufnehmen. Nicht etwa, weil beide blond waren. Deswegen schon dreimal nicht, weil die Klein ihre Haare ja immer wieder anders färbte. Aber die Cuscunà war auf ihre Art ebenso attraktiv wie die Klein. Und das hatte was zu sagen, weil die Klein bislang unumstritten als die schönste Frau im Präsidium galt. Von der Staatsanwältin einmal abgesehen.
Das sah auch der Köstlbacher so, wenngleich er es nie zugab, damit seine Anna ihm zu Hause wegen seiner Sekretärin nicht noch mehr die Hölle heiß machte.
Dass es außer der Klein inzwischen diese Cuscunà im engeren Team ihres Mannes gab, das war der Anna Köstlbacher zwar schon zu Ohren gekommen, aber das störte sie nicht. Noch nicht! Ihr Groll war außer auf die Klein momentan mehr auf die Staatsanwältin Dr. Simone Becker gerichtet, mit der ihr Edmund im engen beruflichen Kontakt stand. In zu engem Kontakt, wie es ihr schien, was allerdings nur ein Auswuchs ihrer blühenden Fantasie war. Wirklich eng, zumindest räumlich gesehen, arbeitete der Edmund nur mit seiner Sekretärin zusammen. Immerhin versorgte die ihn auch mit Getränken und Leckereien, wenn ihm danach war, hin und wieder sogar mit einer deftigen Brotzeit.
Martina Cuscunà, die von den ›Problemen‹ der Frau ihres Chefs nichts wusste, war immer noch in Gedanken versunken. Ihr verträumter Blick wäre jedem Beobachter sofort aufgefallen. Aber es gab keinen Beobachter. Nur ein Telefon, das gerade jetzt, außer zu klingeln, auch noch rot blinkte. Das rote Blinken war dafür gedacht, dass sie, falls sie gerade in einer Besprechung wäre und nicht gestört werden wollte, wenigstens sehen konnte, dass jemand anrief.
»Hallo Martina«, begrüßte sie ihre Freundin, die Staatsanwältin Frau Dr. Simone Becker.
»Hallo Simone! Du überraschst mich. Ein privater Anruf bei mir im Dienst?«
»Da muss ich Dich enttäuschen, liebe Martina, ist nicht privat. Ich kann nur niemanden im Präsidium erreichen. Die Klein hat mich bereits informiert, was los ist. Leider ist auch Euer Abteilungsleiter Lenz nicht im Haus.«
»Er hat einen Termin in München, sollte aber eigentlich schon längst zurück sein! Was kann ich für dich tun?«
»Unsere gemeinsame Freundin Petra Herrmann hat mich angerufen. Sie hat wegen der Mord-Sache da oben vor der Seidenpantage Angst, Kundschaft zu verlieren und möchte gerne, dass seitens der Kripo bald eine Pressekonferenz abgehalten wird, um die Leute zu beruhigen. Ich weiß natürlich, dass das nicht in deiner Macht steht. Aber vielleicht kannst du diesbezüglich den Köstlbacher sensibilisieren, sobald er zurück ist? Natürlich melde ich mich später noch selbst bei ihm. Aber du kennst ihn ja. Er kann sehr ruppig werden, wenn er sich überfallen fühlt. Zumal, wenn er erfährt, dass wir beide die Petra kennen. Verheimlichen lässt sich das auf Dauer kaum.«
»Ich werde mein Bestes tun. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass ihn nur eine dienstliche Anweisung überzeugen wird.«
»Wird notfalls von mir persönlich ergehen. Aber trotzdem wäre etwas Vorfühlen sicher nicht verkehrt. Ich möchte vermeiden, dass meine Intervention im Zusammenhang mit meiner Freundschaft mit Petra gewertet wird.« ›Wasallerdingssoist!‹, dachte Martina und beendete das Gespräch.
Kapitel 6
Die ersten Kunden für die ›Dayspa‹, zwei Frauen und ein Mann, hatten sich inzwischen auf den Weg gemacht, um ihre gebuchten Anwendungen in der SEIDENPLANTAGE zu genießen. Zwar waren zu diesem Zeitpunkt immer noch einige Kräfte der Polizei und der Kripo vor Ort, aber ›The showmust go on!‹ Schließlich war in der SEIDENPLANTAGE selbst nichts passiert. Warum also Leute nach Hause schicken, die sich schon lange auf ihren Aufenthalt in den verspielen Räumen der ›Dayspa‹ freuten, in denen sie sich in die orientalische Welt aus ›1000undeineNacht‹ versetzt fühlen konnten. Zumal der erste Corona-Lockdown das lange genug unmöglich gemacht hatte.