Franziska, der Schatz des Doktors und die preußische Marine - Kristina Ruprecht - E-Book

Franziska, der Schatz des Doktors und die preußische Marine E-Book

Kristina Ruprecht

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Beschreibung

Rügen im Frühsommer 1862. Die Erinnerung an die Verdienste ihres verstorbenen Mannes und die Aussicht auf ein Leben als Anhängsel ihrer Verwandten: Das ist alles, was Franziska Meistersinger von ihrer kurzen Ehe mit einem Wissenschaftler geblieben ist. Auf Gut Polkvitz, bei ihrer schwangeren Cousine Luise, will sie über den Verlust hinwegkommen. Durch Zufall erfährt Franziska hier die wahren Gründe für ihre Ehe und trifft auf Verwandte, die ihr Mann ihr verschwiegen hatte. Sie erlebt auch, wie der geplante Bau eines Flottenstützpunktes die Gemüter der Inselbewohner erhitzt. Ausgerechnet Luises Schwager, Leutnant Justus-Otto von Veldhain, ist für die Vorbereitungen zu diesem Bauprojekt verantwortlich. Ein Umstand, der dazu führt, dass die Idylle auf Polkvitz des Öfteren gestört wird. Mit der Zeit entwickelt Franziska Gefühle für Justus-Otto. Dass dieser plötzlich verschwindet und für tot erklärt wird, stürzt sie in tiefste Verzweiflung. Bald häufen sich jedoch die Ungereimtheiten und Franziska glaubt nicht mehr an einen Unfall. Haben die Nachbarn des Gutes, der neugierige Pfarrer Dölström oder der Altertümer sammelnde Landarzt Schönborn, der sich für die junge Witwe interessiert, etwas damit zu tun?

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Über dieses Buch

Rügen im Frühsommer 1862.

Die Erinnerung an die Verdienste ihres verstorbenen Mannes und die Aussicht auf ein Leben als Anhängsel ihrer Verwandten: Das ist alles, was Franziska Meistersinger von ihrer kurzen Ehe mit einem Wissenschaftler geblieben ist.

Auf Gut Polkvitz, bei ihrer schwangeren Cousine Luise, will sie über den Verlust hinwegkommen. Durch Zufall erfährt Franziska hier die wahren Gründe für ihre Ehe und trifft auf Verwandte, die ihr Mann ihr verschwiegen hatte. Sie erlebt auch, wie der geplante Bau eines

Flottenstützpunktes die Gemüter der Inselbewohner erhitzt.

Ausgerechnet Luises Schwager, Leutnant Justus-Otto von Veldhain, ist für die Vorbereitungen zu diesem Bauprojekt verantwortlich. Ein Umstand, der dazu führt, dass die Idylle auf Polkvitz des Öfteren gestört wird. Mit der Zeit entwickelt Franziska Gefühle für Justus-Otto. Dass dieser plötzlich verschwindet und für tot erklärt wird, stürzt sie in tiefste Verzweiflung.

Bald häufen sich jedoch die Ungereimtheiten und Franziska glaubt nicht mehr an einen Unfall. Haben die Nachbarn des Gutes, der neugierige Pfarrer Dölström oder der Altertümer sammelnde Landarzt Schönborn, der sich für die junge Witwe interessiert, etwas damit zu tun?

Der vorliegende Roman ist auch als e-Book erhältlich

Die Autorin

Kristina Ruprecht studierte Germanistik und Politikwissenschaft in Stuttgart und arbeitete als PR-Texterin und freie Journalistin in den Bereichen Wirtschaft und IT.

Auf Rügen verbrachte sie jahrelang den Sommer, verliebte sich in die Insel und entdeckte ihre wechselvolle Geschichte.

Franziska, der Schatz des Doktors und die preußische Marine ist ihr zweiter historischer Roman.

Der Vorgänger Sauerwasser und Jungfernpalme spielt im hessischen Bad Schwalbach kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg.

Ein historischer Roman über Bad Ems ist in Vorbereitung.

Für Günter

Personenverzeichnis

Auf Gut Polkvitz

Herrschaften:

Karl-Friedrich von Veldhain – Gutsbesitzer

Luise Victoria von Veldhain – seine Frau

Justus-Otto von Veldhain (Justo) – Bruder des Gutsbesitzers,

Franziska Meistersinger – Luises Cousine

Ferdinand Meistersinger – Franziskas verstorbener Ehemann

Regina von Oberbach – Luises Mutter und Franziskas Tante

Bedienstete:

Johanna – Kammermädchen

Emma Haase – Mamsell/Haushälterin

Agathe – Hausmädchen

Erika – zweites Hausmädchen

Wilhelm – Kammerdiener

Reinhard Delbrück – Gutsverwalter

Bertha – Köchin

Jule und Frauke – Küchenmädchen

Gustav – Kutscher

Hermann – Gärtner

Fritz – Justus-Ottos Bursche

Moritz Adler – Wasserbauingenieur

Ludolf Mühlbach – Vermessungsingenieur

In Sagard

Ignatius Dölström – Pfarrer

Asta Dölström – seine Frau

Otto Schönborn – Arzt und Altertumsforscher

Hans – sein Kammerdiener

In Sassnitz

Rieke Krüger (geb. Meistersinger) – Ferdinands Schwester

Grete Krüger – ihre Tochter

Thies Krüger – ihr Sohn

Sonstige

Rufus von Detziw – Gutsbesitzer

Bernhard von Detziw – sein Sohn

Iphigenie von Liesegang – wohltätige Dame

Ottilie von der Sulenburg –Verwandte der Veldhains

Botho von der Sulenburg – ihr Sohn

Sophie-Auguste von Veldhain-Lüssel – Cousine von Justo

Fritz von Lüssel – ihr Mann

Ida Sunesun – Hebamme aus Lauterbach

Professor Heimersheimer – Ferdinands Mentor

Helmer Brinkmann – Ferdinands Assistent

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

Rügen 1862

1. Kapitel

Wenn ich sage, ich fahre Sie nicht, dann meine ich das auch so! Von mir aus können Sie hier verrotten!“

Jemand spuckte laut aus. Der aufgebrachte Mann musste sich direkt vor den Pferden auf der Straße befinden, denn die Kutsche, die schon seit Stunden rüttelte, rasselte, stieß und schaukelte, hatte endlich einmal angehalten.

Franziska Meistersinger reckte den Hals, um aus dem schlierigen Seitenfenster etwas sehen zu können. Auf der gegenüberliegenden Bank rappelte sich Johanna in eine aufrechte Position. Einige blonde Strähnen waren aus ihrem Zopf entkommen und ringelten sich nun um ihr rosiges Gesicht. Verlegen strich sich das Kammermädchen über den Kopf. Johanna hatte es geschafft, bei diesem ganzen Gerumpel und Gepolter ein Nickerchen zu halten. Franziska beneidete sie. Sie selbst konnte seit Wochen kaum noch schlafen. Unwillkürlich griff sie nach der Herrentaschenuhr, die an einem schwarzen Samtband um ihren Hals hing. Das Segelschiff, das auf dem Deckel der Uhr eingraviert war, drückte sich in ihren Handballen.

Draußen platschte Wasser und eine weitere Schimpftirade ertönte: „Erst dafür sorgen, dass man brotlos wird und dann glauben, dass man ihn übersetzt!“

Johanna wischte an der Fensterscheibe herum, so, als könnte ein sauberes Glas bewirken, dass sich etwas Interessanteres zeigte als ein niedriges Gebüsch und eine Hauswand.

Die Tür des Coupés wurde von außen geöffnet. Justus-Otto von Veldhain streckte den Kopf herein. Seit Stralsund ritt er neben der Kutsche her, aber die frische Luft war wohl nicht der einzige Grund für sein gerötetes Gesicht.

„Wir haben hier einen kleinen Aufenthalt“, sagte er und Franziska hörte den unterdrückten Zorn in seiner Stimme. „Der Fährmann hat sich geweigert, uns überzusetzen, und sein Kollege muss erst herüberrudern.“ Er holte tief Atem.

Dann fuhr er etwas fröhlicher fort: „Um die Wartezeit zu verkürzen, kann ich den Damen einen Imbiss und eine Nase voll frischer Luft empfehlen.“ Er trat einen Schritt vom Wagen zurück und streckte die Hand aus, um den Frauen beim Aussteigen zu helfen.

Franziska musste sich an den Anblick von Justus-Otto, den Verwandte und Freunde nur Justo nannten, in Zivilkleidung erst gewöhnen. Vor zwei Jahren in Berlin, als sie ihn zuletzt gesehen hatte, trug er die Uniform eines Husarenleutnants.

Seit dieser Zeit hatte sich vieles verändert, aber die dicke braune Jacke, der leicht verwitterte Hut und die klobigen Reitstiefel taten Justos schneidigem Aussehen wenig Abbruch.

Die Aufforderung zum Aussteigen beantwortete Franziska mit einem Kopfschütteln. Für sie kam das nicht infrage. Johanna sank enttäuscht wieder in die Polster zurück.

„Du brauchst meinetwegen nicht hier drin bleiben“, sagte Franziska zu dem Kammermädchen. „Schau dir ruhig die Gegend an und schnapp frische Luft. Iss etwas.“

Johanna sollte nicht darunter leiden, dass sie keine Lust hatte, sich anstarren zu lassen.

Das Mädchen warf ihr einen traurigen Blick zu. Dann raffte sie ihre Röcke zusammen und drückte sich an Franziskas Knien vorbei. Franziska hatte gehofft, Justo würde zusammen mit Johanna fortgehen und sie endlich alleine lassen, aber er blieb hartnäckig am Kutschenschlag stehen. „Es tut mir leid, aber ich muss darauf bestehen, dass Sie aussteigen“, sagte er. „Das Coupé wird gleich auf dem Fährboot verladen und da ist es für alle Beteiligten besser, wenn es leer ist.“ Sein freches Grinsen hatte sich in den vergangenen Jahren jedenfalls nicht verändert. „Es kommt zwar selten vor, dass eine Dame hier ins Wasser fällt, aber es soll schon passiert sein.“

Ohne das Gesicht zu verziehen, reichte Franziska ihm die Hand und kletterte unbeholfen auf den metallenen Tritt, der außen am Coupé angebracht war. Von dort aus war es nur ein Schritt auf das hölzerne Treppchen, das der Kutscher bereitgestellt hatte. Das gleißende Licht und die kühle klare Luft waren nach der langen Fahrt in der stickigen Kutsche ein Schock. Franziska war dankbar dafür, dass sie sich auf Justos Arm stützen konnte. Wenn sie so lange bewegungslos saß, dann wurde es mit ihrem Bein immer schlimmer.

Das Haus, vor dem die Kutsche hielt, war ein Gasthof. ‚Boddenblick‘ stand auf der weiß getünchten Fläche über der offenen Tür. Eine Magd saß auf der Bank in der Sonne und schälte Kartoffeln. Die Schalen warf sie den Hühnern zu, die sich um ihre nackten Füße drängten. Ein halbwüchsiger Junge lehnte neben ihr an der warmen Hauswand und hielt die Zügel eines Reitpferdes, während er sich im Stehen einem Mittagsschläfchen hingab. Das Pferd ließ sich vom gackernden und flatternden Federvieh nicht stören und döste ebenfalls vor sich hin. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße war ein Schutzdach und darunter ein Wassertrog. Hier hatte Justo seine Fuchsstute angebunden.

Die Straße hörte an dem vor ihnen liegenden Gewässer einfach auf. Es gab nur noch einen hölzernen Landungssteg. Draußen auf dem Wasser ruderte jemand ein breites flaches Boot mit wütenden Bewegungen davon.

„Was machen wir hier?“, fragte Franziska.

„Wir warten auf das zweite Fährboot, um auf die andere Seite des Boddens zu gelangen.“

Franziska runzelte die Stirn. „Aber wir sind doch bereits auf der Insel!“ Warum sollte sie nochmals in ein Boot steigen? Sie hasste Schifffahrten. Egal, wie kurz sie ausfielen, die Erinnerungen, die sie heraufbeschworen, waren zu schmerzlich.

„Rügen ist recht eigenwillig geformt.“ Justo deutete auf die von Möwen, Schwänen, Enten und Gänsen bevölkerte Wasserfläche vor ihnen. „Der Jasmunder Bodden ist ein Meeresarm, der die Insel praktisch halbiert. Er trennt die Halbinsel, auf der Polkvitz liegt, vom Rest Rügens. Wenn wir ihn umfahren würden, dann bräuchten wir fast fünf Stunden länger.“

Eine Viertelstunde Angst und Schweißausbrüche gegen eine stundenlange aufreibende Kutschfahrt. Schwierige Wahl. So wie es aussah, wurde Franziska die Entscheidung jedoch abgenommen: Der Kutscher spannte die beiden Braunen aus, führte sie zu dem Wassertrog unter dem Schutzdach und machte sich daran, die Riemen an ihren Geschirren neu zu ordnen.

Die junge Frau tat einen vorsichtigen Schritt zur Seite, um einen besseren Blick auf den Bodden zu bekommen. Das Wasser ruhte fast bewegungslos zwischen ihnen und dem Dorf am Ufer gegenüber. Ein bewaldeter Hügel erhob sich hinter der flachen Landspitze, auf der die Häuser standen. Am Strand lagen Boote, daneben hatte man Fischernetze zum Trocknen aufgehängt und aus den Schornsteinen der schilfgedeckten Katen kräuselte sich Rauch. Ein hölzerner Anleger bildete das Gegenstück zu dem Steg, neben dem sie standen.

„Das ist Lietzow“, sagte Justo. „Dort geht die Straße weiter.“ Das Dorf unter dem weiten Himmel wirkte, als sei es aus einem Gemälde gefallen.

„Es sieht so friedlich aus“, sagte Franziska.

„Das bleibt nicht so!“, raunzte der Herr, der unvermittelt hinter ihr und ihrem Begleiter aufgetaucht war. Ohne seinen altmodischen Zylinder vor der Dame zu lüften, starrte er die beiden erbost an. „Nicht mehr lange, dann ist es aus mit Ruhe und Frieden“, wiederholte er. „Dafür wird der Herr Kriegsmarine hier schon sorgen!“ Die Daumen in den Vordertaschen der karierten Weste eingehakt, wandte er sich direkt an Justo. „Jede Waschfrau zerreißt sich das Maul darüber, was hier bald los ist.“

„Und Sie erzählen den Klatsch munter weiter und tragen ihn noch zu Ohren, die ihn besser nicht hören sollten“, sagte Justo. „Vielleicht sollten Sie alles, was Sie zu wissen glauben, gleich ohne Umwege der dänischen Regierung telegrafieren.“

„Wollen Sie mich des Landesverrats bezichtigen?“, kollerte der Mann. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen.

„Ich unterstelle Ihnen gar nichts“, sagte Justo, „aber wenn in Kopenhagen die Spatzen von den Dächern pfeifen, was wir hier planen, dann weiß ich, an wen ich mich zu halten habe.“

Der fremde Mann sah ihn hasserfüllt an. Dann wandte er sich mit einer verächtlichen Geste ab und stiefelte davon.

„Ich hoffe, er hat Sie nicht erschreckt“, sagte Justo zu Franziska. „Er vergisst manchmal die guten Umgangsformen – besonders, wenn er mich sieht.“

„Wer war das?“

„Rufus von Detziw. Ein Nachbar. Einer von den weniger angenehmen.“ Justo schaute auf den Bodden hinaus. Sein Gesichtsausdruck signalisierte eindeutig, dass er über diese Begegnung nicht zu reden wünschte.

Eine Windbö brachte den schwarzen Rock von Franziskas Kleid zum Flattern und hätte ihr fast den Hut vom Kopf gerissen. Während sie die Bänder der Schute unter ihrem Kinn zu einer festen Schleife band, verrauchte Justos Ärger.

Er bot Franziska den Arm und führte sie quer über die Straße. Dabei mussten sie mühsam durch den lockeren Sand waten, zu dem Fuhrwerke, Kutschen, Karren und Reiter an dieser Stelle die Fahrbahn zerwühlt hatten. Franziska war dankbar, dass sie sich auf Justo stützen konnte. Ihr Bein schmerzte und sie wusste, dass ihr humpelnder Gang alles andere als elegant aussah.

Der Garten des Gasthauses bestand aus einem verwitterten Holztisch, der nebst einer Bank und zwei Stühlen im Schatten einer alten Esche platziert war. Er bot einen schönen Blick übers Wasser. Auf der Uferböschung hatte es sich ein Schwan gemütlich gemacht und hielt mit dem Kopf im Gefieder seinen Mittagsschlaf. Johanna war bereits hier und wedelte mit ihrem Taschentuch auf der Tischplatte herum. Dann rückte sie einen der Stühle zurecht. „Frau Franziska, bei diesem Wind sollten Sie Ihren Schal umlegen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte das Kammermädchen zur Kutsche. Justo ging hinüber ins Gasthaus.

Franziska ließ sich auf den Stuhl nieder. Die Luft war herrlich. An so einem kühlen Tag hätte in Berlin der Rauch aus den Kaminen sogar die Gerüche nach Müll und Pferdemist überdeckt. Mit dem Gedanken an zu Hause kam die Erinnerung an Ferdinand wieder. Ihre Hand suchte die Uhr an ihrem Hals.

Auf der Wasserfläche des Boddens näherte sich ein breites flaches Boot, das von einem Mann und einem Jungen mit langen Stangen gemächlich in ihre Richtung gestakt wurde. Die Fähre. Franziska lenkte sich von ihrer aufkommenden Panik ab, indem sie an Luise dachte, die Cousine, mit der sie ihre Jugend verbracht hatte und die sie nun auf Gut Polkvitz wiedersehen würde.

Ein Schreckensruf von Johanna ließ sie herumfahren.

Das Mädchen hatte den Schal aus der Kutsche geholt und war nun auf dem Rückweg über die Straße. Mit der einen Hand hob sie ihren Rock, damit er nicht im Staub schleifte, mit der anderen drückte sie den Schal an sich. Ihr Hauptaugenmerk galt dem Boden, um im zerwühlten Sand nicht zu stolpern oder sich den Fuß zu vertreten. Daher war ihr das Pferd entgangen, das gerade eben noch friedlich vor dem Gasthaus gestanden hatte. Jetzt saß Rufus von Detziw auf dem Rücken des Tieres und galoppierte so rücksichtslos durch den Sand, dass er Johanna fast umriss.

„Was für ein Rüpel!“ Franziska schaute dem in einer Staubwolke davonreitenden Gutsherrn hinterher. Hoffentlich hatte Luise nicht allzu viel mit ihm zu tun.

Obwohl dem hellgrauen Wollschal nichts passiert war, klopfte Johanna ihn sorgfältig aus, bevor sie ihn Franziska um die Schultern legte. Dankbar zog diese die vorderen Enden über der Brust zusammen und gestattete sich einen Moment lang, dieses Umsorgtwerden zu genießen. Aber sie durfte sich nicht daran gewöhnen. So zuvorkommend sich Johanna ihr gegenüber zeigte, sie waren lediglich Reisegefährtinnen. Auf Polkvitz würde sich das Mädchen um Luise und deren zukünftige Kinder kümmern.

Gefolgt von der barfüßigen Magd kam Justo zurück. Offenbar hatte er bereits bestellt, denn die Frau breitete wortlos eine Decke über den Tisch und brachte Kaffee, Brot und eine dicke Fischsuppe. Franziska schnüffelte misstrauisch. Für Fisch hatte sie wenig übrig.

„Wir sind hier am Meer“, sagte Justo zwischen zwei Löffeln Suppe. „Der Fisch ist ganz frisch und etwas Warmes im Magen wird Ihnen guttun.“

Skeptisch probierte Franziska. Das Gericht war heiß und schmeckte nach Mohrrüben, Kartoffeln und Sellerie, nur die zarten Fischstückchen verrieten, um was für eine Suppe es sich handelte. Johanna füllte Franziskas Teller fast bis zum Rand.

Als sie das Mittagessen beendet hatten, legte das Fährboot am Steg an. Justo ging hinüber und rief dem Fährmann einen Gruß zu, den dieser mit Knurren und einem düsteren Blick quittierte. Danach kletterte der Mann an Land und deutete auf die Kutsche: „Soll die mit?“

Auf Justos knappes Nicken hin ging der Fährmann in den Gasthof. Der Leutnant zog eine kurze Pfeife und Streichhölzer aus der Tasche, lehnte sich an das Geländer des Steges und schaute rauchend über den Bodden.

Der Junge des Fährmanns vertäute den Bug des Bootes fest am Steg und legte zwei starke Bohlen bereit. Dann zog er einen Kanten Brot aus der Kiste unter der Ruderbank, setzte sich gemütlich zurecht und begann zu schmausen. Als er das Brot aufgegessen hatte, kam der Fährmann mit zwei weiteren Männern zurück. Gemeinsam zogen und schoben sie die leere Kutsche auf den Holzsteg und von dort aus mit Ächzen, Fluchen und einigen gefährlich aussehenden Schlingerbewegungen über die Bohlen auf die Fähre. Als die Hilfskräfte ihren Lohn erhalten hatten, wurden die Frauen herangewinkt. Franziska ließ Johanna vorangehen.

„Was wird aus den Pferden?“, erkundigte sie sich, während das Mädchen über den breiten Balken hinüber auf die Fähre balancierte.

„Die nehmen die Furt“, sagte Justo, „das ist ihnen lieber als das schwankende Boot.“

Franziska hätte auch so einiges gegen das Bootfahren einzuwenden gehabt, und noch weniger als der Fährkahn gefielen ihr die geländerlosen Bohlen, die zu ihm führten. Ihre Blicke saugten sich an dem glucksenden Wasser zwischen dem Bug des Bootes und dem Steg fest. Sie hatte den Eindruck, dass sie inzwischen alle anstarrten.

Justo wies den Fährmann an, noch einmal die Bremsklötze der Kutsche zu überprüfen. Der Mann knurrte zwar, wagte aber nicht zu widersprechen und ging auf die andere Seite des Bootes. Plötzlich stand Justo wieder an Franziskas Seite, hob sie hoch und trug sie die drei Schritte auf den Fährkahn. Dort stellte er sie abrupt auf den Planken ab und trat zur Seite. Das Ganze war so schnell gegangen, dass Franziska gar keine Zeit für Einwände oder Bedenken fand.

Der Fährmann und sein Junge zogen nun die Bohlen ins Boot und lösten die Vertäuung am Steg. Während sie die Fähre langsam durch das flache Wasser stakten, konzentrierte sich Franziska auf den Kutscher an Land, der sich auf eines der beiden Pferde schwang, die Zügel des anderen fasste und gemächlich über den sanft abfallenden Strand in den Bodden ritt.

„Die Tiere werden nicht einmal schwimmen müssen“, meinte Justo, „das Wasser ist sehr seicht. Bald wird hier ein Damm gebaut, dann können die Kutschen ohne Halt durchfahren und dieser ganze Aufwand gehört der Vergangenheit an.“

Der Fährmann, der zugehört hatte, spuckte über den Bootsrand ins Wasser.

2. Kapitel

Haben Sie schon unsere Leberwurst probiert?“ Karl-Friedrich von Veldhain zeigte mit dem Buttermesser auf den Wurstrest, der auf einer silbernen Platte lag. „Ein altes Familienrezept, das meine Luise entscheidend verfeinert hat.“ Zum Beweis seiner Aussage angelte sich der rundliche Gutsherr noch eine Scheibe Brot aus dem Korb, der vor ihm stand, und schmierte einen ganzen Batzen der gepriesenen Leberwurst darauf.

Franziska winkte ab. Zurzeit bekam sie ohnehin nicht viel herunter und mit Leberwurst würde sie es gar nicht erst versuchen.

„Du hältst dich sicher lieber an die süßen Sachen.“ Luise schob das Tablett, auf dem Gläser mit Honig und Marmelade standen, in Franziskas Richtung.

„Das Johannisbeergelee ist auch delikat“, bestätigte Karl-Friedrich und strich sich über die bestickte Weste, die am Bauch recht stramm saß. Luise warf ihrem Mann einen liebevollen Blick zu.

Polkvitz lag in der tiefsten Provinz, aber das Speisezimmer hätte man auch in der Hauptstadt nicht verstecken müssen. Der Raum war bis zur Schulterhöhe mit weiß lackiertem Holz getäfelt, darüber schimmerte eine goldfarbene Seidentapete. Die Anrichte aus Nussbaumholz und der Esstisch unter dem glitzernden Kronleuchter waren mit Sicherheit von Luise ausgesucht und wahrscheinlich von ihrer Mitgift bezahlt worden, ebenso wie die blassblauen Vorhänge. Durch die hohen Fenster schien die Morgensonne und machte die in den Silberleuchtern brennenden Kerzen lächerlich. Es duftete nach frischem Kaffee und über allem schwebten die würzigen Aromen der geräucherten Würste und Makrelen. In regelmäßigen Abständen schaute das Dienstmädchen herein und fragte, ob noch Rühr- oder Spiegeleier gewünscht würden. Ein Angebot, von dem Karl-Friedrich und Justo regen Gebrauch machten.

„Du brauchst dich nicht zu zieren. Ich weiß noch genau, was du früher für ein Schleckermäulchen gewesen bist“, sagte die Gutsherrin zu ihrer Cousine.

Justo, der ihnen gegenüber am Tisch saß, blickte auf. „Das sieht man ihr aber heute nicht mehr an“, bemerkte er. „Der Berliner Wissenschaftler war wohl so süß, dass sich die Marmelade erübrigte.“

Franziska spürte, dass sie bis unter die Haarwurzeln errötete. Dann stiegen ihr die Tränen in die Augen. Am liebsten hätte sie das Zimmer verlassen. Sie schloss die Hand um die Taschenuhr, die sie heute Morgen trotz aller Eile umgehängt hatte, und drückte sie an sich. Luise streichelte ihr über den Rücken. „Justo, das war ungezogen und geschmacklos“, sagte sie, „du solltest wirklich nicht immer versuchen, um jeden Preis witzig zu sein.“

Auch ihr Mann runzelte die Stirn. Der Getadelte schwieg. Er senkte den Blick und wischte mit einem Stück Brot die letzten Reste seines Rühreis vom Teller.

Karl-Friedrich sorgte für ein Ende des peinlichen Schweigens. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute in die Runde. „Heute kommt der Viehhändler aus Stralsund – er will ein Angebot für unsere Jungbullen machen.“

„Dann sehen wir, ob das neue Kraftfutter wirklich seinen Preis wert ist“, sagte Luise.

Karl-Friedrich lächelte und die kleinen Fältchen neben seinen Augen vertieften sich. „Wenn dem so ist, dann bleibt noch genug Geld für die Perlen übrig, die dir neulich so gefallen haben – also drück die Daumen.“ Er schob seinen Stuhl zurück, gab seiner Frau einen Schmatz auf die Wange und eilte zur Tür hinaus. Die beiden großen schottischen Jagdhunde, die während des Frühstücks zu seinen Füßen gelegen hatten, tapsten hinter ihm her.

Auch Justo erhob sich vom Tisch. „Die Arbeit ruft.“ Nach einer geschmeidigen Verbeugung, die an niemanden im Besonderen gerichtet war, ging er.

Die beiden Frauen blieben allein im Speisezimmer zurück. Luise legte Franziska die Hand auf den Arm. „Ich hoffe, du verzeihst das schlechte Benehmen meines Schwagers. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Als ihn Karl-Friedrich vor drei Tagen gebeten hat, dich in Stralsund abzuholen, da schien er sich über dein Kommen zu freuen.“

„Schon vergessen. Es bedeutet mir viel mehr, dich hier so gesund und glücklich zu sehen.“

Luise lachte. Ihre hellbraunen Locken unter der rüschenbesetzten Haube umrahmten ein Gesicht, das so rotwangig war, dass man es in Berlin wohl schon fast bäuerisch gefunden hätte, und ihre honigfarbenen Augen leuchteten.

„Es ist schön, dich wiederzuhaben“, fuhr Franziska fort, „aber so, wie es aussieht, hast du ja ohnehin Gesellschaft.“ Sie warf einen vielsagenden Blick auf Luises Leibesmitte. Ein deutlich sichtbarer Schwangerschaftsbauch wölbte sich unter dem weißen Musselinkleid.

„Ich bin trotzdem froh, dass du hier bist“, meinte Luise. „Als Gesprächspartner taugt das Kleine noch nicht viel.“ Sie legte zärtlich die Hand auf den Bauch.

Franziska schluckte. Sie hätte auch gern ein Baby gehabt, aber von dieser Hoffnung konnte sie sich wohl verabschieden.

„Ach, Fränzchen“, Luise schien zu ahnen, wie es ihrer Cousine ums Herz war. „Jetzt bleibst du erst einmal hier. Wir werden dich schon aufheitern.“ Sie grinste. „Stell dir vor, als ich Karl-Friedrich vor einem halben Jahr gesagt habe, dass ich glaubte, möglicherweise schwanger zu sein, da wollte er sofort loslaufen und eine Amme, eine Gouvernante und einen Hauslehrer anstellen – alles zusammen! Ich hatte Mühe, ihm das auszureden.“

Franziska lächelte schwach. „Deine Mutter hat darauf bestanden, dass ich dir Johanna mitbringe. Sie hat früher in einem Haushalt gearbeitet, in dem es sieben kleine Kinder gab.“

Luise blickte auf ihren Bauch hinunter. „Mutter war schon immer eine Optimistin.“

Das Dienstmädchen kam ins Speisezimmer. „Darf ich den Tisch abräumen?“

Luise nickte. Dann stemmte sie sich vom Stuhl hoch. „Was hältst du von einem kleinen Spaziergang? Ich zeige dir das Gut und vorher machen wir noch einen Abstecher in die Küche.“ Ein schelmisches Lächeln stahl sich über ihr Gesicht. „Dann siehst du gleich, wie ernst ich meine Pflichten als Gutsherrin nehme.“

Die geräumige weiß getünchte Küche lag im Untergeschoss des Gutshauses und besaß einen eigenen Ausgang. Durch die vergitterten Fenster blickte man in den Gemüsegarten und zum Hühnerstall. Mit der Köchin, einer korpulenten Frau in einer blendend weißen Schürze, besprach Luise das heutige Mittag- und Abendessen in aller Ausführlichkeit. Die beiden Küchenmädchen waren damit beschäftigt, Geschirr zu spülen. Franziska ging langsam zu dem einzigen Fenster, an dem keine Kräuterbündel trockneten, und schaute hinaus. Eine kleine grau gekleidete Frau verließ gerade mit einem Korb Eier unter dem Arm den Stall und kam energischen Schrittes auf die Küchentür zu.

„Das Pflaumenkompott in Zukunft bitte mit etwas weniger Zimt.“ Luise beendete ihren Monolog und die Köchin schnaufte zustimmend.

Als die kleine Frau hereingekommen war und ihren Korb vorsichtig auf den Tisch gestellt hatte, winkte die Gutsherrin ihre Cousine heran. „Das ist Emma Haase, unsere Mamsell.“

Die Mamsell stand aufrecht neben dem Tisch, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mit wachsamen Augen sah sie zu, wie Franziska herbeihumpelte. Dann deutete sie einen leichten Knicks an.

„Sie ist diejenige, die den ganzen Haushalt beaufsichtigt und mich von den gröbsten Fehlern abhält“, sagte Luise.

„Damit habe ich in letzter Zeit immer weniger zu tun.“

Franziska war außerstande zu entscheiden, ob die Mamsell das nun scherzhaft meinte oder nicht. Sie hatte keine Miene verzogen.

„Wir müssen dringend Salz einkaufen“, sagte Frau Haase, während sie die Eier in den Vorratsschrank räumte. „Bald beginnt die Gemüseernte und damit das Einlegen.“

„Veranlassen Sie das! Haben wir auch genügend Essig?“

Franziska staunte über die Entschlossenheit, mit der sich Luise in ihre Aufgaben als Gutsherrin stürzte. Früher hatte sie solch einen Enthusiasmus höchstens an den Tag gelegt, wenn es darum ging, die passenden Ohrringe zu einem Ballkleid auszuwählen. Jetzt bestimmte sie nicht nur, wann die Käse, die in der Molkerei reiften, gewendet werden durften, sondern auch die Anzahl der Enten, die man schlachten und die Gewürze, die man in die Wurst geben sollte.

„Da wären noch die Schinken …“, begann die Mamsell.

„Es ist wieder so weit.“ Luise wandte sich zu Franziska. „Jede Woche einmal kontrollieren wir die Schinken und Würste in der Vorratskammer, damit sie keine Gelegenheit haben, unbemerkt Schimmel anzusetzen.“

„Vier Augen sehen mehr als zwei“, sagte Emma Haase schlicht.

„Möchtest du schon einmal in den Garten vorausgehen?“, fragte Luise, „ich komme nach, sobald ich mich vergewissert habe, dass Karl-Friedrich auch in Zukunft die Leberwürste nicht ausgehen.“

Bevor Franziska den Garten aufsuchte, ging sie in ihr Zimmer, um ihren Hut zu holen. Dort überraschte sie Johanna, wie sie gerade die Haarbürsten und -nadeln, Kämme, Salbentöpfchen und Duftwässer auf dem Frisiertisch sortierte. Die Tür des Kleiderschranks stand offen und man sah, dass das Kammermädchen Kleider und Wäsche eingeräumt und sogar an die Gazesäckchen mit den Lavendelblüten gedacht hatte, die die Motten abwehren und für einen frischen Duft sorgen sollten.

„Frau Luise hat mir aufgetragen, Ihre Sachen auszupacken“, erklärte Johanna und knickste. „Außerdem ist es Frau Luises Wunsch, dass ich Ihnen während Ihres Aufenthalts hier weiterhin zu Diensten stehe.“ Sie rückte den Stuhl am Frisiertischchen zurecht. „Vielleicht dürfte ich kurz nach Ihren Haaren schauen?“

Franziska blickte in den Spiegel und seufzte. Das Mädchen hatte recht. Berliner Eleganz sah anders aus. „Aber nur etwas ganz Schlichtes, ich will den Hut aufsetzen.“

Johanna machte sich mit geschickten Fingern ans Werk. Wenig später erkannte sich Franziska kaum wieder. Mit Hilfe von etwas Haaröl war es Johanna gelungen, kastanienfarbenen Glanz in ihre Frisur zu zaubern. Der Knoten am Hinterkopf sah glatter und fülliger aus, als wenn Franziska sich selbst frisierte, und die Haarsträhnen, die vor ihren Ohren herabhingen, hatte das Kammermädchen geflochten und zu Schlaufen festgesteckt. Auf diese Weise betonten sie Franziskas große dunkle Augen. Johanna betrachtete ihr Werk kritisch und zupfte dann mit einem schelmischen Lächeln noch eine Locke aus dem Haarknoten, die sich nun wie zufällig über die Schulter ringelte. „Jetzt können Sie ausgehen.“

Luise traf gleichzeitig mit ihrer Cousine im Garten ein. Die Veränderung, die mit Franziska vorgegangen war, entlockte ihr ein beifälliges Nicken. „Nachdem ich nicht weiß, was Johanna zurzeit für mich tun könnte, halte ich es für eine gute Idee, wenn sie stattdessen für dich da ist“, erklärte sie in ihrem neuen befehlsgewohnten Tonfall, an den Franziska sich noch nicht gewöhnt hatte. Als Luise ihrer Cousine die blühenden Rosenbüsche im Gutsgarten zeigte und zu jedem Namen und Herkunft nannte, wurde sie jedoch unvermittelt wieder zu dem leicht zu begeisternden Backfisch, der sie in Berlin gewesen war. „Hier habe ich ganze Wagenladungen von Lavendel und Rosmarin pflanzen lassen, das passt wunderbar zu den Rosen – und Frau Haase freut sich, weil sie die Zweige im ganzen Haus verteilen kann.“

Sie lief Franziska voran zwischen den Beeten hindurch, die mit zierlichen Buchsbaumhecken eingerahmt waren. „Die Königslilien und der Goldlack blühen noch nicht, aber in vier Wochen wirst du sehen, was das für eine Pracht ist.“

Der hintere Teil des Gartens lag im Schatten mächtiger Eschen. Zwischen den Hortensienbüschen stand eine schmiedeeiserne, weiß angestrichene Laube.

„Im Frühling ist diese ganze Wiese weiß von Schneeglöckchen“, erklärte Luise mit einer ausholenden Bewegung. Franziska sah sich um. Eine verrostete Sonnenuhr stand auf einem Steinsockel und erzählte von den Zeiten, als die Eschen noch so klein gewesen waren, dass sie gelegentlich einen Sonnenstrahl durchließen. Den Abschluss des Gartens bildete eine Mauer aus verwitterten Backsteinen.

„Was ist dahinter?“, wollte sie wissen.

Luise öffnete die kleine Pforte, die in die Mauer eingelassen war. „Unsere Felder“, sagte sie mit dem Stolz einer Landwirtin. „Rüben, Kartoffeln und Roggen.“

Die beiden Frauen traten auf eine Straße hinaus, die sich zwischen Hügeln und wolkenbetupftem Himmel im Nirgendwo zu verlieren schien.

„Wo geht es da hin?“

„Nach Neddesitz, das ist noch ein Dorf mit einem Gutshaus – und einen Kreidebruch haben sie dort auch erschlossen.“ Luise wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, als eine Windbö den feinen weißen Straßenstaub aufwirbelte. „In der Gegenrichtung kommt man nach Bobbin, dort gibt es eine hübsche alte Kirche.“ Sie wedelte wieder eine Staubwolke fort. „Es sollte wirklich mal regnen. Dieses Frühjahr war viel zu trocken.“

„Da hinten kommt ein Wagen“, sagte Franziska und deutete Richtung Bobbin.

Luise kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Da das fuchsfarbene gedrungene Pferd einen flotten Trab lief, dauerte es nicht lange und sie konnte erkennen, wer die Zügel führte. Sie winkte.

Der dunkel gekleidete Herr zog die Zügel an. „Einen schönen Tag wünsche ich den Damen.“ Er musterte Luises Figur mit einem so interessierten Blick durch die runden Brillengläser, dass Franziska es fast als zudringlich empfand. „Sie sehen gut aus. Ich nehme an, dass alles in Ordnung ist.“

„Bestens!“ Einen Moment lang legte Luise die Hand zärtlich auf ihren Bauch. „Das ist unser Haus- und Hofarzt, Doktor Otto Schönborn.“

Der Arzt hob den grauen Zylinder und erlaubte den Damen einen kurzen Blick auf sein schütteres blondes Haupthaar. Dann betrachtete er Franziska von oben bis unten. Sie bemühte sich um ein freundliches Lächeln.

„Meine Cousine ist gestern angekommen“, fuhr Luise fort, „und war ebenfalls getrieben von der Sorge um mein Wohlergehen.“ Sie schob die Unterlippe vor und markierte ein Schmollen. „Offenbar ist meine Schwangerschaft das Einzige, das mich für meine Mitmenschen noch interessant macht.“

„Das ist auch die vornehmste Aufgabe einer Dame“, sagte der Arzt mit unbewegtem Gesicht und heftete den Blick wieder auf Franziska: „Sie sollten dringend mehr essen. Eier und Sahne würde ich empfehlen.“ Er nahm die Zügel auf. „Wie geht es Herrn Adler? Alles abgeheilt, hoffe ich?“

„Er ist praktisch wieder wie neu“, sagte Luise.

Doktor Schönborn schüttelte tadelnd den Kopf. „Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn er sich innere Verletzungen zugezogen hätte, dann wäre das Ganze nicht so glimpflich ausgegangen.“

„Ich werde ihm schöne Grüße ausrichten.“

Schönborn nickte, schnalzte mit der Zunge und sein Pferd trabte an.

Luise sah ihm nach, wie er in einer Staubwolke verschwand. „Guter Arzt, aber völlig humorlos.“

„Unhöflich ist er auch.“

„Aber was das Essen betrifft, hat er recht“, meinte Luise und ging durch das schmiedeeiserne Pförtchen zurück in den Garten. „Wir müssen dich wirklich aufpäppeln!“

Franziska tat, als ob sie ihre Cousine nicht gehört hätte. „Wer ist denn dieser Herr Adler und was hatte er?“

„Einer von Justos Mitarbeitern.“ Luise bückte sich schwerfällig, um ein vertrocknetes Hortensienblatt vom Rasen aufzuheben. „Er wurde verprügelt und Doktor Schönborn musste eine Platzwunde an seinem Kopf nähen.“

„Und ich dachte, auf dem Land geht es friedlich zu.“

Luise drehte das Hortensienblatt zwischen den Fingern. „Das tut es auch, aber dieses Hafenprojekt, an dem Justo zurzeit arbeitet, macht die Leute ganz verrückt.“ Sie warf das Blatt unter einen Busch.

„Hafenprojekt?“ Franziska schaute sie fragend an.

„Das ist alles hoch geheim. Aber soweit ich mitbekommen habe“, Luise lächelte unschuldig, „soll hier ganz in der Nähe ein riesengroßer Hafen für die Ostseeflotte gebaut werden.“

„Und Justo hat damit zu tun?“

„Allerdings“, Luise beugte sich vor. „Er arbeitet seit ungefähr zwei Jahren für die Admiralität“, flüsterte sie. „Offiziell ist er immer noch bei den Husaren. Aber in Wirklichkeit beaufsichtigt er hier auf Rügen die Planungen für das Bauprojekt und berichtet direkt an Prinz Adalbert.“

Franziska war beeindruckt. Prinz Adalbert von Preußen war eine schillernde Gestalt, die in den Berliner Salons für reichlich Gesprächsstoff sorgte. Nicht nur deshalb, weil er endlich die Seestreitkräfte aufbaute, die Preußen noch nie hatte. Man munkelte auch, dass es sich bei seiner Frau in Wahrheit nicht nur um eine Bürgerliche handelte, sondern um eine frühere Tänzerin, die vor Publikum aufgetreten war.

3. Kapitel

Nach dem Mittagessen überredete Franziska ihre Cousine, sich ins Schlafzimmer zurückzuziehen und auszuruhen.

„Das solltest du ebenfalls tun“, meinte Luise. „Aber da ich weiß, dass du dich nicht an meine Ratschläge halten wirst, empfehle ich dir stattdessen unsere Bibliothek.“

Als Franziska die Eingangshalle durchquerte, sah sie eine weiße Katze neben der Haustür sitzen. Das Tier bemerkte, dass sie zu ihm hinüberschaute, miaute laut und kratzte an der Tür.

„Du möchtest nach draußen?“ Franziska näherte sich langsam der Katze und beugte sich hinunter. Die Weiße ließ sich streicheln und drückte den Kopf in ihre Hand, damit sie nur ja weitermachte. Als auf der anderen Seite der Tür Schritte schwungvoll die Freitreppe heraufkamen, nahm Franziska die Katze auf den Arm und richtete sich auf. Keinen Augenblick zu früh, denn die Tür wurde mit Schwung aufgestoßen und die Frau konnte nur durch einen unbeholfenen Schritt zur Seite verhindern, dass sie die Klinke in die Rippen bekam. Dafür fand sie sich nun fast Nase an Nase mit Justo.

„Was machen Sie denn hier?“

„Die Katze wollte raus.“

„Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit“, sagte Justo knapp und wollte sich an ihr vorbeidrängen.

„Die von heute Morgen oder von gerade eben?“

„Bitte?“

„Ich wollte nur wissen, welche Unhöflichkeit ich Ihnen verzeihen soll.“

Justo verbeugte sich und Franziska hätte schwören können, dass er das nur tat, um ein Grinsen zu verbergen. „Verzeihen Sie mir bitte unbedingt alles, was Ihnen einfällt – aber jetzt bin ich in Eile.“

Franziska setzte die Katze nach draußen. Das Tier spazierte ohne Eile die Treppe hinunter. Als die junge Frau wieder hereinkam und die Tür hinter sich ins Schloss drückte, war Justo immer noch da und starrte auf ihre Brust.

„Sieht interessant aus, Ihr Kleid.“

Franziska schaute an sich herunter. Die Gutskatze steckte wohl mitten im Fellwechsel. Die Vorderseite des schwarzen Wollkleides war so dicht mit weißen Haaren bedeckt, dass die ursprüngliche Farbe kaum noch zu erkennen war. Sie versuchte, die Katzenhaare mit der Hand abzustreifen, aber mit wenig Erfolg.

„Lassen Sie es besser von Ihrem Mädchen ausbürsten“, meinte Justo, „so reiben Sie die Haare nur noch tiefer in den Stoff.“

„Besten Dank“, erwiderte Franziska, „Sie haben wohl schon einmal daran gedacht, Ihr Auskommen als Kammerbursche zu suchen?“

„Das nicht, aber ich habe genügend Erfahrung mit Pferdehaaren auf Uniformtuch. Da gibt es eine ähnlich innige Verbindung.“ Justo hatte sich inzwischen darauf besonnen, dass er nicht ohne Grund hierhergekommen war. Er wandte sich zur Treppe. Als er einige Stufen hinter sich gebracht hatte, drehte er sich noch einmal um. „Dieses Kleid steht Ihnen sowieso nicht. Der Schnitt ist grauenvoll und über die Farbe wollen wir lieber nicht reden. Sie sehen aus wie meine alte Gouvernante.“

Als sich Franziska beruhigt hatte, suchte sie ihr Zimmer im ersten Stock auf, damit Johanna sie von den Haaren befreite. Das könnte Justo so passen, dass sie sich nur wegen einer frechen Bemerkung von ihm umzog.

Auf dem Bett lag ein Stapel Kleider, die nicht ihre eigenen waren. Während sie ihn noch verwundert betrachtete, tauchte Johanna hinter ihr auf. „Die hat mir Frau Luise für Sie gegeben. Sie sagte, sie hätte keine Verwendung dafür.“

Als Franziska die Kleider genauer in Augenschein nahm, stellte sie fest, dass es sich um Trauerkleider handelte. Etwas anderes kam für sie momentan ja nicht infrage. Von einer Witwe wurde erwartet, dass sie mindestens ein Jahr lang Schwarz trug. Franziska konnte sich auch nicht vorstellen, jemals wieder etwas anderes anzuziehen. Sie erinnerte sich, dass ihre Cousine vor ungefähr einem Jahr in einem Brief erwähnt hatte, dass ein hochgestellter Onkel ihres Karl-Friedrichs verstorben sei. Augenscheinlich hatte sie sich für die Zumutung, einige Wochen Schwarz tragen zu müssen, obwohl ihr diese Farbe nicht stand, schadlos gehalten, indem sie sich eine komplette Trauergarderobe nach der neuesten Mode und aus den besten Stoffen anfertigen ließ, die sie bekommen konnte. Franziska war wider Willen hingerissen. Da gab es einen Überfluss an Batist, Brokat und immer wieder Seide. Abgesetzt mit zarten Spitzen und Stickereien in allen nur erdenklichen Grau-, Silber- und Cremeschattierungen.

Sie strich mit der Hand über eines der Oberteile. Schwarze Seide mit kleinen grauen Blümchen bestickt. Angemessen, aber zauberhaft. Der weite Rock bestand aus einem Seidenstoff, der so stark schimmerte, dass das Schwarz nicht trist wirkte.

„Wenn etwas nicht richtig sitzen sollte, dann kann ich das ganz leicht ändern.“ Johanna setzte ein bittendes Lächeln auf. „Ich bin gut im Nähen.“

Franziska konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr Kammermädchen erpicht darauf war, dass sie die Kleider behielt. Aber so einfach ging das nicht. „Unternimm erst einmal nichts. Ich werde mit meiner Cousine noch darüber reden.“

„Das, was Sie jetzt anhaben, müssen Sie aber auf jeden Fall ausziehen“, sagte Johanna. „Um die Haare aus dem Wollstoff herauszubekommen, brauche ich länger.“

Als sich Franziska erneut auf den Weg zur Bibliothek machen konnte, trug sie eines ihrer mitgebrachten Kleider. Das Mädchen hatte zwar leise gemurrt, als es die schlichten Hornknöpfe schloss, aber das ignorierte Franziska.

Der weitläufige helle Raum, der die Bibliothek des Gutes beherbergte, diente keineswegs nur zur Aufbewahrung der Bücher. Es handelte sich vielmehr um ein geräumiges Lese- und Arbeitszimmer, in dem es sogar ein Klavier gab. Auf dem Deckel des Instruments stand ein Handarbeitskorb, den Luise hier vergessen hatte. Das Ende einer flauschigen gestrickten Babydecke hing heraus. Daneben lag eine Broschüre über Hühnerhaltung.

Franziska trat an eines der Regale heran. Sie stellte schnell fest, dass die Büchersammlung des Gutes keineswegs so gut organisiert war, wie sie es von Ferdinands wesentlich kleinerer Bibliothek gewohnt war. Auf Polkvitz waren die Bücher teils nach Wissensgebieten, teils nach den Namen der Verfasser und teils überhaupt nicht sortiert. Manche Bände hatte man einfach da in die Regale gestellt, wo gerade Platz war.

Beim Geräusch von Franziskas Schritten auf dem Parkettboden schaute ein junger Mann von den Landkarten auf, die er auf seinem Tisch ausgebreitet hatte. Er trug einen weißen Verband um den Kopf und auf der linken Wange prangte ein verschorfter Kratzer. Franziska wollte sich wieder zurückziehen, doch der Mann stand auf, verbeugte sich linkisch und raffte seine Unterlagen zusammen. „Entschuldigen Sie mein Hiersein. Ich muss einige Dinge nachsehen, aber ich kann meine Karten auch anderswo ausbreiten.“

„Bitte bleiben Sie“, sagte Franziska schnell, „der Raum ist wahrhaftig groß genug.“

Der Mann verbeugte sich erneut. „Wenn Sie erlauben. Mein Name ist Moritz Adler, ich arbeite für Herrn von Veldhain.“

Franziska neigte leicht den Kopf.

„Die Romane befinden sich im Regal neben dem Fenster dort drüben.“ Moritz Adler zeigte in die betreffende Richtung.

„Vielen Dank“, sagte Franziska, „wissen Sie vielleicht auch, wo ich die Bücher über Mittelamerika finde?“

Der junge Mann war einen Moment lang aus dem Konzept gebracht. Dass Damen auch etwas anderes lasen als Romane, war ihm neu. Er schüttelte stumm den Kopf.

Die ‚Gedanken über die Altertümer von Panama, verfasst durch Ferdinand Meistersinger‘ fand Franziska trotzdem. Das Buch stand zwischen einem Standardwerk über die amerikanischen Nutzpflanzen und einem Werk über spanische Liebeslyrik von einem O. Meise. Sie strich zärtlich über den Buchrücken der ‚Gedanken‘. Es kam ihr vor, als sei es erst gestern gewesen, dass sie die Unterlagen für den Druck zusammengestellt hatten. Das Vorwort stammte vom berühmten Alexander von Humboldt und bei den Illustrationen hatte sie selbst mitgearbeitet. Franziskas Aufgabe war es gewesen, die von Ferdinand mitgebrachten Kunstgegenstände abzuzeichnen und damit die Vorlagen für den Lithographen zu liefern. Auf das Ergebnis war sie ebenso stolz wie ihr Mann. Auch wenn Franziska Meistersinger im Buch nirgends erwähnt wurde.

„Jetzt kann niemand mehr behaupten, ich sei nur ein unbedeutender Assistent von Professor Heimersheimer – ich habe unter meinem eigenen Namen meine Forschungsergebnisse veröffentlicht!“ Sie konnte Ferdinand fast hören. Um dieses Ereignis zu feiern, hatte er die Taschenuhr mit dem Schiff auf dem Deckel gekauft. Die Uhr hatte ihn fortan überallhin begleitet, bis sie eines Tages in einem Päckchen nach Berlin gesandt worden war.

Franziska sah sich verstohlen um. Dieser Moritz Adler hielt sie wahrscheinlich für übergeschnappt, wenn er sah, dass sie in der Bibliothek ein Buch ans Herz drückte. Aber das war ihr egal. Sie zog den Band aus dem Regal. Ein Büchlein, das daneben geklemmt hatte, fiel zu Boden und ein Blatt Papier flatterte zwischen den Seiten hervor. Franziska bückte sich zuerst nach dem schmalen Buch. ,The Art of Fishing‘ war es betitelt. Natürlich passte es nicht zu den anderen Büchern in diesem Regal und auch der Name des Verfassers gab ihr keinerlei Aufschluss darüber, warum es gerade hier eingeordnet worden war. Als sie das Papier aufhob, fiel Franziska die Handschrift auf. Diese klaren, fast gemalten Buchstaben, die so gut dafür geeignet waren, Reisetagebücher zu schreiben oder Funde zu beschriften, hätte sie immer und überall erkannt. Es war ein Brief von Ferdinand. Franziska nahm das Büchlein und den Brief zusammen mit den ‚Gedanken‘ zu dem Sofa in der Fensterecke mit. Gerade als sie den Briefbogen auseinanderfalten wollte, wurde die Tür zur Bibliothek geöffnet. Franziska lugte vorsichtig um ein Regal herum. Es war Justo, der an Moritz Adlers Schreibtisch trat. „Haben Sie brauchbare Informationen gefunden?“

„Leider nein, die Karten, die wir hier haben, sagen uns nichts über das Höhenprofil des Landes jenseits des Boddens.“

„Dann werden wir das wohl selbst vermessen müssen. Ludolf wird sich freuen.“

„Das Land gehört größtenteils zu Gut Detziw“, sagte Moritz Adler.

Justo nickte grimmig. „Das wird mit Sicherheit nicht ohne Streit und Beschimpfungen abgehen. Aber letztlich muss uns der alte Herr die Vermessungen durchführen lassen. Wir handeln im Auftrag der Regierung.“

„Das wird er hoffentlich respektieren.“ Moritz Adler begann, die Landkarten zusammenzurollen und in die zugehörigen Papphülsen zu stecken.

„Ich möchte noch einmal zusammen mit Ihnen die Kanalstrecke anschauen“, sagte Justo.

Gemeinsam verließen die beiden Männer die Bibliothek.

Allein im Raum, kämpfte Franziska mit ihrem Gewissen. Immerhin war der Brief nicht an sie gerichtet. Aber die Neugier darauf, was ihr verstorbener Mann nach Polkvitz zu schreiben gehabt hatte, gewann die Oberhand.

Lieber Karl-Friedrich,

gestern hat das Schiff im Londoner Hafen angelegt. Eine Verzögerung unserer Reise, die ich nutzen kann, um mich für Ihre guten Wünsche betreffs Gelingen und Verlauf dieser Expedition zu bedanken.

Bei einem Ausflug in die hiesigen Buchläden habe ich die beiliegende Schrift übers Angeln entdeckt. Sie sehen, ich erinnere mich immer noch gut an Ihr Steckenpferd.

Mit den besten Empfehlungen, Ihr Ferdinand Meistersinger

Franziska schaute auf, ohne etwas zu sehen. Bei dieser Reise hatte Ferdinand das Material für das Buch gesammelt, das jetzt neben ihr lag. Sie hatte nicht gewusst, dass sein Schiff noch einige Tage in London geblieben war. Ihr hatte Ferdinand erst drei Wochen später, nach seiner Ankunft in Panama, geschrieben. Sie schaute wieder auf das Blatt, das sie in den Händen hielt. Der Brief klang nicht so, als hätte ihr Ehemann in London übermäßig viel zu tun gehabt.

Welches Verhältnis bestand überhaupt zwischen ihm und Karl-Friedrich? Franziska und Ferdinand hatten sich auf der Hochzeit des Gutsherrn mit Luise kennengelernt. Damals erwähnte Ferdinand nur, dass er ein Freund des Bräutigams sei.

Luise hatte darauf bestanden, in Berlin zu heiraten, wo ihre Verwandten und Freunde lebten. Da auch die Familie ihres zukünftigen Ehemannes über Häuser und Wohnungen in der Hauptstadt verfügte, kamen aus dieser Richtung keine Einwände. Als der Ball eröffnet war und alle jüngeren Gäste auf die Tanzfläche stürmten, hatte Franziska sich wie üblich einen bequemen Platz am Rande des Geschehens gesucht, von dem aus sie die Paare beobachten konnte.

„Sie tanzen nicht?“ Ein Mann stand vor ihr. Nicht mehr ganz jung, die Geheimratsecken in dem schütteren Haar betonten seine hohe Stirn. Die Halsbinde, die den hohen Hemdkragen zusammenhalten sollte, hatte sich etwas gelockert. Der Anzug, den er trug, war zwar von guter Qualität, aber schon lange aus der Mode.

„In der Tat, ich tanze nicht“, hatte Franziska gesagt, „ich habe also keine Entschuldigung, um Ihnen schnell zu entkommen.“

„Darf ich mich setzen?“

Franziska machte eine einladende Handbewegung und der Mann ließ sich am anderen Ende des Sofas nieder. Dann stand er wieder auf und verbeugte sich: „Mein Name ist Ferdinand Meistersinger. Angenehm.“

„Ob die Bekanntschaft angenehm ist, das wird sich noch herausstellen.“

Ferdinand Meistersinger nahm Platz. Dann sprang er erneut auf. „Wenn Sie wirklich nicht weglaufen, dann hole ich uns etwas zum Trinken.“

Als er mit zwei Sektgläsern zurückkehrte, begannen sie eine ausführliche Unterhaltung und stellten bald fest, dass sie auch über das Nichttanzen hinaus einige Gemeinsamkeiten hatten. Beide interessierten sich für Geschichte und ferne Länder, fanden Mode weniger wichtig und mochten lange Gespräche – wie sie am Ende des Abends wenig überraschend feststellten. Franziska erfuhr, dass Ferdinand als Assistent des berühmten Völkerkundlers Heimersheimer schon einige Reisen nach Süd- und Mittelamerika unternommen hatte. Als er bei diesem Thema angelangt war, konnte nichts mehr seinen Redefluss bremsen.

Es entwickelte sich zwischen ihnen schnell eine freundschaftliche Neigung, die sich in den folgenden Monaten weiter vertiefte. Ferdinand bewunderte die Zeichnungen, die Franziska von den Figuren, Scherben, Schmuckstücken und Masken anfertigte, die er mitgebracht hatte, und amüsierte sich über ihre schlagfertigen Bemerkungen. Seine Frage, ob sie ihn heiraten wolle, kam für Franziska nicht ganz überraschend. Sie konnte es sich gut vorstellen, mit ihm zusammenzuleben, daher sagte sie ohne Umschweife Ja. Schließlich konnte sie nicht ewig Tante Regina zur Last fallen, und allzu viele Bewerber, die sich für ein Mädchen ohne Mitgift, aber dafür mit einem kaputten Bein interessierten, gab es nicht.

Nur Regina von Oberbach zeigte sich über Franziskas Entscheidung alles andere als glücklich. „Übereilt“ und „bedauerlich“, das waren die Worte, die sie in diesem Zusammenhang meist verwendete. Sie liebte aber ihre Nichte viel zu sehr, als dass ihr Verhältnis darunter gelitten hätte. Franziska fand, dass es das Schicksal trotz allem gut mit ihr meinte.

4. Kapitel

Auf dem Rückweg von der Bibliothek suchte sie ihre Cousine. Franziska war sich sicher, dass Luise inzwischen nicht mehr im Bett lag.

Das Hausmädchen Agathe, das in der Eingangshalle das Treppengeländer polierte, schickte Franziska ins Herrenzimmer. „Dort ist die gnädige Frau meistens um diese Zeit.“

Als sie das Zimmer betrat, konnte sie zuerst niemanden in dem halbdunklen Raum entdecken. Neben den Schränken und Vitrinen, in denen sich der Zigarrenvorrat des Gutsherrn, eine Sammlung von Pfeifen sowie ein breites Sortiment an Schnäpsen, Branntweinen und Sherrys befand, gab es eine Gruppe von massiven, lederbezogenen Sesseln, die sich um einen niedrigen Tisch mit einem Aschenbecher in der Mitte drängten.

Verwirrt blieb Franziska stehen. Agathe musste sich irren, was sollte eine Dame hier zu suchen haben? Luise hatte jedoch ihre Schritte erkannt und blinzelte um die Lehne eines Sessels herum. „Du hast uns entdeckt. Setz dich zu uns. Wir verschnaufen hier ein wenig, bevor wir uns wieder in den Trubel des Alltags stürzen.“

Franziska trat näher. Ihre Cousine hatte es sich in einem der tiefen Ledersessel gemütlich gemacht, die Schnürstiefel ausgezogen und einen Fuß Karl-Friedrich in den Schoß gelegt. Dieser saß im Sessel gegenüber, rauchte eine Meerschaumpfeife und massierte die Fessel seiner Gattin. Unter und neben den Sesseln lungerten Gordon und Scott, die beiden schottischen Jagdhunde, herum.

„Was tut man nicht alles, um seine Frau bei Laune zu halten.“ Der Herr von Veldhain schob den Fuß, den er gerade bearbeitet hatte, zur Seite und griff nach dem anderen. Franziska hatte das Gefühl, dass es ihm ein wenig peinlich war, bei einer solch unmännlichen Tätigkeit angetroffen zu werden.

„Ich frage mich gerade, ob es nicht ein Gesetz dagegen gibt, schwangere Ehefrauen auf langweilige Gesellschaften zu schleppen!“, sagte Luise und fächelte sich mit einer lavendelfarbenen Karte Luft zu.