Franziska Linkerhand - Brigitte Reimann - E-Book
SONDERANGEBOT

Franziska Linkerhand E-Book

Brigitte Reimann

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine der hinreißendsten Frauenfiguren der deutschen Literatur.

Zehn Jahre schrieb Brigitte Reimann an diesem Roman über eine lebenshungrige, kompromißlose, von einer Vision und einer Liebe besessene junge Architektin. Obwohl unvollendet, ist dies eines der schönsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur. Es besticht durch ein illusionsloses Bild der DDR und eine kühne Heldin - so radikal wie ihre Autorin in den Tagebüchern. 

„Ein aufregendes, aufwühlendes Buch.“ FAZ.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1012

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Brigitte Reimann

Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973.

Angela Drescher, geboren 1952, ist Lektorin und gab Werner Bräunigs Roman »Rummelplatz« heraus, außerdem die Tagebücher Brigitte Reimanns und die ungekürzte Neuausgabe des Romans »Franziska Linkerhand«.

Informationen zum Buch

Erstmals ungekürzt: jetzt im Taschenbuch

Zehn Jahre schrieb Brigitte Reimann an diesem Roman über die lebenshungrige, kompromißlose, von einer Vision und einer Liebe besessene junge Architektin Franziska Linkerhand. Obwohl unvollendet, ist dies eines der wichtigsten und schönsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur. Die ungekürzte Ausgabe liefert ein illusionsloses Bild der DDR der 60er Jahre und zeigt eine freimütigere Franziska Linkerhand, so radikal wie ihre Autorin in den Tagebüchern.

»Ein aufregendes, aufwühlendes Buch.« F.A.Z.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Brigitte Reimann

Franziska Linkerhand

Roman

Inhaltsübersicht

Über Brigitte Reimann

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Withold Bonner – Franziska Linkerhand: Vom Typoskript zur Druckfassung

Anmerkungen

Angela Drescher»… und alles soll schlimm ausgehen«

Zu dieser Ausgabe

Impressum

1

Ach Ben, Ben, wo bist du vor einem Jahr gewesen, wo vor drei Jahren? Welche Straßen bist du gegangen, in welchen Flüssen hast du gebadet, mit welchen Frauen geschlafen? Wiederholst du nur eine geübte Geste, wenn du mein Ohr küßt oder die Armbeuge? Ich bin verrückt vor Eifersucht … Die Gegenwart macht mir nicht angst … aber deine Erinnerungen, gegen die ich mich nicht wehren kann, die Bilder in deinem Kopf, die ich nicht sehen kann, ein Schmerz, den ich nicht geteilt habe … Ich möchte mein Leben verdreifachen, um nachzuholen, die lange lange Zeit, als es dich nicht gab.

Mein Schreck, als du sagtest, du hast vor zwölf Jahren einmal in unserer Stadt, im Wartesaal gesessen … und ich hundert Meter davon, in der Schule – und hätte ich nicht auf dem Bahnsteig stehen, hätte ich dir nicht damals schon, kostbare zwölf Jahre früher, begegnen können? Ach, du hättest mich übersehen, ich war in der neunten Klasse und wahnsinnig häßlich, nur Haare und Knochen, ich war unschuldig und zum erstenmal verliebt … nicht in dich. Und sieben oder acht Jahre später, wieder auf der Durchreise, bist du über den Altmarkt spaziert, mit deiner Frau – im Juli, nicht wahr, wir hatten Semesterferien –, und du warst nur eins von den bunten Figürchen, die ich unter dem Gerüst, fünf Stockwerke tiefer, herumwimmeln sah …

Wo warst du, als ich zum Examen gerufen wurde und vor Angst beinahe starb? Warum hast du nicht meine Hand gehalten, damals im Korridor der Uni? Warum hast nicht du an meinem Bett gesessen, wenn ich krank war? Warum hast nicht du mit mir getanzt, abends in der Mensa – eine niedrige Baracke, heiß, verraucht, Rock ’n’ Roll vom Tonband und die Stimme von Elvis dem Hüftenschaukler –, und aus einer Bierflasche mit mir getrunken? Irgendein anderer, ich weiß nicht mehr sein Gesicht … Es ist ungerecht, Ben, mein Liebster, es ist ungerecht, so lange ohne dich, ohne deinen Mund, ohne deine kleine harte Hand, die du mir beim Gehen in den Nacken legst … Allein in den hundert Nächten, am Fenster zum Park, der über einem Massengrab blühte, und die anderen in alle Winde verstreut: meine Eltern über die Grenze, die Große Alte Dame tot, Wilhelm in Dubna irgendwo hinter Moskau, und dieser Mann in einer Kneipe, vielleicht bei einem Mädchen, was weiß ich … Und wo warst du, damals im Mai – Kirschbäume, die Landstraße unter der Sonne – am letzten Kriegstag, als die Russen kamen? …

Gegen Morgen fielen Schüsse im Nachbargarten. Wilhelm fand die Toten, auf dem Rasen ausgelegt, zwei Kinder, die puppenhafte Frau und den Oberingenieur. Pettinger war ein netter, dicklicher junger Mann gewesen, der Uniformen verabscheute und wie eine Uniform seine Knickerbocker, blaßgestreiftes Hemd und Schmetterlingskrawatte trug und jeden Morgen mit strammen Waden zum Walzwerk radelte – es lag außerhalb der Stadt, unter Kiefern und Tarnnetzen, Tochterbetrieb eines rheinischen Stahl-Konzerns –, und Wilhelm hätte geschworen, daß dieser angenehme Nachbar, der zärtliche Vater seiner zwitschernden Vogelfamilie, nicht einmal wußte, wie man eine Pistole hält.

Über die Stirn des kleinen Mädchens wimmelten schwarze Ameisen, die Kirschbäume blühten wie toll, und die Luft war von dem tiefen, aufgeregten Summen der Bienen erfüllt. (Letzte Woche hatte eine Luftmine den Bunker am Bahnhof zusammengedrückt; sie arbeiteten in Gummihandschuhen und dumpf betrunken, und hinter dem ersten Durchbruch stürzte ihnen ein Katarakt von Leichen entgegen, und Wilhelm wurde übel, bloß vom Schnaps, sagte er.) Er drehte die Frau herum, die mit auseinandergeworfenen Armen über dem Säugling lag.

Seine Schwester wand sich wie ein Iltis durch die Zaunlatten. »Hau ab!« schrie Wilhelm, er packte sie an Armen und Beinen und warf sie über den Gartenzaun, und sie kroch vierfüßig durchs Gras und beschimpfte ihn, aus sicherer Entfernung, mit ihrer schrillen Kleinmädchenstimme.

Mittags dröhnte wieder die Artillerie, und Frau Linkerhand, in einem nonnenhaften Kleid aus handgewebtem Leinen, den Haarknoten tief im Nacken, irrte durch das Haus und betete laut. Sie atmete ergeben den Armeleutegeruch in der Diele. Ein Kind wimmerte, hinter der offenen Küchentür stritten die Flüchtlingsfrauen um einen Kochtopf, und das Treppenhaus hallte wider von Gezänk und schlesischen Schimpfwörtern.

Im blauen Zimmer stand Wilhelm am Fenster, er blickte durch die Spalten der Jalousie, deren Lichtbänder sein Gesicht, den blauen Teppich, die honiggelben Möbel tigerten: seine struppige braune Schwester knetete im Sandkasten ein wunderliches Märchenschloß mit Zinnen, Türmen und hochbogigen Fenstern, sie hockte auf den Fersen, manchmal heulte eine Granate über den Himmel, naher Sensenpfiff, aber nicht Angst knickte ihren Oberkörper nach vorn (die Angst kam erst später, Jahre danach, auf den Deltaflügeln der Düsenjäger), und Wilhelm lachte über das listige Tierchen, das sich totstellte, bis der schmetternde Schlag, irgendwo in den Ruinen der Innenstadt, signalisierte, daß die Gefahr vorüber war. Das Spiel wiederholte sich, Verneigung unter dem jaulenden Bogen, Auftauchen, immer mit der Miene ernsten Eifers; Stehaufmännchen, dachte Wilhelm, die Kleine ist richtig; schließlich verdroß ihn ihr unerschrockenes Gesicht: sie war unwissend wie ein Märzhase, der den rauschenden Schatten überm Feld nicht Bussard nennt.

Er schrie hinter der Jalousie: »Du kommst sofort ins Haus!«

Franziska pflanzte einen Wald aus Schachtelhalmen … die hübschesten kleinen Fichtenbäume, Ben, aber das weißt du wohl nicht mehr, wahrscheinlich hast du nie in einem Garten gespielt, überhaupt, Berlin und Hinterhof – aber dafür weißt du natürlich alles über Schachtelhalms große Zeiten im Tertiär oder Jura und über die Umweltbedingungen für Saurier, und das ist sicher auch sehr nützlich … sie pflanzte einen Wald unter den Burgmauern und wedelte beschwichtigend mit den nassen schmutzigen Pfoten. Wilhelms brüderliche, auf schnelle Ohrfeigen gegründete Autorität wankte; seit er eines Nachts aus der Stadt zurückgekommen war, mit versengtem Haar, wimpernlos, im zerfetzten braunen Hemd ohne Hakenkreuz, war er laut, lästig und zerstreut wie alle Erwachsenen, die Franziska bald wegschickten und für einen halben Tag vergaßen, bald unter Geschrei nach ihr suchten, sie an sich rissen und abküßten.

Das Streunerleben gefiel ihr. Sie ging nicht mehr zur Schule; ein paar Wochen lang hatte Fräulein Biermann ihre Klasse im Keller einer Wäscherei unterrichtet, bei Kerzenlicht, im feuchten Dunst aus der Plättstube. Fräulein Biermann, mit Brille und grauem Bubikopf, fand Poesiealben lächerlich, sei wie das Veilchen im Moose … und edel, mit einem Wort, ein deutsches Mädel, Fräulein Biermann hängte über ihr Katheder Feuerbachs Iphigenie, das Land der Griechen mit der Seele suchend, sagte sie, Fräulein Biermann lief um ihr Leben, bis der kochende Asphalt ihre Füße festhielt, Füße in hohen schwarzen Knopfstiefeln. Kein Diktat mehr, keine Rüge für Tintenkleckse und Eselsohren, und zu Haus niemand, der Franziska zu korrekter Haltung ermahnte und sie zwang, mit Messer und Gabel zu essen, ein Buch unter die Achsel geklemmt, und ihren kleinen runden Negerbauch einzuziehen. Nachts taumelte sie schlaftrunken in den Keller, fiel auf eine Pritsche und verschlief Flakgebell und Christbäume, Gebete und Entwarnung.

Linkerhand führte seine Frau ins blaue Zimmer; sie schluchzte auf, als sie Wilhelm erblickte. »Die arme Nora … ich kann es nicht fassen, gestern sprach ich noch mit ihr, sie war wie immer, kein Gedanke daran … Gott allein weiß, was ihr erspart blieb …«

Linkerhand fingerte verlegen an seiner Brille; da er sich nichts vorzuwerfen hatte und der Greuelpropaganda nicht glaubte – er hatte in der Zeitungsbranche gearbeitet, als Volontär bei Scherl –, empfand er die Verstörtheit seiner Frau als peinlich, zumal sie sich in der bedenklichsten Weise vor den Kindern gehenließ. »Unbegreiflich, gewiß«, murmelte er, »ein so liebenswürdiger junger Mann … Er war nicht einmal in der Partei.«

»Das Tier«, sagte Wilhelm. »Zuerst hat er die Kinder erschossen.« Linkerhand bewegte zweifelnd den Kopf. »Man sah es an Noras Gesicht«, erklärte Wilhelm in kaltem Ton.

Linkerhand nahm seine Brille ab, Fluchtbewegung, er verwischte die gehässigen Linien der fremdgewordenen Welt und fühlte sich geborgen in einem verschwimmenden sonnengefleckten Blau. Sein Gesicht, ohne die Brille, nahm sofort den höflichen und schüchternen Ausdruck sehr kurzsichtiger Leute an, aber seine Stimme klang selbstsicher, sogar hochmütig – seine Chefstimme, mit der [er] obstinate Angestellte zurechtwies, nachdem er ihre Gesichter in konturlose Flecke verwandelt hatte –, als er versicherte, daß man nichts zu befürchten habe, immerhin gewisse Vorbereitungen treffen müsse: ein Autodafé mißliebiger Bücher, schlaue Verstecke für Silber, Porzellan und Wein; der Schmuck der Großen Alten Dame sei im städtischen Banktresor wohlverwahrt.

»Aber die Stadt wird verteidigt«, rief Frau Linkerhand.

»Eine schöne, aber unglückliche Idee des Kommandanten. Er ist ein ehrenwerter Mann, leider fehlt es ihm an Verstand. Diese Sorte Helden ist mutig aus Mangel an Weitblick.« Er ergriff ihre flatternden Hände und drückte sie an seine Brust. »Beruhige dich, meine Liebe. Wir haben uns nicht kompromittiert, versuchen wir, in guter Haltung mit dem Unvermeidlichen fertigzuwerden.« Er küßte sie auf die Schläfe, und Wilhelm, angewidert von einer sonst streng verpönten Schaustellung der Gefühle, wandte den Kopf ab: dies war noch fataler als die späte Besinnung auf Gott, die im Bombenkeller wiedererwachte Kommunionsfrömmigkeit seiner Mutter.

Abends brannte ein Feuer im Kamin, einem backsteinernen Greuel, das sich ländlich gemütvoll gab und niemals benutzt worden war; Rauch schlug ins Zimmer zurück, aber angenehm wärmten Zöberlein und Rosenberg an dem kühlen Maiabend, einem Abend, als im Millionenviertel, in seinen lädierten Klinkervillen, Sandsteinburgen, Aufgang nur für Herrschaften, Rhododendron und Magnolien, als in Heizungskellern und Küchenherden die gleiche jämmerliche und ruhmlose Götterdämmerung anbrach; kalt waren nur die Schornsteine auf der Villa des Kreisleiters, der sich vor einer Woche westwärts evakuierte, nachdem er seine Volksgenossen zu fleißigem Ausharren ermahnt hatte: er war in Sicherheit und stumm, denn die Vorsehung, die tausendmal beschworene, unserem Führer verbündete Vorsehung, lenkte, fahnenflüchtig, alliierte Bomben auf die Elbbrücke, auf Kreisleiter, Auto und Koffer.

Flex und Jünger und die Bardenschar der Alibi-Literaten waren in den Hintergrund gerückt, in einer ersten Reihe leuchteten wieder, in Goldschnitt und Ziegenleder, Heines Werke (in Franziskas Sagenbuch von Baldur, Weltenesche und Schiff Nagelfahr hieß der Verfasser vom Lorelei-Lied Unbekannt) und, bescheidener in grauem Leinen, die Bücher der Brüder Mann, von Linkerhand mit unwilligem Respekt geduldet, gerade noch angängig neben den Großen, Dickens, Fielding, Dostojewski; was danach kam, war nicht mehr von Belang.

Franziska kauerte hinterm Sessel der Großmutter, die, zart und proper und weißhäutig, so unerlaubt jung aussah, daß ihr Matronenkleid mit züchtigem Stehkragen wie eine Kostümierung wirkte, und kokett verspielt auch die Würde des goldenen Kreuzes, die Demut gefalteter Hände. Franziska liebte die Große Alte Dame, ihre Klippfisch-Salate und Weinpuddings, die Geschichten von einem gewissen Klärchen auf der Weltreise, mit denen sie Milchholen belohnte, hechtgraue Seide, die Knopfschachteln voll schwarzer Samtbänder, Medaillons und glitzernder Kinkerlitzchen, und die Drohungen im dicksten Dialekt: »Waat, Kääl, ich schnigge dir der Hals aff!«, liebte einen rotbetroddelten Samtsessel, der für die Große Alte Dame reserviert blieb, flüchtete also auch an diesem Abend hinter den Sessel und den grauseidenen Rücken, unbemerkt und durchaus unerwünscht. Auf dem Rost krümmten sich halbverkohlte Bücher, sie zuckten wie lebend, und die Hitze schlug die ascheweißen Seiten um.

Linkerhand trennte umsichtig die in Leinen gebundenen Deckel eines Bildbandes ab; die Heftfäden zerrissen mit einem scharfen, durchdringenden Ton. Er packte mit seinen schwächlichen, ungelenken Händen ein fingerdickes Bündel Blätter und sagte: »Schade. Wer weiß, ob es jemals wieder dieses Papier geben wird, glatt und glänzend wie Seide … Das ist noch Friedensware.«

Die Großmutter blätterte in einem Prachtband, Hitler in Berchtesgaden, zeigte nur in einer Mundkrümmung das pikierte Erstaunen eines Laien, der unterm Mikroskop ein ekelerregendes, wenngleich interessantes Insekt betrachtet: Führer im Berghof, Führer mit Wolfshund Prinz, Führer mit blondem Dirndl auf dem Arm, immer vor der Hochzeitsreisen-Landschaft, immer landesväterliches Lächeln unterm Schnurrbärtchen, Sendungsblick unter der humoristischen Haartolle. »Wat et nit all jibt«, sagte sie.

»Er soll in Berlin gefallen sein«, sagte Linkerhand.

»An der Spitze seiner Truppen«, sagte die Großmutter gefühlvoll. Sie lachte und verkniff die scharfen schwarzen Tatarenaugen. »Du willst mir doch nicht erzählen, daß der Anstreicher seinen gebrechlichen Leib diesen – Katjuschas ausgesetzt hat. Katjuscha … Hattest du jemals Gelegenheit, Russen sprechen zu hören? Oh, nicht das Gebell dieser Maschas und Ninas … Vor dem ersten Weltkrieg, ich war noch ein junges Mädchen, lernten wir in Baden-Baden eine russische Familie kennen, noble Leute, sehr gebildet, die Frau sprach ein vollendetes Französisch, aber es gab doch nichts Köstlicheres, als ihnen zuzuhören, wenn sie sich beim Tee in ihrer Muttersprache unterhielten – Musik, mein Lieber, Musik, und ordinäre Ausdrücke ganz unvorstellbar. Die ganze Familie übrigens etwas antiquiert, die Tochter von zweifelhafter Reinlichkeit, und von der Kinderfrau wollen wir besser nicht reden …« Sie redete aber doch darüber, sie verlor sich in Erinnerungen wie so oft in letzter Zeit, nicht geradezu wehmütig, eher geschmäcklerisch, in dem Ton, in dem Franziska ›Erdbeeren mit Schlagsahne‹, Wilhelm ›Kotelett mit Spargel‹ sagte, und Franziska schwamm in schläfriger Verzauberung auf Redoute und Reunion, Godesberg und Norderney, Wörtern grün wie Meerwind, flaumig wie weiße Straußenfedern, duftend wie der Tanzstundenfächer aus Sandelholz, dessen Blätter von Namenszügen überkritzelt waren, erinnerte gebräunte Photographien: das Mädchen im zebragestreiften Badehemd, dünn und schiefäugig, unter den Rüschen einer ballongroßen Badehaube; die Reiterin, italienisch kostümiert mit kurzem Mieder und wildem Schmuck, im Damensitz seitlich auf einem Eselchen, vor der Kulisse von Vesuv und lodengekleideten Anbetern, ein Herr Albert, vorgeblicher Cousin, in der goldverschnürten Uniform eines Karnevalsgenerals und – Bildwechsel – in der soldatischen Bluse des Stahlhelmführers von Köln, das Opfer roter Mordbuben auf dem Katafalk zwischen Kränzen und Kranzschleifen, und der Mann ganz rechts im Bild … die finsterste Gestalt der Familie, Ben, der Bruder der Großen Alten Dame. Er war Stadtbaumeister und wahnsinnig eifersüchtig, und wenn seine arme Frau verspätet nach Hause kam, fragte sie an der Tür: »Ist der Herr schon da?« und zitterte vor Angst, und manchmal stand er schon mit der Reitpeitsche an der Treppe. Die Frau ist ganz jung gestorben. Es liegt eben in der Familie – die Architektur und die Eifersucht …

Die Flammen sanken zusammen, das Zimmer tauchte in Halbdunkel, durch die Terrassentür fiel kupfriges Licht, der Himmel war klar, rostroter Mond, manchmal wetterleuchtete Mündungsfeuer am Horizont. Die Straße lag totenstill. Linkerhand stieß mit dem Schürhaken die Glut auseinander; er betupfte seine vom Rauch entzündeten Augen und seufzte. »Vae victis.«

»Ich für mein Teil habe vor sechs Jahren aufgehört, an den Endsieg zu glauben«, sagte die Großmutter. »Was anderes war von dem Emporkömmling zu erwarten als ein verlorener Krieg? … Ich hatte Gelegenheit, ihn im Kaiserhof zu sehen … ein Mann mit dem Auftreten eines Schmierenkomödianten, mit schlechten Manieren und ridiküler Aussprache und, on dit, impotent.«

»Ich habe ihn nicht gewählt«, sagte Linkerhand gereizt.

Die alte Dame faltete die Hände über dem Magen. »Der Erwählte bedarf nicht der Wahl.«

Linkerhand tappte mit schützend vorgestrecktem Arm durchs Zimmer, stolperte fast über die friedlich atmende Franziska, die, im Indianersitz auf den Fersen hockend, endlich eingeschlafen war, und tastete auf der Tischplatte nach seiner Brille. »Im Salatbeet«, sagte er mit einem Ausdruck naiver Schläue, »ich werde die Mater dolorosa im Salatbeet vergraben.« Er hatte die fußhohe Statuette in einen Blechkanister einlöten lassen und schleppte sie wie eine Katze ihr Junges von einem Winkel des Hauses in einen anderen; er hatte sie immer eifersüchtig vor den Augen fremder Besucher gehütet, und der Gedanke erfüllte ihn mit panischer Angst, das kostbare Figürchen in den rohen Händen eines Soldaten zu sehen, irgendeines Bauernlümmels, der außerstande war, den Faltenwurf des blauen Mantels zu würdigen, die schmerzliche Biegung des Halses, die sanfte Einfalt im himmelwärts gewandten Antlitz unter der mittelalterlichen Schaube … Niemand empfand den frommen Schauer wie er, wenn er das bunte Holz berührte – eine Ehrfurcht, ungetrübt von profanen Gedanken an den Geldwert und weitab von Muttergotteskult, denn er war Protestant und ein laxer Christ – oder wenn er in seinen alten Büchern las, eine Lupe vor den halbblinden Augen: so saß er während der nächtlichen Angriffe, groß, gebückt, häßlich mit weißem Albinogesicht, rotem Haar, eulenhaft geweiteten Augen hinter den dicken Gläsern, und hielt wunderliche Andacht, entrückt in eine Welt ohne Fliegende Festungen und Lancaster-Bomber, ohne hysterische Bittgebete und das Gezänk der jungen Barbaren, die in seinem Haus aufwuchsen.

Mehr als die Sorge um seinen Leib bewegte ihn der Gedanke an das Schicksal seiner Bücher: sie waren die Leidenschaften seines leidenschaftslosen Lebens, seine Abenteuer und Ausschweifungen, er roch Bücher, Jagdbeute in Antiquariaten und obskuren Winkelbuchhandlungen, und hier wurde der sparsame Hausvater zum Verschwender, der solide Kaufmann zum gerissenen Roßtäuscher, der heuchelte, zauderte, fälschte und bedenkenlos die großen Augenblicke des Sammlers genoß, den Triumph, wenn er einem Ignoranten ein wertvolles Exemplar um einen Spottpreis abgelistet hatte. Der Haushalt war bescheiden, Kleiderluxus verpönt, die Kinder gingen in Leinenzeug und Loden, und ein Marionettentheater, das der Bildung ihrer Phantasie dienen sollte, ersetzte das üppige Spielzeug der Nachbarskinder.

Der Verlag war klein, aber wohlrenommiert, ein patriarchalisches Unternehmen, von Linkerhands Großvater gegründet (er hatte ein biblisches Alter erreicht, und Wilhelm erinnerte sich noch an den weißbärtigen Herrn, der jeden Nachmittag zwischen vier und fünf rüstig über die Promenade gewandelt war, die Hände im Rücken verschränkt und drei Schritte vor seiner atemlos trippelnden Frau). Die stolzen alten Buchdrucker setzten geläufig griechische und hebräische Texte. Linkerhand konnte sich nicht dazu verstehen, wie andere, weniger seriöse Verlage völkische Almanache, Fliegerromane und Bilderbogen herauszugeben; während des Krieges, als der Auslandsmarkt für seine Deutschen Bauten verschlossen war, verschaffte er sich hübschen Gewinn und reines Gewissen durch eine Folge von handlichen kleinen Bänden mit Novellen von Tieck, Eichendorff, Hauff und Brentano und anderen Dichtern, zu deren geistigen Erben sich die Nationalsozialisten erklärt hatten. 37 brachte er eine beträchtliche Summe auf, um einem jüdischen Studienfreund zur Flucht nach Haifa zu verhelfen … nein, Ben, der Mann war nicht sein heimlicher Einsatz im Glücksspiel. Ich habe ihre Briefe gelesen, die sie sich nach Kriegsende schrieben, die ganze Zeit, bis Vater nach Bamberg ging … Aber er hatte in der Tat seine zwei Wettpfennige, und das ist keine edle Geschichte. Es ist wahr, er haßte politisches Engagement, jedenfalls für sich … 33 im März legte er zwei Mitarbeitern nahe, in die Partei einzutreten. Die armen Hunde hatten ein paar Jahre Arbeitslosigkeit hinter sich … Der eine ist später an der Ostfront gefallen. Der andere wurde gleich nach der Kapitulation von der GPU verhaftet und starb im Lager …

Franziska erwachte von den vier Paukenschlägen, Beethoven, sagte ihr Vater, so klopft das Schicksal an die Pforte, und versäumte nie, bevor er das Kind hinauswies, über Tonart und Opusnummer zu belehren, eine pedantische Ehrung, die er nur Beethoven und Mozart erwies; neben diesen Meistern gab es nur noch den sterbenslangweiligen Herrn Haydn und einen verdächtigen Liszt, der zu Sondermeldungen aufspielte und vom Vater als Blender und Scharlatan gerügt wurde. Lieder durfte Franziska zu Hause nicht singen; alles zu seiner Zeit, und jedes Ding an seinem Ort: SA marschiert mit ruhig festem Tritt beim Fahnenappell, mit hochgerecktem Arm; Heimat deine Sterne am Küken-Nachmittag, im Schein der dicken, blauen, wehmütig tropfenden VDA-Kerzen; auf den Feldwegen, wenn sie Heilkräuter sammelten, Schafgarbe und Hirtentäschel, wirbelten die nackten müden Kinderfüße im Gleichschritt den Sommerstaub auf, eins, zwei, drei, Die blauen Dragoner sie reiten; Arm in Arm mit der besten Freundin, schallend und unschuldig, Beim erstenmal da tut’s noch weh; auf dem Schulhof, O du mein Neckartal, drehten sie sich schwindlig zu zweit, zurückgebogen, die Füße fest gegeneinander gestemmt und mit verschränkten Händen, kreischten und kreisten bis zum Umfallen … ach, im Neckartal, wo der Flieder blüht, rollten amerikanische Panzer, und über den Schulhof schaukelten beinlose Rümpfe zwischen den Krücken, hüpften einbeinig die Männer in gestreiften Lazarettkitteln, und im Schulkorridor lag auf einer eilig zusammengeschlagenen Pritsche ein Hitlerjunge, zog Rotz und Tränen durch die Nase hoch und betrachtete höhnisch die Schülerzeichnungen an der Wand und amüsiert – zwischen Wellen von Schmerz – den knallbunt getuschten Blumenstrauß seiner zukünftigen Geliebten, F. L., 3. Klasse, irgendein Gör. Er hieß Jakob, er hatte einen Flaksplitter im Fuß, und es gab kein Morphium mehr, und Dr. Peterson sagte: Ja, ja, unsere deutschen Jungs … hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder.

Franziska hinter dem roten Samtfauteuil rollte sich zusammen, sie wußte längst, daß den Paukenschlägen keine Fünfte folgte, sondern die von Rauschen und Knacken unterbrochene Rede eines gewissen Bibizie aus London (… nachdem ich ein paarmal beim Lauschen ertappt worden war, registrierte mein Gehirn einen Zusammenhang zwischen Meinungsbildung und Ohrfeigen, und meine erste staatsbürgerliche Lektion hieß: Politik ist, wenn Kinder rausgehen müssen …). Sie war schlau genug zu begreifen, daß sie in der Schule und in der Kükengruppe nicht von London erzählen noch die spaßigen Namen Reichsheini und Marschall Meier wiederholen durfte, die Dr. Peterson gebrauchte, worauf Frau Linkerhand den Finger an die Lippen legte und ihm beschwörende Blicke zuwarf – Onkel Peterson, der Franziskas dürren Brustkorb beklopfte und Geschichten von seinem Nachbarn erzählte, etwa: Denk dir, Fränzchen, mein Nachbar hat jetzt einen Hund, der hat ein riesengroßes Maul und heißt Nazi …

An diesem Abend also hörte Franziska die Stimme aus London, bald nachbarlich nah, bald entfernt, als schaukele sie wie ein Kork vom Wellenkamm ins Wellental, und hörte einen Satz, der sich ihrem Gedächtnis einprägte, unerfindlich warum und zuerst nur als eine Wortschnur: »Niemals in der Geschichte der Völker ist ein Regime so kläglich zugrunde gegangen wie das Tausendjährige Reich der Nazis.« Sie streckte ihren Kopf hinterm Sessel hervor und fragte: »Großma, was ist ein Redschim?« Linkerhand zuckte zusammen, die Großmutter lächelte auf ihr goldenes Kreuz hinab, ergriff die Schwarzhörerin am Ohr und setzte sie vor die Tür.

(Jahre später fiel ihr dieser Satz wieder ein und gewann nachträglich eine merkwürdige Bedeutung, als sie zurücksuchte und den weit weit dahinten liegenden Abend wiederfand, die Asche im Kamin, den beizenden Geruch des Rauches und den verkommenen roten Mond hinter der Terrassentür. »Du spinnst«, sagte Wilhelm, »du warst viel zu klein und, nebenbei, geistig unbemittelt.« Sie verblüffte ihn aber bald danach durch eine andere Probe ihres Erinnerungsvermögens. Bei Tisch unterhielten [sie] sich über die Geschichtslehrerin, Offizierswitwe und eine sehr schöne Frau, die mit dem Schulrat schlief, und Wilhelm rühmte ihre lebhaften dunklen, übrigens etwas kurzsichtigen Augen. »Augen, aus denen Blitze fahren wie Flammen aus dem Vesuv bei Mitternacht«, sagte Franziska. Die anderen lachten. »Aber das ist nicht von mir. Irgendein Vers, den Onkel Boleslav aufgesagt hat …«

»Unmöglich, mein Kind«, erwiderte Linkerhand. »Boleslav ist schon 40 gefallen. Du warst keine drei Jahre.« Sie sah Wilhelm an, und nun, wie nach einer Fotografie des Verschollenen, beschrieb sie genau dessen Gesicht, sein Haar, das nach Birkenwasser roch, die blaßvioletten Hortensien im Fenster und die lange kalte Papierschere, die der joviale, zu schlichten Späßen aufgelegte Herr seinem Tippfräulein in den Rückenausschnitt der rosa Häkelbluse gleiten ließ.

»Sie trug wirklich immer diese unpassenden Häkelblusen, dabei war sie über das Alter hinaus«, sagte Frau Linkerhand, der die Sache mit der Papierschere peinlich war.)

Am vierten Mai, frühmorgens, ging Dr. Peterson durch den Garten, er bewegte sich rasch und exakt wie der Marionettenprinz, die Unterarme vom Körper abgespreizt, und Franziska sah, in ihrem Bett am Fenster kniend, daß er zum erstenmal seine schwarzen Handschuhe vergessen hatte und die Türklinke mit der bloßen Hand niederdrückte. Nach einer Weile kam Frau Linkerhand und befahl Franziska, ihre Sonntagskleider anzuziehen; sie hatte rote Augen und zitterte, als sie Franziska küßte und bekreuzigte. In der Tür drehte sie sich um und sagte geschäftig: »Gib mir das Ührchen von Großmama.«

Franziska errötete. »Das verstecke ich selbst.« Der mit einem Reiher in blauem Email geschmückte Uhrendeckel war schon schartig am Rand, so oft hatte sie ihn mit den Fingern aufgeklemmt; die Achtjährige, die unter der Bettdecke, beim Licht einer Taschenlampe, durchaus ungehörige Romane las und Gretchens Monologe seitenlang auswendig lernte, folgte, wenn sie das Porträt hinterm Uhrendeckel küßte, gewissenhaft und andächtig den Romanvorschriften für die erste Liebe. Sie hatte Petersons Heiratsversprechen, aber drei Jahre später, als es wieder ein Stadttheater, eigentlich eine Schmiere, gab, hängte er sich an eine blonde Person, Salondame, heiratete, wurde betrogen, schmiß sie raus, verschlampte und betrank sich ein Vierteljahr lang Abend für Abend in Franziskas späterer Stammkneipe … aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte, Ben, und Peterson gehört nur deshalb in den vierten Mai hinein, weil er einer der Parlamentäre war, die unsere Stadt der Roten Armee übergaben …

Franziska versenkte ihre Uhr in der Teebüchse, im groben Tee, der nach Drogerie und Pfefferminze roch. Linkerhand hatte den Doktor zur Gartentür begleitet, er kam jetzt langsam zurück, auf dem Weg aus Steinplatten, zwischen deren Fugen hellgrüne Grasbüschel wucherten. An der Treppe wartete die Große Alte Dame, gelassen, proper und grauseiden wie immer, kühler Wind ging, trompetengelb leuchteten die Forsythien, rosig und weiß schäumten Mandelblüten, was für ein Tag unters Frühlings blauem Band, und die Lüfte nicht geschwärzt vom Qualm, der Himmel nicht gefleckt von Schrapnellwölkchen, und Sonne, Wind und gelbe Trompete wie früher, wie immer: ein Augenblick Stille zwischen Schrecknis und Schrecknis.

Diese Stille … Totenstille, kein Schritt, keine Stimme, die Häuser blind mit geschlossenen Fensterläden, blatternarbig von Splitterschauern, keine Kinderschaukel knarrte, die Straße hielt den Atem an … diese Straße, Lieber, an die ich mich heute erinnere wie an ein sterbenslangweiliges, sterbenstrauriges Theaterstück, die Personen stehen vor den schäbigen Kulissen herum, es gibt keine Katastrophe, nicht den rasenden Sturz in die Vernichtung, nur langsamen Verfall und Gewöhnung an den Verfall … die Beete lagen wüst, rostig an verrosteter Kette drehte sich die Lampe über der Tür, und die Rosen, jahrelang nicht mehr von einer kundigen Hand beschnitten, hochgebunden und okuliert, trieben wilde Schößlinge, die ihre bleichen Finger in den kariösen Gitterzaun hakten. Auf der Verandabrüstung der Villa gegenüber, zwischen den fauligen, vom Regen schwarzgrün gefärbten Holzsäulchen, lag ein weißes Bettlaken. Linkerhand kniff die Augen zusammen, er lachte.

»Die Wandlungsfähigkeit der Deutschen«, sagte er, und die alte Dame folgte seinem Blick und bemerkte jetzt die rote Fahne im Erker des Nachbarhauses und den runden Fleck von hellerem Rot auf dem Fahnentuch. »Unser Nachbar hat mit genialer Einfachheit das Problem des Überganges in den Bolschewismus gelöst. Wer hätte einem Herrn in seiner Position ein so schlichtes Gemüt zugetraut?«

»Im Erkerzimmer wohnen Flüchtlinge«, sagte sie. »Aber vielleicht« – die unfrommen Augen gesenkt, nach einer geruhsamen Pause, während im Haus die Jalousien herunterrasselten, während Frau Linkerhand mit Koffern treppauf keuchte und Wilhelm die feuchte Erde zwischen den Salatpflänzchen glättete –, »vielleicht ist es ganz opportun, Leute zu beherbergen, die eine rote Fahne hinaushängen, wenn wir uns allenfalls zu einer weißen entschließen können …«

Am späten Vormittag stürzte die Nachbarin aus der Tür, lief stolpernd durch die Gärten, die Hände hinterm Nacken gefaltet und mit offenem Mund, aber stumm, und auf den Stufen zu Linkerhands Terrasse fiel sie hin und brach in langgezogenes heulendes Schluchzen aus. Franziska saß in ihrem Baumhaus in der Blautanne, sie mußte lachen, als Frau Direktor hinfiel (Frau Raffke, die jedes Pflichtjahrmädchen Minna und die schwarze üppige Ukrainerin Matka rief), sie lachte hinter der verknüllten Spielschürze, verächtlich: son Geschrei, die Zicke, wegen dem kaputten Strumpf; zufrieden: Gottesstrafe für deinen Geiz, für die Nüsse jedes Jahr, für Großmas Stullen; schließlich, geängstigt, rutschte sie am Stamm hinab und schlich zu dem heulenden Wesen, das auf Händen und Knien lag. Sie sagte gutmütig: »Das macht nichts, ich schlag mir immerzu die Knie auf, und dann spuck ich drauf, und dann ist es schon zugeheilt, sehen Sie«, und sie streckte ein braunes zerschrammtes Bein aus. Die Frau schrie auf und stieß sie mit einer Bewegung des Entsetzens weg. »Na, na«, sagte Franziska mit tiefer Stimme.

Linkerhand öffnete die Terrassentür, er stützte Frau Direktor, als er sie ins Haus führte, er, der sich in starken Ausdrücken verschworen hatte, daß diese Hysterica niemals wieder seine Schwelle betreten dürfe; der sich, um nicht grüßen zu müssen, zu einer äußersten Unhöflichkeit hinreißen ließ, indem er die Brille absetzte und die Nachbarin in einen bleichen Schemen verwandelte, wenn sie blondgeknotet, mit Hut und weißen Handschuhen, Arme und flachen Busen mit Bronzeschmuck gewappnet, nebenan die Gartenwege harkte. Franziska haßte sie – bis zu jenem Vorfall mit den Gefangenen – nur im Herbst, wenn die fetten grünen Früchte am Walnußbaum reiften, der hart an der Grenze, jedoch auf direktorlichem Gebiet stand und die Nüsse aus überhängenden Zweigen in Linkerhands Garten warf, einen Hagel von Zankäpfeln, denn die Nachbarin mißachtete Franziskas natürliche Ansprüche, verlangte Auslieferung und entblödete sich nicht, an windigen Herbstmorgen, in der lächerlichsten Haltung überm Gartenzaun hängend, Franziskas Nüsse mit dem gespaltenen Ende einer Wäschestange zu angeln.

Jetzt saß sie auf dem Biedermeiersofa im blauen Zimmer, und die Linkerhands standen um sie herum, verlegen und mit der gequälten Teilnahme wie bei einer dieser Beerdigungen, von denen Frau Linkerhand sagte: Es hilft nichts, anstandshalber müssen wir wohl hingehen. Sie preßte die Hand auf den Mund und wiegte den Oberkörper hin und her, und plötzlich richtete sie die irrenden Augen auf Linkerhand und sagte: »O Gott, und ich habe nicht mal schwarze Strümpfe.«

Wilhelm faßte seine Schwester im Genick und schob sie in den Korridor. »Elfriede ist tot.« Er drehte die Hand herum und sägte mit der Handkante über die Adern im Gelenk.

»Warum?«

»Das verstehst du noch nicht«, sagte er mürrisch.

Elfriede war die älteste Tochter, Musterschülerin in der Oberprima, ein blasses kümmerliches Mädchen mit hoher Schulter, das den ganzen Nachmittag unter der Aufsicht ihres Vaters für die Schule arbeiten mußte und nur abends, wenn es dämmerte, sich ein wenig im Garten erging, mühsam atmend und den Kopf zur schiefen Schulter geneigt.

»Wer zum Schwerte greift, soll durch das Schwert umkommen«, sagte Franziska dunkel.

»Willst du Backpfeifen? Nein? Dann red keinen verdammten Blödsinn und zieh ab.«

»Gut«, sagte sie beleidigt, »gut, ich gehe, ich bin euch sowieso bloß im Weg, immer … Ach, ihr – ihr habt alles vergessen.«

Die Straße krümmte sich mit der Krümmung des Flusses und mündete, ein paar hundert Schritte hinter Linkerhands Haus, in die Chaussee, und zur Linken schmatzten träg die Sumpfwiesen, über und über bedeckt mit Anemonen, die weiß und dünn im Wind zitterten. Die verkrüppelten Kirschbäume an der Chaussee trugen im Sommer hellrote saure Kirschen. Franziska setzte sich auf einen Kilometerstein und streckte die Beine aus und ließ die Sonne darüber laufen wie warmes Wasser … Kilometerstein 17, Ben, ich habe mir die Zahl gemerkt, nicht, weil sie eine besondere Bedeutung hätte, jedenfalls hat sie nicht mehr und nicht weniger Bedeutung als das zitternde Anemonenfeld, und Staub und welke Kirschblüten, die auf der Landstraße trieben, aber das alles gehört zusammen und gehört zu den Glocken und zum Frieden und ist mein Bild vom Frieden geblieben bis letztes Jahr, im Sommer, als wir uns verirrt hatten, du erinnerst dich, und an dem Kornfeld lagen, ja, Glocken hörten wir auch, von irgendeiner Dorfkirche, und es roch nach Heu – ach, Ben, wir wollten einmal in einem Heuhaufen schlafen …

Du wirst schon denken, ich habe meinen Kinderhaß bis heute nicht abgetan und aus Frau Direktor eine Karikatur gemacht, und es fehlte bloß noch, daß sie Frauenschaftlerin war und, wie Reger sagt, des Führers Kotflügelküsserin – und das war sie auch wirklich … Nüsse mag ich gar nicht so sehr … Warum, möchte ich wissen, warum kam sie ausgerechnet zu uns gelaufen, um sich auszuheulen? … Einmal, im Winter, schachteten Kriegsgefangene in unserer Straße, Russen, die aussahen wie die Schreckensgestalten auf den Bildern vom Roten Sowjetparadies, zerlumpt, bärtig und mit Hungeraugen. Es war gräßlich, und meine Mutter wagte sich nicht mehr ans Fenster, so ein Elend, sagte sie, das kann man ja nicht mit ansehen … Vater hielt uns einen Vortrag über Menschenwürde, Kriegsrecht und Genfer Konventionen, und Großma ging in die Küche und schnitt einen Haufen Brote. Das ist Christenpflicht, sagte sie. Früher, zu Hause im Rheinischen, hatte sie für die armen Studenten Freitisch gehalten und Eierkuchen gebacken, und ich fragte, ob die Eierkuchen auch Christenpflicht gewesen seien. Sie lachte (sie hatte eine merkwürdige Art, mit den Schultern zu lachen) und sagte: Dat, min Fränzchen, dat war en Jux.

Der Wachtposten drehte sich um, als sie die Brote verteilte – der arme Hund, er hatte keinen Finger mehr an der linken Hand. Es kam aber doch heraus, und die von nebenan schrie, sie wird Großma vor den Volksgerichtshof bringen, sie hing überm Zaun wie beim Nüsseangeln, und meine Großmutter stand auf der Terrasse und schimpfte zurück, in einem Dialekt, so dick, daß du ihn mit dem Messer schneiden konntest, und, Ben, sie war herrlich ordinär, wenn es mit ihr durchging. Und zuletzt ging sie dicht an die schäumende Person heran und war ganz Große Alte Dame und sagte: Ah – merde.

Ich glaube, sie fürchtete sich vor nichts auf der Welt, vielleicht weil sie ihr Leben lang eine reiche Frau war und sich vor niemandem bücken und niemandem nach dem Mund reden mußte; es lag aber auch in ihrer Natur, und sie war, jedenfalls in ihrem Kreis, eine fröhliche Anarchistin … Desto mehr fürchteten sich die anderen. Unfaßbar, unter gebildeten Leuten … sagte mein Vater, der nicht begriff, daß die Nachbarin eine Fanatikerin war … Fanatismus ist ja wohl eine Ausfallerscheinung und hat mehr mit dem Unterleib als mit dem Kopf zu tun, das ist meine Ansicht, Ben, und du brauchst sie nicht zu teilen.

Endlich sagte meine Mutter, sie werde das Kreuz auf sich nehmen, und sie ging hin nach Canossa und demütigte sich … Ich liebte sie nicht, Ben, aber an diesem Tag, als sie zurückkam und sich einschloß und als ich den ganzen Tag ihr Weinen hinter der Tür hörte, da tat mir das Herz weh, und ich hätte die Nachbarin erwürgen können … Darf man denn einen Menschen so erniedrigen?

… Hier also, am Kilometerstein 17, fand Linkerhand seine Tochter, mit aufgedröselten Zöpfen, die Beine in den Sonnenfluß getaucht, und in diesem Augenblick begannen alle Sirenen in der Stadt zu heulen, und die Glocken erhoben ihre Stimmen über den mißtönigen Schrei, scheppernd und kurzatmig die letzte Glocke unterm zerschmetterten Dach von St. Annen, gemessen im Dreiklang die Domglocken Unserer Lieben Frauen, und der Wind warf ihr Geläute über den Fluß und in den Himmel und zurück auf die Erde wie eine flugmüde Vogelwolke. Linkerhand nahm seine Brille ab, mit der ehrfürchtigen Bewegung, näher mein Gott zu dir, mit der er unterm Kirchenportal seinen Zylinder absetzte, und sagte: »Das ist der Frieden, mein Kind.« Franziska riß die Augen auf, verwundert, weil sich nichts verändert hatte, weil die Zauberformel Frieden das Licht des Nachmittags nicht strahlender machte, die einfältigen Wiesen nicht mit Blumen bedeckte, die Luft nicht mit Jubelchören erfüllte.

Er nahm sie an der Hand, und sie gingen den Weg zurück, unter den schiefen Kirschbäumen, deren Blätterschatten auf dem Asphalt spielten. Franziska stieß einen runden Stein vor sich her, sie sagte: »Und wer hat nun gewonnen, die Russen oder die Amerikaner?«

»Gewonnen? Kriege werden immer verloren, mein Kind.«

Die Glocken läuteten immer noch, ohne Ende, ohne Ende schwang sich der Vogelschwarm, Klangschwarm, Angstschwarm ins Blaue hinauf und fiel traurig zurück, und wenigstens die Straße, sah Franziska, hatte der Frieden verzaubert und jedes Haus mit Weiß besteckt und Brüstungen und Fenstersimse beschneit. Linkerhand umging die kommaförmigen Schützenlöcher, Franziska, an seiner Hand, überhüpfte sie mit geschlossenen Füßen, sie wollte die Angst nicht hochkommen lassen: diese lakenbeflaggte Straße, Vaters feuchte Hand, der runde Stein war seitab ins Gras geschnellt, ein schlechtes Vorzeichen.

Alle Hausbewohner, auch die Flüchtlingsfrauen und ihre Kinder, hatten sich in der Diele aufgestellt wie für ein Gruppenbild, mit der ernsten, konzentrierten Miene von Familienausflüglern, die auf das Blitzlicht warten. Der Schreck machte die Gesichter einen Augenblick sehr ähnlich; der feierliche Lärm, der die Stadt erschütterte, hatte sie mit der Stadt verknüpft: die Warnung galt jedem, in jedem Haus, und was auch geschehen sollte, es geschah allen … jetzt erst, als die Glocken schwiegen, fühlten sie sich ausgeliefert, als sei die Ganze Stadt nun wieder auseinandergebrochen in ihre tausend einzelnen Häuser, Etagen, Keller, Ruinen, ein Stück Festland zerschwemmt in ohnmächtige Schollen, und so trieben sie stromab und allein.

Sie hörten Trommelwirbel, der sich in die angespannte Stille schob. Dann begann das bunte Glasfenster, mit der lenzlichen Schwalbe über Feldern und Wald, zu vibrieren, und Wilhelm legte den Arm um seine Schwester, er drückte sie unwillkürlich heftiger an sich, je schärfer sich das dumpfe Trommelgeräusch in unterscheidbare Laute teilte, und sein Körper bebte unter der Anstrengung, sich nicht zu verraten. Die Scheibe klirrte, als die Panzer in die Straße einbogen; sie ruckten schwerfällig durch die Kehre, die Gleisketten knirschten, und auf der geraden Straße heulten die Motoren hoch.

Kein Schuß, kein heiseres Urrä-Gebrüll, keine Kolbenschläge, unter denen die Haustür splitterte: alle Schrecken der Eroberung, die die Eingeschlossenen erwarteten, hatten sie für die erste Stunde erwartet, unmittelbar für den Augenblick, wenn die Sieger einzogen, und nun, da dieser Augenblick verstrichen war, atmeten sie auf. Sie sammelten alle Hoffnungen in dem einzigen verzweifelten Wunsch, es möge Zeit vergehen, und wirklich geschah, während sie mit vor Anspannung leeren Gesichtern auf das hundertmal wiederholte Kettenknirschen in der Kehre, Motorenheulen und das ungestüme, Damm und Wände erschütternde Rasseln horchten, wirklich geschah nichts weiter, als daß Zeit verging, daß ihnen Aufschub gewährt wurde.

Den Panzern folgten Pferdefuhrwerke, ländliches Hufgeklapper auf dem Pflaster, und Franziska tänzelte vor Neugier wie ein junger Jagdhund. Die Geschwister verabredeten sich mit einem Blick, sie stürzten gleichzeitig ans Fenster, und Wilhelm hob seine Schwester hoch. »Und die haben uns besiegt«, sagte er: auf den Panjewagen, vor denen die langhaarigen Bauernpferdchen unterm Krummholz trabten, hockten kleingewachsene Soldaten in schmutzigen grünbraunen Uniformblusen und mit geschorenen Köpfen. Der Zug stockte, ein Pferd stieg, und der Soldat im windgeplusterten Radmantel, der die Zügel hielt, drehte den Kopf. »Die Hunnen!« kreischte Franziska und glitt wie der Blitz zwischen Wilhelms Armen hindurch auf den Boden, er bückte sich, und sie stießen derb mit den Köpfen zusammen und brachen in ein stürmisches Gelächter aus. »Also, was mich betrifft«, sagte die Große Alte Dame, »ich brauch jetzt einen Kognak«, und sie trat aus dem Kreis und wandte die Augen ab von den Kindern, die auf dem Fußboden saßen und lachten wie toll, schluchzten vor Lachen, endlich, aneinandergeklammert, schluchzten, während Wilhelm mit überkippender Hahnenstimme stammelte: »Die … die Beefsteakreiter …«

Erst am nächsten Morgen kamen zwei, mit flachem Helm, die Maschinenpistole vor der Brust, und rüttelten an der Gartentür. Die Linkerhands standen hinter der Jalousie. »Vielleicht gehen sie wieder weg«, sagte Frau Linkerhand. Sie sah Franziska an. »Die Russen sollen ja so kinderlieb sein …«

Linkerhands Albinogesicht rötete sich wolkig. Die Soldaten sprangen über den Zaun und hämmerten mit den Pistolenkolben an die Tür, hämmerten wütender, jetzt auch mit den Stiefelabsätzen, hämmerten die letzte Aufschubminute herunter, und Linkerhand ging zur Tür, rundrückig, wieder weiß bis in die Augen, er sagte: »Ein Heil bleibt den Besiegten, kein Heil mehr zu hoffen«, versäumte diesmal Quellenangabe und belehrenden Hinweis auf Vergil, setzte die Brille ab und öffnete zwei olivfarbenen Schatten und folgte ihnen, stumm beiseitegedrängt, mit seinem tastenden Schritt durchs Haus, gelegentlich an einer Schwelle, auf einer Stufe strauchelnd, aber hartnäckig und höflich. Endlich wieder in der Diele, sagte der eine, während er mit dem kurzen, gedrungenen Lauf seiner Maschinenpistole rundum zeigte: »Kapitalist –«, mit scharfem, langem i in der letzten Silbe, die er fragend hochzog.

»Ich bin Verleger«, sagte Linkerhand, und lauter, wie zu Schwerhörigen: »I’m publisher.« Der kleinere Schatten lachte, und dann ließen sie Linkerhand stehen und gingen weg, gingen durch die weitoffene Tür und den Gartenweg hinab, und Linkerhand blickte ihnen nach, er fühlte sich um etwas betrogen, ohne genau sagen zu können, um was er betrogen war. Er setzte sich auf die Treppe. Er hörte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen, aber gleichzeitig war ihm, als ob seine Zähne und Hände und jedes Glied seines Körpers nicht mehr zu ihm gehörten. Ich bin gesprungen, dachte er, und er hatte jetzt dasselbe Gefühl wie damals als Junge, als er mit anderen Jungen auf der Promenade spielte und sie ihn zwangen, von der Stadtmauer zu springen.

Die Mauer war sehr hoch und bis zu Mannshöhe aus Granitblöcken gefügt; der obere Teil, der aus einem späteren Jahrhundert stammte, war aus Backsteinen. Die Mauer war von Efeu überwuchert. Er stand auf den bröckelnden Backsteinen und sah den roten Staub zwischen seinen Zehen, er hatte Angst, er sah den Fliederbusch an der Mauer mit seinen dunkelvioletten Blütengarben und die Lindenbäume an der Promenade; von den hellgrünen Lindenblättern tropfte der Regen. Er drückte die Augen zu und sprang. Er ließ sich fallen, gefaßt auf Unerhörtes, einen unerhörten Schmerz oder unerhörten Triumph, er stand, zitternd in den Kniekehlen, aber wohlbehalten und betrogen um das Außergewöhnliche, unter den gleichgültigen Jungen, die vor ihm gesprungen waren und schon ein neues Spiel berieten.

Seine Frau umarmte ihn unter Tränen. Franziska fragte: »Was ist ein Kapitalist?« und zerrte das spitze i in die Länge.

Linkerhand gebot Schweigen, vergeblich, seine Tochter wiederholte endlos das neue Wort, nahm in der Folgezeit auch jedes andere neue Wort begierig auf, das die Erwachsenen sich leise und mit Bedeutung zuraunten: Kommandantur, Vergewaltigung, Deutschenhasser, Kultura. Kultura: wenn ein Russe vorbeiradelte, die Lenkstange umkrampft und mit auswärts gebogenen Knien – diese großen Kinder kannten keine Fahrräder, keine Wasserspülung und Zentralheizung. Der Kommandant behandelte nur nachlässig die Beschwerden der Deutschen, betreffend requirierte Uhren, Bettwäsche und Porzellan, ließ sogar einmal die Wartenden auseinandertreiben, die vor der Kommandantur Schlange standen und weinerlich gekränkt auf ihr Recht pochten – »ein Deutschenhasser«, sagte Franziskas Mutter, und Linkerhand, errötend, drehte gepeinigt den Hals … das war später, ein paar Wochen nach diesem ersten Tag, als zuerst die zwei kamen und dann eine Menge anderer; einer expropriierte mein Rad, der nächste die Luftschutzkoffer, die so handlich im Kellerhals standen, der dritte Mutters Pelz, und mittags gab es keine Uhr mehr im Haus. Auch meine Uhr war weg, die aus der Teebüchse, ich opferte sie, um Vater zu retten, dem ein großer grober Kerl zusetzte. Eine hübsche Uhr, ich könnte sie jetzt an einer Kette um den Hals tragen. Übrigens ging sie immer eine Stunde nach … Die hier, die habe ich in Moskau gekauft, für hundertdreißig neue Rubel, waterproof und antimagnetic, bezahlt hat sie Reger, und du brauchst deshalb nicht so ein Gesicht zu ziehen … Natürlich habe ich sie nicht verzollt, bin ich verrückt?

Meine Mutter stand in der Diele wie Lots Weib, sie fing erst an zu weinen, als die Flüchtlingsfrau, die jüngere, frechere, die mit untergeschlagenen Armen an der Küchentür lehnte, sagte: »Da sehen Sie mal, wie’s ist. Wir, wir haben alles verloren …« Die Große Alte Dame, der sowieso alles schnuppe war, weil sie ihre Wertsachen im Tresor hatte, tröstete meine Mutter mit Bibelsprüchen, hänge dein Herz nicht an die Schätze, die Motten und Rost fressen, und Vater tröstete sie und sich mit den Weisheiten der Alten, den Horaz rauf und runter, und Seneca und Vergil und schließlich sogar Cicero, dem er sonst abgeneigt war: »Im Waffenlärm schweigen die Gesetze«, sagte er, gab sich stoisch, war wohl auch etwas in dieser Art … In Wahrheit, mein Lieber, beklagten sie sich, nicht den Verlust ihrer Habseligkeiten …

Kannst du dir deinen Tod vorstellen, kannst du, meine ich, unbewegt über die Tatsache nachdenken, daß du sterben wirst – nicht die biologische Kategorie Mensch, die natürlichen Gesetzen folgt wie Tier und Pflanze, sondern du selbst, du, Benjamin – und daß du ausgelöscht sein wirst, zurückverwandelt in Erde, ungetröstet, ohne Glauben an eine unsterbliche Seele und ein besseres Jenseits? Und wenn du im Luftschutzkeller saßest, hast du nicht gedacht: Mich trifft es nicht, und der Tod deines Nachbarn war denkbar, aber nicht denkbar dein eigener Tod –?

So unvorstellbar, glaube ich, war ihnen Gesetzlosigkeit. Sie waren fassungslos erstaunt … nicht, weil sie einen Teil ihres Besitzes verloren, sondern weil sie ihn unter solchen Umständen verloren, weil der Krieg das geheiligte Recht auf die eigenen vier Wände aufgehoben hatte. Ihr Haus war nicht mehr ihre Burg, und es gab keinen Richter, den sie anrufen konnten. Das war das Chaos, das war das Ende der geordneten Welt … Die Ukrainerin wirbelte durchs Haus, die schwarze füllige Matka von nebenan, lachte und schwatzte mit den Rotarmisten und lief lachend die Treppe hinauf, zu den Schlafzimmern im ersten Stock. Sie trug einen Pullover des kümmerlichen Mädchens Elfriede, der über ihrer hohen Brust spannte und zwischen Strickrand und Rockbund ein handbreites Stück ihres Unterkleides sehen ließ. Ihre Augen funkelten. »Sie ist betrunken«, sagte Frau Linkerhand, »das schamlose Weib, und in dem Pullover, den die ganze Straße kennt.«

»Vielleicht freut sie sich, weil sie nicht mehr Kartoffeln schälen muß«, sagte Franziska, die Kartoffelnschälen unter eisigem Wasser verabscheute.

Matka sprang die Treppe hinab, zeigte runde Knie und frech ein Kleiderbündel, das Rostrote, das gute Schwarze aus weichem, wie Maulwurfsfell glänzendem Samt, und schlug die samtschwarzen frechen Augen nicht nieder vor Frau Linkerhand, die auf der letzten Stufe wartete, zwar keine Hand rührte, sogar höflich beiseite trat und nur mit ihrer Stimme den übermütigen Wirbel von Knien, Kleidern und sprudelndem Russisch aufzuhalten versuchte, mit ihrer Stimme einer hageren nervösen Frau, plötzlich mild verwandelt, einer Stimme, die sich bückte: »Wir haben Ihnen doch nichts getan, Fräulein Maria –«, und Franziska zog die Schultern zusammen, sie krümmte sich vor Scham: wenn diese Frau nur einmal, vor einem halben Jahr oder vier Wochen, wenn sie nur ein einziges Mal Fräulein und Sie gesagt hätte zu der im Garten grabenden und jätenden Maria; wenn sie nicht – obgleich sie wußte, daß die Ukrainerin Deutsch sprach – mit ihr geradebrecht hätte, nicht gehässig, einfach gedankenlos, ungläubig, daß es eine gemeinsame Sprache zwischen ihnen geben konnte …

Wilhelm war schon frühmorgens an die Elbe geradelt, wo, drei oder vier Kilometer außerhalb der Stadt, gestrandete Lastkähne am Ufer lagen; die Schiffsmannschaft war geflohen, und Wilhelm, den ein telepathischer Apparat mit seinen Schulkameraden zu verbinden schien, hatte von Schiffsbäuchen voller Konserven und Eiserner Rationen erfahren. Linkerhand war jetzt ganz froh, seinen Sohn außer Haus zu wissen, der sich aus einem mürrischen, aber fügsamen Kind in einen unberechenbaren Wilden verwandelt hatte und seine Eltern bald durch Ausbrüche von Jähzorn, bald, ratloser, durch sein Schweigen erschreckte, Stummheit wie eine Hülle von dünner, stillstehender Luft, nicht greifbar, nicht angreifbar – sie nannten ihn halsstarrig, er war in dem gewissen schwierigen Alter, sie zählten seine Jahre, sechzehn oder fast sechzehn, nicht seine Erlebnisse (in einem HJ-Lager, im Bunker am Bahnhof), von denen sie nichts wußten, auch nichts wissen wollten, der Vater in absichtsvoller Blindheit, die Mutter verletzt von der Ahnung unkindlicher Erfahrungen ihres Kindes, dem sie gestern noch Schleifen in die Schnürsenkel gebunden hatte.

Er war noch nicht zurück, als Marias Begleiter zuerst die mit Reisig und feuchter Erde zugedeckte Grube neben der Mülltonne, dann das Versteck unterm Fliederbaum aushoben, schließlich mit Stecken in den Frühbeeten stocherten, und als Linkerhand, der gleichmütig zugesehen hatte, wie Silber und Meißener dahingingen, nun, beim Anblick jenes Blechkanisters, mit einem rauhen, schluchzenden Stöhnen die Stirn ans Fensterbrett lehnte, geschlagen wie Hiob, noch nicht genug geschlagen, noch nichts ahnend von Enteignung, von den in seinem Maschinensaal recht und schlecht gedruckten Broschüren … die Druckerei lag hinter unserem Stadthaus, im Garten, dem altmodischsten Garten, den du dir vorstellen kannst, Malven und Clematis, ein Tempelchen ganz verhangen von Geißblatt, und die Setzer aßen ihre Frühstücksbrote auf den steinernen Bänken am Kiesweg – ich rieche noch Leim und Druckerschwärze, den aufregendsten Duft von der Welt, außer Diesel (deine Jacke riecht immer nach Diesel, auch deine Hände, und deine Haut, überall) … nichts ahnend von einem Schlosser Langer, der die Kupferplatten für die Bildtafeln in den Deutschen Bauten der Buntmetallverwertung zuführt, Barbarei aus Unkenntnis, die Linkerhand dem neuen Staat nie verzeihen wird.

Wilhelm der Ernährer kam im Dunkeln, er schleppte einen Zuckersack und einen Beutel, prall von Fleischkonserven und [einem] Klumpen Butterschmalz; auf seinen Wangen brannten blutige Schrammen, und sein Hemd hing in Fetzen, aber nur Franziska lief ihm entgegen und umtanzte, zottig und aufgeregt wie ein Hündchen, den heimkehrenden großen Jäger. Er warf stolz und gleichgültig seine Beute ab. »Wo sind sie?«

»Sie heult, und er hat sich eingeriegelt. Sie haben ihm die Madonna geklaut.«

»Heult?« sagte Wilhelm leise, sein Kinn zitterte. »Heult – um das verdammte dreckige alte Stück Holz?« Er hatte sechs Stunden lang, wahnsinnig unter einer Horde Wahnsinniger, auf einem sinkenden Lastkahn gekämpft, um sich geschlagen und getreten, bis zu den Knien durch einen weißen Zuckerstrom watend, der sich aus aufgeschlitzten Säcken in den Laderaum ergoß, er hatte, halb erstickt zwischen den keuchenden, schwitzenden Leibern, nicht mehr um Fleisch und Zucker gekämpft, sondern um sein Leben, um Luft, um den ersten Atemzug draußen, auf dem zertrampelten, von öligem Schaum überspülten Ufer, und seine Todesangst, das Entsetzen (aus einer Tonne ragten die Beine eines Ertrunkenen, er war ins Öl gestürzt oder gestürzt worden), seine verleugnete Todesangst machte sich in einem Wutschrei Luft: »Ihr – wo lebt ihr denn?«

Franziska flüchtete sich hinter den Schrank. Wilhelm schüttete den Beutel aus und feuerte die Fleischbüchsen gegen die verschlossene Tür zu Linkerhands Zimmer. »Da, freßt! Haut euch den Bauch voll!« Er klatschte den Klumpen Butterschmalz, den er gegen Zähne und Fingernägel verteidigt hatte, an die Tür. »Da, das schickt euch der liebe Gott –« Franziska kicherte, und Wilhelm zerrte sie hinter dem Schrank hervor, er fühlte ihre erbärmlich dünnen Arme, er legte ihr besänftigt die Hand auf den Kopf. »Laß dich da nicht reinziehen … Sie begreifen nichts, ums Verrecken nicht … Schon gut, du bist zu klein, man kann mit dir nicht reden …« Er riß sie an den Haaren und lachte. »Einer hat einen Sack voll Schuhe rausgeschleppt. Lauter linke Schuhe … Stell dir vor, meine Kleine, einen Sack voll von linken Schuhen …«

Worauf war noch Verlaß in dieser Welt, wo ein Rest von Sicherheit? Der Bankdirektor, ein Cousin Linkerhands, schickte Nachricht, die Tresore seien aufgebrochen und ausgeräumt worden. Die Großmutter mußte sich setzen. Nit möglich … das ging entschieden zu weit, es gibt doch Grenzen … schlimmer als Tillys fromme Räuber. Die solcherart enterbte Franziska versuchte bekümmert auszusehen; sie wußte nicht, was sie bedauern sollte: der sagenhafte Schmuck lag seit Jahrzehnten im Safe, im Berg Sesam, ins Märchenhafte entrückt und so verführerisch und unwirklich wie der Strom von funkelnden Steinen, in den Alibaba oder Aladin ihre Hände tauchten.

Ein Paar Ohrgehänge waren übriggeblieben, Granatbroschen und eine Gemme … als du zum erstenmal mit mir tanztest – nur aus Höflichkeit, nein, widersprich nicht, es war ein Pflichttanz, und genau so habe ich es aufgefaßt –, da sagtest du: Teuerste Frau, das Talmizeug paßt nicht zu Ihnen, oder so, jedenfalls ›Teuerste‹, und das war schon arg – aber Talmi! Großmas Brillanten … Und dann fingst du an zu pfeifen, auf der Tanzfläche, das war zuviel, was für ein Trottel, dachte ich, er kommt aus dem Takt, wenn er den Mund aufmacht, und macht den Mund auf, um eine Taktlosigkeit zu sagen …

Linkerhands Cousin spielt in dieser Geschichte keine Rolle (als junger Mensch wollte er Musik studieren, sein Vater zwang ihn aber, die Bankgeschäfte zu übernehmen. Er richtete sich in dem ihm aufgezwungenen Leben ein. Er besuchte niemals ein Konzert … Das alles ist ungenau. Ein Traum, ausgeträumt, Girokonten statt der schwarzen Konzertflügel, eine Stadt für die hundert Städte, die ihm zujubelten – war er unglücklich, schwach, einsichtig, was weiß ich denn? Soll ich ihn bedauern?), und seine Frau, eine füllige Blondine, tritt nur mit ein paar Sätzen auf, vier oder fünf Jahre nach dem Krieg, als die Familie immer noch das große Wir-haben-von-nichts-gewußt-Spiel weiterspielte, Schutzhaft vom Hörensagen kannte, an Schaufensterscheiben mit Juda verrecke erschrocken und verlegen vorübergeeilt war wie an einem blinden Bettler, keinen Groschen zur Hand und nun schon zu spät umzukehren, und über Heilkräutergärten im Musterlager Theresienstadt gelesen hatte, im Völkischen … die Tante also, in blonder Fülle, sanft und zäh, tritt nur an einem Abend auf, um – wie gewöhnlich – die Familie bloßzustellen, indem sie sagt: »Aber wißt ihr denn nicht mehr, 1933, als sie die Kommunisten verhaftet haben … (Nur ein Hof trennte das Parteihaus von der Bank.) Im Keller … wir hörten sie schreien, die armen Menschen, jede Nacht … Ihr wolltet uns keinen Abend mehr besuchen.«

Kommunisten. Na, sie muß es ja wissen, sie hat immer kommunistisch gewählt, und ihr Mann ließ sie gewähren, liebevoll belustigt, er liebt sie heute noch, wie im Märchen. Nach zwölf Jahren Brautstand durften sie endlich heiraten. Eine Mesalliance. Sie war Fabrikarbeiterin, Stepperin in einer Schuhfabrik, sechs Geschwister, der Vater schwindsüchtig. Die Familie duldete sie, höflich und unnachsichtig. Linkerhand als erster gönnte ihr das verwandtschaftliche Du, nach jenem Zwischenfall mit der Friseuse, die die Frau des Apothekers – die vom Goldenen Adler – wegen einer zersetzenden Bemerkung angezeigt hatte. Die Apothekersfrau wurde verhaftet und verschwand spurlos und für alle Zeiten. Die Tante spuckte der Friseuse ins Gesicht, im Salon, zwischen den Spiegeln und Porzellanbecken und den Damen unter blitzenden Hauben, und es gab einen Haufen Scherereien, ehe der Skandal vertuscht werden konnte, und Frau Linkerhand sagte, es sei ein Rückfall, und die Tante könne das ehemalige Fabrikmädchen nicht verleugnen.

2

Sand Sand Sand. Der langweilige Himmel. Die langweiligen Kiefern. Ich wünsche mir einen blauen Strauch, oder einen rosa Baum, oder den Himmel grün … irgend etwas außer der Ordnung, eine Kokospalme, Nordlicht, Sonne mitten in der Nacht. Warum passiert hier nichts? Es passiert nichts, wir werden noch in hundert Jahren jeden Morgen um fünf aufstehen, gähnen, in den Waschraum rennen, Milchkaffee runtergießen, Berge von Sand bewegen, essen, schlafen, aufstehen, Sand in der Suppe, Sand in den Schuhen – Barackenmenschen, Ochsen im Göpel und mit verbundenen Augen, immer im Kreis, immer im Kreis … Das ist unsere Freiheit, das unsere herrliche kühne Unordnung, der wir zugelaufen sind. Der Tausch hat sich gelohnt: Rückenschmerzen und Normen gegen Kopfschmerzen und Parameter.

Warum sind wir nicht weitergewandert, bis nach Feuerland oder an den Amazonas? Manchmal träume ich vom Amazonas und den üppigen schwülen Urwäldern … Aber was wird sein? Schlangen und Stechmücken, viel zu heiß, kein Wasser zum Waschen, die Hibiskusblüten nicht so purpurrot wie im Traum, und der Amazonas stinkt, ich wette, er stinkt. Alles Schwindel. Tahiti – Schwindel. Der weiße Hafen Rio – Schwindel. Wirklich ist nur Hitze und Kälte, Sand, Kohlenstaub, abgebrochene Fingernägel und die verdammten ewigen Kiefern …

Hör mir nicht zu, Ben, ich fühle mich scheußlich, scheußlicher als ein Mann sich vorstellen kann … und sie soll sieben Tage unrein geachtet werden, genau so, Mose wußte es. Würdest du jetzt in einem Bett mit mir schlafen mögen? Andere in unserem Alter … andere haben ein Bett, eine Wohnung, Kinder, Fernsehen, eine rote Hängelampe im Schlafzimmer. Rote Lampen sollten verboten werden.

Gestern war ich in der Stadt – das vergammelte kleine Nest, in dem die Leute die Wäsche abnehmen, wenn wir kommen –, ich bin in den Möbelladen gegangen, alte Gewohnheit, beinahe ein Reflex: der Professor duldete nicht, daß wir unsere Arbeit von der Innenarchitektur trennten, er heulte bald vor Wut, wenn er seine Häuser nach einiger Zeit wiedersah, verschandelt durch häßliche Tapeten und die grünen Staketenzäunchen vor einer Loggia … Im Laden ein Paar, schwer zu schätzen, wie alt, die Frau sah wie vierzig aus, war also vermutlich um die Dreißig, schwanger, schwammig, vier Kinder zu Haus, hundert Mark Wirtschaftsgeld; der Mann eher dürr, mit einem Schnurrbärtchen wie ein zufällig nicht weggeräumtes Requisit, ein kläglicher Rest von Dreistigkeit, als könne er sich immer noch nicht von dem flotten Kerl trennen, der er vor zehn Jahren gewesen ist.

Sie hatten eine schreckliche Lampe ausgesucht, dreiarmig, die Schirme gelb, grün, rot, hundertzwanzig Mark. Doch, wir können, sagt die Frau, jetzt wo ich wieder arbeiten geh … Hin und her, sie rechnen, Haushalts-Mathematik, ich kenne das von den Bornemanns, die Rechnung geht nie auf, Nähgarn ist ein paar Pfennige teurer geworden, und die Kinder reißen ihre Sachen viel zu schnell runter … Der Mann beglotzt andauernd den roten Schirm, auf einmal sieht er seine Frau an, du weißt schon wie, und flüstert ihr zu: Abends, da machen wir bloß die eine Lampe an … Mann, ich hätt kotzen können. Das gute Stück für sein kleinbürgerliches Privatbordell …

Nein, ich hab mich nicht eingemischt. Soll doch jeder seine Dummheiten allein machen, ich bin aus dem Alter raus, wo ich wünschte, jedermann solle nach meiner Façon selig werden. Du kannst die Geschichte auch umdrehen: das nicht mehr junge Paar, immer noch Hand in Hand, immer noch glücklich auf seinem ärmlichen, aber sauberen Bett, in dem Zimmer, in das mit leisem Flügelschlag die Liebe einkehrt. Zitat. Rührend. Du sollst mir nicht zuhören, Ben. Wenn es mir schlecht geht, bin ich deprimiert wie nach sieben Wochen Regen …

Früher, weißt du, früher dachte ich, mir werde das nicht zustoßen, ich wuchs wie eine Pflanze … ein Körper, der mir niemals fremd oder beschwerlich schien, niemals als Hülle, denn er war ich, und die Haut ohne andere Erfahrungen als die des Schmerzes, wenn ich mich an einem heißen Milchtopf verbrannte oder mit einer Nähnadel stach, und als die von Frieren und Schwitzen, angenehm die Sonne, die Arme und Beine bräunte, unangenehm der kalte Wind, der sie mit einer körnigen Gänsehaut überzog … Jetzt, wenn du meinen Rücken berührst, fühle ich, daß sich die Haut wie ein Tierfell spannt, und mir ist, als gingen von deinen Fingern Stromstöße aus, bis in die Zehen, bis in die Kopfhaut, und ich bin alterslos und glatt unter deiner Hand … Der Spiegel damals war nur Spiegel, vor dem ich eitel prüfte, ob die Schleife gefällig gebunden, der Scheitel gerade gezogen war – und noch keine Ahnung von der Schrecksekunde, vom Grauen vor dem Doppelwesen, hinter dessen Spiegelstirn ich dachte …

Wir waren kluge Kinder, Wilhelm und ich, wir hatten eine Klasse übersprungen, unsere Klassenkameraden waren ein Jahr älter, und ein Jahr ist beinahe schon eine Generation. Ich war die Kleinste, mickrig, ich vergesse nicht das Lächeln des Arztes, der uns impfte, gegen Typhus oder Cholera oder Gott weiß welche der Krankheiten, die in den Nachkriegsjahren grassierten. Großma hatte mir das Haar geschoren, damit es kräftiger nachwüchse, sie schwor auf solche Hausmittel; die anderen Mädchen hatten schon Brust und hielten schamhaft ihre Hemdenträger fest, und ich stand als letzte in der Reihe, nur mit einer Turnhose, ich war glatt wie ein Junge, nicht die Spur von einem Hügelchen, und der Arzt grinste und sagte ›Kleiner‹ zu mir, und, Ben, ich starb fast vor Scham und beneidete die Mädchen, die er mit einem gewissen zarten Respekt impfte: er nahm mich nicht ernst, ich war bloß ein Kind, ein zwittriges Wesen.