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Kaum hatte Brigitte Reimann alle frühen Tagebücher vernichtet, tat es ihr leid: Sie hatte ihre Kindheit und Jugend verbrannt, all die Verliebtheiten, die Begeisterung als Kulturfunktionärin, erste Zweifel am Sozialismus. Erhalten geblieben sind aber die Briefe an ihre Freundin, die in den Westen gezogen war. 1952 brach die Korrespondenz plötzlich ab - man hatte sich auseinandergelebt. Als 1972 der Kontakt wieder aufgenommen wurde, konnte Brigitte Reimann nur noch ein bitteres Resümee ihres Lebens ziehen. - Selten sind eine Jugend und die Aufbau-Euphorie der fünfziger Jahre so plastisch geschildert worden wie in diesen Mitteilungen eines jungen Mädchens, in dem man die Schriftstellerin schon ahnt.
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Seitenzahl: 241
Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955–1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964–1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973.
Kaum hatte Brigitte Reimann alle frühen Tagebücher vernichtet, tat es ihr leid: Sie hatte ihre Kindheit und Jugend verbrannt, all die Verliebtheiten, die Begeisterung als Kulturfunktionärin, erste Zweifel am Sozialismus. Erhalten geblieben sind aber die Briefe an ihre Freundin, die in den Westen gezogen war. 1952 brach die Korrespondenz plötzlich ab – man hatte sich auseinandergelebt. Als 1972 der Kontakt wieder aufgenommen wurde, konnte Brigitte Reimann nur noch ein bitteres Resümee ihres Lebens ziehen. – Selten sind eine Jugend und die Aufbau-Euphorie der fünfziger Jahre so plastisch geschildert worden wie in diesen Mitteilungen eines jungen Mädchens, in dem man die Schriftstellerin schon ahnt.
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Brigitte Reimann
Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf!
Briefe an eine Freundin im Westen
Herausgegebenvon Ingrid Krüger
Inhaltsübersicht
Über Brigitte Reimann
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Lebensdaten Brigitte Reimann
Veralore Schwirtz Nachbemerkung
Zu dieser Ausgabe
Impressum
Burg, den 11. 6. 47
Liebe Veralore!
Recht herzlichen Dank für Deinen langen Brief. Er hat mich sehr froh und doch zugleich traurig gemacht, weil Du nun doch einen Pneu gekriegt hast. Wie oft habe ich gejammert, mein Leben für halb verpfuscht gehalten, weil ich so schlechte Augen habe und dadurch scheu und unsicher bei Fremden werde. Aber nun habe ich eingesehen, wie unrecht ich damit habe im Vergleich zu Dir.
Ich sollte Dir doch mal meine Meinung über das Gebet sagen. Weißt Du, schon das Wort »beten« klingt so ein bißchen phrasenhaft, aber glaube mir, alles, was ich jetzt schreibe, ist keine Phrasendrescherei, sondern mein wirkliches, tiefes Empfinden. Du warst doch dabei, als Lisa so über Gott und vor allem Christus spottete und ich ihr meine Meinung über den Glauben sagte. Und dasselbe will ich Dir jetzt auch sagen: Versuche, ganz fest zu glauben! Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß das zuerst sehr, sehr schwer ist, aber ich meine, daß eine Kranke, die den ganzen Tag Zeit zum Grübeln hat, sich allmählich zum wahren Glauben durchringen kann. Wenn ich abends bete, dann ist mir immer, als wenn ich jetzt alles in Gottes Hand gelegt hätte und nun ruhig schlafen kann. Ich weiß nicht, ob das der Glaube ist, aber ich fühle mich wirklich immer ganz erleichtert.
Aber weißt Du, es gibt da auch noch etwas anderes, so eine innere Stimme, und ich denke mir, daß die der liebe Gott ist. Seltsam, diese Stimme höre ich erst seit kurzem in mir und muß wirklich sagen, sie ist manchmal recht unbequem. Wenn ich einmal was besorgen soll und habe keine Lust und will es »versehentlich« vergessen, gleich ist die Stimme da und quält und ich muß es doch tun. Mir ist dann, als ob ich später für den Ungehorsam bestraft werden würde. Vielleicht glaubst Du das mit der Stimme Gottes, wie man sie nennen könnte, nicht, aber ich kann Dir mein Ehrenwort geben, daß es wahr ist, daß sie mich immer antreibt. Vielleicht verstehst Du es auch nicht ganz, man kann es schlecht beschreiben.
Was ich bis jetzt geschrieben habe, könnte man der lustigen, wilden Brigitte gar nicht zutrauen, was? Aber jetzt kommt auch was anderes, etwas, was unsere Klasse schon Wochen vorher aufgeregt hatte. Unsere Oberschul-Prüfung! Was meinst Du, was wir für eine Angst davor hatten! 265 Jungen und Mädel sind für die Oberschule gemeldet worden. Vorgestern war die schriftliche, heute die mündliche Prüfung.
Unsere schriftliche dauerte von 1/2 9 bis 1/2 3. Das kam, weil wir uns so viel Zeit nahmen. Zunächst ein einfaches Diktat: tropfender Wasserhahn. Rechtschreibung mordsleicht. Es kam auf Kommasetzung an. Wir hatten einen sehr netten Diktator, Herrn Mölle. Der hat alles so gesprochen und solche Zeichen gegeben, daß ein Saudummer merken mußte, wo ein Zeichen hinkam. Dann folgte ein Aufsatz. Vier Themen wurden gestellt, von denen wir uns eins aussuchen konnten. Sie hießen:
1. Wie wir uns durch den furchtbaren Winter 46/47 durchgeschlagen haben.
2. Wie ich das letzte Mal auf der Eisenbahn fuhr.
3. Ein Zwanzigmark-Schein erzählt seine Reise durch Stadt und Land.
4. Ein Besuch beim Meister – (da konnte man irgendeinen nehmen, Schuster, Bäcker, Schneider u. s. w.). Ich habe den 20-RM-Schein-Aufsatz gewählt. Hoffentlich hat die olle Edelgard keinen besseren als ich. Sie wohnt jetzt in Burg und ist im Aufsatz meine größte Konkurrentin. Ich hasse sie aus ganzem Herzen. Manchmal könnte ich sie kaltblütig abmurksen, die Zicke!
Zuletzt kam eine Mathearbeit. 12 Aufgaben. 6 Rechenaufgaben: + – · :. Also leicht. Dann 6 technische Denkaufgaben. Prozent und solchen Koks. Schon schwerer. Man mußte ziemlich überlegen. Ich habe 1,4 Fehler. Doll, was? Die 1 sind Rechenfehler, die 4 technische. Christa und Lisa, sonst Mathekanonen, haben sogar 2,4 Fehler. Wir drei haben in Mathe am schlechtesten abgeschnitten. Im Diktat habe ich 1, Christa 2 Fehler. Bloß Inge hat 0 …
Leb wohl, mein flandrisch’ Mädchen! Bei Canossa sehen wir uns wieder! Werde bald gesund und komme bald zurück!
Viele Grüße und Küsse sendet
Brigitte
Stell Dir vor, Ulla Sch. ist als einzige in der Klasse in der F. D. J.!
28. 6. 1947
Veralore-Schnuckchen!
… Wie schrecklich, daß Du nun auch kein gutes und reichliches Essen mehr kriegst! Bei uns sieht es in Beziehung »Essen« auch schrecklich aus. Keine Kartoffeln mehr – furchtbar! Mit dem Brot sind wir für diesen Monat auch schon alle und sitzen nun eine ganze Woche ohne Brot da! Wie gut, daß wir im Sommer Ähren lesen waren. Die mahlen wir jetzt durch die Kaffeemühle, nachdem wir die Körner rausgeklopft haben, und essen Suppe davon. Halt! Jetzt habe ich es falsch ausgedrückt! Das hört sich ja so an, als hätten wir die Körner rausgemacht und dann die Ähren durchgemahlen.
Wir, Lisa, Christa und ich, sind jetzt jeden Tag am Kanal, trotzdem es neuerdings bei 50 Märker Geldstrafe verboten ist. Gestern saß Lisa am Rand auf den Steinen. Plötzlich machte sie die Haare auf, nahm eine graziöse Stellung ein und sang: »Ich bin die Meerjungfrau auf meinem Felsen!« und alles solchen Blödsinn. Worauf sich Christa elegant ins Wasser schmiß und jauchzte: »Und ich bin die Nixe!« Ich armer Wurm aber patschte zwischen den holden Weiblein rum, bis sie auf einmal beide riefen: »Und du bist der Dackel!«, weil ich so komisch schwimme. (Übrigens bin ich jetzt frei!) Wir nennen uns nun immer »Dax, Max und nix« und lassen uns so rufen.
Eben waren wir wieder im Kanal. Es waren viele Russen da. Ein paar hatten sich deutsche Weiber geholt und sind mit ihnen im Kahn vor uns rumgekutscht. Plötzlich sprangen sie alle ins Wasser und ließen die Mädchen allein (die haben sich übrigens schändlich benommen und sich immer mit den Russen geknutscht). Auf einmal kamen eine Horde Jungs, die die Weiber beobachtet hatten. Sie sprangen ins Wasser und begannen den Kahn wie wild zu schaukeln. Bei jedem Schaukler kam mehr Wasser rein. Die Jungs versuchten, den Kahn umzukippen, und die dämlichen Weiber kreischten wie verrückt. Wir drei am Ufer aber hüpften immer von einem Bein auf das andere und schrien: »Feste, feste! Kippt das Ding um!« Die Schanddirnen quietschten immer doller, und die Russen kamen nicht zu Hilfe. Je mehr die Weiber jammerten, desto mehr hetzten wir gegen die Russenliebchen. Schließlich setzten sich die Bengels in den Kahn, der jetzt von einer Seite auf die andere schwankte. Eine hatte Angst, sie müßte ertrinken, drohte mit der Polizei, aber die ließen sich nicht einschüchtern und spritzten wie wild. Wir haben uns gewälzt vor Lachen! Na, die Jungs hatten endlich doch Erbarmen und ließen die Weiber raus, die wie wild schimpften, besonders die, die vorher geweint hatte. Aber ihr Geschelte ging unter in »Eine Seefahrt, die ist lustig!«, die die Jungs und wir hinter ihnen her grölten. So gelacht wie heute habe ich selten! …
Es grüßt und küßt Dich herzlichst
Deine Brigitte
Burg, den 10. 8. 47
… Ich habe mir jetzt drei Hefte angelegt, zu folgenden seltsamen Zwecken: In der »Täglichen Rundschau« sind immer reizende Artikel, Witze und eine Serie »Das Stadtbild der Zone«. In den Artikeln, die so in Witzform oder auch Anekdotenform sind, werden die jetzigen Zustände und schlechten Behörden, die Schieber und Nazis u. s. w. scharf kritisiert. Manchmal sind es richtige lange Geschichten mit überraschenden Pointen. Na, wenn Du wieder da bist, zeige ich Dir das Heft mit diesen Artikeln. Es ist schon fast voll. Ich schneide sie nämlich immer aus der Zeitung raus und klebe sie ein. In das 2. Heft werden die politischen Witze geklebt (natürlich nur solche mit Bild) und andere, die sich über die heutigen Zustände lustig machen. In das 3. Heft kommen die rausgeschnittenen Stadtartikel. Das ist so: Da reist ein Mann in der russischen Zone rum und besichtigt und kritisiert alle großen und kleinen Städte. Ich habe schon Greifswald, Anklam, Potsdam, Stralsund u. s. w. Die beste Kritik aber hat – Burg bei Magdeburg! Sie ist vielleicht sogar ein bißchen zu gut.
…
Also, ich kann Dir sagen, die Ernährung hier ist jetzt einfach furchtbar. Morgens bloß 2 Schnitten, mittags nicht genug Essen, so daß man meistens gar nicht satt wird, nachmittags eine Stulle und abends einen einzigen, noch nicht mal bis obenhin vollen Teller Graupensuppe und eine Stulle. Und dann meistens noch trocken, wenn es nicht gerade Gurken gegeben hat. Für andere Leute ohne Gärten ist das noch viel schlimmer, wir haben wenigstens noch Tomaten draufzutun. Augenblicklich haben wir ja Butter, aber die kommt meistenteils zum Kochen. Marmelade gibt’s gar nicht mehr, statt dessen Zucker, den wir auch so nötig brauchen. Dann gab’s mal wieder zwei Dekaden kein Fleisch, sondern nur Fisch, der bloß aus ein paar dicken Köpfen bestand. Das Schlimmste aber ist die Kartoffelnot. Da soll nun ein Mensch mit 400 g am Tag auskommen! Du solltest bloß unser Mittagessen sehen! Da findest Du alle halbe Stunde ein Stück Kartoffel. Wenn wir nicht so gesund und widerstandsfähig wären, sähen wir wie die meisten Menschen, die keine »Beziehungen« haben, aus, nämlich richtig wie arme Teufel, mit rausstehenden Rippen und Backenknochen. Die Kleinen sehen schon fast so aus, trotzdem wir ihnen das Beste geben. Sie, besonders Ulli, sind immer so schrecklich blaß, und als Ulli mal in der Badehose hingefallen war, sahen seine Rippen so aus: auf jeder Rippe der rechten Seite fein säuberlich ein Wundmal, während die Haut dazwischen nichts abgekriegt hatte. So weit stehen sie raus. Ebenso bei Puppa. Sei bloß froh, daß Du da im Heim gute Verpflegung hast. Hier würdest Du bei Deiner ohnehin zarten Konstitution einfach umklappen.
Na, jetzt will ich Dich mal mit meinen Klagen verschonen, die mir selbst das Herz unnütz schwer machen. Wenn ich dann die fetten Schieber sehe mit ihren dicken Bäuchen und fleischigen Stiernacken (siehe Christas Onkel), dann könnte ich die gemeinen Kerls in Stücke reißen. Den dicken Onkel könnte ich jedesmal, wenn ich ihn im Hausflur treffe, ins Gesicht spucken. Aber leider, leider kann man nicht so, wie man will. Er war ja schon mal verhaftet, aber wieder freigesprochen worden. Naja, wie das kam, kann man sich denken! …
Habe ich Dir schon geschrieben, daß mein neuer Badeanzug fertig gestrickt ist? Ich ziehe ihn aber erst im nächsten Jahr an. Er sitzt sehr schick, bloß das Brustdings ist etwas gewagt. Auch eine Folge des Wollemangels. …
Deine Freundin Brigitte
Burg, den 1. September 1947
… Hach, ich freue mich ja so! Ich bin in furchtbar übermütiger Stimmung, was Du, falls Du in Deinem Heim »V. h. z. Z. L. w.« (Vereinshaus zur Züchtung Langerweile) nicht bereits hochgradig verdooft bist, was Deinen Briefen (viel zu kurzen übrigens) nach nicht scheint, bestimmt schon gemerkt hast. Denk mal an, mein liebes Vatilein hat endlich, nach 1/2 Jahr wieder geschrieben. Als ich den Brief oder vielmehr die Karte im Flur liegen sah, habe ich ganz laut losgebrüllt vor Freude und Begeisterung. Du hättest mal sehen sollen, wie schnell da sämtliche Kinder zusammenströmten! Man konnte vor lauter Indianerfreudengeheul kein Wort verstehen. 4 Karten sind verlorengegangen. Vati hat doch immer die Karten numeriert. Und heute nun schreibt er (vom 8. Juli), er finge nun bald wieder an zu arbeiten, ließe sich jetzt immer von der Sonne braten und liest deutsche Zeitungen, die regelmäßig eintreffen. Fein, was? Pille hat auch schon seit Februar keine Nachricht von ihrem Vater, der am Ural ist. Unverantwortlich von denen, die so nachlässig sind, daß die Karten verlorengehen.
Viele Tage später (5)
Nun muß ich erst mal von unserer neuen Schule erzählen.
Also am 2. September fings an. Um 1/2 9 war vorm Gymnasium endlich unsere Klasse vollzählig versammelt – man bloß – ein Pauker kam nicht. Na, endlich geruhte einer, uns darüber aufzuklären, daß die Lehrer bis 10 Sitzung haben. Also zogen wir in schöner Einigkeit in die Bahnhofsanlagen und frühstückten, worauf wir um 3/4 10 wieder unserer heimatlichen Hütte, bzw. Schule, zustrebten. Ich muß gestehen, wir hatten alle ein bißchen Herzklopfen aus Angst vor dem Neuen! Wir gingen dann mit der Mittelschule in die Aula, wo schon »unsere« Jungs versammelt waren. Wir waren schätzungsweise 120 Schüler, die T. nach einer pompösen und witzig sein sollenden Rede in 4 Klassen aufteilte und zwar: 1. Jungs und Mädchen zusammen, 2. Alle, die schon vier Jahre Englisch und ein Jahr Latein gehabt hatten, kamen entweder in 9a oder 9b.
Bei G. haben wir Erdkunde, Geschichte und Latein. Der Lateinunterricht ist fabelhaft bei ihm. Jeder Satz wird auf das sorgfältigste zerlegt, jedes Wort einzeln übersetzt und so, daß jeder nur ein Wort kriegt. Gleichzeitig wird im Anschluß an die Übungsstunde griechische und römische Geschichte und Sage erzählt.
Dann hatten wir Russisch bei H. Das ist ein ganz junger, witziger Pauker, dem sie alle auf der Nase rumtanzen. Er hat erst mal unsere Namen auswendig gelernt. Zum Schreien! Er sagt auch »Sie« und »Fräulein Reimann«! Als er meinen Namen hörte, verdächtigte er mich, die Tochter oder mindestens Verwandte von dem bekannten Max Reimann, Leiter der KPD in der britischen Zone, zu sein. Da sagte der Kretschmar ganz laut: »Ach iwo, der ihr Vater ist doch son Nazi!« …
Deine Brigitte
Mensch, die aufgedonnerten Figürchen, die man auf dem Schulhof sieht! Christa und K. wollen sich Dauerwellen machen lassen!
Burg, den 18. 9. 1947
Liebe, süße Veralore!
Dein Brief hat mich schrecklich traurig gemacht, wie noch selten in meinem Leben. Ich habe furchtbar geweint. Es ist doch mein erster Abschied. Wenn ich so recht überlege, was mir durch diesen Abschied genommen wird – Veralore, ich bin todtraurig! Wenn ich Dir bloß sagen könnte, wie lieb ich Dich habe und wie es mir das Herz zerreißt, nun immer von Dir getrennt zu sein. Ich habe mich doch so auf Deine Heimkehr gefreut! In den letzten Wochen habe ich von Tag zu Tag gewartet und nun –
Na, Veralore, wir werden uns doch hoffentlich bald wiedersehen! Ich hatte schon gedacht, Du könntest mich über Weihnachten besuchen, aber Mutti meinte, es wäre viel zu anstrengend für Dich, im Winter zu reisen. Weißt Du was, dann komme ich eben im nächsten Sommer zu Euch. Denn bis Du kräftig genug bist, die sicher anstrengende Reise über die Grenze zu machen, kann ich es nicht mehr aushalten! Außerdem sagte Mutter, es wäre so wunderschön in Bad Pyrmont, daß ich es unbedingt kennenlernen möchte.
… Und, Veralore, was ich Dir noch sagen wollte, werde mir in diesem vornehmen Bad nur nicht solche kleine, affige, aufgeputzte Weltdame mit Dauerwellen, geschminktem Gesicht und solchem koketten Benehmen wie Deine werte ehemalige Freundin Gerda N. Verstehe mich bitte nicht falsch, das soll keine Beleidigung für Dich sein, denn ich weiß, daß in Dir ein guter Kern steckt und was Du für ein prächtiges Mädel bist, aber solchem feinen Bad gegenüber bin ich furchtbar mißtrauisch. Versprich mir, alle 3– 4 Tage zu schreiben, ich werde es ebenso tun. Nun laß es Dir recht, recht gut gehen, meine Allerliebste, meine Herzensfreundin!
Deine Brigitte
Burg, den 10. Okt. 47
Liebste Veralore!
… Schade, daß das Birnenpäckchen nicht angekommen ist! Es war nämlich noch ein Buch drin, das die Klasse Dir gestiftet hatte.
Ach, Veralore, bei uns hat sich inzwischen so viel ereignet, daß ich eigentlich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Zuerst das Allerwichtigste und =schönste: Vati ist gekommen! Ich will Dir der Reihe nach alles von seiner Heimkehr erzählen. Wir hatten zufällig seinen Lieblings=, nämlich Lebkuchen gebacken (zum Erntedankfest). Sonnabendvormittag (am 4. Okt.) bekamen wir plötzlich ein Telegramm: »Eintreffe voraussichtlich Sonnabend. Willi.« Da habe ich mich erst mal auf den Tisch gehauen und geheult – vor Freude natürlich! Dann haben wir den Backofen von Fr. L. geheizt (unserer ist doch kaputt), und um 8 abends ist Mutti zum Bahnhof gegangen. … Lutz ist gleich losgepeest und prompt an Vati vorbei, weil er so verändert aussah. Zuerst haben wir uns gar nicht getraut, uns einen Kuß zu geben, aber nachher war es auch ein sehr, sehr langer! Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie elend Vati aussah! Er hatte scheußliche alte Lumpen und einen groben Russenmantel an und ein dreckiges Russenkäppi auf. Und die furchtbaren Holzschuhe erst! So plump und geflickt! Dazu das knochige Gesicht, die abgeschorenen Haare und – die Sprache! Über diese traurigen Äußerlichkeiten konnte ich mich noch hinwegsetzen, obgleich sie ihn auch fremd machten, aber die Sprache stieß mich so ab, daß ich einfach nicht »Vati« zu ihm sagen konnte! Ich kann Dir gar nicht beschreiben, wie sie war: so nervös, so krank und – und ich weiß nicht, überhaupt so schrecklich fremd! Unterwegs habe ich immerzu geweint, während Lutz solche Hemmungen nicht hatte, sondern immer munter drauflos quatschte. (Ursel hat mich aber getröstet, und jetzt habe ich mich völlig an ihn gewöhnt, d. h. ich glaube, er spricht überhaupt nicht mehr so komisch!) Als wir nach Hause kamen, hat er sich erst mal ausgezogen. (Das Haus stank noch drei Tage später nach Entlausung und Russki.) Und dann hat er gefuttert! Der arme Kerl war gar nicht satt zu kriegen! Wir haben ihm immer mehr Kuchen reingestopft und Fleisch. (Wir hatten nämlich unsere sorgsam gehüteten Fleischgläser aufgemacht. Erfolg: am nächsten Tag hat Vati gräßliche Bauchschmerzen gehabt!) Die Kleinen haben sich bei der Begrüßung genauso verhalten wie wir Großen: der Ulli, der Junge, gleich ran und Kuß, aber Puppa wollte nicht recht ran, und immer, wenn Vati sie anguckte, rutschte sie ein Stückchen tiefer unter die Bettdecke. Aber als Vati sich am anderen Tag seinen schrecklich entstellenden Bart abgenommen hatte, war sie wieder ganz zutraulich. Jetzt ist uns allen, als wäre er immer da und niemals fort gewesen. Es ist wie früher! Aber eine strengere Zucht herrscht jetzt. Vati ist ziemlich peinlich geworden in der Gefangenschaft.
Natürlich ist er völlig unterernährt, hatte eine doppelseitige Lungenentzündung und ist dicht am Tode vorbeigegangen. Außerdem hat er jetzt noch eine Verschwartung, zersplitterte Kniescheibe, und, glaube ich, noch Wasser in den Füßen. Er ist schrecklich nervös. Wir danken aber Gott, daß er uns Vati überhaupt wieder nach Hause geschickt hat! …
Deine Brigitte
Burg, den 24. 12. 47
Meine liebe Veralore!
Nachträglich wünsche ich Dir ein schönes, froh verlebtes Weihnachtsfest! Ich bin ja so froh, nun über Weihnachten nach Hause gekommen zu sein. Ach, ich habe Dir ja so viel zu erzählen! An sich geht es mir saudreckig, auf deutsch gesagt. Vorher konnte ich Dir nicht schreiben, weil ich völlig isoliert im Infektionskrankenhaus lag. Ich kann Dir bloß sagen, Kinderlähmung ist so ziemlich die schrecklichste Krankheit, die es gibt. Diese Hilflosigkeit macht mich bald verrückt. Das rechte Bein war zu Anfang vollständig gelähmt, das linke Bein war sehr schwach. Ich habe schrecklich geheult, als ich ins Krankenhaus mußte und die Schwestern mir die liebliche Aussicht eröffneten, daß ich die sechs Wochen, bis die Ansteckung vorbei ist, keinen Besuch kriegen dürfte. Aber so schlimm war es dann doch nicht. Ich lag zu ebener Erde, da konnte ich meinen Besuch immer durchs Fenster sprechen. Herrenbesuch habe ich sogar auch oft gehabt, Hans-Martin R. kam immerzu an. Aber ich bin nun mal unsterblich: unsterblich in meinen (leider nur in Gedanken »meinen«) Hannes verliebt. Ich könnte manchmal direkt heulen vor Sehnsucht nach ihm.
25. 12. 47
… Heute kriege ich noch einmal eine Spritze. Im Krankenhaus habe ich schon 9 gehabt. Sie tun scheußlich weh, ich kann mich hinterher den ganzen Tag nicht umdrehen. Ich kriege sie nämlich in den Po. Ich werde mächtig verwöhnt. Vor Magdeburg habe ich schon ein Grauen: Vielleicht muß ich ein halbes Jahr dableiben. Hoffentlich klappt das Mitkommen in der Schule, damit ich nachher wieder in meine alte Klasse zurückkommen kann. …
Stell Dir bloß vor, in M. muß ich in die »Krüppelstation« und in Gips liegen. Eine feine Aussicht! Ach, Hauptsache, ich werde wieder gesund! Im Augenblick bin ich bloß schrecklich abgemagert. Die reinsten K.-Z.-Beine. Und der Hüftknochen steht raus wie bei einem Droschkengaul. Mutti ist immer schrecklich traurig. Sie freut sich bloß, daß ich noch so fidel bin. Ich freue mich auch, daß ich meinen Humor behalten habe. Mensch, sonst hätte ich mich schon aufgebaumelt.
Ich habe große Pläne. Wir haben über meinen Beruf gesprochen, und ich will gerne Schriftsteller werden, aber nicht nur nebenbei, sondern als Hauptberuf. Damit man mein Talent prüfen kann, soll ich nun in M. schreiben. Vielleicht zuerst eine Novelle. Zeit, Lust und Phantasie habe ich. Hoffentlich wirds was!
Ein gesundes neues Jahr mit viel Glück wünscht Dir und Deinen Eltern
Deine Brigitte
Magdeburg, den 10. 2. 48
… Mir gefällt es hier ganz gut, besonders, weil es eine Privatklinik ist und ich bloß noch mit vier jungen, teils Mädchen, teils Frauen zusammenliege. Am 12. 1. kam ich hierher, so lange lag ich noch zu Hause. Das war eine schöne Zeit. Jeden Tag kam Besuch und bedauerte mich. Dann kam ich mit dem Auto nach Magdeburg. Unser Haus, früher die Villa von Dr. W., liegt ganz einsam, ziemlich weit draußen, direkt an der alten Elbe. Vom Balkon aus haben wir einen schönen Ausblick auf das Wasser und die gegenüberliegenden Kasernen. Unser Zimmer ist ziemlich groß, sehr hell und hoch. Ich will es Dir hier mal aufzeichnen, hoffentlich findest Du Dich durch.
Es geht immer ziemlich fidel zu. Aber trotzdem kriegt man manchmal Heimweh. Mutti und Vati können mich doch bloß einmal besuchen, und Lutz oder eines von den Kleinen darf gar nicht rein, weil sie noch nicht 14 sind. Die olle Emma, die drachige Oberschwester, läßt keinen, der noch zur Schule geht, rein, weil sie findet, die schleppen Seuchen ein.
Mit mir hat es sich, Gott sei Dank, schon erheblich gebessert. Während ich zu Hause oft geheult habe wegen meiner Hilflosigkeit und nicht mal ein paar Schritte machen konnte, wenn ich mich stark zwischen Mutti und Vati hängte, gehe ich schon ein paar Schritte ganz allein. Und mit Festhalten kann ich ganz lange gehen. Ich habe aber auch eine prima Masseuse, eine sehr kräftige Natur, und die Kleinen und alle meine Verwandten haben immer so lieb für mich gebetet. …
Viele Grüße und einen herzlichen Freundschaftskuß von
Brigitte
Burg, den 19. 3. 48
… Wir machen jetzt jeden Sonntag Spielnachmittage. (Daß ich seit Februar zu Hause bin, wußtest Du schon, was?) Wir sind bis jetzt zu fünfen gewesen, Christa, Ulla, Jürgen, Hans-Martin und ich. Hans-Martin besucht mich überhaupt oft, auch mit Jürgen. Die beiden sind primissimo! … Durch Christa sind Ulla und ich viel mit den Jungs zusammengekommen. Zuerst waren wir zwar auch scheu und tapsig, aber so allmählich, wo wir sie näher kennengelernt haben, sind wir aufgetaut und verkehren jetzt mit ihnen wie mit unseren Freundinnen. Und das macht viel aus, wenn man immer sich ganz natürlich gibt und mit ihnen lacht und frech ist und Witze macht, als wenn man so blöde dasitzt, kein Wort sagt und nicht zu lächeln wagt. Aber nun halte mich bloß nicht für so ’n kokettes Weibsbild, wie Inge oder Lisa. (Daß Lisa in Hamburg ist und bleibt, weißt Du, was?) Für uns sind die Bengels eben bloß Kameraden, mit denen man meistens mehr Ulk machen kann als mit Mädchen. Wir spielen jetzt immer Pfänderverteilen und Küssen, das ist großartig. Einmal mußte ich mit Jürgen Kalenderblättern, kennst Du das? Man stellt sich mit dem Rücken aneinander, einer der Gesellschaft ruft: Januar, Februar u.s.w. Bei jedem Monat muß man den Kopf nach rechts oder links wenden, wie man will. So oft nun die Köpfe der beiden die gleiche Richtung haben, so oft muß man sich nachher küssen. Weil nun Jürgen und ich kein Interesse daran hatten, uns zu küssen, machten wir heimlich aus, ich sollte den Kopf zuerst nach rechts wenden. Als H.-M. nun zu rufen begann, wandte ich den Kopf nach rechts. Jürgen aber hatte sich geirrt und wandte ihn nach links, so daß die Köpfe die gleiche Richtung hatten. Wir wollten nun beim zweiten Monat den Fehler gutmachen, ich drehte mich nach links, aber J. nach rechts. So ging es immerzu, und zuletzt mußten wir uns 9mal küssen. Die anderen hatten natürlich gemerkt, daß es unsere Absicht war, uns möglichst wenig küssen zu müssen, und johlten jedesmal los, wenn die Köpfe zusammen waren. Es war schrecklich. Das war nämlich damals das erste Mal, daß mich ein Junge küßte, und ich war furchtbar rot. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles!
Ich bin schon immer den ganzen Tag auf und laufe rum mit meiner Schiene. Die geht zwar bloß bis zur Wade, aber ich trage immer eine Hose, damit man sie nicht sieht. Das Laufen geht schon ganz gut, wenn ich auch das rechte Bein etwas nachziehe. Bloß das Treppensteigen und -runtergehen ist mistig. Ich muß immer runterhinken wie so ein kleines Kind bloß, mit einem Bein. Nach den Osterferien gehe ich wieder zur Schule. Mal sehen, ob ich das aushalte und überhaupt schaffe. … Ein bißchen kann ich schon wieder tanzen, langsamen Walzer und Tango, aber ohne Drehen. Mit Herren habe ich überhaupt noch nicht wieder versucht. Weißt Du noch, wie ich früher das Tanzen verflucht habe und geschworen, es nie zu lernen? Und jetzt tue ich es doch so gerne. Auch habe ich geschworen, nicht zur Tanzstunde zu gehen. Aber den Schwur halte ich, da kanns kommen wie 70! Vielleicht wäre es mir schwer geworden, aber nun wird das Halten des Schwurs mir erleichtert, weil ich krank bin, denn die Tanzstunde fängt jetzt, am 1. wahrscheinlich, an. Hannes hat sich schon angemeldet, Christa, Ulla und die anderen tun es jetzt auch. Na, aber zum Abschlußball im Sommer gehe ich sicher. …
Viele liebe Grüße und Küsse von
Deiner Brigitte
Burg, den 30. 4. 48
Meine liebe Veralore!
Entschuldige bitte, daß ich Dich so lange vernachlässigt habe, aber inzwischen ist ja so furchtbar viel passiert! Du machtest mir im letzten Brief den Vorwurf, mein Ton wäre so kalt gewesen. Das ist mir eigentlich gar nicht zum Bewußtsein gekommen. Vielleicht bildest Du Dir das auch bloß ein. Jedenfalls habe ich Dich noch genauso lieb wie früher.