Mit Respekt und Vergnügen - Brigitte Reimann - E-Book

Mit Respekt und Vergnügen E-Book

Brigitte Reimann

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Beschreibung

Brigitte Reimanns Briefe einer respektvollen Freundschaft.

Für ihren Roman "Franziska Linkerhand", der die Geschichte einer jungen Architektin erzählt, suchte Brigitte Reimann einen kompetenten Gesprächspartner. Sie fand ihn in Hermann Henselmann, dem renommiertesten und streitbarsten Architekten der DDR. Zwischen beiden entwickelte sich rasch eine Freundschaft, die vom Respekt für das Metier des andern und vom Vergnügen an anregenden Disputen getragen war. Die Korrespondenz dieser beiden impulsiven Briefpartner ergänzt Lücken in den Tagebüchern Brigitte Reimanns.

Hermann Henselmann wurde 1905 in Roßla geboren. 1923 bis 1927 Studium der Raumgestaltung und Architektur in Berlin, selbständiger Architekt, 1935 Ausschluß aus der Reichskulturkammer und Berufsverbot. 1945 Kreisbaurat in Gotha, 1946 bis 1949 Direktor der Staatlichen Hochschule für Baukunst und Bildende Künste in Weimar. Seit 1951 Mitglied der Bauakademie, 1953 bis 1959 Chefarchitekt von Groß-Berlin, 1964 bis 1967 Chefarchitekt des VEB Typenprojektierung und später des Instituts für Städtebau und Architektur der Bauakademie und gleichzeitig Leiter der Experimentalwerkstatt. Er starb 1995 in Berlin.

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Über Brigitte Reimann

Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955–1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964–1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956–1973.

Informationen zum Buch

Brigitte Reimanns Briefe einer respektvollen Freundschaft

Für ihren Roman »Franziska Linkerhand«, der die Geschichte einer jungen Architektin erzählt, suchte Brigitte Reimann einen kompetenten Gesprächspartner. Sie fand ihn in Hermann Henselmann, dem renommiertesten und streitbarsten Architekten der DDR. Zwischen beiden entwickelte sich rasch eine Freundschaft, die vom Respekt für das Metier des andern und vom Vergnügen an anregenden Disputen getragen war. Die Korrespondenz dieser beiden impulsiven Briefpartner ergänzt Lücken in den Tagebüchern Brigitte Reimanns.

Hermann Henselmann wurde 1905 in Roßla geboren. 1923 bis 1927 Studium der Raumgestaltung und Architektur in Berlin, selbständiger Architekt, 1935 Ausschluß aus der Reichskulturkammer und Berufsverbot. 1945 Kreisbaurat in Gotha, 1946 bis 1949 Direktor der Staatlichen Hochschule für Baukunst und Bildende Künste in Weimar. Seit 1951 Mitglied der Bauakademie, 1953 bis 1959 Chefarchitekt von Groß-Berlin, 1964 bis 1967 Chefarchitekt des VEB Typenprojektierung und später des Instituts für Städtebau und Architektur der Bauakademie und gleichzeitig Leiter der Experimentalwerkstatt. Er starb 1995 in Berlin.

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Brigitte Reimann Hermann Henselmann

Mit Respekt und Vergnügen

Briefwechsel

Herausgegeben von Ingrid Kirschey-Feix

Inhaltsübersicht

Über Brigitte Reimann

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Nachbemerkung von Irene (Isi) Henselmann

Lebensdaten Brigitte Reimann

Lebensdaten Hermann Henselmann

Personenregister

Nachtrag zur vorliegenden Ausgabe

Impressum

Berlin, 31. 5. 1963

Liebe Frau Brigitte Reimann,

dieser Brief soll nichts weiter sein als eine Mitteilung: Ihr Buch »Geschwister« regt unsere ganze große Familie auf – Jungen und Mädchen, Halbwüchsige und Vollwüchsige.

Sie sind so dicht dran an unserem gemeinsamen Leben, daß Sie von nun an zu unserer Familie gehören, und wir mit Spannung auf alles warten, was aus Ihrer Feder kommt.

Mich als Architekten freut die innere Sicherheit, mit der Sie die sparsam und transparent gebauten Räume öffnen und schließen.

Übrigens habe ich neulich in einer Präsidiumssitzung des Bundes Deutscher Architekten mit Ernst auf Ihre Bemerkung hingewiesen, die Sie im Nationalrat über den Bau von Hoyerswerda machten, nämlich über den Mangel an Intimität. Das ist ein sehr wichtiger und kritischer Hinweis. Den meisten Dingen, die wir bauen und die auf Baukunst abzielen, mangelt es an Dialektik. Denn natürlich kann Großräumigkeit nur entstehen, wenn sich ihr die Intimität hinzu gesellt.

Wir haben auch die Kritik Ihres Buches im »Neuen Deutschland« gelesen. Meine Kinder sind erbittert, wenn Sie überhaupt kritisiert werden. Ich habe Ihre Arbeit anders verstanden, als unser Genosse, der die Meinung vertritt, daß von den Geschwistern der Bruder zu wenig konturiert sei. Für uns ist der Bruder Hintergrund. Im Vordergrund steht eine junge Frau, die solche Qualitäten an Arbeitsbesessenheit, Mütterlichkeit und Liebesbereitschaft zeigt, daß sie unser Gedächtnis noch lange bewegt.

Wir glauben alle fest daran, daß Sie eines Tages zu den großen Schriftstellern in unserem Lande gehören werden.

Ich dachte, es macht Ihnen Freude, wenn ich Ihnen das schreibe.

ihr

Hoy[erswerda], 11. 6. 63

Lieber Herr Professor Henselmann,

für Ihren Brief möchte ich Ihnen schönen Dank sagen; ich habe mich sehr darüber gefreut, daß Ihnen die »Geschwister« gefallen haben.

Sie haben mich auch bestärkt mit Ihren Bemerkungen über unsere Stadt. Hier reagierte man bös auf jene Kritik: es gab eine behutsame Protestnote von der Bezirks-Baukommission, und die Zeitung entfesselte einen Leserstreit über die Frage »Kann man in Hoyerswerda küssen?«, die auf eben diesen Mangel an Intimität zielte und sich zu einem grotesken Mißverständnis ausgewachsen hat. Entrüstete Leser schreiben, daß sie für ihre Freizeit Besseres wüßten, als nur Küssen, daß die Jugend ein Recht auf Verliebtsein habe, daß ihr Leben ausgefüllt sei durch ständige Qualifizierung und daß im übrigen unsere sozialistische Stadt jung und schön sei.

Wenn man eine gewisse Zahl von professionellen Leserbriefstellern abzieht, bleiben aber immer noch genug Leute, deren vermutlich aufrichtige Meinung mir zu denken gibt. Manche meiner Bekannten sagen: Was regst du dich auf? Die Leute empfinden das gar nicht so wie du … Ist das denn wahr? Und wie lange wird es noch wahr sein? Mir bereitet es physisches Unbehagen, wenn ich durch die Stadt gehe – mit ihrer tristen Magistrale, mit Trockenplätzen zwischen den Häusern, wo Unterhosen und Windeln flattern, mit einer pedantischen und zudem unpraktischen Straßenführung, die die Erfindung des Autos ignoriert, mit Typenhäusern, Typenläden, in denen man eben nur seinen Bedarf an Brot und Kohl deckt, mit Typenlokalen, die nach Durchgangsverkehr und Igelit riechen.

Ich sträube mich zu glauben, daß andere dies alles nicht sehen und als bedrückend empfinden. Wahrscheinlich läßt sich in den fertigen Wohnkomplexen nichts mehr korrigieren, aber es müßte doch möglich sein, die Pläne für die nächsten Komplexe in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Entschuldigen Sie, bitte, daß ich Ihnen soviel von Hoy vorklage; das Thema liegt mir auch deshalb am Herzen, weil mein nächster Held Architekt sein wird, und nun versuche ich von allen Leuten, deren ich habhaft werden kann, zu erfahren, wie weit die Architektur einer Stadt das Lebensgefühl ihrer Bewohner zu prägen vermag, und mir scheint, sie trägt in gleichem Maße zur Seelenbildung bei wie Literatur und Malerei, Musik, Philosophie und Automation.

Für Ihre Ermutigung danke ich Ihnen – ich habe nämlich schreckliche Angst vor der nächsten Arbeit –, und wenn in zwei oder drei Jahren das neue Buch erscheint, so wünsche ich mir, daß Sie und Ihre Familie es mit Anteilnahme und Vergnügen lesen werden.

Ihre

Berlin, 21. Juni 1963

Liebe Frau Reimann,

nach einer Woche Urlaub fand ich unter vielen Aktennotizen, Festlegungen und Mitteilungen auch Ihren Brief vor. Er war eine freudige Überraschung.

Natürlich habe ich ihn gut verstanden und zähle mich durchaus zu diesen »Leuten, derer Sie habhaft werden können, um etwas über Architektur zu erfahren«.

Also gut: Sie haben mich und nicht nur mich, sondern auch unsere ganze Arbeitsgruppe – fast alles junge, von ihrem Beruf und Auftrag besessene Leute. Sie haben mich aus Gründen von mancherlei Solidarität.

Ich mache Ihnen einen konstruktiven Vorschlag: Besuchen Sie uns, sehen Sie sich in unserer Arbeitsgruppe um. Kommen Sie mit uns auf unsere Baustellen, an unsere Reißbretter, nehmen Sie an unseren übrigen Zusammenkünften teil. Wir werden Sie wohl empfangen.

Wir bauen gegenwärtig ein Kulturhaus am Alexanderplatz (das Haus der Wissenschaften und der Lehrer) und projektieren am Staatsgebäude für die Republik. Wir haben aber auch vor kurzem eine Arbeit für Wohnungsbauten abgeschlossen und im übrigen können Sie natürlich in meinen vielen, vielen Entwürfen blättern, wobei Sie wahrscheinlich am meisten diejenigen interessieren werden, die nicht gebaut wurden.

Teilen Sie einfach mit, wann Sie abkömmlich sind, dann ergibt sich alles andere. Sie können als Gast in unserem Hause sein, im Hotel wohnen oder wie es Ihnen bequem ist.

Mich interessieren Ihre Diskussionserlebnisse. Natürlich zielt Ihre Frage vom »Küssen« als einem Einzelnen auf vieles Übrige. Unsere deutsche Sprache weiß von den vieldeutigen Verflechtungen und siedelt – wie Sie das ja besser wissen als ich – das Heimelige beim Heimlichen, das Geborgene beim Verborgenen an und so fort. Wenn man diese Vieldeutigkeit nicht sieht, kann man zu keiner Eindeutigkeit gelangen.

Aber auch alle Industrialisierung, Standardisierung, Normierung kann nur zum Ziel die perfekteste Erfüllung aller Bedürfnisse haben. Die Entwicklung – wie sie sich bereits in den ersten Konturen abzeichnet – zielt darauf ab, mit Hilfe einer äußersten Vielfältigkeit einzelner Bauelemente eine außerordentlich große Variationsbreite in der Anordnung zu erhalten.

Aber natürlich bezieht sich diese Vielfältigkeit auch auf die Gestaltung der Bauten, auf das Stützende im Verhältnis zum Lastenden, auf das Schwebende, das Hängende, das Geschlossene, das Geöffnete und so fort. Die meisten unserer Versager und Mängel haben ihre Ursache in der Unfähigkeit, dialektisch zu denken. Doch gerade wir im Sozialismus haben doch so viele günstige Voraussetzungen als irgendwo anders.

Vieles, was wir bisher bauten, befindet sich unter dem Strich, gemessen an unseren Möglichkeiten und an der Aufgabe. Hierfür gibt es viele Gründe: Mängel an Begabung derjenigen, die solche Aufgaben in die Hand kriegen, aber auch unsere gesamte gesellschaftliche Situation, die sich im revolutionären Wandel befindet und einen neuen Auftraggeber zu erzeugen im Begriffe ist. Revolutionen feiern ihre Siege gern mit den Stilmitteln der Besiegten, meine ich. Für die ersten Schritte scheint ein gewisser Konservatismus der Form beinahe gesetzmäßig zu sein, als ob der Feueratem für die Umschmelzung so vieler Werte doch nicht für alles ausreicht.

Der Widerspruch, der uns – Ihnen ebenso wie mir – so viele Kopfschmerzen und Bedrückungen bereitet, besteht in dem Widerspruch zwischen dem Mangel an Perfektion dessen, was z. B. in Hoyerswerda zu sehen ist, und der Perfektion unserer Ziele. Aber vielleicht ist es unbarmherzig, diesen Mangel an Perfektion zu betonen gegenüber denen, die unter solchen Opfern die Gegenwart gestalten?

Vielleicht ist es aber auch unbarmherzig, diese Frage nicht zu stellen im Namen unserer Freundschaft, die uns mit denen verbindet, die so kühn alles um uns herum erneuern?

Kann man nicht unsere sozialistische Heimat so gestalten, daß man nach ihren Städten Heimweh empfinden kann?

Fragen über Fragen. Es wäre schön, wenn wir einander helfen könnten, eine Antwort zu finden.

Ihr Henselmann

NS. Was Ihre Angst vor der Arbeit betrifft, so denke ich, daß vollkommen furchtlos nur Dummköpfe sind.

[In dem Band »Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern« ist unter dem 1. 7. 63 vermerkt, daß Brigitte Reimann zwei neue Briefpartner durch ihre Erzählung »Die Geschwister« gewonnen habe. Der eine sei Hermann Henselmann, dem eine Fahrt nach Berlin in erster Linie gelte. »… Professor Henselmann (der übrigens ein besseres Deutsch schreibt als die meisten unserer Schriftsteller); er hat mich ebenfalls eingeladen, weil wir auf dem Umweg über mein Buch, das ihm sehr gut gefallen hat, zur Architektur gekommen sind; mein nächster Held soll eventuell Architekt sein …«]

Hoy, 2. 7. 63

Lieber Herr Professor Henselmann,

mit Ihrer Einladung haben Sie mir eine große Freude bereitet; Mitte nächster Woche werde ich in Berlin sein, vielleicht kann ich dann schon Ihre Arbeitsgruppe kennenlernen. Das ist also gewissermaßen ein Patrouillenritt. Ich melde mich einfach auf der Baustelle.

Verzeihen Sie, bitte, daß ich heute nicht imstande bin, auf Ihren Brief zu antworten, ich bin schrecklich niedergeschlagen durch die Nachricht von Bodo Uhses Tod. Wir haben ihn sehr geliebt. Er war einer der wenigen Schriftsteller bei uns, die ein schönes und tiefes Verhältnis zu einer verwandten Kunst hatten; der Aufsatz über Venturelli und die Rivera-Erzählung gehören zu meiner Lieblingslektüre. Vor drei oder vier Wochen waren wir noch bei ihm – in der Wohnung, die Sie eingerichtet haben –, wir hatten einen ermutigenden Konferenztag hinter uns und versuchten dem Phänomen des fröhlich wuchernden Provinzialismus auf den Grund zu kommen. Ich sehe noch Uhses zerfurchtes Knabengesicht …

Er war nicht glücklich, nicht nur an diesem Abend. Aber Sie kennen ihn ja, und Sie kennen auch diese seine Eigenschaft, für die er schon Zuneigung verdiente: er war ritterlich – nicht in der modernen Art von fair oder gentlemanlike.

Ihre Brigitte Reimann

Berlin, 6. Juli 1963

Liebe Frau Reimann,

es ist sehr schön, daß Sie mich besuchen wollen. Wenn Sie am Mittwoch kommen, gehen Sie bitte nicht zur Baustelle, sondern rufen Sie mein Sekretariat an: 51 41 03. Sollten Sie am Abend ankommen, dann melden Sie sich bitte in meiner Wohnung, die unter der Nummer 48 20 50 zu erreichen ist. Ich weiß nicht, wieviel Zeit Sie haben, aber ich könnte mir denken, daß wir mit Ihnen über die Baustelle gehen, nachdem wir Ihnen vorher den Entwurf erklärt haben.

Schließlich wäre ich auch dankbar, wenn Sie mir einmal Ihre Meinung über den Entwurf des Bildfrieses sagen würden, der sich am Haus des Lehrers befindet (er ist vorlagereif). Außerdem kann ich Ihnen bei dieser Gelegenheit das Modell des großen Kuppelsaales zeigen. Sie sehen, ich will Sie auch ausnutzen.

Ich freue mich auch deshalb über Ihren Besuch, weil mir am Freitag ein gleicher Konferenztag bevorsteht, wie derjenige, von dem Sie sprechen.

Daß Uhse tot ist, bewegt mich auch sehr in mancherlei Hinsicht. Ich hatte merkwürdigerweise das Gefühl, daß er sein Leben erst skizziert hatte und gewissermaßen mit seiner Ausführung noch beginnen wollte – wobei sein Lebensgemälde wahrscheinlich ein neues Thema ironischerweise in altmeisterlicher Manier behandelt hätte. Schließlich berührt es mich eigenartig, daß er in meiner Wohnung gestorben ist. Architekten haben es nicht gern, wenn in ihren Wohnungen gestorben wird.

Ich bin sehr gespannt, Sie kennenzulernen.

Ihr Henselmann

[»Morgen fahre ich nach Berlin, zu Professor Henselmann«, notiert Brigitte Reimann am 9. 7. 63, »… er wolle, schreibt er, mich auch ausnutzen. Nun habe ich Furcht, nicht zu bestehen …«]

Berlin, 15. Juli 1963

Liebe Brigitte Reimann,

lieber Siegfried Pitschmann,

gestern, am Sonntag, habe ich einiges von den Erzählungen der Familie vorgelesen. Für alle erhieltest Du, lieber Siegfried, noch mehr Gesicht und Gestalt. Wir staunten über das Wunder dieser Begegnung mit Euch beiden. Brigitte war rundum genau so großartig, wie wir sie uns vorstellten. Siegfried war eine Neuentdeckung.

Für mich ist es interessant, daß die Erzählungen datiert sind. Ich selbst war tief beeindruckt, besonders vom »Auszug des verlorenen Sohnes«. Später kommt in die Erzählungen aber viel Schriftstellerisches hinein. Das Naive, Unmittelbare, Vorgeistige ist gezähmter und die Form sicher auch gebändigter. Aber – darf ich das sagen? – im Motorischen einige Gänge heruntergeschaltet, vielleicht sogar ein wenig geknickt.

Täusche ich mich, wenn ich denke, daß Du dabei bist, jenen Sprung zu vollenden, der im Künstlerischen immer geleistet werden muß, nämlich durch einen gewissen Selbstverlust zur allgemeineren Aussage zu kommen. Wir sind sehr gespannt auf das, was von Dir noch kommt.

Ich habe schwere (fast zu schwere) Tage hinter mir und vor mir. Vor einem schweigenden Plenum wurde schärfste Kritik an mir und meiner Arbeit geübt. Natürlich ist es nicht eine Frage der Person, sondern der geistigen Standpunkte. Es geht um die Architektur und meine Absicht, sie wie jede Kunst zu handhaben. Mit dem Rechenschieber und der Zahl erhält man nicht das Subtile, das seelisch-geistige Aroma, das eine Stadt zur Stadt und ein Gebäude zur Persönlichkeit macht. Ich habe große Sorgen, natürlich nicht um mich, aber es kann durchaus sein, daß wir, um erst einmal die neuen industriellen Mittel in die Hand zu bekommen, eine Durststrecke hinter uns bringen müssen. Ich mache mir nur sehr viel Sorge um Deine Arbeit, Brigitte. Ich will Dir ja noch einige Hefte schicken, aber ich hoffe, daß wir noch einige Male über diese Dinge sprechen können.

Gestern saßen wir im Garten und sprachen von Euch: Wir lieben Euch beide sehr.

Euer Henselmann

NS. Gestern habe ich noch »Das Netz« gelesen. Da zeichnen sich die Konturen des Neuen bereits ab. Eine große Hoffnung für den kommenden Roman.

[»Seit gestern in der Charité«, heißt es in den Notizen von Brigitte Reimann am 25. 7. 63. »Gestern früh brachte mich Henselmann her, in dessen Haus ich die Nacht zuvor geschlafen hatte. Er müht sich in der rührendsten Weise um mich, gab mir eine Menge guter Ratschläge für den Umgang mit Schwestern und Ärzten und führte mich hier in einer Art ein, daß alle in respektvollem Erstaunen erstarrten. Er ist von einer bezaubernden Eitelkeit und klug genug, sie mit Ironie zur Schau zu tragen.«]

Hoy, 15. 8. 63

Lieber Professor Henselmann,

Ihre Erzengel haben mich nicht einmal telefonisch zu Ihnen vorgelassen, und ich hätte Ihnen doch so gern »auf Wiedersehen« gesagt und Ihre Stimme und Ihr Lachen gehört. Ich weiß jetzt auch, an wen mich Ihre Art zu lachen erinnert: da gibt es den Mann, der dem Berg Sesam entschlüpft, der Berg schließt sich hinter ihm, schlägt ihm noch die linke Ferse ab, aber der Mann ist draußen (vielleicht geht gerade die Sonne auf über einer Ludwig-Richter-Märchen-Landschaft), er hat die Taschen voller Gold und Juwelen, und er lacht, weil er Sesam überlistet hat und weil ihm der linke Fuß weh tut, aber, nun ja, die Ferse wird er schon verschmerzen.

Wir konnten nicht mehr zu Ihnen kommen, der Daniel verspätete sich, weil der Wagen mal wieder kaputt war, – diese verruchten Requisiten des Lebensstandards machen mich allmählich nervös, sie werden aufdringlich, werden in Wahrheit zu Besitzenden, statt Besitz zu bleiben, und zwingen mich, unaufhörlich für ihre Erhaltung zu arbeiten. Haben Sie auch manchmal das Gefühl des Ausgeliefertseins an Dinge? Zuweilen erinnere ich mich mit wehmütigem Vergnügen an die ersten Jahre mit Daniel, als wir zusammen in einem Zimmer hausten, von Suppenwürfeln und Margarinebroten lebten und – getrennt durch einen quergestellten Bücherschrank, über den hinweg wir uns Botschaften zuwarfen – an unseren Romanen arbeiteten, die in die deutsche Literaturgeschichte eingehen sollten; übrigens sind beide nicht gedruckt worden. Aber wahrscheinlich ist dieses nachträgliche Glücksgefühl auch bloß romantischer Schwindel. Einmal verloren wir auf einer Verbandssitzung unsere Rückfahrkarten und mußten uns vier Mark borgen – das war ein richtiges Unglück. Einmal zogen wir mit den Schriftstellern über einen Rummelplatz, wir hatten keinen Groschen in der Tasche, und der gutherzige Sakowski kaufte uns eine Tüte gebrannter Mandeln, – das war eine unerträgliche Demütigung. Und die ganze Zeit waren wir hochmütig und starrsinnig überzeugt, daß wir, Brigitte Balzac und Daniel Tolstoi, alle schreibenden Autofahrer glatt an die Wand dichten würden.