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„Ihr seid die beste Familie der Welt“ – Brigitte Reimanns unveröffentlichte Geschwisterbriefe. Brigitte Reimann wollte immer über ihre Geschwister schreiben. Deren Konflikte, Reibungen, Energie schienen ihr symptomatisch für die junge Generation, die sich in den 60er Jahren aufmachte, ihre Ideale umzusetzen. Weil kaum jemand damals Telefon hatte, gingen Briefe zwischen Rostock, Hoyerswerda und Hamburg hin und her: Ermutigungen, Beichten, „Weiberkram“. Besonders mit Lutz, der in den Westen geflohen war, stritt sie erbittert über Politik. Am Ende ihres Lebens, als sie sich ironisch als „schwarzes Schaf“ der Familie sah – kinderlos, krebskrank, der Roman unvollendet –, waren es die Geschwister, die ihr Mut machten. Nun fügen sich die Briefe der Brüder und Schwestern zu einem deutsch-deutschen Familienroman, in dessen Zentrum eine außergewöhnliche Schriftstellerin steht.
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Seitenzahl: 538
Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973.
Angela Drescher, geboren 1952, ist Lektorin und gab Werner Bräunigs Roman »Rummelplatz« heraus, außerdem die Tagebücher Brigitte Reimanns und die ungekürzte Neuausgabe des Romans "Franziska Linkerhand".
Heide Hampel, geboren 1946, war langjährige Leiterin des Literaturzentrums Neubrandenburg mit dem Brigitte-Reimann-Archiv. Sie ist Herausgeberin von Büchern über Hans Fallada und Brigitte Reimann.
»Ihr seid die beste Familie der Welt.«
Brigitte Reimann wollte immer über ihre Geschwister schreiben, zwei Brüder und eine Schwester, temperamentvoll, streitlustig und eigensinnig. So munter wie die Treffen und Feiern war auch ihre Korrespondenz, denn stets siegte über alle Zwistigkeiten der Familiensinn.
Nun fügen sich ihre unzähligen Briefe zu einem deutsch-deutschen Familienroman, in dessen Zentrum eine außergewöhnliche Schriftstellerin steht.
»Jon hatte recht, als er unsere Familie als einen Indianerstamm bezeichnete.« Brigitte Reimann, 21. April 1965
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Brigitte Reimann
Post vom schwarzen Schaf
Geschwisterbriefe
Herausgegeben von Heide Hampel und Angela Drescher
Inhaltsübersicht
Über Brigitte Reimann
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»Die beste Familie der Welt«
1960
1961
1962
1963
1964
1965
1966
1967
1968
1969
1970
1971
1972
Nachtrag
Anhang
Stammbaum
Abkürzungen
Personenregister
Lebensdaten Brigitte Reimann
Zu dieser Ausgabe
Bildnachweis
Anmerkungen
Impressum
»Wir haben es nicht bereut, Großfamilie geworden zu sein, wenn es auch manchmal nicht leicht war. Jetzt sind wir sogar ein wenig stolz darauf. Der Bankfachmann sagt dazu: Das (in Kindern) angelegte Kapital zahlt sich aus, wenn auch nicht materiell, so doch ideell«, schreibt Willi Reimann Anfang 1966 im »Familienrundschrieb«, als er erfährt, dass ein viertes Enkelkind erwartet wird.
Elisabeth und Willi Reimann haben vier Kinder: Brigitte ist die Älteste, im Sommer 1933 geboren; Weihnachten 1934 folgte Ludwig, den alle Lutz nennen; 1941 Ulrich (Ulli), der am gleichen Tag wie Brigitte Geburtstag hat. Zehn Jahre jünger als Brigitte ist Dorothea (Dorli).
Als der Vater im Spätherbst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, müssen sich die Kinder erst wieder an ihn gewöhnen. Kurz darauf erkrankt Brigitte an Kinderlähmung. Sie verbringt Monate im Krankenhaus und wird lebenslang etwas hinken.
Die Familie lebt in Burg bei Magdeburg in einem unauffälligen Zweifamilienhaus mit Garten. Das Elternhaus in der Neuendorfer Straße wird für die Geschwister der emotionale Mittelpunkt ihres Lebens bleiben, und es wird in die Literatur eingehen, aber das kann man zu Beginn des Jahres 1960 noch nicht wissen. Ahnen kann man es schon.
Jedes der Reimann-Geschwister hat besondere Talente: Ludwig macht in Rostock die letzten Prüfungen zum Schiffbauingenieur, Ulrich ist freiwillig zur Armee gegangen, weil er danach bessere Studienmöglichkeiten hat, er wird Schiffselektrotechnik studieren. Dorothea näht viel, hat ein Gefühl für Stoffe und einfach Geschmack. Brigittes Begabung ist am ausgeprägtesten. Bisher hat sie mit einigem Erfolg – und bewundert von den Geschwistern – drei Bücher veröffentlicht. Mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, ist sie gerade nach Hoyerswerda in ihre erste eigene Wohnung gezogen. Sie wollen »an der Basis«, genauer im Kombinat Schwarze Pumpe, neue Erfahrungen sammeln.
So ist es in dem bisher so turbulenten Elternhaus ruhig geworden. Aber die Reimanns hängen aneinander, wenn ihnen eines gemeinsam ist, dann ist es Familiensinn. So wird sich Willi Reimann ausbitten, dass ihm die Kinder regelmäßig schreiben, damit er daraus für alle jenen »Familienrundschrieb« zusammenstellen kann.
Im Januar 1960 jedoch wartet man erst einmal auf das erste Enkelkind.
Hoy., am 3.2.60
Liebe Mutti, lieber Vati, liebe Familie,
[…] Einen schönen Gruß an Gretchen1! Sie muß froh und glücklich sein, daß sie ein Baby haben darf, und wir beneiden sie sehr. Hoffentlich ist Lutz rechtzeitig aus Rostock zurück. Er wird sich schwerlich noch auf seine Prüfungen konzentrieren können – eine scheußliche Situation, wenn man bedenkt, was von diesen letzten Prüfungen abhängt. Wir haben auch mächtigen Appetit auf ein Baby […]
Eure Brigitte […]
Schwerin, den 6.2.1960
Liebe Brigitte, lieber Daniel2,
[…] Wenn ich daran denke welche Angst wir vor dem Beginn des neuen Ausbildungsjahres [hatten], so muß ich heute beinahe lachen. Es wird eben auch hier längst nicht so heiß gegessen wie gekocht. Natürlich gibt es Stunden, in denen man schimpft. Augenblicklich hängt das mit dem Wetter zusammen, denn wenn man mal draußen ist, wird nicht viel getan und entsprechend [gefroren]. […]
Eine andere unangenehme Sache ist vor zwei Wochen ein 15-km Gepäckmarsch gewesen. Obwohl es einige Grade minus war, haben wir ganz schön geschwitzt. Das Gute ist ja nur, daß man nach ein paar Stunden alles wieder vergessen hat, was man an Anstrengungen hinter sich hat. Genauso wird es uns nachher Ende Februar im Winterlager ergehen. Wir werden da in Erdbunkern schlafen, aus der Gulaschkanone essen und was sonst noch zum »Landserleben« in der Taiga gehört. […] Ich habe mir übrigens einen E-Rasierer zugelegt. Immer modern, schließlich ist man ja Soldat. Nächsten Sonntag will ich übrigens wieder heim. Die Schule hat Fasching, außerdem hoffe ich, daß Gretchen und Lutz dann schon drei sind. Aber die Chancen stehen 1:10 gegen mich. […]
Zu Deiner Bemerkung, Brigitte, 20m2 Bohnern sei eine Sklavenarbeit, möchte ich nur bemerken, daß unsere Bude 54m2 groß ist und Sonnabends auch von einem Mann eingebohnert werden muß …
Ansonsten bin ich damit vollkommen einverstanden, daß die Armeezeit in Bezug auf Selbständigkeit eine gute Schule [sei]. […] Ein paar Vorteile muß man auch für zwei verlorene Jahre haben.3
Ich muß mich jetzt verabschieden, denn der Dienst ruft: Essen (Gegen das ist Brigittes bestimmt königlich). […]
Euer U.
P.S. Bei Fehlern nicht so genau hinsehen, es sollte schnell gehen und außerdem lese ich meine eigenen Briefe zu ungern.
Hoy., am 11.2.60
Liebe Familie,
(speziell für jeden einzelnen eine originelle Anrede auszudenken, fällt mir heute etwas schwer – wir haben bis um zwei unseren ersten Hochzeitsjahrestag4 gefeiert) […]. Daß der Krümel5 Lutz schon angesehen hat (nicht auch angelächelt?), wundert uns gar nicht. Wenn Lutz nächstens aus dem Krankenhaus die Nachricht mitbringt, daß der jüngste Reimann-Ableger schon »Papa« gemurmelt hat, glauben wir es auch. – Für Dich, lieber Lutz-Bruder, bei dieser Gelegenheit viele ehrfürchtige Glückwünsche zur Eins im Staatsexamen. Ich habe übrigens keinen Augenblick daran gezweifelt, daß Du es schaffen würdest – obgleich es natürlich nur, wie ich Dich kenne, ein erstaunlicher Zufall und ganz unverdiente Glückssache war. […]
Für »Oma« und »Opa« (du lieber Himmel – und das bei Eurer Jugend! Wenn Ihr mit dem Krümel ankommt, halten sie ihn für Euren jüngsten Sohn) […] die allerherzlichsten Grüße und – hoffentlich bald – auf Wiedersehen!
Eure Brigitte
Burg, d. 15.2. [60]
Liebe Pitschmänner!
[…] Heute ist Gretchen mit Krümel aus dem Krankenhaus gekommen. Der kleine Kerl ist eine süße Nudel. […] Manchmal grinst er oder schneidet Grimassen. Bald so wie Daniel. […] Gestern + heute habe ich mir eine Bluse genäht + Brigittes Sachen will ich noch machen. Schreibt Ihr Euch noch mit der Modedozentin Irmgard Herfurt6? […] würdet Ihr mal so freundlich sein + fragen, was man für Aussichten hat, wenn man Abi hat und Schneiderin gelernt hat. Ich will […] dann vielleicht Modezeichnerin werden oder […] irgendsoetwas wie Kunstgewerbe studieren. […] Wenn Brigitte ihr Mädchenbuch7 fertig hat, könnte sie mir mal das Manuskript zur Beurteilung schicken. Ich bin schon gespannt. […]
Eure Dorli
17.2.60
Leider muß ich Dir mit der Hand schreiben; es ist schon ziemlich spät, und wenn ich die Schreibmaschine nehme, hört mich der ganze Block tippen.
Du fragst nach meinem Jugendbuch. Ich arbeite sehr angestrengt daran, denn ich will spätestens nächste Woche die beiden ersten Kapitel an das Neue Leben schicken […]
Ich werde Dir einen Durchschlag mitbringen. Dein Urteil interessiert mich sehr, denn das Buch wird vor allem für Mädchen in Deinem Alter und von Deiner Schulbildung geschrieben. Es ist die Geschichte von drei Oberschülern – einem Mädchen und zwei Jungs –, die ihr praktisches Jahr im Kombinat machen und dabei natürlich eine Menge Schwierigkeiten zu überwinden haben. Klar, daß auch eine Brigade mitspielt, und ich möchte »meine« Schweißerbrigade9 als eine Art Modell nehmen. Hier passieren wirklich viele spannende Sachen. Bloß – offen gestanden: Ich weiß noch gar nicht, wie mein Buch eigentlich weitergehen soll; bis jetzt kenne ich bloß meine drei Hauptpersonen […]. Aber was sie erleben sollen – keine Ahnung! Das klingt ganz gewissenlos oder mindestens leichtsinnig, nicht wahr? Aber manchmal werden gerade die Bücher am besten […].
Nun zu Deinem Berufswunsch: Hast Du Dir das auch gut überlegt? Natürlich ist es in Ordnung, wenn Du schneidern lernst, bevor Du das Studium beginnst – aber soviel ich weiß, sind Berufe wie Modezeichnerin (wofür Du noch dazu ein ausgeprägtes Zeichentalent brauchst) und Kunstgewerblerin ziemlich überlaufen, und man wird wohl auch nicht besonders bezahlt. […] Ich glaube, als Textilingenieur oder so was hast Du mehr Chancen.
Burg, den 1.4.60
Liebe Pitschmänner!
Genau heute vor einer Woche kam Euer Päckchen. Ich durfte natürlich noch nicht aufmachen und war sehr gespannt. Ich weiß, daß Ihr immer irgendeine Überraschung mitschickt. […] Natürlich habe ich den schicken Pullover gleich anprobiert, und er paßt prima. Für mich gerade die richtige Form, nämlich etwas weit und lang genug. Ich muß ja schließlich als Teenager oder Lullaby so etwas tragen. Ich ziehe ihn seit Montag zur Schule an und bin mächtig stolz. […] In dem Buch, das heißt in dem Kompaß-Buch10, habe ich gleich gelesen und festgestellt, daß man »Die Frau am Pranger« beim zweiten Mal auch noch bärenmäßig spannend findet. Ich glaube die Pitschmann kann doch schreiben. Findest Du auch Daniel? […] Unser Krümel liegt neben mir im Körbchen + ich stecke ihm immerzu den Nuckel in den Mund, weil er sonst schreit. Er ist noch niedlicher geworden und kann schon schön lachen. Natürlich nicht über Witze. […]
Mutti und Vati waren […] in Berlin. Sie haben hübschen roten Bezugsstoff gekauft und noch einiges im Westen. […] für Gretchen und meine Wenigkeit, haben sie je 2½m Schaumgummi für Petticoats + Strümpfe mitgebracht […].Lutz war auch vorigen Sonntag und Montag da. Es ist jetzt beschlossen, daß sie am Ende des Aprils gehen. […]
Bye – bye Euer Teenager – Lullaby – Halbzarte Dorli
Berlin, am 29.4.60
[…] Lutz ist mit Gretchen und dem Krümel in den Westen gegangen (er ist eben jetzt – vielleicht nur zwei oder drei Kilometer entfernt und dennoch unerreichbar – im Flüchtlingslager Marienfelde11). Spüre zum erstenmal schmerzlich – und nicht nur mit dem Verstand – die Tragödie unserer zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das Gegeneinander von Bruder und Schwester – welch ein literarisches Thema! Warum wird es von keinem gestaltet, warum schreibt niemand ein gültiges Buch? Furcht? Unvermögen? Ich weiß nicht. Lutz ist ein Wirrkopf. Er wollte vor der Partei nicht katzbuckeln – er wird es vor seinen Kapitalisten tun müssen. Er wird, sagt er, immer dafür eintreten, daß das Großkapital enteignet wird; er glaubt an den Sieg des Sozialismus – und trotzdem geht er. Es gibt eine Menge Entschuldigungen für ihn, sicher: er ist politisch falsch angefaßt worden; eine schlechte und, glaube ich, ungerechte Beurteilung der Parteigruppe hängt ihm an; eine Stellung, die seinen Fähigkeiten nicht angemessen ist; keine geringste Aussicht auf eine Wohnung, und trotzdem […] Im Prinzip verurteile ich sein Handeln – aber Lutz ist mein Bruder, ich liebe ihn, wir haben uns viele Jahre lang gut verstanden. […] Ich bin sehr traurig. Ich weinte, als ich an der Tür Muttis Stimme hörte, ihr zerbrechendes »Auf Wiedersehen«. Aber man sollte sich doch allmählich mit dem Gedanken vertraut machen, daß Familien auseinanderfallen, Kinder das Elternhaus verlassen, Geschwister einander ferner rücken, neue Kreise, neue Menschen finden. […]
Hoy, 18.7.60
Ein paar Sätze aus dem jüngsten Brief12 meines Lutz-Bruders: »Seit Montag gehe ich arbeiten. Ich bin auf der Deutschen Werft angestellt. Sie ist gleich neben dem Lager13 und hat neben diesem kleinen Vorteil auch den, daß wir über die Werft wahrscheinlich auch eine Wohnung bekommen können. Aber alles Gute ist nicht beisammen. Sie zahlen schlecht (650,–DM brutto), und außerdem gefällt mir der Laden nicht übermäßig gut. Auch als Dipl.-Ingenieur ist man hier praktisch zum technischen Zeichner degradiert. Noch schlimmer als drüben. Der Schornstein soll rauchen, und es muß etwas geschafft werden. Mit langwierigen Berechnungen gibt man sich hier nicht ab, alles Erfahrungswerte, die man im Laufe der Zeit gewonnen hat. Nur so ist es auch möglich, in derartigem Tempo und mit solch niedrigen Preisen die Schiffe herauszuwerfen. Die Organisation ist bei weitem nicht so umfangreich und kompliziert wie im Osten. Ob das eine Folge des nie auftretenden Materialmangels ist? […] Es ist eben alles nicht so leicht. Vor allem erdrückt mich so eine Art Heimweh, etwas, was ich vordem noch nicht in dieser Form erlebt habe. Vielleicht ist das auch eine Folge der großen Freiheit, die man uns hier gewährt? Freiheit ist nicht immer für alle gut. Und außerdem habe ich auch in gewisser Weise Verräterkomplexe, wie ich es mal nennen möchte. Den anderen ging das mehr oder weniger ebenso. Sie haben das aber alle gut überwunden, und so werde ich auch darüber hinwegkommen. Wenn das in zwei Jahren nicht besser geworden ist, kommen wir zurück. Vielleicht haben wir bis dahin schon die Einheit. In der Not glaubt man auch wieder an Märchen … […]«
Hamburg, 18.9.1960
Liebe Kumpels!
Keine Feindschaft wegen der Anrede, aber das ist sozusagen nur eine Anrede für Bevorzugte, denn sonst ist Krümel nur Kumpel, mein »Kumpel«, weil wir zusammen immer so viel herumtoben. Na, und in anderer Hinsicht paßt es ja auch für Euch. […]
Wir haben es leider verpaßt, Euer Hörspiel uns anzuhören, man hat uns zu spät benachrichtigt. Auf jeden Fall beglückwünschen wir Euch von ganzem Herzen zu Euren Erfolgen. Ich glaube, ihr seid auf dem rechten Wege zu einem gut fundierten und gerechtfertigten Aufstieg. Schickt uns einmal einige Zeitungsausschnitte u.dgl. und selbstverständlich auch etwas von Euren neuen Sachen, damit wir immer auf dem laufenden bei Europas talentiertestem Nachwuchs sind. Das meine ich fast ernst. Wir freuen uns ganz besonders auch deshalb über Eure Erfolge, weil Ihr sie durch harte Arbeit und ständiges Bemühen um das Gute der Sache erreicht habt. Leider muß ich Brigitte aber enttäuschen, wenn sie noch an die Übereinstimmung zwischen Dichtung (Euer Hörspiel) und Wirklichkeit glaubt. […] dem ist nicht so. Mit der Zeit, wenn man hier Fuß gefaßt hat und die ersten Hürden genommen hat, versteht man vieles besser und versteht dann auch, weshalb einem der Anfang so furchtbar schwer wurde. Aber man weiß später auch, daß es garnicht anders sein konnte und daß es gut so war.
Wir haben uns gut eingelebt und sind über unseren moralischen Tiefpunkt hinweg. Es ist wirklich so, man weiß mit der Freiheit anfangs nichts anzufangen und kommt sich verloren und verlassen vor. […]
Wenn wir nur irgendwie Gelegenheit hätten zu diskutieren, wir würden für Tage Stoff genug haben, um uns die Köpfe heiß zu reden. Ich glaube, ich hätte diesmal eine bessere Position als vor einem halben Jahr und könnte auch besser mit Tatsachen aufwarten. Keine Sorge, alles würde ich schon nicht in den Himmel heben, was hier gemacht wird. Aber wenn man ein Weilchen hier ist, merkt man, wie sehr man vom Osten systematisch ausgerichtet wird und sich dem selbst durch Abhören westdeutscher Rundfunksendungen nicht ganz erwehren kann. […] Ich möchte Euch nur manchmal Ausschnitte aus der Zeitung (ich halte »Die Welt«, immerhin die beste deutsche Tageszeitung) rüberschicken. Aber das würde ja auch nichts einbringen. Ihr hättet unter Umständen Unannehmlichkeiten […]. Na, vielleicht werden wir uns Weihnachten mal treffen, dann können wir ja genug schwatzen. Ein bißchen Heimweh haben wir immer noch. Wir haben das nicht leicht überwunden, da uns Hamburg schon von Anfang an wenig gefallen hat. Kein Vergleich mit Berlin.
Aber jetzt geht es schon, man gewöhnt sich eben. Ich habe inzwischen schon wieder meine Arbeitsstelle gewechselt und bin eigentlich zufriedener als auf der Deutschen Werft […]. Ich verdiene jetzt mehr als drüben und habe sehr interessante Arbeit, leider aber auch einen langen Anfahrtsweg, aber das ist in der Großstadt nicht anders. Im nächsten Jahr werden wir vielleicht auch einen Wagen haben und vielleicht eine Wohnung, dann beginnt das satte Bürgerleben. Wenns mich juckt, wird noch ausgewandert, aber nur wenn ich einen sehr guten und festen Vertrag vorher habe. –
Nun zur Familie. […] Unser Fratz wird von Tag zu Tag größer, lieber und lebendiger. Jetzt sagt er schon da, da, nein, nein und all solche Späße, nur nicht immer zur richtigen Zeit und am rechten Ort. […] Ich freue mich schon, wenn ich richtig mit ihm spazieren gehen kann. Jetzt fahren wir nur Sonnabends zum Einkaufen immer zusammen aus, denn Gretchen muß leider auch Sonnabends arbeiten. Dann schmeißen wir Männer den Laden. […]
So, Kinder […]. In sieben Stunden ist die Nacht zu Ende. Schickt uns etwas, wenn Ihr von irgendwas, beispielsweise Daniels Kurzgeschichten oder so, Freiexemplare habt.
Seid vielmals gegrüßt von Gretchen, Lutz + Krümel
Burg, den 6.11.1960
Mein liebes großes Schwesterlein!
Mein lieber einziger Schwager!
[…] Zuerst vielen Dank für Deine beiden Briefe14, Brigitte. […] besonders Deine Ausdrucksweise ist eine kleine Schaffe. Wenn man es sagt, ist es nicht so wirkungsvoll, wie geschrieben, z.B. Kanalratte und so.
[…] Am Donnerstag war ich eine Stunde bei unserem vielgeliebten Brüderchen, dem Heimatverteidiger und Vaterlandsgefreiten. Ihr wißt ja, daß er seit 14 Tagen im Schweriner Bezirkskrankenhaus liegt. Er hat sich mächtig über meinen Besuch gefreut, denn seine Kameraden waren auch noch nie da. Das arme Kindchen liegt ganz allein in einem Zimmer. Ich würde mich tot langweilen. […] Ulli haben sie den halben Hals weggeschnitten, es tut, wie er sagt, nicht allzu weh, aber ich möchte es nicht haben. Er liest den ganzen Tag, erzählt mit dem Chef und rät Kreuzworträtsel. Er will auch nicht in ein anderes Zimmer, wo junge Leute sind, weil die dort nur dumm quasseln. […]
Mir geht es wie immer gut, wenn die Schule nicht wäre, könnte ich sagen »blendend« […]. Lutz und Gretchen haben geschrieben. Gretchen hat am 1.11. angefangen zu studieren15, sie haben ein Einzelzimmer und Krümel sagt »Kacke« als neustes Wort. Früh übt sich, was ein richtiger Flucher werden will.
Und was macht Ihr armen Würstchen? Wurst und Würstchen gibt es z.Z. zwar nicht in der DDR, aber das tut nichts. […] Ich hoffe, daß Ihr, wenn es Vati bis dahin besser geht, zu Weihnachten kommt, es ist sonst so einsam bei uns.
Doch nun bye bye Eure Dorli
Schwerin, d. 16.11.1960
Liebe Rei- und Pitschmänner,
was lange währt, wird endlich gut!, danach müßte mein Brief ja ein reines Meister- und Wunderwerk werden. […] zuerst herzlichen Dank für den Brief16 und das Buch, Brigitte. Für das Buch17 herzlichen Glückwunsch. Es hat mir, entgegen ihrer Voraussage, gut gefallen. […]
[…] Wie ich aus Brigittes Brief entnehme, hat Dorli Euch schon unterrichtet. Wenn das jedes Mal die Folgen einer Auslandsreise sind, dann »bliw ick liwer to Hus«. Ja, so ist es wirklich, auf der Rückfahrt habe ich irgendwo einen kleinen Pickel im Nacken bekommen, der wuchs und sich vermehrte, auf daß er das ganze Genick erfüllte. Das führte zu vier Wochen Revieraufenthalt und zur zweiten Etappe jetzt hier im Krankenhaus, die nun auch schon vier Wochen dauert. Es ist zwar manchmal recht langweilig, ansonsten muß man aus allem das Beste machen. So habe ich meine Literaturkenntnisse etwas aufgebessert, soweit das die Bibliothek zuläßt. Hier ist es überhaupt lehrreich. So konnte ich in den ersten zwei Wochen Kenntnisse über die Behandlung von Epileptikern sammeln, denn ich lag mit so einem zusammen, der sonst in der Irrenanstalt wohnt. Jetzt liege ich inmitten von fünf Mecklenburgern, so daß ich langsam auch Platt lerne (s.o.!).
[…] Weihnachten bin ich bestimmt zu Hause. […]
Zu Eurem fahrenden Untersatz wünsche ich viel Erfolg. F9 wär ja ne Wucht, ich halte ihn in vielem besser als den Wartburg. Wagt es nicht, doch mit einem Wolga aufzukreuzen. (Ich sagte Daniel schon: bei 120 läuft der Motor mit dem satten Brummen eines guten LKW-Motors, laut »hobby«).
Die »Sieben Scheffel Salz«18 (welch klangvoller Stabreim) kann ich nun leider nicht hören. […]
Es grüßt Euch herzlich und wünscht alles Gute, viel Erfolg etc.
Euer Ulli […]
Hoy, 14.1.61
Weihnachten zuhaus; ein paar Tage der Erholung. Glücklich, meine Eltern wieder mal zu sehen und Schwesterchen, das immer hübscher wird, und meinen Ulli-Bruder mit seinem herrlich unbeschwerten Gemüt und einer goldenen Schnauze. Lutz fehlte mir sehr. […]
Schwerin, d. 24.1.61
Liebe Hoywoynesen.
[…] Mir geht es soweit recht gut. Wie Ihr aus FB/1 (Familienbrief Nr.1) erfahren habt, war ich seit langer Zeit auch mal wieder im Urlaub. Meine Fahrt nach Suhl war eine Klasse. […]
Unterwegs habe ich mal wieder die großartigen Reiseverhältnisse der Deutschen Reichsbahn bewundert. Die Verspätungen beliefen sich nur auf 30–90 Minuten, also der Fünfjahrplan ist noch zu schaffen.
Bei den Kumpeln der Schwarzen Pumpe ist das ja etwas anderes, dort erfüllt man ja trotz Winter und Frost seinen Plan (nachdem man doch hoffentlich die Rückstände aus der Gutwetter-Zeit aufgeholt hat). […]
In wenigen Tagen hat ja nun Mutti Geburtstag19. Schade, ich hätte doch wirklich zu gerne ihr Gesicht gesehen, wenn sie das Monstrum20 auspackt. Hoffentlich bewährt es sich.
Ich weiß nicht, ob Vati Euch schon geschrieben hat von dem Großen Familienkrach zu Hause. Dorli will wohl in Berlin studieren und Vater will [es] mit all seiner Autorität verhindern. Was bei Vaters augenblicklicher Nervenlage und Dorlis ach-so-einsichtsvollem-Wesen dabei herauskommt, dürfte wohl klar sein. Wer dabei nun die größere Ausdauer hatte, weiß ich leider nicht. […]
Es grüßt Euch herzlich aus dem hohen Norden (bei uns liegt z.Z. viel Schnee)
Euer Ulli
Hamburg, d. 19.2.61
Liebe Brigitte!
[…] Ich möchte Dir nicht vorjammern, wie wenig Zeit wir haben, nur soviel. Wenn man bei neun Stunden Arbeitszeit (Sonnabends wird nicht gearbeitet) drei Stunden für An- und Rückfahrt braucht, beide arbeiten und abends ein Kind und Haushalt versorgt werden wollen, bleibt effektiv kaum Zeit für andere Dinge. Außerdem habe ich immer noch Überstunden gemacht, manchmal sogar Sonntags. Du siehst, keine Bummelei. Ich wollte das nur noch einmal herausstellen, da uns Vati und Mutti immer Vorwürfe machten, daß wir zuwenig schreiben würden. […]
Ein Idealstaat ist das hier auch nicht, aber mit der sogenannten DDR schon nicht mehr zu vergleichen.
Wir sind über die schwersten Hürden hinweg und möchten nun auf keinen Fall mehr zurück. Nur gut, daß wir gegangen sind. […] Ich hoffe, wir werden bald Gelegenheit haben, über tausend Dinge uns gegenseitig die Köpfe heiß zu reden. Nur noch soviel: Ich schließe mich voll und ganz der Ansicht Nehrus an. Einen guten Zweck kann man nicht mit schlechten Mitteln erreichen. Manchmal packt einen die kalte Wut, wenn man bedenkt, wie man die Jugend drüben zu belügen versucht und ihre Ideale mißbraucht. Vati hatte mir vor kurzem ein paar »Volksstimmen« und eine »Berliner Zeitung« mitgeschickt. Ich habe sie aufmerksam gelesen. Selbst die Berliner Zeitung ist auf ihre Art nicht viel besser als die Bild Zeitung hier. Hoffentlich gibt Euch Eure Bezirksleitung die Erlaubnis, nach Westberlin zu fahren, um uns zu überzeugen, dann können wir uns Ostern mal schön gegenseitig die Köpfe waschen. Vor allem bringt dann Eure letzten Arbeiten mit. Dafür hätte ich immer Zeit. Ihr könntet uns auch ruhig immer Bescheid geben wenn im Fernsehen oder Rundfunk eine Sendung oder Hörspiel von Euch durchkommt. »Das Geständnis« kannte ich ja. Trotzdem vielen Dank. »Elvis«21 hat mir ganz gut gefallen. Nur kann ich mir leider nicht vorstellen, daß es einen solchen Menschen tatsächlich geben sollte bei Euch in der »Schwarzen Pumpe«. Das wäre ja der Sieg des Sozialismus in der Kultur. Wenigstens etwas, ich habe schon bereut, nicht schon viel früher, während des Studiums, nach Hamburg gegangen zu sein. Was einem als Student hier alles geboten wird, das ist einfach unglaublich. Vorträge, Konzerte, Filmveranstaltungen mit Diskussion (auch Filme aus der DDR und dem Ostblock) usw. usw. […] Es herrscht hier eine anregende geistige Atmosphäre, eben weil man nicht seine Gedanken zensieren muß, bevor man sie auszusprechen wagt. Leider haben wir kaum Zeit, immer in die Stadt zu fahren, wir wohnen hier etwas abseits in Finkenwerder. Wenn wir eine Wohnung bekommen, wollen wir möglichst ins Zentrum, um wenigstens einige der vielen gebotenen Möglichkeiten zu nutzen. Vorläufig sind wir mit unserem einen Zimmerchen hier im Lager zufrieden. Nachdem wir uns einen Schrank und einen Kühlschrank angeschafft haben, ist es zwar so eng wie in einem U-Boot, aber trotzdem gemütlich und vor allem billig. Solange Gretchen noch studiert, kümmern wir uns gar nicht um eine Wohnung, zumal wir doch noch nichts hineinzustellen hätten. […] Vorläufig geht es uns nahezu zufriedenstellend. – Falls Ihr irgendwelche Bücher von hier gerne haben wollt, schreibt das bitte ohne Hemmungen.
[…] noch ein paar Worte über »[Krümel]«. Er kräht nämlich so laut gerade, daß ich ihn gar nicht vergessen kann. Er wird immer größer und frecher und wir haben nur mit Mühe die ersten Erziehungsschwierigkeiten hinter uns gebracht. Ohne ihn wäre alles nur halb so schön. […] Zu Ostern kann er vielleicht schon allein laufen. –
Tausend Grüße von Gretchen, Lutz + Krümel.
20.2.61
[…] Ich freue mich mit Dir, daß Du nun Deine Zeit bald rum hast, lange Ferien machen und Dich dann in Dein Studium stürzen kannst. Hauptsache, Du gehst nicht eines Tages den Weg, den Dein Bruder gegangen ist – ich wäre nicht bloß sehr betrübt, sondern ernstlich böse. Wenn Du wirklich mal in Schwierigkeiten kommst, politisch oder sonstwie – wir sind immer für Dich da und werden Dir helfen, so daß Du Dich gar nicht erst westwärts zu wenden brauchst. Hast Du das Thema vom 12.Plenum23 gelesen? Die Sorge um den Menschen steht wieder – oder vielmehr jetzt erst richtig – im Mittelpunkt. Hätte man dieses Plenum ein Jahr früher veranstaltet, wäre Lutz vielleicht noch hier. Wir haben hier sehr gute Beziehungen zur Partei, und wenn wir ihnen von irgendwelchen Ungerechtigkeiten oder dergleichen erzählen, schreiten sie energisch ein. Du weißt schon, was ich Dir damit sagen will.
Burg, 27.Februar 1961
In Burg hat sich in der vergangenen Woche allerlei getan! Die »party« am Montag24 wurde ein voller Erfolg für den Veranstalter. Bis morgens um 3 Uhr vergnügten sich die Teilnehmer in den völlig umgewandelten Zimmern: an der Stelle der soliden Bilder hingen grellbunte Karikaturen, Tierungeheuer und abstrakte Skizzen, eine Papierschlangenwand ersetzte die ausgehängte Tür, und bunte Bänder flatterten »von Kronleuchter zu Kronleuchter«. Letztere wurden abmontiert, nachdem eine Schale mitsamt ihrem Pergamenthut die Vergänglichkeit aller Dinge demonstrierte. Das Tonbandgerät (Anschaffungspreis fast tausend Mark) ging trotz der zu erleidenden Strapaze nicht kaputt, womit bewiesen wurde, daß es sich um ein deutsches Werterzeugnis handelt und Leihgegenstände nicht immer beschädigt werden. Auch unsere »Komet« hielt durch und lieferte die offerierten Cocktails wie Prärieauster, Gin-Fizz, Weinbrand-Nogg, Zitronen-Cobbler, Mokka-Flip […], Nachtgespenst usw. Bärbel und Ulli […] verstanden es mit Eigelb, Worchestersauce, Zitronensaft, Öl, Paprika, Puderzucker, Kaffee, Kirschen, Gin, Weinbrand, Rotwein, Wermut, Cherry Brandy und Selters Zaubergetränke herzustellen, die bei den »alten Eltern« Schüttelfrost hervorriefen, als sie einmal kosteten. Im übrigen wachte die Mutter in der Küche, bis der letzte Gast das Haus verlassen hatte, während sich der Vater bemühte, einige Mützen voll Schlaf zu finden. Wie gesagt, ein gelungenes Fest, auf dem auch erfreulicherweise eine kleine Eifersuchtsszene nicht fehlte. Am nächsten Tag hatte Dorli ein schönes Stück Arbeit, drei der rotgefärbten Glühbirnen sitzen heute noch im Leuchterring! […] Willi
[nach dem 28.3.61]
Liebe Pitschmanns!
[…] Ich fühle mich als 18jährige genau wie vorher, nur, daß ich mich daran gewöhnen muß zu sagen, daß ich schon 18 bin. Jetzt könnte das Älterwerden aufhören, jetzt dürft Ihr auch nicht mehr Teenager sagen, ich bin nämlich schon erwachsen (hi, hi, hi!). Ich habe einen schicken Badeanzug bekommen, ganz weit ausgeschnitten (natürlich nur den Rükken, ich bin ja Mutters moralische Tochter!), allerdings habe ich ihn selber ausgesucht […]. Mir fällt gerade ein, daß ich ja nur Brigitte schreibe, der armen Strohwitwe […] Ich bin gespannt auf Dein Buch […] Wenn ich begabt wäre, würde ich auch Schriftsteller werden! […] Hast Du nicht einen Beruf für mich? Ich werde bestimmt abgelehnt, Nico ist schon abgelehnt worden, weil ihr Vater Handwerker ist.25 Ich komme dann zu Euch in die Pumpe und werde ein Schwengel26, wie würdest Du das finden? Na, erst muß ich mal an dem Abiturientenroman27 sehen, wie es bei Euch ist und was man für Chancen hat.
In drei Wochen beginnt das Abi, drückt bitte den Daumen, ich schätze, ich bestehe nur mit »Drei«, dann komme ich zu Euch, bis sich die Familie abreagiert hat […] … Na, sie wollen nicht begreifen, daß eine 3 passabel ist. […]
Herzliche Grüße Eure Dorothea
Hoy, am 10.4.61
Liebe Mu, lieber Vati, liebe Dorothea (!),
[…] Ihr sitzt jetzt also in Berlin bei unserem Lutz-Bruder … Er hatte mir vor Ostern eine Karte geschrieben, er schien anzunehmen […], daß ich auch nach B. komme. Hoffentlich habt ihr ihm auf eine zarte Weise beigebracht, warum ich nicht kommen wollte oder konnte […]. Ich kann nicht aus lauter Schwesternliebe irgendetwas gegen meine Überzeugung sagen, und ich fürchte, wir hätten uns trotz aller gegenseitigen Rücksichtnahme ganz schön in die Wolle gekriegt. Außerdem hatte ich ein bißchen Angst, daß er sich sehr verändert hat – so in Richtung Bundesbürger –, und ich möchte ihn lieber anders in Erinnerung behalten. Vielleicht trifft es sich später mal, daß wir zu einem vernünftigen Gespräch kommen.
Im Augenblick schreibe ich an einer Erzählung, »Die Geschwister«28, die sich eigentlich um Lutz und mich dreht – natürlich verfremdet und objektiviert. Die ganze Geschichte mit Lutz’ Republikflucht ist mir doch mächtig nahe gegangen, und ich versuche sie mir nun vom Herzen zu schreiben. Offen gestanden – auch auf die Gefahr, daß Mu mich nicht begreift oder betrübt ist: ich habe Lutz bis heute nicht verziehen, daß er weggegangen ist, und je länger ich an meiner Erzählung arbeite, desto klarer wird mir, warum man ihm das nicht verzeihen kann, und ich sehe heute auch ein, daß man damals etwas hätte unternehmen müssen. In Wirklichkeit hat er keine Gründe gehabt – es waren bestenfalls Ausreden. Ich glaube ihm nicht mal mehr seine »Verräterkomplexe«. Er ist nämlich, strenggenommen, ein Verräter. […] Wahrscheinlich urteile ich gerade deshalb so streng, weil ich Lutz so geliebt habe. […]
Mit vielen lieben Grüßen für euch alle
Eure Brigitte
Hoy, 1.5.61
Liebe Mu, lieber Vati, liebe Dorothea,
[…] keine Zeit, keine Zeit … Wenn ich euch erzählen würde, was wir so in den letzten Wochen getan haben, würdet ihr umfallen […].
Heute habe ich wieder den ganzen Vormittag Briefe geschrieben und jetzt warte ich auf Daniel, der zur Maidemonstration gegangen ist und sicherlich noch mit seiner Brigade29 […] zusammensitzt. An Lutz muß ich unbedingt auch noch schreiben –, und wenn ich es bis jetzt nicht getan habe, so war das lediglich eine Zeitfrage, und es hat nichts damit zu tun, daß ich Lutz vielleicht nicht mehr liebte oder ihn vergessen hätte. So darfst Du auch die Worte in meinem anderen Brief nicht auffassen, Mu. Es ist aber leider eine Tatsache, daß politische Differenzen bis in die Familien gehen, und daß man sich wegen weltanschaulicher Meinungen restlos zerstreiten kann. […] Er ist mir durch die Geschichte, an der ich schreibe und in der er eine Hauptperson darstellt, wieder sehr nahe gerückt, weil all die alten Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse aufgerührt worden sind. Ich bin selbst gespannt auf meine Geschichte […], und ich wünschte nur, ich käme endlich wieder zu einer ruhigen Arbeit. […]
Wir drücken beide Daumen für das Mündliche von Fräulein D.R. […]
Tausend liebe Grüße und für jeden einen Kuß
von eurer Brigitte-Tochter-Schwester
[nach dem 14.6.61]
Mein lieber U-Bruder,
da Du, wie ich hörte, zufällig einmal nicht auf Urlaub bist, möchte ich Dir mein neues Buch30 nach Schwerin schikken. Der Brief wird, wie üblich, in rasender Eile gekritzelt, nicht nur, weil wir an unserem Fernsehspiel31 schuften, sondern außerdem, weil mein Mittagessen auf dem Herd steht.
Wir haben Dir einerseits etwas Erfreuliches mitzuteilen, anderseits müssen wir eine dringende Bitte vortragen. Du mußt uns aber ganz fest versprechen, daß Du kein Wort davon an Vati und Mutti verrätst; es soll eine Überraschung für sie werden. Wie Du weißt, haben wir den FDGB-Literaturpreis32 bekommen, und daraufhin hat sich der Rat des Bezirks endlich bewogen gefühlt, uns einen Wagen zu verschaffen, – aber nicht einen Gebrauchtwagen, es ist augenblicklich nichts Ordentliches da. Auch einen Trabant haben sie uns ausgeredet: Wir sollten lieber einen Wartburg nehmen, der ist leichter zu beschaffen; außerdem, meinten sie – und mit Recht – würden wir ja doch in einem halben Jahr wieder anmarschiert kommen und einen größeren Wagen verlangen.
Na gut, wir haben unsere Mäuse gezählt und hin und her gerechnet. Eigentlich hatte ich ein bißchen Bammel davor, unser ganzes Geld mit einem Schlag auszugeben […]. Jetzt fehlen uns noch ungefähr 1500. – DM, und um die wollten wir Dich bitten. Du wirst sie spätestens im September zurückkriegen […], denn dann habe ich meinen Vorabdruck in der NBI33 unter Dach und Fach. Läßt sich das einrichten? […] Wir haben hier zwar eine Menge guter Freunde, aber keinen, der reich genug ist, uns anderthalbtausend Emmchen vorzuschießen.
Und wie gesagt, Uli: kein Wort zu Vati und Mu. Sobald wir den Wagen haben, machen wir unsere erste Fahrt nach Burg und gondeln die Eltern spazieren. Ich freue mich schon auf ihre Gesichter! […]
Alles Gute für die letzten Tage in der glorreichen Armee! Bleib gesund, lies gelegentlich mein Buch (das Dir, hoffe ich, ein bißchen Spaß machen wird) und denk an die Moneten.
Herzlichst Deine B-Schwester
Viele Grüße auch von Daniel
Burg, 3.Juli 1961
[…] gleich noch einen in Brigittes Brief gestellten »feierlichen Antrag«: »Wir wünschen, daß Vater die FRS – wie dies im Anfang auch geschah – mit WILLI unterzeichnet. Wir erwarten, daß der Antrag den Beifall der Kinderschar findet. Man will ja in seinem Vater auch endlich mal einen erwachsenen Menschen sehen. (Die soeben von Vater symbolisch verabreichte Backpfeife nehme ich mit Dank entgegen.)«
Nun, der Wunsch kann, wenn er auch etwas dreist vorgetragen worden ist, erfüllt werden. […] Willi
Burg, 16.Juli 1961
[…] Montag traf Brigittes neues Buch »Ankunft im Alltag« ein, das einen Monat früher als erwartet erschienen ist. Herzlichen Dank! Mutti hat es bereits gelesen, ebenso auch Ulli […]. An Lutz soll nun endlich geschrieben werden, obgleich Brigitte wohl ein wenig befürchtet, daß das Buch ihm nicht zusagt. Aber dazu muß das Familienoberhaupt – auch wenn alle Kinder bereits volljährig sind – energisch erklären: Hütet Euch, unseren Familienzusammenhalt zu zerstören! Wir wollen doch jede eigene Meinung achten und nicht dem anderen etwas aufzwingen. Reden wir nicht von Freiheit, sondern üben wir sie! Dann bleibt das gegenseitige Verständnis. […] Willi
Zempin34, den 17.7.61
Liebes Schwesterlein!
[…] Dein Buch habe ich seit Sonntag aus. Ich fand es überraschend gut, denn die Tendenz wird an keiner Stelle sehr aufdringlich. Es war meine größte Sorge, daß Du uns da ein Buch zusammenschreibst, das nur auf gut ausgerichteter politischer Ebene basiert, also mein Kompliment. Ich habe es sehr schnell gelesen, denn es ist weiß Gott interessant und auch lebensnah, manchmal habe ich direkt gestaunt, denn ich hätte Dir, liebes Schwesterlein, nicht zugetraut, daß Du Dich derart gut in die Seelen 18jähriger versetzen kannst. Ich finde aber, daß Du den Nikolaus35 ein wenig zu krass gezeichnet hast, ich meine bezüglich seines Äußeren und seiner anfänglichen Haltung. Ein Junge, der zur Oberschule gegangen ist, hat nicht ein derart tolpatschiges Benehmen, jedenfalls finde ich es.
{Wenn mich auch einiges an unseren Uli erinnert […]}
Deine Dorli
P.S. Ich schreibe Feriendeutsch
Hoy, 19.7. [61]
Uli ist auf Besuch gekommen; er ist vor ein paar Tagen aus der Volksarmee entlassen worden und beginnt am 25. sein Praktikum auf einer Werft; danach wird er an [der] Rostocker Uni studieren, Schiffsbauelektrik36. Er ist ein hübscher Bursche geworden […]. Ich bin froh, daß er Bücher und Bilder und Musik liebt; darin gleicht er Lutz. Er hat aber auch ähnliche politische Ansichten, und das erschreckt mich. Wenn er auch noch fortginge … Für so viele unserer jungen Leute erschöpft sich alles Erstrebenswerte im Materiellen, im Besitz.
Uli ist ganz begeistert von meinem Buch. Mir fiel ein Stein vom Herzen, – für ihn und seinesgleichen […] habe ich es ja geschrieben. Lutz freilich wird, fürchte ich, bösartig spöttisch reagieren. Vielleicht wird, wenn er das Buch und dazu meinen Brief empfängt, die letzte Brücke zwischen uns zerbrechen. Wir haben uns schon so weit voneinander entfernt … Ich habe monatelang geschwiegen, ehe ich ihm auf seinen schrecklichen Brief antwortete. Ich habe in keiner Zeile vergessen, daß ich seine Schwester bin und ihn immer noch liebe (mein Gott, ist das wahr?), und ich hoffe, er wird es spüren. Ich habe ihm aber hart und unmißverständlich gesagt, daß ich seinen Schritt verurteile, daß ich mir Bezeichnungen wie »Ostzone« für die DDR verbitte und daß ich von ihm erwarte, er werde künftig nicht mehr den Staat beschimpfen, der ihm sein Studium bezahlt hat. Diesen neuerlichen Vorwurf (Gott, welche Streitereien hatten wir deshalb!) wird er mir nicht verzeihen. […]
Rostock, d. 5.8.61
Liebe Pitschmänner,
[…] seit fünf Tagen bin ich nun Student. Von Studium ist allerdings noch nicht viel zu merken. Zur Zeit wird in der Lehrwerkstatt gummiert. Die Bevölkerung braucht Verlängerungsschnüre, nun so helfen wir mit an den 1000 kleinen Dingen. Später sollen wir dann direkt in einem Elektrobetrieb anfangen und dann geht es irgendwann auch auf die Werft. Im Ganzen müssen wir bis Mitte Februar arbeiten und dann soll es endlich mit dem eigentlichen Vorlesungsbetrieb losgehen.
Eine Umstellung gegenüber der Armee ist es doch. Man muß in allem für sich selbst sorgen: Essen, Kleidung, Aufstehen usw. Ich bin es kaum noch gewöhnt. […]
Es grüßt herzlich Euer Uli […]
Burg, 6.August 1961
17.50 Uhr … Die Jubiläumsüberschrift ist schon einige Minuten älter, alldieweilen wir zwischendurch den Balkon abräumen mußten, weil es zu regnen begann. […]
Auch Tochter Brigitte aus Hoyerswerda hat Zeit für einen zweiseitigen Schrieb gefunden. […] Der erste Akt des Fernsehspieles37 ist abgeschlossen […]. Sie stecken jedenfalls voller Pläne, nur machen sie sich anscheinend zu viel Gedanken über die politische Entwicklung. Wozu? Erstens kann man sie nicht aufhalten, und zweitens kommt es meistens anders, als man denkt. Ihr werdet vielleicht sagen, der FRS-Verfasser macht es sich leicht, aber er darf wohl zumindest für sich in Anspruch nehmen, daß ihm das Leben schon allerlei Nüsse zu knacken gegeben hat, er also einige Erfahrungen gesammelt hat. […] Willi
Hoy, 9.8.61
Lieber U-Bruder,
[…] Daniel tippt noch an meinem Manuskript, das der Rundfunk bekommen soll (die erste Hälfte von den »Geschwistern«; das Thema ist in der jetzigen Lage goldrichtig, und es soll sobald wie möglich gesendet werden) […].
Inzwischen ist schon ein neues Angebot von Fernsehfunks gekommen: man will den »Mann vor der Tür« umarbeiten zu einem Fernsehspiel. Auch hier ist das Thema wieder unerhört aktuell; momentan schreit jede Institution nach Republikflucht-Geschichten, und wir können sie sogar mit gutem Gewissen verkaufen, weil wir sie nicht aus Konjunkturgründen, sondern aus echtem Anliegen geschrieben haben.
Von dem Auto ist noch nichts zu sehen und zu hören. Daniel war gestern in Cottbus […], und kam sehr ärgerlich zurück: aus viel Drumherumrederei war herauszuhören, daß man bis jetzt nicht einmal das Befürwortungsschreiben abgefaßt hat […]. Heute will Daniel noch einmal bei dem Obermacker anrufen und energisch werden, sonst haben wir den Wagen zu Weihnachten noch nicht. […]
Neulich haben Hans38 und ich an der Tankstelle ein göttliches Autochen gesehen, einen uralten Hanomag, Sportzweisitzer mit Dieselmotor, einem Scheinwerfer und einer Art Knüppel zum Anwerfen des Motors; das Steuer ist auf der rechten Seite, und das ganze Dingelchen sah zum Schreien schön aus. Hans hat sich sofort auf den Besitzer geworfen und wollte den Hanomag kaufen. Er wird so gegen 2000 kosten. Im Winter kommt man wahrscheinlich drin um, aber im Sommer muß es ein Heidenspaß sein, schon weil alle Leute wohlwollend lachen, sobald man damit auftaucht. Der Besitzer war auch ganz stolz auf sein Vehikel, mit dem er neulich beim Veteranentreffen in Dresden Aufsehen erregt hat. Der Wagen macht noch seine 65 Stundenkilometer. […]
Wie hast Du eigentlich Deinen Geburtstag gefeiert? Wir haben uns einen Ferientag gemacht, den ganzen Tag gelesen und unsere schönsten klassischen Platten abgehört, – die Genüsse abgeklärter alter Leute. […]
Ich wünsche Dir viel Freude bei den Verlängerungsschnüren und rasche Anpassung ans Zivilistendasein. Schreib bald wieder!
Mit vielen herzlichen Grüßen Deine B-Schwester […]
Burg, 14.August 1961
Montag, 17.20 Uhr, auf dem Balkon, warm, aber stark windig …
Die politischen Ereignisse des 13. August39 wirken sich bis auf die internsten Familienangelegenheiten aus! Denn wer ist gerade in Berlin, wenn dort etwas los ist? Ein Reimann-Kind (der Vater hat Lutz’ Abiturientenreise40 noch lebhaft in Erinnerung)! Ja, die Dorli startete am Sonnabendabend zu dem lange vorbereiteten Treff mit ihrem holländischen Brieffreund … und die geplante erste Begrüßung am Bahnhof Zoo am Sonntagvormittag fiel prompt in die Sperre.
[…] Brigitte wartet schon auf ein Lebenszeichen von Lutz und fragt an, ob er sich noch nicht wieder gemeldet hat. Leider bis heute nicht, aber da »Hamburg« jetzt Ferien macht, wird in dieser Hinsicht sicher einiges nachgeholt. […] Im übrigen kommen auch die Hoiwoyer nicht aus der Arbeit heraus. Neue Pläne […] sorgen dafür, daß es nicht »langweilig« wird, aber wo bleibt da »die Sorge um den Menschen«41? […] Da sich meine im letzten FRS geäußerte Ansicht über die politische Entwicklung bestätigt hat, bleibe ich (angesprochen die liebe Brigitte) auch hinsichtlich des 13. August dabei. Willi
Hoy, 19.8.61
Liebe Mu, lieber Vati,
[…] Den FRS haben wir dankend erhalten. Ich dachte schon, Dorli wäre an jenem aufregenden Sonntag in Westberlin verschütt gegangen […]. Hat sie ihren Henk42 noch gefunden? Es wäre jammerschade, wenn die beiden sich nicht kennen gelernt hätten, obgleich sie nur durch ein paar Kilometer und einen – verrosteten! – Stacheldraht getrennt waren. Ja, ja, die bösen Bolschewiken! Übrigens haben wir nicht geweint über diese neue Maßnahme, die eigentlich schon längst fällig gewesen wäre. Warum sollen wir nicht auch mal die Zähne zeigen? Wir hingen den ganzen Sonntag am Radio und lauschten den Offenbarungen vom Rias43, der seine Reporter in den Osten geschickt hat und Schreckliches zu berichten wußte von schweigenden Menschenmauern, die einen letzten sehnsüchtigen Blick in die Freiheit warfen, und von in letzter Minute heldenhaft geflüchteten Sachsen, denen unsere Regierung nicht mal eine Quarkstulle hatte bieten können. Es war sehr lustig. Und am lustigsten war es, als Brandt44 uns mit Grabesstimme und unterdrückten Tränen aufforderte, nicht auf die Barrikaden zu gehen – wozu wahrscheinlich sowieso kein normaler Berliner Lust hatte. Schade, daß wir an diesem Sonntag nicht in Berlin waren! Die paar Abenteuer, die unser friedliches Dasein noch zu bieten hat, verpaßt man auch …
Natürlich ist es traurig, daß man jetzt momentan nicht nach Westdeutschland fahren kann. […]
Mit tausend lieben Grüßen […] Eure Brigitte
Burg, 20.August 1961
[…] Jeder muß mit dem Leben fertig werden, das er sich zu einem bescheidenen Teil selbst gestaltet und zum weit größeren Teil ohne seinen Einfluß gestaltet wird. Aber für den eigenverantwortlichen Teil sollte man ihn gewähren lassen, schließlich ist das seine ureigenste Angelegenheit, die er selbst zu tragen hat und in die man nicht reinreden sollte. Wer sich in seinem selbstgezimmerten Haus wohl fühlt, dem soll man seine Freude und sein Vergnügen daran lassen, wozu es ihm vermiesen? Wer gibt dem anderen das Recht, seine Meinung und Ansicht als die einzig richtige zu bezeichnen und seinen Mitmenschen aufzwingen zu wollen? Zuguterletzt muß jeder mit sich selbst fertig werden. (Diesen letzten Satz habe ich eine gute Stunde später geschrieben, nach einem Hörspiel, das recht nachdenklich gestimmt hat, von vier Geschwistern und ihrem Schicksal erzählte […].)45 Doch kommen wir kurz noch zum Sachlichen […]. Brigittes Briefeingang wird bestätigt und auch eine Antwort zugesagt. Ich bin nicht der Ansicht, daß »wir uns immer mehr auseinander leben«, wenn wir den guten Willen aufbringen, es nicht dahin kommen zu lassen (das oben gesagte gilt immer für beide Seiten). Dabei soll keiner glauben, er vergibt sich etwas, wenn er sich bemüht, den anderen etwas zu verstehen. Wollen wir uns wundern, daß sich Menschen, die sich nie im Leben gesehen haben und nichts von den anderen kennen, sich gegenseitig den Schädel einschlagen, wenn nicht einmal eine Familie den Sinn des Wortes »Familie« begreift? […] Willi
Hoy, 24.8.61
[…] Liebe Mu, wir waren ganz traurig, als wir Deinen Brief gelesen haben. Er klingt niedergeschlagen, obgleich Du Dir solche Mühe gegeben hast, es uns nicht merken zu lassen. […] Ich weiß schon, was Du sagen wolltest, und ich muß gestehen, daß ich ebenfalls jetzt einigermaßen erbittert bin – vor allem über die Leute, die in der Zeitung spontan ihre Mitbürger auffordern, nicht mehr nach Westdeutschland zu fahren. Ich halte es für höchst unklug, womöglich auch diese Grenze46 zuzumachen, – das ist eine unpopuläre Maßnahme. Der allergrößte Teil der Reisenden fährt wirklich deshalb, weil er drüben Familienangehörige hat.
Wir haben jetzt auch jeden Tag große Diskussionen bei uns, und obgleich alle unsere Freunde einen politisch klaren Kopf haben, sind sie verärgert. Sicher, mit dem Verstand begreift man die getroffenen Maßnahmen, aber gegen einiges sträubt sich das Gefühl, und gegen die Kommentare der gute Geschmack. […]
Man sollte in größeren Kategorien denken. Es wäre absurd, wenn zwei Weltsysteme übereinander herfielen und sich atomisieren ließen, nur weil die Herren Deutschen nicht mehr nach Belieben durchs Brandenburger Tor spazieren können. Wir haben uns schon immer ungeheuer wichtig genommen –, aber was sind wir angesichts des Aufbruchs in Afrika?
Nein, Mu, Du mußt Dich nicht gar zu sehr aufregen, Du wirst Deinen Lutz bestimmt wieder sehen können. Die Wogen gehen jetzt ein bißchen hoch, aber die glätten sich wieder, am Ende siegt die Vernunft, das lehrt die Geschichte. […]
Mit einem Kuß für Mu und Vati – (auch von Meister Daniel)
Eure Brigitte […]
Hamburg, d. 6.9.61
Liebe Brigitte!
[…] Ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt noch einmal schreiben sollte. Vielleicht ist es auch tatsächlich das letzte Mal. Wir werden doch nie umhin können, in unseren Briefen zu politisieren und werden wahrscheinlich nie zu einer Übereinstimmung kommen, sondern uns immer mehr voneinander entfernen. […]
Inzwischen hat sich in der Politik einiges getan. In Berlin zieht man Stacheldraht, baut mehrreihige Betonmauern, macht aus Berlin ein Heerlager und protzt mit seinen Waffen und droht mit Gewalt. An der Grenze in Berlin, beim Havelkanal sind inzwischen drei Menschen erschossen worden, ebenso in Warnemünde ein Mann. In Gedser und Trelleborg, in fremden Hoheitsgewässern hat die Volkspolizei ebenfalls geschossen, mehrere Leute, die man noch beim letzten Sprung zurückhalten konnte, brutal zusammengeschlagen. […] Soundsoviel Jahre Gefängnis und Zuchthaus wurden für Nichtgefügige verhängt, ganz auf die Schnelle wurde ein Gesetz erlassen, das es gestattet Zwangsarbeit als Strafe zu verhängen. Exempel wurden schon statuiert. Die FDJ ruft zum Dienst am Vaterland47 auf und bildet Regimenter, die bezeichnenderweise mit schwarzen Uniformen gekleidet sind. Da fehlt dann nur noch der Totenkopf als Abzeichen.48 […]
Und nicht zuletzt droht der Russe, die Zufahrtswege nach Berlin sogar in der Luft zu sperren. Als Ausrufungszeichen hinter seinen Forderungen stehen die Atompilze seiner Superbomben, die er jetzt erprobt hat. […]
Wenn ich an all das denke und dabei Deinen Brief49 lese, möchte ich das alles nicht glauben, daß Du Dir soviel Mist abbrichst.
[…] Was stellst Du Dir eigentlich unter einem satten und gesitteten Bundesbürger vor? Du kennst ja die Menschen hier garnicht. Mir gefallen die Leute in ihrer zumeist unpolitischen Lebensauffassung auch nicht. Aber es ist ja wohl auch keine Schande, wenn die Menschen sich nach Wohlstand sehnen und danach streben […]. Aber […] viele sind durch die Berlin-affaire aus ihrer uninteressierten Haltung herausgerissen worden. Gott sei Dank. Aber um mich brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Ich werde wohl kaum so etwas werden, wie Du Dir einen Bundesbürger vorstellst. Dafür hat man mir im Osten einen zu guten politischen Anschauungsunterricht gegeben, um jetzt nicht danach zu handeln. –
Ich zitiere: »Unser Staat hat es nicht nötig, die Reklametrommel zu rühren, die Tatsachen sprechen für sich. Der Sozialismus braucht keine Neonröhren und Leuchtreklamen … (Die Butter ist momentan knapp, jawohl und auf ein Auto muß man zwei Jahre warten …)« usw.
Die Tatsachen sprechen allerdings eine deutliche Sprache: Bis jetzt seit 1949 gingen 2 Millionen Menschen freiwillig aus dem »Arbeiterparadies«, von dem mächtigen Strom des letzten halben Jahres wollen wir gar nicht sprechen. Die Leute lassen alles stehen und liegen, was sie sich in Jahren mühevoller (und wie mühevoll im Osten!) Arbeit angeschafft haben und verlassen Freunde und Verwandte, die Heimat und sonst alles mögliche, was ihnen lieb geworden ist, nur um sich hier nochmals in jahrelanger und harter Arbeit (hier muß man auch hart arbeiten!) eine neue Existenz aufzubauen und sonst einige kleine Annehmlichkeiten des Westens zu genießen!
Das wäre zu billig, hierin die Erklärung zu suchen, von den Abwerbungsparolen, die in Euren Zeitungen gerade große Mode waren, will ich garnicht reden. […]
Es muß da wohl doch noch andere Gründe geben. Überleg es Dir. Wenn ich dir jetzt etwas von Freiheit und Demokratie erzählen sollte, wäre das sowieso verfehlt. Darüber könnte ich mit Dir nur sprechen, wenn Du wenigstens ein halbes Jahr hier wärst und tatsächlich den Unterschied zu Eurer »demokratischen Republik« fühlen und sehen würdest. Sofern es mal möglich wird: Wenn wir eine Wohnung haben, lade ich Dich ein, zu uns zu kommen und solange hier zu bleiben, wie Du willst. Das ist ein ernsthaftes Angebot! Und birgt nur ein Risiko. Du würdest nachdem vielleicht nicht wieder zurückgehen und wenn, dann für Deine jetzigen Ziele verloren sein.
Ich spreche nicht gern von »Freiheit«, weil mit diesem Wort schon zuviel Schindluder und Mißbrauch getrieben worden ist […]. Aber es ist etwas mehr daran […]. Gewisse Dinge, die Dir hier nach einiger Zeit unzumutbar erscheinen würden, faßt Du drüben noch als Selbstverständlichkeit auf. […]
Wenn Du jetzt hier die Stimmung erleben könntest, würdest Du, wenn Du ein guter SED-Heini wärst, nur wünschen, daß es bei Euch genauso wäre, denn die Menschen hier würden freiwillig gerne mehr Steuern zahlen oder freiwillig zur Armee gehen, wenn das zum Schutz und als Maßnahme gegen den Osten gefordert würde. Hier wissen die Leute wofür, ganz im Gegensatz zur Zone.
Wieviel Menschen würden bei Euch noch fortgehen, wenn sie dürften und auch die Möglichkeit hätten, ihre Verwandten ab und zu wiederzusehen? Es wäre ein Strom, riesenhaft!
Das sind die Tatsachen, die für die »DDR« sprechen! Steig endlich einmal aus Deinem »Elfenbeinturm« aus und sieh Dir Euer sozialistisches Leben an, aber ohne Deine rosarote Idealistenbrille!
Selbst wenn die Menschen, die der Zone den Rücken kehrten, nur gingen, um hier ein Leben in Wohlstand zu führen, wo sie alles kaufen und sich mehr Annehmlichkeiten leisten können, müßte das ein akzeptables Argument sein, denn wozu arbeiten die Menschen wohl? Nach 12 Jahren seit Gründung der »DDR« haben die Leute ein Recht zu verlangen, daß es tatsächlich immer Butter und Kartoffeln zu kaufen gibt und daß man endlich seine Versprechungen vom besseren Leben erfüllt. Wenn der Sozialismus das bis jetzt nicht geschafft hat, hat er seine Existenzberechtigung verloren, denn er hatte die Chance, genauso wie der Westen und Jugoslawien! Das darfst Du auch nicht vergessen!
[…] »Es wurden Fehler gemacht!« wenn ich das schon höre! Diese Fehler hat man schon 1952/53 gemacht und hat nichts daraus gelernt. Im Gegenteil. […] Es ist nicht nur das kleinliche Streben nach absoluter politischer und wirtschaftlicher Herrschaft, dem Besitz aller Produktionsmittel, sondern in Deutschland kommt noch hinzu, daß man durch geschaffene Tatsachen die Wiedervereinigung auf jeden Fall und auf jede mögliche Art und Weise blockieren wollte. Was man nicht mit Überzeugung erreicht – und auf diesem Gebiet hat Ulbricht ja gründlich Schiffbruch erlitten – wird mit Gewalt gemacht. […] Eine freie Volksabstimmung in der Zone würde Ulbricht und seinen Getreuen den Laufpaß geben. […] Und hier ist auch das Argument, weshalb ich Euer Gebiet nicht »DDR« nennen kann. Denn an der Bezeichnung »Deutsche Demokratische Republik« ist nämlich leider nur das »deutsch« zutreffend. […] Das Volk hat diese Leute und diesen Staat nie gewählt und nie gewollt. Es ist die Diktatur einer Minderheit, der »Avantgarde«. Das verhehlen diese Leute nicht einmal. Selbstverständlich kann man die Einführung einer Diktatur auch als Staatsgründung betrachten, insofern hast Du recht.
Hast Du jemals die Möglichkeit gehabt zu wählen? […]
– Mein Brief wird auch in Raten geschrieben. Heute kam ein FRS nebst Brief von Mutti. Man ist betrübt, daß wir uns vielleicht nicht mehr verstehen. Vati und Mutti als ältere Generation wollen die Gegebenheiten hinnehmen und versuchen so zu leben, wie es am besten noch möglich ist. […] Dafür sind wir noch zu jung. Wir müssen uns eben noch mit unserer Gegenwart auseinander setzen und für das eintreten, was man als richtig erkannt hat. […] Eines Tages werden wir schon wieder eine gemeinsame Plattform – ich will dieses fürchterliche Wort auch einmal gebrauchen – finden, auf der wir uns wieder verständigen können.
In diesen Tagen habe ich gerade das Buch »Die Revolution entläßt ihre Kinder«50 von Wolfgang Leonhard angefangen. Gleich zu Beginn berichtet er von der großen Verhaftungs- und Erschießungswelle, die 1936–1938 fast alle alten Kämpfer und Hunderttausende anderer Unschuldiger in Rußland erfaßte und wie sie als 17-jährige, deren Eltern zum Teil auch in die Verbannung geschickt worden waren, nun versuchten in ihrem Glauben an die Idee und die richtige Handlungsweise der Partei Entschuldigungen und Rechtfertigungsgründe für diese Aktionen zu finden.
Natürlich fanden sie welche und sahen über diese furchtbaren Ereignisse hinweg und vergaßen schnell. Genauso waren wir als jungen Menschen auch in der Zone und so bist Du auch heute noch. Es ist dies nicht so wichtig und jenes spielt keine Rolle und über das sieht man hinweg oder versucht, es als notwendig zu betrachten. Man merkt dabei garnicht, wie es schrittweise immer weiter geht, daß alles das überhaupt nichts mit dem Sozialismus zu tun hat und all dem, was letztlich der Sinn des Sozialismus sein sollte, entgegengerichtet ist, von Recht und Gerechtigkeit, Humanität und Menschenwürde und jeglicher Freiheit ganz zu schweigen.
Man muß sich erst einmal von den Verhältnissen drüben eine Zeitlang entfernen, um zu erkennen, wie unsagbar herabwürdigend und unrechtmäßig mit den Menschen drüben umgegangen wird und wie sehr man belogen und betrogen worden ist. […] Man muß sich einmal, wenigstens in Gedanken lösen und sich klar machen, wie furchtbar es ist, wenn – um nur mal ein Beispiel zu nehmen – Leuten die Antennen zum Westempfang heruntergerissen werden – und es keine rechtliche Handhabe dagegen gibt oder Leute für irgendwelche dahingeworfenen Äußerungen zu hohen Strafen verurteilt werden, nachdem vorher die bestellte Volkswut gegenüber diesen »Schädlingen« ins Spiel gebracht worden ist. Genauso furchtbar ist es, wenn die Menschen schon automatisch, bevor sie eine politische Äußerung tun, sich umsehen, ob keine unerwünschten Ohren mitlauschen könnten. Ich habe das an mir und vielen anderen Menschen beobachtet. Man braucht einige Zeit, um das hier abzulegen. […]
Orwell51 und Djilas52 waren mir drüben wie eine Offenbarung […]. Du kennst nicht das Gefühl, in Freiheit und ohne Druck und ständiger Heuchelei zu leben. […]
Man kann es sich vor allem nicht vorstellen, wenn man es nicht kennt. […] Es gibt auch hier vieles, was besser nicht sein sollte, aber in einem ängstlichen Bestreben, nichts zu unternehmen, was demokratische Freiheiten beschneiden könnte, geht man hier meines Erachtens oft zu weit. […]
Weißt Du, ich habe mir schon mehrmals die Frage vorgelegt, wie wir wohl uns 1933 entschieden hätten. Vielleicht oder wahrscheinlich hätten wir uns wie die meisten unserer Elterngeneration entschieden. Wir wollen mal ehrlich sein, wir hätten wohl kaum anders gehandelt und wohl kaum anders handeln können unserer damals wahrscheinlichen politischen Bildung entsprechend. Wir wollen nicht so leichtfertig über diese Generation den Stab brechen. […] Sie hatten nicht das andere, bessere Beispiel vor Augen. Brigitte, bewahre Dir Dein kritisches Denken und das Gefühl für Humanität. Du stehst als Schriftsteller mit in verantwortlicher Linie und wirbst als erster Helfer für eine gute oder schlechte Sache. Sie mißbrauchen Deine Ideale! Eine Diktatur bringt nie Gutes für die einfachen, kleinen Leute. Ein gutes Ziel kann nicht mit schlechten Mitteln erzwungen werden, denn ihm haftet das Böse an, mit dem der Erfolg erzwungen wurde […]. Wer sagt eigentlich, daß überhaupt ein guter Zweck ernsthaft verfolgt wird?
[…] Beim Lesen lege nicht jedes Wort auf die Goldwaage, ich habe sehr schnell geschrieben. Ganz gleich, wie das Echo auf meine Ansichten ausfallen wird, schreib mir keinen Brief, in dem ein politisches Thema erörtert wird. […] Außerdem könnte es für Dich unter Umständen böse Folgen haben, wenn Du mal von der Parteilinie abweichst. […]
Für Dein Buch vielen Dank. Wir haben es mit großem Interesse gelesen und auch schon an Freunde verborgt, um dann später darüber zu debattieren. Abgesehen von Einzelheiten, die in der Themenwahl begründet sind, hat es mir sehr gut gefallen, besser als alles vordem. Du bist irgendwie sicherer im Ausdruck geworden und vermeidest, wie ich oft früher das Gefühl hatte, zu viele schmückende Beiwörter […].
Vor allem aber macht sich bemerkbar, daß Du wirklich durch deine Arbeit dort das Werk und seine Menschen erlebt hast. Aber leider siehst Du auch hier alles ein bißchen zu sehr mit den Augen des Idealkommunisten, für den nur das Gute und Lobenswerte zählt. Nur ist es eben leider nur eine Geschichte ohne ein meines Erachtens wirkliches Problem. Du versuchst ein wenig mehr hineinzulegen und damit werden Deine Hauptpersonen, abgesehen von dem Mädchen, was wirklich sehr gut dargestellt ist, zu symbolträchtig.
Ich sehe in allem nur, daß Ihr die wirklichen Probleme garnicht anfassen dürft […]. Da flüchten Hunderttausende und keiner darf wagen, die wirklichen Beweggründe einmal aufzuzeichnen und sich mit den wirklichen Problemen zu befassen. Ich kann mir schon denken, wie Deine Republikfluchtgeschichte, die ja nun wohl doch nicht mehr aktuell ist, aussehen wird. Ich möchte sie, falls Du überhaupt noch dazu kommst, garnicht lesen. […] Es ist wirklich eine Schande, wie Du Deine Fähigkeiten […] in den Dienst dieser Leute stellst. […]
Ich wollte dir immer noch etwas zum Geburtstag nachträglich schenken […]. Schreib mir doch bitte, welche Bücher Du gern haben möchtest.
Mit vielen Grüßen Dein Lutz
Hoy, 18.9.61
Liebe Mu, lieber Vati,