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„Die große Liebe ist kaputt, ich sitze in einer fremden Stadt, ziemlich allein. Und ich bin nicht mehr jung, ich bin eine Amazone. Herrgott, und dieses Buch! Das wird ein hartes Stück Arbeit, über so viel Persönliches hinwegzukommen und eben ein Buch zu schreiben. Inzwischen muß ich mir immer wieder sagen: Ich habe eine literarische Figur geliebt. Übrigens hat mir Jon das schon vor einem Jahr gesagt. Ich erinnere mich, daß ich nach einer Auseinandersetzung [...] seine Worte aufgeschrieben habe, um sie später in meinem Buch zu verwenden. Der unschuldige Zynismus der Schriftsteller.“
Es war dieser scharfe, auch gegen sich selbst unerbittliche Blick der Schriftstellerin Brigitte Reimann, der uns mit den Tagebüchern ein einzigartiges Lebenszeugnis hinterlassen hat: die beeindruckende Biographie einer leidenschaftlichen, extravaganten Frau und zugleich ein Zeitdokument, das Geist und Stimmung einer ganzen Periode der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte einfängt. Brigitte Reimanns Tagebücher sind einzigartige Zeugnisse eines ruhelosen, leidenschaftlichen, kreativen Lebens und zugleich Zeitdokumente, die Geist und Stimmung einer ganzen Periode deutscher Nachkriegsgeschichte einfangen.
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Seitenzahl: 740
Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955–1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964–1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956–1973.
Angela Drescher, geboren 1952, ist Lektorin und gab Werner Bräunigs Roman »Rummelplatz« heraus, außerdem die Tagebücher Brigitte Reimanns und die ungekürzte Neuausgabe des Romans »Franziska Linkerhand«.
»Die große Liebe ist kaputt, ich sitze in einer fremden Stadt, ziemlich allein. Und ich bin nicht mehr jung, ich bin eine Amazone. Herrgott, und dieses Buch! Das wird ein hartes Stück Arbeit, über so viel Persönliches hinwegzukommen und eben ein Buch zu schreiben.
Inzwischen muß ich mir immer wieder sagen: Ich habe eine literarische Figur geliebt. Übrigens hat mir Jon das schon vor einem Jahr gesagt. Ich erinnere mich, daß ich nach einer Auseinandersetzung […] seine Worte aufgeschrieben habe, um sie später in meinem Buch zu verwenden. Der unschuldige Zynismus der Schriftsteller.«
Es war dieser scharfe, auch gegen sich selbst unerbittliche Blick der Schriftstellerin Brigitte Reimann, der uns mit den Tagebüchern ein einzigartiges Lebenszeugnis hinterlassen hat: die beeindruckende Biographie einer leidenschaftlichen, extravaganten Frau und zugleich ein Zeitdokument, das Geist und Stimmung einer ganzen Periode der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte einfängt.
Brigitte Reimanns Tagebücher sind einzigartige Zeugnisse eines ruhelosen, leidenschaftlichen, kreativen Lebens und zugleich Zeitdokumente, die Geist und Stimmung einer ganzen Periode deutscher Nachkriegsgeschichte einfangen.
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Brigitte Reimann
Alles schmeckt nach Abschied
Tagebücher 1964–1970
Herausgegeben von Angela Drescher
Inhaltsübersicht
Über Brigitte Reimann
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Tagebücher 1964 – 1970
2. Januar – 21. Dezember 1964
3. Januar – 31. Dezember 1965
1. Januar – 16. November 1966
16. März – 31. Dezember 1967
9. März – 31. Dezember 1968
28. Februar – 30. November 1969
8. Januar – 14. Dezember 1970
Chronik 1967 – [1970]
Anhang
Anmerkungen
Personenverzeichnis
Lebensdaten Brigitte Reimann
Zu dieser Ausgabe
Impressum
2. 1. 64
Kein Talent für Silvesterfeiern. Mit Jon in der »Freundschaft«, unter lustigen und lauten Leuten, wir tranken Sekt und tanzten, und ich war die ganze Zeit traurig: ich hatte ein böses Gewissen wegen Daniel, der allein zuhaus geblieben war. Nach 12 Uhr rief ich ihn an, er war auf der Umgehungsstraße gewesen, hatte das Feuerwerk gesehen und Glockengeläut gehört, ganz allein. […]
Gestern abend fuhr er ab, er wird zwei Monate in Petzow arbeiten. Nun warte ich auf seinen Anruf, habe Heimweh nach ihm und keine Lust zu schreiben.
Hoy, 11. 1.
Gestern 2. Sitzung der Jugendkommission, die immer lebhafter, kritischer wird. Unser erster Beschluß (über Berufsbilder) liegt dem PB vor; hier – in der Berufslenkung – wird sich einiges ändern. Wir sind also keine Schwatzbude, nur Horst Schumann, mit seinem schlichten Verstand, quatscht. Wenn man diesen 1. Sekretär der FDJ hört, versteht man alle Schwierigkeiten in der Arbeit des Verbandes. Als Gäste Dr. Korn und Dr. Otterberg, die über Kontakte mit westdeutschen Studenten-Verbänden berichteten. O. ist Historiker, so sehr, daß er mit der ganzen Unbefangenheit des Wissenschaftlers über Erscheinungen des Dogmatismus sprach, darüber, daß – im Gegensatz zu anderen Ländern – in unserer Parteiführung nichts verändert wurde seit dem 20. Parteitag – er verletzte eine Menge großer Tabus.
Todmüde. […] Und dabei möchte ich seitenlang nur von einem großen Erlebnis erzählen: ich war bei Daniel.
Von Berlin ließ ich mich nach Petzow fahren. […] Als ich in sein Zimmer trat, unangemeldet, sah er mich an und sagte: »Ich habe darauf gewartet.« Wir waren sehr aufgeregt und – einfach glücklich. Er sagte erstaunt: »Als du reinkamst, sah ich, daß du ganz schwarze Augen hast.« Ich hatte ihm eine Mappe voller Geschenke mitgebracht, es ist so schön, Daniel etwas zu schenken.
Wir aßen im Heim zu Abend; Maurer ist da, der sympathische Bereska, […] natürlich Oehme (der inzwichen rehabilitiert worden ist – er saß 10 Jahre in Bautzen), »Protoplasma« Mickel, der scheußliche Gedichte schreibt. […]
Übrigens war der Wagen unterwegs kaputt gegangen, und alle redeten mir zu, in Petzow zu bleiben, und ich hätte es nur zu gern getan – wegen Daniel. Eine seltsame Beziehung. Wir küssen uns wie Geschwister […].
Ach, es war wunderbar, ihn endlich wieder zu sehen. Er brachte mich noch zu Bett, und er sagte, es sei eine Katastrophe, und ich weiß schon, was er gemeint hat. Es ist eine Katastrophe. Dann hörte ich den Wagen abfahren und war sehr traurig. Es war so schrecklich kalt draußen, und die Autobahn war spiegelglatt. Aber er ist gut heimgekommen – heute früh um 1/2 5.
Hoy, 12. 1. 64
Heute hat der Daniel Geburtstag. Ich habe ihn ganz früh angerufen […]. Nachts um 12 sind ihm die roten Nelken gebracht worden, die ich schicken ließ. Er hat sich so gefreut …
Jon kam, um mich abzuholen […]. Wir hatten uns gestern schon gestritten, jetzt brach der Streit wieder los, aber böse und gereizt. […] Den ganzen Tag war ich verzweifelt: er züchtet, bewußt oder unbewußt, das niederdrückende Gefühl in mir, ich sei ein oberflächlicher Denker; er meint, man dürfe nicht schreiben, wenn man nicht ein Problem zuende gedacht und eine Lösung gefunden habe. Aber wie kann denn einer die Lösung finden? Einer allein? Warum soll ich nicht meine Meinung sagen, ohne Anspruch auf letzte Gültigkeit zu erheben? Lieber schweigen? Er zieht es vor, gar nichts zu sagen, ehe er es riskiert, etwas Falsches zu sagen. Es ist ja wahr, ich bin wirklich zu schnell, zu spontan mit meinen Ansichten, zu freudig in meinen Entdeckungen, ich habe keinen ordnenden Verstand …
Lieber Gott, es ist schrecklich, daß dieses Gefühl immer mehr in mir wächst, es mangele mir an Intelligenz, Logik. Den ganzen Tag saß ich vor einem leeren Blatt Papier. Bei Zusammenkünften wage ich kaum noch den Mund aufzutun. Bin ich dumm, oberflächlich oder nur ungeschult […].
Hoy, 16. 1.
Ich hatte ein paar widerwärtige Tage mit Kopfschmerzen, Depressionen, Fremdheit bei Jon. Er kam getreulich, um nach mir zu sehen, aber das Band war gerissen. Ich lag den ganzen Tag auf der Couch, schlief, starrte an die Decke, schlief wieder, betäubt von Tabletten. Vorgestern abend saß Jon bei mir, wir schwiegen, aber – seltsam – rückten uns ohne Bewegung immer näher, bis zum Kuß. Ein paar Minuten rasenden Begehrens, dann erhob er sich. »Wenn man nicht mehr miteinander sprechen kann, kann man auch nicht miteinander schlafen.« Furchtbarer Augenblick. Aber gestern, plötzlich, sprachen wir wieder, gerieten in Streit über ein Marx-Wort, auf einmal war es wieder wie sonst: wilder Zank, später eine wilde Umarmung. Umarmung ist aber nie als Versöhnung zu verstehen, es gibt nichts zu versöhnen, wenn man um eine Sache streitet. Ich sei klug, sagt er, aber ich müsse lernen, Denkresultate anderer nicht einfach zu übernehmen, […] sondern unabhängig und durch eigenen Denkprozeß zu diesem Resultat zu kommen. […]
Fast eine Seite geschrieben. Endlich!
Petzow, 23. 1. 64
Für zwei Tage in Petzow – zwischen zwei Gesprächen. Ein Abend bei Henselmann, der meine Beziehung zu Jon zergliederte: Ohne daß ich mich irgendwie geäußert hatte, sagte er, J. […] rede mir ein, ich sei unwissend oder dumm, um mich an sich zu binden […]. Ich schwieg zu allem, weil ein Wort schon Verrat an Jon hätte werden können. Er darf auch nicht wissen von der körperlichen Fessel.
Vormittags Buerschaper und Lewerenz im Pressecafé! Sie redeten mir meine Ängste aus. L. las das Manus, es fehlte ihm an »originellen Details«. Er hat recht. Es ist von des Gedankens Blässe angekränkelt, ich beginne zu philosophieren. Dumm, dumm, dumm! Ich werde alles wegwerfen und ganz neu beginnen. […]
Nachmittags Gespräch in der Akademie, Kurella, Herzfelde, Hermlin (letzterer sehr liebenswürdig, gar nicht arrogant). Natürlich war ich sehr befangen, erst nach zwei Stunden taute ich auf. […] Zum Schluß hatte ich einen Lacherfolg, als ich fragte, was denn nun eigentlich sozialistischer Realismus sei.
Die zwei Tage mit Daniel tun mir gut. Ich fühle mich immer noch verletzt, unsicher. Er ist gut und sanft, wir sprachen viele Stunden.
Hoy, 26. 1.
Zwei Tage schreckliche Herzattacken, düstere Gedanken an den Tod (man glaubt zu sterben); um mich zu belustigen, formulierte ich mein Testament […]
Wie soll ich nur dieses verdammte Buch anfangen? Ich muß mit Jon sprechen, einfach sprechen. Aber wir sagen nichts. Wozu auch? Man hält Monologe und hört Monologen zu. Es bröckelt, es bröckelt.
Hoy, 10. 2.
Nun ist die D-Schwester schon seit einer Woche mit ihrem Susannchen bei mir, und wir hatten eine schöne Zeit. Zum Arbeiten bin ich natürlich nicht mehr gekommen, wir waren den ganzen Tag mit Baby beschäftigt oder haben geschwatzt. D. ist ein so liebes und natürliches Mädchen, und sie hat nun auch meine Beziehung zu Jon verstanden (Mutti hatte ihr eingeschärft, ja nicht nett zu diesem Menschen zu sein). […] Gestern haben wir einen richtigen Familien-Sonntag veranstaltet, mit ausschweifenden Mahlzeiten, Kaffeetrinken und müßigem Geschwätz zu dritt, und schließlich rauchte Jon eine Zigarre und trank einen Kognac dazu, und wir fanden es ein bißchen komisch und sehr gemütlich, so faul zusammenzusitzen. Dieses Gefühl, eine Familie zu sein, war mir ganz verlorengegangen.
Heute, zu unserem Hochzeitstag, schickte mir Daniel Blumen, es kam auch ein Brief, und ich war sehr traurig. »In Verehrung und Neigung …« […] Er ist gefangen in seinem Zauberberg, und mir graut schon vor der Zeit, die ich in Petzow sein werde. […] Übrigens war ich bei jenem Gespräch vor allem geschockt durch die Nachricht, daß D. in all den Wochen drei Seiten geschrieben hat. […] Vielleicht schreibe ich später Reißer, aber sie werden wenigstens gelesen.
Ein bißchen mehr Sicherheit für mich … Seit meiner Schulzeit habe ich allein kämpfen müssen, mich erhalten, einen anderen erhalten müssen. Manchmal bin ich mürbe, sehne mich nach einem Leben ohne so gewichtiges Risiko. Jon würde wenigstens versuchen, mir ein bißchen Sicherheit zu geben. Er wird Redakteur bei einer Betriebszeitung, und heute sagte er, wenn er dann ein gutsituierter Mann mit 450 DM Monatsgehalt ist, wird er seinen Stresemann anziehen, nach Burg fahren und bei Vater um meine Hand anhalten. Denn – es bröckelt nichts, alles ist besser und schöner als zuvor. Und vorgestern habe ich eine große Entdeckung gemacht, unter Tränen: als er mich umarmte, war seine Lust süßer und beglückender für mich als meine eigene Lust.
Morgen fährt die Dorli schon wieder weg, und ich bin bekümmert. Morgens beim Aufwachen nicht mehr das Spätzchen krähen zu hören … Es war wieder eine Freude, abends ins Bett zu gehen, als ich das Schwesterchen drüben wußte und unser Kind, mit dessen provisorischem Bett wir große Abenteuer hatten. Den Korb, den Jon für sie gebaut hatte, demolierte sie schon am ersten Abend, und wir mußten auf dem Teppich ein Lager aufschlagen, von dem sie immerzu unter die Couch kullert. Sie ist so lebendig und neugierig, lernt sitzen und sich herumwälzen, und sobald man sie aus den Augen läßt, robbt sie still und listig durchs Zimmer. Und natürlich ist sie wunderhübsch, und ich möchte sie immer abküssen. Jetzt schläft sie, die Ärmchen zur Seite geworfen, mit ihrem süßen, unschuldigen Gesicht, und ich schleiche manchmal hinüber und sehe sie an, sehe meine Versäumnisse. Mein mieses provisorisches Leben – eine kaputte Ehe, kein Kind, ein lebensuntüchtiger Mann, ein armer geexter Geliebter, mittelmäßige Bücher …
Heute habe ich die Dorli erstmal eingekleidet, sie ist so hübsch und anmutig, daß es eine Freude ist, ihr Kleider und Schuhe anzupassen. Sie sagt immer, sie trage seit Jahren fast nur die Sachen von mir, sie selbst hätte sich nie welche kaufen können. Ich habe überhaupt kein Verhältnis zu Geld, zu teuren Dingen und schenke begeistert, während ich Lebensmittel hamstere und hüte – sicherlich ein verquerer Ausdruck meiner Existenzangst; ich habe zuviel gehungert. Außerdem sieht D. in allen Kleidern viel hübscher aus als ich. Jon tröstet mich (aber ich brauche gar keinen Trost): ich sei so ein Typ, der Ochsen führen müßte, breitschultrig und barfüßig. Jedenfalls ist mir eine Nietenhose lieber als alle eleganten Röcke der Welt.
[…]
Hoy, 15. 2.
Nun ist die D-Schwester seit ein paar Tagen weg, und zuerst war es ganz traurig und einsam ohne sie und Baby. […] Inzwischen schrieb sie einen begeisterten Brief, tausend Dankeschön und Grüße an Jon und ein rührender Satz: sie liebe ihn dafür, daß er ihre Schwester glücklich macht.
[…] Am Tag nach der Abreise fand ich in meinem Hamsterkästchen eine große Schachtel Pralinen, auf der stand: »Vielen, vielen Dank. Susanne.«
Schrecklich unzufrieden mit der Arbeit. Ich komme nicht voran. Habe ich das falsche Thema gewählt?
Hoy, 2. März 64
Ein paar Tage war ich krank, bin es noch, Fieber, Übelkeit, Husten. Schlimmer: die Seele ist lädiert. Wann fing es an? Letzten Sonnabend, glaube ich. Telefongespräch mit Daniel: er sagte, er werde den ganzen Sommer über wegbleiben, Flucht – er verriet nicht, wohin. Auf einmal wußte ich alles. Wir haben öfter daran gedacht, geplant, darüber gesprochen, jetzt wurde es ernst. Ich setzte mich an den Schreibtisch und trank eine Flasche Wodka aus. […] Alles war scheußlich und ein bißchen theatralisch. Mir war, als wollte ich mir selbst eine Hand abhacken. Am nächsten Tag großer Katzenjammer. (Später hörte ich, daß Daniel am selben Abend, auch sofort nach dem Gespräch, zum erstenmal seit Jahren wieder getrunken hatte – 14 Kognac, aber ihm half es sowenig wie mir).
[…]
… Montag fuhr ich mit Jon nach Berlin; nachmittags und abends bei Henselmann, der ein Treffen mit Maetzig – auf dessen Bitte – arrangiert hatte. M. möchte, daß ich einen Film für ihn schreibe, irgendwas Charmantes, Intimes … Übrigens war ich an diesem Nachmittag zum erstenmal ernstlich zornig auf H. (mein Zug hatte Verspätung, H. murrte: »einen Mann wie Profesor M. läßt man nicht warten.« – kurz, plötzlich konventionell, professionelles Gehabe, aber nachher war er wieder lieb und witzig wie sonst). Eine interessante Begegnung. Man darf nicht an M.s miserable Filme denken. Warum macht er solche Massenshow? Vielleicht würde ihm ein zartes Nichts besser gelingen. Ich war überrascht: ein sehr charmanter, gescheiter Mann mit dem gewissen skeptischen jüdischen Witz. Ich merkte dann, daß ich ihm gefiel. Er will mit mir nach Weimar fahren, zum Seebach-Stift, will mir die alten Schauspielerinnen zeigen […]. Der Leiter des Stifts kannte noch eine alte Dame, die im Goethischen Ensemble gespielt hat, und man darf, sagt M., doch um Gotteswillen nicht zugeben, daß man Frau X in ihrer Glanzrolle als Gretchen 1860 nicht gesehen hat. Er ist bezaubert von dieser Welt; vor diesem Fond soll seine Liebesgeschichte moderner junger Leute spielen. Na, ich weiß nicht – kein Thema für mich, ich liebe die Aggression.
(Hingerissen von Granins »Dem Gewitter entgegen«. Vergesse darüber meinen Kummer und bin verrückt vor Ehrgeiz, ein so aufregendes Buch zu schreiben.)
Hoy, 3. 3.
Jedenfalls ein interessanter Abend. Entdeckung: diese beiden (ich denke an Michels und K. Wolfs Zorn auf Maetzig) machten sich lustig, erbitterten sich über die Alten, die den Jungen im Weg stehen. Es war ein beklemmendes Schauspiel, ihre Belustigung und Mut war echt. Die »anderen« haben die Entwicklung in der Architektur, im Film aufgehalten. Aber was haben sie getan? Stalinallee und Schweigender Stern. Ich staunte mit offenem Mund. Wenn man dahinterschauen könnte, hinter die Kulissen dieses absurden Theaters …
Übrigens zerstreute H[enselmann] meine Bedenken wegen der Akademie. Ich hatte gefürchtet, ich habe mich doof benommen, fürchtete es vor allem wegen Stefan Hermlin, den ich bewundere. Dachte wochenlang über Hermlins Worte nach, ich hätte nur Lebensfragen, keine künstlerischen Fragen gestellt. Aber muß ich nicht erst lernen, zu leben? H. sprach mit Hermlin. Der sagte, der Nachmittag habe ihm sehr gut gefallen, an mir »sei was dran«. Er erklärte auch das mit den künstlerischen Fragen. Ich kann jetzt nicht darüber schreiben (es steht sehr schön in H.s Brief) […].
Hoy, 4. 3.
Gestern kam Ralph Wiener, er hatte hier einen Vortrag. Stahl mir einen Nachmittag […] zeigte mir Fotos von Striptease-Shows aus Wien. Ekelhaft. Ein dressierter Elefant zieht ein junges Mädchen aus, er hat einen Blick wie die Männer im Lokal.
[…] Der liebe Herr Wiener, Fischer und Schneider bevölkerten mein Zimmer. […] Blödes Geschwätz über Kafka, den sie nicht gelesen, Cremer, von dem sie keine Plastik gesehen, und Havemann (der neue Popanz der Partei), von dem sie nichts gehört haben. Provinzintrigen, Ärger mit den Schwulen, Vertragsgeschichten, die ich kriminell finde (aber nehmen, nehmen!) – ein Panoptikum, und nicht mal ein amüsantes. Schneider hat wenigstens von Zeit zu Zeit noch so etwas wie guten Willen, aber er kann halt nichts und produziert auf Teufel-komm-raus: innerhalb von anderthalb Jahren einen Landwirtschaftsroman, zwei Theaterstücke, einen Erzählungsband, und nun hat er schon wieder einen halben Kriminalroman. Schrecklich. Der Umgang mit Unbegabten treibt mich zur Verzweiflung, ich leide physisch und habe Mordgedanken. Sie sind so tödlich provinziell.
[…] Das Zimmer kam mir verpestet vor […], ich haßte alle Männer, und nachts, als Jon kam, fiel ich über ihn her, zerbiß seine Schultern, kratzte und ohrfeigte ihn, und er konnte nicht mit mir schlafen, weil er sich fürchtete, und auf einmal mußte ich ein bißchen weinen und hatte ihn sehr lieb.
Am Dienstag also, in Berlin, holte mich Daniel im Hotel »Newa« ab. Wir trafen noch Schreyer mit seiner blonden Freundin, schwatzten eine Weile – in wilder Unruhe, weil wir wußten, weshalb Daniel gekommen war – und gingen dann zur »Möwe«, wo eine DSV-Tagung war. […]
Wir sprachen über unsere Scheidung. Das kann man so trocken und sachlich hinschreiben … Wir haben scheußlich gelitten. Wir lieben uns ja, trotz allem und allem. Daniel kann den Klatsch nicht mehr ertragen und das abfällige Gerede über sich […]. Im Herbst kommt er heim, dann werden wir die Scheidung einreichen.
Ich war so traurig, ich will den Jon ja nicht heiraten, und auf einmal hatte ich die quälende Vorstellung von einer einsamen, bitteren alten Frau. Kein Kind zu versorgen, keinen Mann, für den man schafft. Nur für mich … Alte Träume vom Junggesellendasein und Ungebundenheit erfüllen sich und verlieren schon ihren Reiz. Aber das ist nun wieder meine Sache, damit fertig zu werden. Wir saßen Hand in Hand, ich weinte ein bißchen, nachher versuchte ich zu lachen und sagte, wir werden später, wenn ich alt und abgeklärt bin, uns wieder zusammentun. Wir umarmten uns zum Abschied.
Während der Sitzung sprach ich kein Wort, fühlte mich, als übte ich schon für die Rolle der strengen einsamen Frau. Auf der Heimfahrt war ich stumm und feindselig gegen Jon – als genügte es nicht, daß schon die ganze Umwelt ihm allein die Schuld an unserem Ehe-Unglück zuschiebt. Am nächsten Tag blieb ich im Bett, schloß mich ein, stellte die Klingel ab, ich wollte nichts hören und sehen […].
Donnerstag Kulturkonferenz in Cottbus. Das übliche. Hinterher mit Dieter in Siegers Atelier, endlich wieder laute und leidenschaftliche Streitereien, diese glückliche Atmosphäre: Verständnis, schöpferische Leute, ringsum Bilder, ein schöner Akt, die Ungezwungenheit, die man nur bei Malern findet (die meisten Schriftsteller sind so seriös und haben Besitzer-Komplexe) – ich atmete auf. Dieter fuhr mich nach Hause […]. Ich hatte früher immer gedacht, er käme eigentlich nur den Daniel besuchen […]. Aber nun ist Daniel seit mehr als zwei Monaten weg, und pünktlich jeden Mittwoch kommt Dieter – also auch zu mir, und er wird mir immer sympathischer. Bei ihm habe ich nie das Gefühl, gegen eine Wand zu sprechen – nicht mit einem einzigen Wort. Er ist aufrichtig, ohne verletzend zu werden, und in einer schwer zu präzisierenden Weise treu, auch als Genosse, meine ich. Er quatscht nicht, bei ihm ist ja ja und nein nein – und von wievielen Menschen kann man das schon sagen? […]
Freitag Kulturkonferenz in Pumpe. Ich saß halt meine Zeit ab – übrigens schon mit Fieber und dergleichen. Kontroverse zwischen Dieter und unseren Funktionären, für die mir kein Schimpfwort einfällt, das stark genug wäre. Er kritisierte einige von ihnen, und sie revanchierten sich mit dem Vorwurf, er leugne die Kraft und Weisheit der Partei (denn natürlich sind sie die Partei), leugne also auch die friedliche Koexistenz und den Weltfrieden. Es war zum Speien.
[…]
Hoy, 12. 3.
Morgens ist es sehr kalt, mit Reif auf dem Rasen; tagsüber Sonnenschein und Frühlingswärme.
Dienstag, am 10., kamen Blumen von Daniel, ein Briefchen mit Grüßen »… von Ufer zu Ufer von D., Deinem Freund«. Abends hatten wir telefoniert, ich war wieder sehr traurig. Ich rief nur an, weil ich mich so allein fühlte und auch körperlich elend. Ich übergebe mich jeden Tag, manchmal liege ich eine Stunde auf der Couch herum. Ich arbeite halt, vielleicht kommt es daher, rege mich auf beim Schreiben (Franziskas erste Liebe und das weiße keuchende Tier im Gartenweg – mir fiel ein, wie es damals gewesen war, als ich mit J. dort entlang ging, und wir sahen es, fürchterlicher Augenblick, wir waren noch ganz unschuldig).
Nachmittags kam Erwin Strittmatter mit Eva, ich freute mich sehr über ihren Besuch. Str. hat uns zweimal gerettet (und wie ich von anderen hörte, nicht nur uns). Wir haben auch, trotz unterschiedlichster Schreibweise, dieselben Ansichten, Beweggründe: Bücher zu schreiben, wie wir selbst sie gerne lesen, nicht für die happy few, sondern für einen großen Kreis. Sie ermutigten mich, auch durch ihre einhellige Ablehnung der Bieler und Mickel. Es ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern […]
Sie sagten, ich müsse nun bald raus aus meiner Provinz (das trifft mein Gefühl), auf die Dauer kann man sich nicht der Enge erwehren, gewisser starrer Ansichten, dogmatischer Funktionäre, man wird unsicher, kann sich schließlich außerhalb des begrenzten Kreises nicht mehr bewegen und läßt sich beeindrucken von den Genies, die Verständlichkeit als primitiv abtun. Mal wieder die Welt von oben sehen …
Sie reden mir auch zu, ich solle nicht aufs Literaturinstitut gehen und mich mit Theorie vollstopfen lassen. Außerdem habe Max Walter Schulz egoistische Gründe: er hat, sagt Eva, einen Reimann-Komplex, er liebe mich und erzähle überall, daß ich die Lea in seinem Roman sei.
Hoy, 17. 3.
Neulich bei Langer, SED-Kreisleitung, bat um eine Wohnung. Ich haßte ihn für all sein Gott-Gehabe, seinen moralinsauren Triumph, weil wir uns scheiden lassen – und haßte mich, weil ich aus Berechnung schwieg, als er über Dieter herfiel, Dieter den Parteifreund, der gesagt hat, Cremer habe recht und die Partei unrecht. Die Partei ist unfehlbar. Die Ideologische Kommission ist tief bekümmert über Dieters Sündenfall […]. Dann tat L. sich gewichtig mit allerlei vertraulichem Material (nur gegen Unterschrift), er blätterte in seinen Akten so, daß wir […] nicht hineinsehen konnten; es handelte sich um Reden, die auf dem 5. Plenum gehalten wurden. Hier bot sich mir die Gelegenheit für einen ersten Nierenschlag, ich sagte lässig: »Ach so … Nun, ich war ja zum 5. Plenum eingeladen.« (Daß ich nicht hingefahren bin, sagte ich nicht). L. stutzte, ich setzte, immer freundlicher, hinzu: »Ich werde zu jedem Plenum eingeladen.« Seine Gottähnlichkeit ließ dann merklich nach.
Als wir uns verabschiedeten, […] wollte L. meinen Schein haben, und jetzt landete ich den zweiten Haken unter die Gürtellinie und sagte: »Nicht nötig. Ich habe einen Z-K-Ausweis.« Er ging seelisch zu Boden. Himmel, wie war mir wohl! Jon, der sonst diesen Ausweis-Mißbrauch nicht leiden mag, schrie vor Lachen.
Mittwoch werde ich mit Dieter beraten. Wir machen eine Tagung des Künstler-Aktivs. Gemeinsam mit Jon werden wir diese Holzköpfe an die Wand reden.
Arbeit an »Franziska«; unter scheußlichen Umständen: ich muß jeden Tag brechen, bin lächerlich hinfällig. Versuche das Rauchen einzuschränken.
Heute morgen lag eine dünne Schneeschicht, dabei ist die Sonne schon ganz heiß, und ich werde braun. Die letzten zwei Tage sonnten wir uns an Jons Fenster, er schlug mich in Decken ein – er nennt das »einen Davoswickel« machen.
Hoy, 21. 3.
Ein trauriger, vorwurfsvoller Brief von Mutti: Daniel hat Dich auf Händen getragen. Sie will Jon, diesen Ellenbogenmenschen, gar nicht erst sehen, sie hält ihn für brutal. Wie sollte sie auch ahnen können, wie er lieben gelernt hat, wie zart er ist, daß jetzt er mich »auf Händen trägt«, derselbe Jon, der jahrelang – vielleicht doch nur aus Eifersucht – Daniel scharf bekrittelt hat, weil der mich verwöhnte. Bei ihm, Jon, würde das anders sein … Und jetzt läuft der tagelang alle Läden ab, um einen Stoff für mich zu bekommen, […] deckt den Tisch mit Blumen und bunten Deckchen, wenn ich zum Essen komme, hält immer irgendeine Überraschung bereit – einen Salat, den ich mag, ein Mixgetränk – […] und erträgt meine Launen mit engelhafter Ausdauer. Und dabei gibt er niemals sich selbst auf, er hat nichts von seiner eigensinnigen, schwierigen Persönlichkeit eingebüßt. Es gibt Augenblicke, die mich überwältigen und wehrlos machen: wenn er plötzlich, bei Tisch oder unterwegs, mich entdeckt, küßt und sagt: »Guten Tag, Liebste.« Nach drei Jahre erzittern wir vor Verlangen, wenn wir uns einen Kuß geben, als sei es der erste.
Hoy, 27. 3. 64
Gestern am späten Abend – ich war schon im Bett – kam Daniel. (Nachmittags Künstler-Aktiv, geplatzt, weil niemand erschien; […] dann noch eine Stunde bei J. gesessen, der einen Malaria-Anfall hatte, gelbbraun aussah und abwechselnd fieberte und vor Kälte zitterte).
Eben war ich in D.s Zimmer, er saß ohne Licht und hörte Musik, er sagte: »Ich trauere um meine Ehe« – mit kläglicher Ironie, und jetzt ist mir doch zum Weinen, nachdem es den ganzen Tag ohne Tränen abgegangen war. Ach, all die schlauen Ablenkungsmanöver der letzten Wochen … Gestern sprachen wir bis zum frühen Morgen über unsere Angelegenheiten. […] Ich ertappte mich dabei, daß ich meinen ganzen Charme aufbot, ihn zu bezaubern versuchte – wozu? Warum? Einmal ergriff er meine Hand und küßte sie und sagte: »Du bist eine reizende Frau.« Alles ist ein bißchen wie zu Beginn einer Liebe – und ganz anders, weil sie das Ende schon einschließt. Wir sind so liebenswürdig und rücksichtsvoll, aus dem Mittagessen haben wir heute ein festliches Dinner gemacht – wie oft haben wir sonst, zwischen Arbeit und Arbeit, das Essen hastig an der Küchenbar runtergeschlungen.
Arbeiten konnte ich nicht, obwohl ich mich mühte. […]
Hoy, 29. 3.
Heute ist Ostersonntag. Unmöglich zu arbeiten, ich bin wie gelähmt, liege die ganze Zeit herum und verschlinge Bücher. Reizende Ostern: mit Regen, grauem Himmel, Traurigkeit. Und bei jeder Handreichung, im Gespräch, bei Tisch derselbe Gedanke: das ist nun das letztemal, daß er als mein Mann in dieser Wohnung sich bewegt. Er wird noch einmal kommen, wenn ich eine Wohnung für ihn gefunden habe, und dann ist er nur noch Gast. Manchmal bereue ich meine Verfehlungen, meine Unduldsamkeit und wünsche, wir könnten wieder von vorn anfangen – dann freue ich mich auf wiedergewonnene Freiheit und Unabhängigkeit – bald wünsche ich den Daniel weit weg, bald in meine nächste Nähe.
Gestern war ich eine halbe Stunde bei Jon; er war mürrisch, schweigsam, von Eifersucht geplagt und immer noch gelbbraun von Malaria. Ich betrachtete ihn wie ein zweiflerischer Pferdehändler: Lohnt sich der Tausch? Was gebe ich auf, was bekomme ich dafür? […] Auf seinem Schreibtisch stand, eingerahmt, die Karikatur von mir, die neulich im »Eulenspiegel« war […]
Eben kam Daniel zu mir, er hat mein Manuskript gelesen und sagte: »Phantastisch.« Er war ganz aufgeregt, bezaubert von Franziskas Pubertätsgeschichte, fand auch alles ein wenig unheimlich, beinahe morbid – genehmigt aber unter der Voraussetzung, daß mein Mädchen in eine andere, gesündere Welt kommt, und das wird sie ja wohl auch. Keine Glätten mehr – er rühmte die Sprache, und das will was heißen, und jetzt bin ich stolz und sehr ermutigt. Es war wieder wie früher (und gewiß ist es das, was uns auch in Zukunft bleiben wird): hitziges Gespräch unter Kollegen. Verständnis und das Gefühl, mitteilen zu können. […]
Vergaß, glaube ich, von den Amerikanern zu berichten, die neulich bei mir waren: Journalisten von der »New York Herald Tribune«. Einer sah aus wie Gershwin. Sie stellten ulkige Fragen, wollten auch etwas über die Einmischung der Partei in unsere Literaturgespräche hören, und ich mußte, guter Patriot, einiges verteidigen, was mir gegen den Strich geht. Begriff, warum wir über manche Dinge nur unter Freunden sprechen. Vor Fremden sind sie zu blamabel.
Vorige Woche Kongreß im Verband Bildender Künstler. Cremer trat auf. Man erzählt, die jungen Leute, seine Parteigänger, hätten in den Wandelgängen gemobt. Das ND brachte idiotische Berichte. An einer Stelle – Cremer sagte, alles sei schön, was dem Reichtum des Menschengeistes entspringe – setzte der Bericht in Klammern hinzu: »Auch die Atombombe?« Ein Klein-Moritz-Argument. Auch die Schriftsteller weichen bedenklich vom Bitterfelder Weg ab. Information aus dem Politbüro: Sie weigern sich, Huldigungsartikel zur Bitterfelder Konferenz zu schreiben. Anweisung an die Redakteure, sie wenigstens zu Interviews zu bewegen.
Wurde aufgefordert, ein »Bekenntnis zum soz. Real.« zu schreiben. Weigere mich. Habe bis heute nicht begriffen, was das ist. […] Interessanter Artikel von Fühmann, aggressiv, aufrichtig, sehr klug, traf genau mein Gefühl. Die Interpretation durch die Westsender war allzu leichtfertig, sie schaden uns nur, wenn sie zu unterstützen scheinen, vielleicht absichtlich, vielleicht aus Unkenntnis der Dinge. Sie sind in letzter Zeit bemerkenswert schlecht informiert […].
Hoy, 3. 4.
Eigentlich wollte der Daniel gestern schon wieder im Heim sein, aber ich habe ihn beschwätzt (und es war nicht schwer), und er bleibt noch einen Tag. […] Wir sind beide ganz verzweifelt. Ich bereue tausendmal – nicht all die Stunden mit Jon, aber den Beginn, diese Schwäche, nicht rechtzeitig geflohen zu sein (und Flucht wäre hier Mut gewesen). Jetzt ist es zu spät. Wie soll ich ihm heute abend begegnen? Ich habe ihn während dieser paar Tage hundertmal verraten.
Vorgestern haben wir eine große Autofahrt gemacht – eine dieser Fahrten, die wir uns während unserer Ehe zehnmal vorgenommen hatten, um im letzten Moment zu verzichten, wegen der Arbeit, wegen einer Laune (von mir), wegen meines Geliebten … Wir fuhren nach Dresden – übrigens bei miserablem Wetter, es war kalt und regnerisch –, aßen am Altmarkt und gondelten dann quer durch die Lausitz, über bergige Straßen, durch Wälder – die Tannen haben schon einen gelblichgrünen Schimmer – und durch die kleinen alten Städte mit ihren romantischen Marktplätzen, mit Brunnenfiguren, Backsteinkirchen und schiefen Häuschen. Zuerst denkt man, sie sehen sich alle zum Verwechseln ähnlich, aber auf den Märkten entdeckt man ihr Gesicht, ihre Farbe und Vielfalt. Am Hutberg fuhren wir durch die nassen tiefhängenden Wolken wie in einem Mittelgebirge. Auf den Dorfteichen war noch Eis. Daniel sagte, man könne mit niemandem so gut spazierenfahren wie mit mir – und es war auch wie früher, sogar das Zigarettenanzünden.
Im Café »Wochenpost« in Neustadt tranken wir Kaffee – auch so ein Unternehmen, zu dem mich Daniel nie hatte überreden können. Ich war von einer Sanftheit und Seriosität, die sich nur durch den drohenden Verlust erklären läßt. Auf einmal erschien mir wieder alles das lebenswichtig, was mich sonst ungeduldig gemacht hat, vor dem ich ausgerückt bin in das unruhige Leben mit Jon. Und jetzt – aber wahrlich nur jetzt – möchte ich mit Daniel ausrücken in irgendeine andere Stadt. Dort kann ich dann nach Jon heulen … […]
Wir haben nicht gearbeitet, nur viel gelesen, sensationelle Dinge gekocht […]. Meyer war da, der Dichter (der vom Kongreß berichtete: zu Anfang aggressive Stimmung, dann wurden die jungen Rebellen müde geredet) […] dies alles stundenlang, Streit und Probleme [?], während wir auf Kohlen saßen, nach Friede und Alleinsein verlangten und ich fast zerplatzte vor Nervosität und Herzschmerzen.
Es sind nicht nur die fünf Jahre. Es ist meine bessere Seele, die sich in Daniel wiederfindet. Das habe ich verspielt.
Ein Brief von Henselmann, lieb wie immer. »Wenn Du Kummer hast, komm in meine Arme.« Ich muß ihn unbedingt wiedersehen. Gestern abend rief Maetzig an, er will partout einen Film machen. Nächste Woche kommt er zu mir.
Gestern früh tauchte plötzlich mein alter Lewerenz auf, schnüffelte in meinem Manus und war entzückt. »Eine Mischung zwischen Colette und Rubens.« Nachher war er ein bißchen betrunken und auf mecklenburgische Art vergnügt.
Hoy, 6. 4.
Als Daniel wegfuhr, weinte ich. Wir klammerten uns aneinander. Wozu das alles, wozu, um Gotteswillen?
Ich sah noch durch die Tür, wie unten der Wagen wendete und die Straße hinabfuhr, und in der nächsten Minute setzte ich mich an den Schreibtisch. Manche Leute reisen, um etwas zu vergessen, und wahrscheinlich ist das Schreiben auch so eine Art Reise in eine fremde und zugleich vertraute – selbstgeschaffene – Welt. Ich schrieb anderthalb Zeilen bis zum Abend, und das ist für mich eine ganz hübsche Leistung.
Die ersten Tage war ich scheußlich zu Jon. […] Zudem war ich krank, hatte eine Kiefervereiterung und litt wilde Schmerzen. Gestern wurde der Kiefer aufgeschnitten, ich wurde beinahe ohnmächtig – eine barbarische Prozedur. Ich fuhr zu Jon rüber, der mich wie eine Mutter pflegte, kalte Umschläge auflegte und ein bißchen zauberte: ich war halbverrückt vor Schmerz, und er hielt meinen Kopf auf seinem Knie und streichelte mir Nacken und Rücken, sanft und unermüdlich, und ich schlief ein. Vielleicht eine Sorte von Hypnose.
Heute wagte er mich zum erstenmal wieder zu küssen.
Hoy, 13. 4.
Am 7. war Sitzung der Jugendkommission, aber ich konnte wegen meines Kiefers nicht fahren. Abends lief ich eine Stunde in der Stadt herum und kam völlig erfroren nach Hause – und fünf Minuten später kam der Daniel, der im ZK von meiner Krankheit erfahren hatte. Er brachte mir einen Korb Apfelsinen. […] Er war »aus Freundschaft« gekommen. Ach, unsere traurige Art von Freundschaft …
Und doch war ich glücklich, ihn zu sehen. Er ist wie Heimat, wie ein ruhiger Wald, in den man flieht, manchmal muß ich an das Bild denken, das bei den Großeltern hing: ganz lichte Bäume, die sich auf eine weite glänzende Wiese öffnen; ich habe es als kleines Kind so oft gesehen, daß ich später dachte, ich sei in dieser Landschaft wirklich spazierengegangen.
Mit Jon habe ich noch nicht wieder geschlafen seit damals, vor Ostern. Mein gebrechlicher Leib hat sich in eine neue Krankheit geflüchtet – vermutlich eine Abwehrmaßnahme gegen seelische Belastung. […] Gestern weinte ich eine Stunde lang, während Jon ratlos neben mir saß. Abscheulich. Ich muß mich endlich wieder zusammennehmen, beherrschen, endlich wieder arbeiten. Tausend Briefe, Termine, Konferenzen – und die angefangene Szene liegt herum, und ich hatte doch gerade soviel Spaß daran: Franziska und Django rennen durch die Straßen, sie sind wahnsinnig vor Ehrgeiz, sie nehmen eine strahlende Zukunft vorweg. Ich sah mich wieder mit Saalfeld durch die nächtlichen Straßen jagen, wir waren völlig verrückt. S. ist wirklich Kernphysiker geworden; ich hörte, daß seine Frau ein Kind ohne Augen geboren hat. (Er arbeitet in einer Forschungsstätte in Westdeutschland, und das Ganze klingt wie eine Moralstory, wenn man es aufschreibt).
Donnerstag und Freitag in Berlin zur Vorstandssitzung. […] Das beste an der ganzen Sitzung waren – wie immer – ein paar Gespräche in den Pausen: mit den Strittmatters, mit Noll, mit Christa Wolf. Oh, nichts Bedeutsames, man redet eben so ein bißchen, klatscht, man macht sich über irgendjemanden lustig. Wer spricht schon über seine Arbeit? Und wozu auch? […]
Hoy, 15. 4.
Ein paar Tage gelegen, Schmerzen; heute früh Besuch von Journalisten (Wochenpost), Brettschneider und Labahn, der früher beim FORUM war. Sie wollen eine Architektur-Untersuchung machen. Gott mit ihnen! Und immer wieder die Politik, und Cremer, und tausend Dinge, die in der Öffentlichkeit nicht ausgesprochen werden. (Gestern erzählte Dieter, daß bei den Malern nun auch das Schweigen eingezogen ist). L. entschlüpfte die Bemerkung, Dr. Wessels Artikel über Havemann erinnere an den »Stürmer«.
Wir werden noch immer miserabel informiert. FORUM tut Havemann als einen »dummen Lügner« ab; der Westfunk bringt seine Vorlesungen, die viele kluge, neue Gedanken enthalten; die SU soll ihm einen Forschungsauftrag angeboten haben. Die Radiogespräche zwischen Kant–Schulz und Richter–Grass kann man auch nur [im] Westsender hören; Cremers Rede wurde in Auszügen vorgelesen. Die Schriftsteller beklagten sich über mangelnde Information, darauf Gotsche: »Es steht doch alles im ND.« Hier protestierte sogar Koch.
Jakob Weber, der noch irgendwo in den zwanziger Jahren lebt, sprach von seiner Erschütterung über den Fall Cremer und fragt, wo denn die Arbeiterschriftsteller (!) seien, die ihn zurechtweisen könnten. Er stellte C. auf eine Stufe mit Harich und Heym. (Bewegung unter den Jungen, kein lauter Widerspruch.) Max Walter wenigstens sprach ein paar Worte über die alten Künstler, die zwanzig Jahre lang geschwiegen haben und jetzt »ihre Seele retten wollen«. Kant verteidigte sich gescheit und amüsant gegen Angriffe der »Welt«, die ihn (sie zitierten dafür Kantorowicz’ Tagebuch) als Spitzel bezeichnet hatten. Nicht einmal zu den ärgerlichen Stipendien-Angelegenheiten wurde gesprochen. Jährlich werden 900 000 DM für Verträge, Unterstützungen etc. ausgeworfen. Es gibt keinen Gegenwert, der diese Summe rechtfertigte. Auf uns, die wir wirklich arbeiten und Bücher rausbringen, ist kein Pfennig dieser horrenden Summe gefallen.
Unsere »Großen« (oder solche, die selbst sich dazu zählen) machen keine Ausnahme: Tschesno-Hell hat 10 000 DM für die »Entwicklung eines Dramas« bekommen. Was sein Liebknecht-Film, dieser miserable Monstre-Schinken, ihm schon eingebracht hat, wurde verschwiegen. […]
Aber wen wundert dieses beharrliche Schweigen? Wer im Vorstand etwas sagen will, muß aufstehen, an ein rotüberzogenes Katheder treten und ins Mikrofon sprechen, während draußen ein Tonband läuft und jedes Wort festhält. Das ist ein wichtigster unter vielen Gründen, und ich habe Koch und Lewin solange zugesetzt, sie würden nie ein offenes Gespräch, gar einen Streit unter den Schriftstellern zustandebringen, solange dieses verdammte Tonband mithört, bis sie wenigstens bereit waren, es sich zu überlegen und eine andere Form der »Aussprache« zu suchen.
Zum erstenmal seit Jahren sprach ich auch ein bißchen mit Max Walter, dem »Joe« von Sakrow. Er hat sich nicht verändert, dachte ich – und dabei ist er füllig geworden und womöglich nicht gelassener, noch sicherer als damals. Aber diese braunen Augen, die einem hinter die Stirn zu blicken scheinen, diese dreieckigen Brauen … Wir sahen uns die ganze Zeit fest in die Augen, ich fühlte, daß ich über und über errötete, seine Hände waren in Bewegung – ich bin sicher, daß wir an dasselbe dachten, während wir über das Literatur-Institut redeten, redeten … Daß ich ihn mir verscherzt, verspielt habe – ich Dummkopf, unreifes Gör, das ich damals war! Ich dachte auf einmal, daß ich imstande wäre, ihn wieder zu lieben, ihn mir zu nehmen – sofort, ohne Bedenken. Ich gestehe eine heftige innere Bewegung. Nachts träumte ich von ihm.
Hoy, 18. 4.
Was waren das gestern wieder für unpassende Geständnisse! An zwei unglücklichen Lieben habe ich doch gerade genug.
Noch ein Gespräch mit Gotsche, den ich um eine Aufenthaltsgenehmigung für Lutz bat. Wenig Aussichten, man darf keinen »Präzedenzfall« schaffen. G. nannte den »Bienkopp« parteischädlich. Wie liest er bloß Bücher? Er bewies es mir auch des langen und breiten und fing bei der Bodenreform an. Er bewies auch, daß die meisten Republikflüchtigen kriminelle Elemente gewesen seien. Guter Gott! Wir haben eben nie was falsch gemacht. Und zwischendurch legte er mir die Hand aufs Knie, auf die Schulter, immer mit väterlichem Gesicht. […] Was bleibt mir übrig, als meinerseits ein töchterliches Gesicht zu machen? Ich mag ihn sonst ganz gut leiden, weil er aufrichtig ist, wie mir scheint. Man kann auch mit ihm streiten, ohne daß er den Staatsrats-Sekretär hervorkehrt.
Ich fuhr dann mit Lewin zum Kunsthandel, entdeckte einen wunderschönen Barockschrank und kaufte besinnungslos und bezahlte mit einem nicht gedeckten Scheck. Es gab auch noch einen Barock-Schreibtisch, und eigentlich hinderte mich nur Willis entsetztes Hausvater-Gesicht ihn auch gleich zu kaufen (das besorgte ich einen Tag später telefonisch). Nun habe ich also mein »eisernes« Konto geschröpft. Nun, egal. Ich habe eh für niemand mehr zu sorgen.
Am Sonnabend kam dann Prof. Maetzig, sehr früh, sehr gut gelaunt, sehr entschlossen, mich für einen Film zu gewinnen. Dies und das, Havemann und Akademie, endlich seine Idee: »Ein Jüngling liebt ein Mädchen …« und das ganze Heine-Gedicht, das ja wirklich eine komplexe Romanfabel birgt, spielte er mit Streichholz-Schauspielern vor. Er bot seinen ganzen Charme auf; ich war behutsam, gewisse kleine Anzeichen deuten auf wilden Egoismus. Er bat mich (wie vor ihm schon Schreyer) den letzten Film »Preludio 11«, nicht anzusehen, er findet selbst – ich mußte mich gar nicht erst überwinden, ehrlich zu sein, was manchmal gleichbedeutend mit brutal ist –, daß seine letzten Filme schlecht sind, daß er in einer künstlerischen Krise steckt (meine Zweifel: wirklich nur eine Krise? […])
Mittags fuhren wir nach Bautzen zum Essen. Unterwegs stiegen wir aus und gingen im Wald spazieren, dann am Knappensee entlang. Es war der erste warme Frühlingstag (inzwischen ist es sommerlich heiß geworden), die Luft war weich und die Landschaft wehte und duftete wie ein Gedicht von Mörike. Er nahm meine Hand. In Bautzen sollte ich mir Blumen aussuchen und nahm eine Christrose, sie blüht noch. Der Ober im »Ratskeller« brachte sich bald um.
Und dann fuhren wir nach meinem Kommando – alles einfach ins Blaue hinein, denn ich kannte die Wege genau so wenig. Wir waren die ganze Zeit sehr vergnügt, und er machte mir nach Kräften den Hof. Ein paarmal liefen wir im Wald herum, an irgendwelchen Kiesgruben, und scheuchten Hasen auf, und die Sonne schien. In irgendeinem dieser kleinen sächsischen Städtchen, mit ihren altmodischen Märkten tranken wir Kaffee, und dann fuhren wir weiter. Irgendwann gab es mal Regenschauer. Einmal, als wir uns über den Autoatlas beugten, faßte er mir ins Haar und drehte meinen Kopf ein wenig zu sich. Ich bin ja sonst ziemlich blöd, aber ich merkte doch, daß es ihn die ganze Zeit nach einer schicklichen Gelegenheit verlangte, mich zu küssen. Ich finde das immer wahnsinnig peinlich, wenn ältere Männer sich bemühen – ich bin nicht gekränkt, sondern fürchte sie zu kränken, mit einem Lächeln oder einem Blick auf ihre welkenden Hände. […]
Er war ganz närrisch vor Freude, als ich vorsichtig äußerte, man könne ja seiner Film-Idee mal näher treten (meine guten Vorsätze! Mein liebes schönes Buch!), er sagte, er habe das Gefühl, wir könnten zusammen einen bezaubernden Film machen. Na … Übrigens habe ich mich wirklich noch nicht entschlossen. […] Er dankte mir tausendmal für den schönen Tag – und er war wirklich schön, friedlich und erholsam, und es ist dumm, wenn mir jetzt lauter bespottenswerte Dinge einfallen.
[…]
Hoy, 30. 4.
Am 24. und 25. II. Bitterfelder Konferenz. Die Bezirksdelegation fuhr schon Donnerstag; mich nahm Frau Apel in ihrem Dienstwagen mit. Sie ist unsere neue Ratsvorsitzende, eine kluge, empfindsame Frau, Musikwissenschaftlerin (sie promoviert – und das neben ihrer aufreibenden Funktion) – und eine richtige Frau, mit Eitelkeit und Koketterie und allen erlaubten Mitteln. Ich mag sie sehr, die Kulturarbeit im Bezirk hat sich schon merklich verbessert.
Wir schliefen in einem Lehrlingswohnheim, wo uns morgens um 6 schmetternde Musik aus einem unerbittlichen Lautsprecher weckte. Scheußliches Wetter, eine scheußliche Gegend, grau und schmutzig, die Luft stank wie Kloake. Auf der Konferenz war alles vertreten, was gut und teuer ist. Hauptreferate von Bentzien und Ulbricht. Ein paar kluge und witzige Reden: Neutsch, Sakowski, Strittmatter, Wolf – die Schriftsteller waren wieder groß im Rennen. […] Kuba war ärgerlich wie immer, der ewige Linksradikale, der – immer mal wieder – vorm Sumpf des Revisionismus warnte. Ein paar Leute wurden runtergeklatscht. Alles in allem – eine gute Sitzung, und was da von der Bühne kam, war diesmal so interessant wie die Wandelganggespräche, und das will schon was heißen.
Ich war meist mit Lewin und Caspar zusammen, ein paarmal mit Nachbar, der erstaunlich liebenswürdig und heiter war – und natürlich der schönste Mann im Saal. Übrigens interessierte sich jedermann zu heftig für unsere Scheidung, ich antwortete mit Schnoddrigkeiten und kam mir vor, als spuckte ich mir selbst ins Gesicht. Aber soll ich denen was vorheulen? Das mache ich mit mir selbst ab […]. Die mich kennen und deshalb zu kennen glauben, denken, ich rettete mich mal wieder mit heiler Haut aus einer bösen Geschichte […].
Abends wurden wir in eine Kulturveranstaltung getrieben und sahen ein plattes Laienspiel, »Wolfener Geschichte«.
Auf dem Rückweg fuhr K[…] mit, Chef der Ideologischen Kommission, ein ziemlich hübscher, ziemlich junger Mann. Er ist sehr munter, riß immerzu Witze, zuweilen sogar gute, ich saß neben ihm im Fond, und er war sehr angeregt. Ach ja, privat sind sie reizend … Nie möchte ich ihn auf einer Sitzung erleben. Was bleibt da wohl von Charme und Toleranz? Sie wollen die Maler zwingen, eine Entschließung gegen den »Parteifeind« Cremer zu unterschreiben. Dieter tobt. Noch weigern sich die Maler, aber wahrscheinlich werden sie doch mürbe diskutiert.
Jon wartete im Klub auf mich, obgleich es schon auf Mitternacht ging. Ich umarmte ihn, fühlte mich zuhaus und angekommen. […]
Wir haben jeden Tag miteinander geschlafen, mittags, abends, wie es sich traf. Ich darf mir nicht vorstellen, wie er im Zimmer herumlief, in einer hautengen Niethose, mit nacktem Oberkörper … Und dennoch: als ich gestern allein in die Stadt fuhr, zu meiner Schneiderin, fühlte ich mich auf einmal schrecklich verlassen. Ich saß im Bus, ich kam mir so ausgeliefert vor, so allein. Jon erschrak, als ich es ihm sagte: er würde mich überall hin begleiten, ich brauchte nur ein Wort zu sagen. Ach, ich bin gar nicht so stark, wie andere glauben. Ich habe zuviel Angst, vor zuvielen Nichtigkeiten. Manchmal bin ich stolz auf das, was ich »selbständig« nenne: daß ich allein Sicherungen eindrehe, allein einkaufe, irgendetwas repariere – die tausend Dinge tue, die mir früher abgenommen wurden. Manchmal freut mich auch meine Freiheit, aber diese Freiheit hat einen bitteren Beigeschmack. Der Tag ist sehr lang ohne einen anderen Menschen nebenan […].
Hoy, 3. Mai 64
Das ist die erste Zeile, die ich an meinem neuen Schreibtisch schreibe. Gestern wurden mir die Möbel aus Berlin gebracht. Ich konnte mich nicht satt sehen, und auch Jon war entzückt – ich habe gefürchtet, er würde mich tadeln (nicht wegen meiner Verschwendung, – die versteht er) und mich für versnobt erklären. Aber er sah ja wohl, daß ich sie aus Freude an ihrer Schönheit gekauft hatte. Ich habe einen Tag Großreinemachen eingelegt und Möbel gerückt und war die ganze Zeit glücklich. Meine Schreibmaschinenarbeiten mache ich künftig in Daniels Zimmer – auf dieses köstliche Holz stellt man keine Maschine.
Am 1. Mai haben wir uns den Festumzug von Jons Fenster aus angesehen. Nachher fiel uns ein, daß es einfach eine Provokation war: das sündige Paar Aug in Aug mit der Parteiprominenz – denn die Tribüne befindet sich direkt gegenüber Jons Fenster, am Rande des scheußlichen Aufmarschplatzes. Von hoch oben, aus dem 7. Stock, sah der Umzug ganz heiter und feierlich und bunt aus: die Bergmannsuniformen, die FDJ-Hemden, Sport-Jerseys, Volkstrachten, die Schalmeien-Kapelle und Fanfarenzüge (die ich noch immer nicht hören mag) – […] und ich staunte, wie viele Leute schon in unserer Stadt wohnen. Von unten, zu ebener Erde, sieht die Welt sich freilich anders an: Dieter, der auf der Tribüne gestanden hatte, kam nachher zu uns rauf, um einen Kaffee zu trinken, und erzählte, mit wie mürrischen Mienen die Leute vorbeigelatscht seien. Und dann schwärmten die beiden Veteranen Jon und Dieter von den Maifeiern der ersten Nachkriegsjahre, und ich merkte wieder, was diese wenigen Jahre Altersunterschied zwischen uns bedeuten – eine halbe Welt, tausend Abenteuer und gewichtige Erlebnisse, die sie mir voraus haben.
Ach ja, und die Zirkusleute waren auch dabei, mit herrlichen Pferden, mit Kamelen und zwei komischen kleinen Elefanten, die sich drängelten, und nachher rasten die Kunstreiter in gestrecktem Galopp über den Platz, und wir sahen die Pferde ganz schwarz, mit den wirbelnden Hufen gegen den Himmel, und wir waren sehr aufgeregt.
[…]
An diesem Abend sprachen wir zum ersten Mal – vorsichtig – von unserer Zukunft. Nun beginnt wohl auch Jon zu glauben, daß es eine Dauer geben kann, und er scheint entschlossen, einiges in seinem Leben zu ändern. Er sagt, er habe drei Jahre lang sich wie auf einem Seil bewegt, in einer Beziehung, die von einem Tag auf den anderen Abbruch bereithielt.
[…] Am Morgen drückte er mir einen Beutel in die Hand: »Probier mal an.« Es war ein Bikini, den ich mir lange gewünscht und nie bekommen hatte. Er paßte wie angegossen, und ich erbebte bei dem Gedanken, wie sicher Jon meinen Körper kennt.
Hoy, 8. 5.
[…]
Nachmittags bin ich zu Jon gegangen. Wir haben uns so nacheinander gesehnt, er hatte eine Flasche Wein gekauft, das Zimmer glänzte, er zog mich aus, ganz langsam und unter Küssen, und dann waren wir so aufgeregt, daß wir nicht miteinander schlafen konnten, und wir lagen stundenlang zusammen und streichelten und küßten uns und wanderten in unentdeckte Länder (wann kennt man den Körper seines Geliebten?).
Als ich nach Hause kam (nicht spät – gegen 1/2 9), hörte ich, daß Daniel zwanzig Minuten vorher abgefahren war. Er hatte sich nur eine halbe Stunde aufgehalten. Ich zeigte den Schömanns eine gelassene Miene, aber im Inneren war ich ganz kaputt, – traurig, gekränkt, zornig, zornig auf mich und auf Daniel. Auf dem Tisch fand ich dann einen Zettel: er fühle sich einem Nervenzusammenbruch nahe, er müsse schnell fort, schlafen, sei von seiner Arbeit gehetzt. Er hatte auch notiert, was er an Wäsche, Handtüchern, Besteck mitgenommen habe – für sein Asyl bei Berlin.
Es war schon wie ein Auszug, und ich ahnte etwas von dem, was uns erwartet, wenn alles entschieden und abgeschlossen ist, irgendwann im Herbst. Vielleicht saß ich auch deshalb heute so taub und zweiflerisch vor meinem Manuskript – als habe alles seinen Sinn eingebüßt.
Hoy, 14. 5.
Halb verrückt vor Nervosität. Versuche mein Kapitel zu schaffen, das Caspar zu Pfingsten haben wollte, und ausgerechnet heute (der letzte Tag, den ich habe) klingelt andauernd das Telefon, kommen Leute, Eilbriefe, Bücherpakete […]. Gestern den ganzen Tag in Cottbus, zu einer höchst überflüssigen Beratung der Künstlerverbände. Die Maler waren nicht erschienen, und das war das Gescheiteste, was sie tun konnten. Es wurde leeres Stroh gedroschen. Daß wir die einzig richtige Kulturpolitik im soz. Lager machen, wußten wir schon vorher aus tausend Referaten. […] Das Beste war noch die Busfahrt mit Jon, wo wir dicht zusammengepreßt standen in diesem stickigen, überfüllten Bus, und uns berührten und fast vergingen vor Verlangen, und in Cottbus spielten wir an jeder Straßenecke zufälliges Wiedersehen und küßten uns. […]
Hoy, 21. 5.
Seit zwei Tagen zurück vom Deutschlandtreffen. Liege nur herum und lese Krimis, die ich mir bei Henselmann geholt habe (wir waren dort nur eine knappe Stunde; H. mußte auf die Zinnen seines Hauses. […] Übrigens stellte ich beim Betrachten des Lehrer-Hauses fest, daß H. eine organische Verbindung zwischen Hochhaus und Kuppelbau nicht geschafft hat – die beiden Körper stehen beziehungslos nebeneinander, jeder für sich reizvoll – wenn auch nicht wahnsinnig originell –, aber eben keine harmonische Einheit. Aber das kann man ihm wohl nicht sagen, er ist ohnehin einer Kritik kaum zugänglich, erst recht nicht schon jetzt während des Bauprozesses.)
Am Freitag kam Daniel. […] In dieser Woche hatte meine Beziehung zu Jon ein wenig gelitten […] Jon meinte, er müsse sich mal wieder ein bißchen aus dem Weg räumen, er sei sich selbst zuwider.
Freitag abend hatte ich tatsächlich mein Kapitel geschafft, […]. Ich war nicht mehr ganz von dieser Welt – nichts gegessen, kaum geschlafen, aber glücklich erleichtert. Auch Daniel machte den Eindruck eines Somnambulen. Er wohnt seit einer Woche in einem Campingwagen, unmittelbar neben Nolls Wochenendhaus. […]
Am Nachmittag war Seltsames und Aufregendes passiert. Ich stand vom Schreibtisch auf, und Daniel kam zu mir herüber und küßte mich, zuerst so brüderlich wie all die Monate vorher, und auf einmal fingen wir an zu zittern, und er gab mir einen Kuß wie früher. Wir waren dann sehr verlegen, und ich ging schnell an meine Arbeit.
[…]
Hoy, 22. 5.
Endlich wieder ein sonniger Tag. […] Dieter kommt jeden Tag, trinkt eine Tasse Kaffee, holt sich einen Krimi und ist kreuzunglücklich, soweit es sein Phlegma erlaubt, weil ihm seine Frau für eine Weile davongelaufen ist. Er kann eine leere Wohnung nicht ertragen und weiß zuhaus nichts mit sich anzufangen. So beklagen wir gemeinsam unser Junggesellendasein, obgleich es mir gefällt – ich bin schon soweit, daß mich ein anderer Mensch in der Wohnung stört.
Gestern war Frau Dr. Leder von der »Freien Welt« da (sie wollen eine große Reportage über Hoy machen) und der charmante Flierl, der wie Kaiser Titus aussieht und wunderschön lachen kann […]. Er fliegt nun doch aus der »Architektur« raus, obschon die Leute, deren inkrimierte Artikel er abgedruckt hat, wieder auf guten Posten gelandet sind. […] In Hoy wird sich nun doch – nach langem Hin und Her in der Bauakademie – allerhand verändern: wir bekommen wieder einen Aufbaustab und einen Chefarchitekten, und es gibt eine neue, vernünftige Konzeption für den weiteren Aufbau der Stadt. Ich grinste blöd vor Stolz: das alles habe ich mit meinem Artikel in Gang gesetzt.
Wie ich mir so den Flierl betrachtete, dachte ich wieder, wie albern und überflüssig es ist, einem Mann nachzuheulen, es gibt soviele liebenswerte Männer und brisante Gelegenheiten. Wenn ich in Berlin wohnte, würde ich mir den Flierl einfach angeln, wirklich […] (übrigens ist er auch Junggeselle und zehn Jahre älter als ich); er sieht aus wie einer, mit dem man viel Spaß haben und fremde Städte erobern und sich ganz beschützt fühlen kann; und – das hört sich freilich nicht schön an – ein verläßlicher Instinkt sagt mir, daß er die Anlage dazu hat, sich von einer Frau beherrschen zu lassen, bestimmt kann man ihm in aller Liebe auf der Nase herumtanzen.
Also, Daniel. Mit dem Naseherumtanzen ist es vorbei, er emanzipiert sich. Das ist alles noch schrecklich verkrampft. Sonderbar, er ist immer noch der einzige, den ich länger als ein paar Stunden in meiner Nähe ertragen kann […]. Nur dem Daniel verzeihe ich die Unfähigkeit, Geld zu machen, und ich gebe ihm gern. Ich werde immer geiziger, je mehr ich verdiene, eine komische Sorte von Geiz: ich schenke der D-Schwester ein Kleid für 400 Mark, aber ich bin sauer, wenn mir jemand eine Schachtel Zigaretten wegraucht. Vielleicht hängt das zusammen mit meinem Unvermögen zu rechnen, mit Geld gescheit umzugehen. Neulich machte Jon, ohne daß ich es merkte, ein Experiment mit mir: Wir wechselten Geld, und ich gab ihm zwanzig Mark zurück, weil ich außerstande war, mit abstrakten Zahlen zu manipulieren und nur die konkreten bunten Scheine sah – eben Scheine und nicht ihren Wert.
[…] Eine unterbewußte Existenzangst, da es in unserem Beruf keine Sicherheit gibt und wir ewig unter der Bedrohung durch Krankheit und Krise und geistiges Versagen leben.
Nun habe ich lange genug drumherum geredet. Ich habe mit Daniel geschlafen. Mit meinem eigenen Mann, lieber Himmel – und es kam mir wie Verführung und Ehebruch vor. An jenem Beichtabend brachte er mich zu Bett, auf einmal sagt er: Ich möchte mit dir schafen. Ich hatte es die ganze Zeit erwartet. […] Daniel sagte, ich sei so schön wie am ersten Tag, und ich führte ihm meinen Körper vor wie einem Liebhaber. Trotzdem war es kein Zurück, kein Versuch, Vergangenheit heraufzuholen und wieder zu beleben. »Mit Zärtlichkeit gekommen, mit Zärtlichkeit gegangen«, sagte Daniel.
2 Stunden später
Höppke vom ND ist da, eben waren wir essen, jetzt liest er im Manus, aus dem er einen Vorabdruck bringen will. […]
Hoy, 23. 5.
Gestern mußte ich mich dem H. widmen, der ziemlich lange blieb. Wir tranken auch ein paar Wodka, und ich kam in provozierend lauter Stimmung bei Jon an. Buerschaper war bei ihm. Ich lud sie zu mir ein, und eine Zeitlang waren wir sehr laut und aufgekratzt, aber dann war es nach Mitternacht, und als ich fast umfiel vor Müdigkeit (ich gehe sonst pünktlich um 10 Uhr ins Bett) fing der unselige B. mit meiner Hörspielbearbeitung an […]. Jon war wieder grämlich gewesen, er scheint krank zu sein, war heiß von Fieber; vielleicht fielen wir ihm auch auf die Nerven, weil wir die ganze Zeit enthusiasmiert Jazz hörten und mit der unerträglichen Ausdauer von Fanatikern die Vorzüge der einzelnen Jazzmen erläuterten: B. war für die Modernen, ich für die Oldtimer, aber schließlich fanden wir alles großartig und heulten bald, als wir den West End Blues von Armstrong hörten.
Hoy, 25. 5.
Krank, Fieber, irgendeine blöde Erkältung. […]
Noch schnell vom Deutschlandtreffen. Morgens auf der Tribüne, der Vorbeimarsch dauerte fünf Stunden. Eine Riesenshow, die ich etwas fatal und unzeitgemäß fand. Saß bei Nahke und Dr. Bittighöfer, der zuerst wacker sein Papierfähnchen schwenkte, sich dann aber genierte, weil N. und ich keinen Enthusiasmus aufbringen konnten. Fanfaren, Wälder von Fahnen, hurraschreiende Jugendliche – nun, ich bin zu nüchtern, mein Herz schlug nicht höher. Ein Sprecher begleitete jeden Auftritt mit unsäglichen Versen (vermutlich von Zimmering) und viele Hochrufe für unsere Partei mit Walter Ulbricht an der Spitze. […] B. […] ist ein gescheiter und wahrscheinlich auch guter Mensch. Er habilitiert jetzt mit einer Arbeit über Sexualethik (und ist eben geschieden). Er hat mich ins Operncafé eingeladen. Vielleicht gehe ich mit, er gefällt mir ganz gut, obgleich ich eine gewisse Biederkeit argwöhne (das Papierfähnchen!) Er war gleich bei der ersten Tagung der Jugendkommission so nett zu mir. Er geleitete mich dann […] ganz zärtlich zum Wagen, und natürlich war Daniel begeistert von ihm. Ein Mann zum Heiraten … Ich dachte an meinen schlampigen, unmöglichen Freund Jon – ich werde nie vernünftig.
Nachmittags Buchbasar in der Karl-Marx-Allee. Es war ungeheuerlich. Ich konnte keine Minute aufstehen, konnte nicht einmal einem Leser ins Gesicht sehen, mit keinem ein Wort wechseln. Ich schrieb die ganze Zeit Autogramme, halb erstickt von der Masse. Nach zwei Stunden hatte ich eine Blase am Daumen. Meinen Kollegen ging es nicht besser, und sicher kann man das als gutes Zeichen nehmen, obgleich es mir nicht der Sinn eines Basars zu sein scheint, daß die Autoren zerquetscht werden. Wahnsinniger Trubel in der Allee, Musik, ein Strom von schönen jungen Leuten, Blumenräder, eine Beatle-Gruppe (warum morgens diese scheußliche Marschmusik? Ich hätte eine Jazzband verpflichtet)
Abends, todmüde, mit Caspar im Presseclub. […] Er jammerte die ganze Zeit über unsere Scheidung und versuchte uns zum Ausharren zu bewegen. Schließlich zwang er den geduldigen Daniel, mit ihm zusammen eine Erklärung zu unterschreiben, daß »wir alle Brigitte lieben«. Übrigens geht ihm unsere Geschichte wirklich ans Herz, und er war sanft und rührend.
Bis drei Uhr nachts Diskussion an der Friedrichstraße. Das große Ost-West-Gespräch war ausgebrochen, und das war unbestreitbar das Beste am ganzen Deutschlandtreffen. Am nächsten Tag konnte man Unter den Linden kaum noch durchkommen, alles war verstopft von Gruppen debattierender Leute. Unser Partner, nachts, war ganz geschickt (offenbar vorher geschult); schließlich erledigte ihn aber ein Maurer mit der Frage nach seiner Arbeit. Er konnte weder darüber noch über den Beruf seines Vaters Auskunft geben. Oberfaul.
Der Gaismaier, den wir kennengelernt hatten (vom Münchner Fernsehen) war eine Errungenschaft, ein kluger, gebildeter Junge, der auch schreibt. Wir saßen nachmittags noch im Klub zusammen, nachdem das Gespräch über Nationalkultur ziemlich daneben gegangen war, weil sich die westdeutschen Gäste untereinander wegen Wirtschaftsfragen in die Haare geraten waren. (Übrigens waren sie beeindruckt von unserem liebenswürdigen jungen Minister Bentzien. Wagner quatschte. Zwischenrufe vom Rang: »Und was macht ihr mit den Negern?«) Ich saß mit im Präsidium und war stumm wie ein Fisch.
Dr. G. hat mir heute die »Ermordung des Marat« von Weiss und ein Heft der »Akzente« geschickt.
Morgen, wenn es mir besser geht, muß ich noch einiges über den Krach in der Ideologischen Kommission aufzeichnen, der wahrscheinlich nicht ohne Folgen bleiben wird.
Hoy, 30. 5.
[…]
Den ganzen Dienstag war Caspar da, um mit mir über das Buch zu sprechen. Ab Mittag saßen wir im Lokal, […] und wir gerieten uns wieder in die Haare. Er hat mir einen Vertrag angeboten – das, sagt er, sei das größte Kompliment, das er mir über mein Buch machen könne; ich lehnte aber ab. Ich war wütend, als ich sah, wie drei (!) Lektoren an dem Kapitel herumgearbeitet und Sätze eingebaut hatten, die gegen jedes Sprachgefühl verstießen. Andere Sätze waren so verstümmelt, daß sie Klang und Farbe verloren hatten; ich tobte. […]
Nachts kam Daniel und litt unter meiner Laune. Wir verstanden wieder, warum wir einander im Weg sind, und daß man mit mir nicht leben kann.
Mittwoch fuhren wir nach Burg. Gotsche hatte die Aufenthaltsgenehmigung für Lutz erteilt. Unterwegs waren wir wieder ganz zärtlich; ich bin doch am liebsten mit Daniel zusammen. Wir rasteten auf »unserem« Parkplatz, kurz vor Schönefeld. Immer dieses verfluchte »wie früher« …