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In vielen westlichen Ländern sind rechte, nationalistische Bewegungen auf dem Vormarsch. Wie ist es dazu gekommen? Arlie Russell Hochschild reiste ins Herz der amerikanischen Rechten, nach Louisiana, und suchte fünf Jahre lang das Gespräch mit ihren Landsleuten. Sie traf auf frustrierte Menschen, deren "Amerikanischer Traum" geplatzt ist; Menschen, die sich abgehängt fühlen, den Staat hassen und sich der rechtspopulistischen Tea-Party-Bewegung angeschlossen haben. Hochschild zeigt eine beunruhigende Entwicklung auf, die auch in Europa längst begonnen hat. Hochschilds Reportage ist nicht nur eine erhellende Deutung einer gespaltenen Gesellschaft, sondern auch ein bewegendes Stück Literatur. "Jeder, der das moderne Amerika verstehen möchte, sollte dieses faszinierende Buch lesen." Robert Reich "Ein kluges, respektvolles und fesselndes Buch." New York Times Book Review "Eine anrührende, warmherzige und souverän geschriebene, ungemein gut lesbare teilnehmende Beobachtung. … Wer ihr Buch liest, versteht die Wähler Trumps, weil sie auf Augenhöhe mit ihnen und nicht über sie spricht." FAZ
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Seitenzahl: 583
Arlie Russell Hochschild
FREMD IN IHREM LAND
Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
In vielen westlichen Ländern sind rechte, nationalistische Bewegungen auf dem Vormarsch. Wie ist es dazu gekommen? Arlie Russell Hochschild reiste ins Herz der amerikanischen Rechten, nach Louisiana, und suchte fünf Jahre lang das Gespräch mit ihren Landsleuten. Sie traf auf frustrierte Menschen, deren »Amerikanischer Traum« geplatzt ist; Menschen, die sich abgehängt fühlen, den Staat hassen und sich der rechtspopulistischen Tea-Party-Bewegung angeschlossen haben. Hochschild zeigt eine beunruhigende Entwicklung auf, die auch in Europa längst begonnen hat. Hochschilds Reportage ist nicht nur eine erhellende Deutung einer gespaltenen Gesellschaft, sondern auch ein bewegendes Stück Literatur.
Vita
Arlie Russell Hochschild ist eine der bedeutendsten Soziologinnen der Gegenwart und emeritierte Professorin der University of California, Berkeley. Strangers in Their Own Land stand auf der Shortlist für den National Book Award 2016.
Für Harold und Annette Areno
Und für Willie, Wilma, Marylee, Mike T., Clara und den General
Vorwort
Teil IDAS GROSSE PARADOX
Kapitel 1Reise ins Herz
EMPATHIEMAUERN
DAS GROSSE PARADOX
GESPRÄCHSPARTNER
SCHLÜSSELLOCHTHEMA
Kapitel 2»Immerhin etwas Gutes«
DER VOGEL
DAS FISCHSTERBEN UND DER SHOWDOWN
EIN ANDERER BEREICH, EINE ANDERE GENUGTUUNG
Kapitel 3Die Erinnerer
DIE SERVIETTEN-LANDKARTE
DIE ERINNERER
GEGEN DIE KLEINEN LEUTE
Kapitel 4Die Kandidaten
DER GENERAL, DAS PSYCHOLOGISCHE PROGRAMM UND »GENUG GEREDE ÜBER JOBS«
»DIE ÖLPEST MACHT UNS TRAURIG, DAS MORATORIUM MACHT UNS WÜTEND«
FREIHEIT – WOFÜR, WOVON, FÜR WEN?
SELBSTBEDIENUNGSREGULIERUNG
Kapitel 5Die »am wenigsten widerstandsbereite Persönlichkeit«
ROTE UND BLAUE UMWELTVERSCHMUTZUNG
DIE »AM WENIGSTEN WIDERSTANDSBEREITE PERSÖNLICHKEIT«
Teil IIDAS GESELLSCHAFTLICHE UMFELD
Kapitel 6Industrie: »Die Schnalle an Amerikas Energiegürtel«
KURZ VOR DEM BOOM
ZWEI WEGE ZUM WOHLSTAND: HUEY LONG GEGEN BOBBY JINDAL
BRAUCHEN WIR GUTE SCHULEN UND SCHÖNE PARKS?
SELTSAME VORKOMMNISSE
Kapitel 7Der Staat: Marktregulierung 1200 Meter unter der Erdoberfläche
URSACHEN UND SCHULDZUWEISUNGEN
DER MINIMALSTAAT
EINE ZWEI-BIER-DEICHARBEIT
GERÜCHTE, PANIK, SCHULDZUWEISUNGEN
MORALISCHE DRECKSARBEIT
Kapitel 8Kanzel und Presse: »Das Thema kommt nicht zur Sprache«
KIRCHE ALS GEFÜHLSWELT
DIE KIRCHE ALS MORALISCHE WELT
MEDIEN ALS ANGSTMACHER
GEHEIME NACHRICHTEN
Teil IIIDIE TIEFENGESCHICHTE UND DIE MENSCHEN DARIN
Kapitel 9Die Tiefengeschichte
SCHLANGE STEHEN
DIE VORDRÄNGLER
VERRAT
EINSCHUB
BUHRUFE
RÜCKMELDUNG VON MEINEN FREUNDEN
HINTER DER TIEFENGESCHICHTE: »RASSE«
HINTER DER TIEFENGESCHICHTE: GENDER
HINTER DER TIEFENGESCHICHTE: KLASSE, STAAT UND FREIE MARKTWIRTSCHAFT ALS STELLVERTRETENDE VERBÜNDETE
Kapitel 10Die Teamplayer: Loyalität über alles
EIFER, FLEISS, PARTEI
AUF LINIE
DAS GUMMIERTE PFERD
Kapitel 11Die Gläubigen: Stiller Verzicht
»ICH KAM AUS DEM NICHTS«
BELOHNUNG FÜR VERZICHT
Kapitel 12Die Cowboys: Stoizismus
DIE I-10-BRÜCKE
Kapitel 13Die Rebellen: Loyale Teamplayer für ein neues Anliegen
DIE KATASTROPHE VOR DEM EINSTURZKRATER
Teil IVDIE NATIONALE EBENE
Kapitel 14Die Feuer der Geschichte: Die 1860er und die 1960er Jahre
DIE 1860ER JAHRE
EIN ANDERES KOSTÜM
NACHHALL DER 1960ER UND 1970ER JAHRE
RINGEN UM EHRE UND ANERKENNUNG
DAS ANERKENNUNGSDILEMMA
SYRISCHE FLÜCHTLINGE
Kapitel 15Nicht länger fremd: Die Macht der Verheißung
Kapitel 16»Es heißt, da gibt es herrliche Bäume.«
ABSCHIEDE
ANHANG
Nachwort zur deutschen Ausgabe
Danksagung
Anhang AZur Forschungsmethode
Anhang BPolitik und Umweltverschmutzung: Erkenntnisse aus der landesweiten ToxMap
Anhang CFaktencheck zu gängigen Ansichten
Anmerkungen
REISE INS HERZ
»IMMERHIN ETWAS GUTES«
DIE ERINNERER
DIE KANDIDATEN
DIE »AM WENIGSTEN WIDERSTANDSBEREITE PERSÖNLICHKEIT«
INDUSTRIE: »DIE SCHNALLE AN AMERIKAS ENERGIEGÜRTEL«
DER STAAT: MARKTREGULIERUNG 1200 METER UNTER DER ERDOBERFLÄCHE
KANZEL UND PRESSE: »DAS THEMA KOMMT NICHT ZUR SPRACHE«
DIE TIEFENGESCHICHTE
DIE TEAMPLAYER: LOYALITÄT ÜBER ALLES
DIE COWBOYS: STOIZISMUS
DIE REBELLEN: LOYALE TEAMPLAYER FÜR EIN NEUES ANLIEGEN
DIE FEUER DER GESCHICHTE: DIE 1860ER UND DIE 1960ER JAHRE
NICHT LÄNGER FREMD: DIE MACHT DER VERHEISSUNG
»ES HEISST, DA GIBT ES HERRLICHE BÄUME.«
NACHWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
ANAHNG B: POLITIK UND UMWELTVERSCHMUTZUNG: ERKENNTNISSE AUS DER LANDESWEITEN TOXMAP
ANHANG C: FAKTENCHECK ZU GÄNGIGEN ANSICHTEN
Literatur
Als ich vor fünf Jahren mit dieser Forschungsarbeit begann, war ich besorgt über die zunehmend feindselige Spaltung unseres Landes in zwei politische Lager. Viele Linke hatten den Eindruck, die Republikanische Partei und Fox News seien fest entschlossen, einen Großteil des Staatsapparates auf Bundesebene abzuschaffen, die Sozialleistungen für Arme zu kürzen und Macht und Reichtum des ohnehin schon mächtigen und reichen obersten Prozents der Bevölkerung zu steigern. Unter den Rechten hielten viele diesen Staat für das Vehikel einer Macht anhäufenden Elite, die Scheingründe erfand, um ihre Kontrolle auszuweiten und als Gegenleistung für loyale demokratische Wählerstimmen Geld zu verteilen. Seit dieser Zeit hat sich der Bruch zwischen beiden Parteien vertieft, und Donald Trump ist auf die Bildfläche gestürmt und lässt den Puls des politischen Lebens in den Vereinigten Staaten höher schlagen. Vom liberalen linken Lager hatte ich eine gewisse Vorstellung, doch was passierte auf der Rechten?
Die meisten, die sich diese Frage stellen, nähern sich ihr aus einem politischen Blickwinkel. Und obwohl auch ich meine Ansichten habe, interessiere ich mich als Soziologin brennend dafür, wie Anhänger der Rechten das Leben empfinden – also für die Gefühle, die der Politik zugrunde liegen. Um diese Emotionen zu verstehen, musste ich mich in die Menschen hineinversetzen. Bei diesem Bemühen stieß ich auf ihre »Tiefengeschichte«, eine Erzählung, die der gefühlten Wirklichkeit entspricht.
Die Politik als Forschungsgegenstand war für mich etwas völlig Neues, das galt jedoch nicht für meine Herangehensweise. In meinem Buch Der 48-Stunden-Tag hatte ich mich auf die ewige Frage konzentriert, wie Eltern sich Zeit für Zuwendung und häusliches Leben verschaffen, wenn beide außer Haus arbeiten. Ich hatte in den Küchen berufstätiger Eltern auf dem Fußboden gesessen und beobachtet, nach welchem Elternteil ein Kind rief, wer ans Telefon ging und wie viel Dankbarkeit einer für den anderen empfand.
Auf der Suche nach familienfreundlichen Arbeitsstellen hatte ich auf Parkplätzen vor Fabriken und Firmenzentralen herumgehangen und beobachtet, wann müde Arbeitskräfte nach Hause gingen (Keine Zeit: Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet), und ich hatte die Träume Berufstätiger erforscht: von den Urlauben, die sie machen würden, oder vom Gitarrenspiel, das sie erlernen würden, »wenn sie nur Zeit hätten«. Ich hatte eingehende Gespräche mit philippinischen Kindermädchen (Global Woman) geführt und in dem indischen Dorf Gujarat bezahlte Leihmütter interviewt, die für westliche Kunden deren Babys austrugen (The Outsourced Self). All diese Studien hatten mich zu der Überzeugung gebracht, dass eine bezahlte Elternzeit für berufstätige Eltern Neugeborener und adoptierter Kinder gut wäre – eine Leistung, die es in allen großen Industrieländern der Welt außer in den USA gibt. Da mittlerweile die meisten amerikanischen Kinder in Familien leben, in denen alle Erwachsenen berufstätig sind, schien mir die Idee einer bezahlten Elternzeit wichtig, human und überfällig. Doch dieses Ideal prallte mit Wucht auf eine neue Realität: Viele Anhänger der Rechten sind gegen jede staatliche Unterstützung für Familien von Berufstätigen. Tatsächlich wollen sie, dass der Staat sich in vielen Bereichen, vom Militär abgesehen, möglichst wenig einmischt. Andere Ideale – Verbesserung des Umweltschutzes, Abwenden der Erderwärmung, Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit – stoßen an die gleiche, fest verschlossene Tür. Mir wurde klar: Wenn wir staatliche Unterstützung wollen, um eines dieser Ziele zu erreichen, müssen wir die Menschen verstehen, die den Staat eher als Problem denn als Lösung begreifen. Daher begab ich mich auf die Reise in das Herz der amerikanischen Rechten.
Bereits in den ausgehenden 1960er Jahren hatten mein Mann Adam und ich eine Spaltung in der amerikanischen Kultur bemerkt und uns einen Monat lang in Santa Ana, Kalifornien, in den Kings Kauai Garden Apartments einquartiert – mit Gemeinschaftsterrasse samt Dschungeldekoration und eingespielten Geräuschen von Dschungeltieren –, um die Mitglieder der John Birch Society, eines rechten Vorläufers der Tea Party, kennenzulernen. Wir hatten an Treffen der Gesellschaft teilgenommen und mit so vielen Leuten gesprochen, wie wir nur konnten. Viele der Mitglieder, die wir trafen, waren in Kleinstädten im Mittelwesten aufgewachsen und fühlten sich in den anomischen kalifornischen Vororten zutiefst desorientiert, ein Unbehagen, das sie in die Überzeugung umsetzten, die amerikanische Gesellschaft laufe Gefahr, von Kommunisten übernommen zu werden. Wenn wir uns umsahen, konnten wir gut verstehen, wieso sie das Gefühl einer »Übernahme« hatten: Innerhalb weniger Jahre waren ganze Orangenhaine in einer völlig planlosen Urbanisierung Parkplätzen und Einkaufszentren gewichen. Auch wir hatten das Gefühl, einer Übernahme ausgeliefert zu sein, allerdings handelte es sich dabei keineswegs um Kommunismus.
Den größten Teil meines Lebens habe ich zum progressiven Lager gehört, doch in den letzten Jahren ist in mir der Wunsch aufgekeimt, die Menschen des rechten Lagers besser verstehen zu wollen. Wie kamen sie zu ihren Ansichten? Könnten wir in manchen Dingen gemeinsame Sache machen? Diese Fragen brachten mich dazu, eines Tages Sharon Galicia, eine warmherzige, zierliche, weiße, alleinerziehende Mutter und blonde Schönheit, auf ihren Runden durch die tristen Industriegebiete von Lake Charles, Louisiana, zu begleiten, wo sie Krankenversicherungen verkaufte. Unbeeindruckt vom ohrenbetäubenden Lärm einer Kreissäge, die riesige Stahlbleche schnitt, plauderte sie mit Arbeitern, die ihre Schutzbrillen auf die Stirn geschoben hatten und mit verschränkten Armen dastanden. Sie war eine charmante und überzeugende Schnellsprecherin (»Was ist, wenn ihr einen Unfall habt, eure Rechnungen nicht bezahlen oder nicht einen Monat warten könnt, bis eure Versicherung in Kraft tritt? Wir versichern euch innerhalb von 24 Stunden.«) Während sie nach einem Stift griffen, um zu unterschreiben, plauderte sie mit ihnen über die Rotwildjagd, den Anteil von Alligatorfleisch in Blutwurst – einer beliebten, würzigen Spezialität aus Louisiana – und über das letzte Spiel der LSU Tigers.
Auf der Fahrt von Fabrik zu Fabrik erfuhr ich Sharons Geschichte. Sie erzählte mir, dass ihr Vater, ein wortkarger Fabrikarbeiter, sich von ihrer Mutter hatte scheiden lassen, wieder geheiratet hatte und in einen Wohnwagen dreißig Autominuten entfernt gezogen war, ohne ihrem Bruder und ihr etwas davon zu sagen. Als ich mich von ihr trennte, war ich voller Fragen. Was war aus ihrem Vater geworden? Wie hatte sich das Scheitern seiner Ehe auf sie als kleines Mädchen, später als Ehefrau und nun als alleinerziehende Mutter ausgewirkt? Wie sah das Leben der jungen Männer aus, mit denen sie sprach? Warum war diese gescheite, nachdenkliche, resolute junge Frau – die von bezahlter Elternzeit hätte profitieren können – ein begeistertes Mitglied der Tea Party, für die eine solche Idee schlichtweg unvorstellbar war?
Selbstverständlich bedankte ich mich sofort bei Sharon, dass sie mir erlaubt hatte, sie auf ihren Runden zu begleiten, innerlich dankte ich ihr später erneut für ihr Vertrauen und Entgegenkommen. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass die Verbindung zu ihr wesentlich wertvoller war, als ich anfangs gedacht hatte. Sie war das Gerüst für eine Empathiebrücke. Beiderseits der Kluft glauben wir zu Unrecht, Empathie mit der »anderen« Seite bedeute das Ende einer nüchternen Analyse, während die wichtigste Untersuchung in Wirklichkeit erst jenseits der Brücke anfangen kann.
Unsere Sprache bietet nicht viele Worte, um das Gefühl zu beschreiben, dass man auf jemanden aus einer anderen Welt zugeht und dieses Interesse positiv aufgenommen wird. Dadurch entsteht etwas ganz Eigenes, Wechselseitiges. Was für ein Geschenk. Dankbarkeit, Ehrfurcht, Wertschätzung: Für mich treffen alle diese Worte zu, und ich weiß nicht, welches ich verwenden soll. Aber ich glaube, wir brauchen ein besonderes Wort und sollten ihm einen Ehrenplatz einräumen, um etwas wiederherzustellen, was vielleicht eine fehlende Taste auf der kulturellen Klaviatur unserer englischsprachigen Welt ist. Unsere Polarisierung und die Tatsache, dass wir uns zunehmend schlicht nicht kennen, macht es allzu einfach, uns mit Abneigung und Verachtung zufriedenzugeben.
Die Erfahrung, auf andere zuzugehen und bei ihnen Entgegenkommen zu finden, machte ich erstmals als Kind eines Diplomaten. In meiner kindlichen Vorstellung hatte ich eine persönliche Mission ähnlich der meines Vaters, mich mit den Menschen in all den fremden Ländern anzufreunden, in die sein Beruf uns führte. Ich dachte, ich hätte den Auftrag, auf Menschen zuzugehen, die sich anders kleideten, anders sprachen, gingen, aussahen als wir und einer anderen Religion angehörten. Hatte mein Vater mich wirklich gebeten, das zu tun? Ich glaube nicht. Warum tat ich es also? Ich hatte keine Ahnung. Das begriff ich erst viel später. Seltsamerweise empfand ich die gleiche Dankbarkeit für die Beziehung, als ich viele Jahrzehnte später mit Sharon von Fabrik zu Fabrik fuhr und als ich mich mit den vielen anderen unterhielt, die ich im Laufe der Recherchen zu diesem Buch traf. Wieder hatte ich das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, nur war es diesmal mein eigenes.
Teil I
Langsam rollt Mikes roter Truck auf dem unbefestigten Feldweg zwischen hohen Reihen Zuckerrohr entlang, dessen elegante, silbrige Rispen sich in der Oktobersonne wiegen, so weit das Auge auf der Schwemmlandebene reicht. Wir befinden uns auf der ehemaligen Armelise-Plantage. Einige Kilometer westwärts fließt der Mississippi und schleppt Erdreich und Abfälle aus dem Mittelwesten nach Süden, an New Orleans vorbei in den Golf von Mexiko. »Früher sind wir immer barfuß zwischen den Reihen durchgegangen«, sagt Mike, ein großer, freundlicher Weißer von 64 Jahren. Er nimmt seine Sonnenbrille ab, betrachtet ein Zuckerrohrfeld und lässt den Wagen beinahe zum Stehen kommen. Mit dem Arm deutet er durch das Seitenfenster links in die Ferne. »Meine Oma wohnte da … drüben.« Er schwenkt den Arm nach rechts: »Die Tischlerei meines Großonkels Tain war ungefähr … da.« Ganz in der Nähe stand das Haus eines weiteren Großonkels, Henry, mit Spitznamen »Pook«. Ein Mann namens »Pirogue« hatte eine Schmiede, wo Mike und sein Freund Metallreste aufstöberten, die in seinen Jungenaugen »wie Gold« glänzten. Sein Großvater Bill beaufsichtigte die Zuckerrohrfelder. Miss Ernestines Laden war seitlich, »da … drüben«, erzählt Mike weiter. Sie war eine schlanke schwarze Frau und bedeckte ihr Haar mit einem weißen Bandana, erinnert er sich. »Sie kochte gern einen Gumbo [Eintopf] aus Waschbär und Opossum, wir brachten ihr, was wir am Tag erjagt hatten, und auch Kahlhecht. Ich hab noch im Ohr, wie sie aus dem Fenster rief, wenn ihr Mann den Wagen nicht gestartet bekam: ›Irgendwas hat das Auto.‹.« Dann deutet Mike auf einen Feldweg, der seiner Erinnerung nach zu dem Haus führte, in dem er aufgewachsen ist. »Es war ein Shotgun-Haus«, überlegt er. »Man konnte geradewegs durchschießen. Aber für uns neun reichte es.« Es hatte zu den renovierten Sklavenunterkünften der Armelise-Plantage gehört, auf der Mikes Vater als Klempner gearbeitet hatte. Wenn Mike und ich aus dem Wagenfenster schauen, sehen wir eindeutig völlig verschiedene Dinge: Er sieht eine geliebte, belebte, längst vergangene Welt, ich sehe ein grünes Feld.
Wir halten an, steigen aus und gehen in die nächstgelegene Reihe zwischen den Zuckerrohrpflanzen. Mike schneidet einen Halm ab, köpft ihn und trennt zwei Stücke aus dem faserigen Zuckerrohr heraus. Wir kauen darauf herum und saugen den süßen Saft aus. Wieder im Truck, setzt Mike seine Träumerei über den längst verschwundenen Weiler Banderville fort, der erst in den 1970er Jahren endgültig abgerissen wurde. Etwa drei Viertel der Einwohner waren schwarz und ein Viertel weiß, und sie lebten, soweit er sich erinnert, in enger, ungleicher Harmonie. Mike hatte seine Kindheit in einer Zeit des Zuckers, der Baumwolle und der von Maultieren gezogenen Pflüge verbracht und sein Erwachsenenleben in der Zeit des Erdöls. Als Jugendlicher hatte er sich im Sommer Geld für das College verdient, indem er für den Bau von Bohrplattformen Holzplanken durch mückenverseuchte Bayous verlegt hatte. Als Erwachsener mit Collegeabschluss hatte er sich eigenständig zum »Lafpsman« weitergebildet, also zu einem Fachmann, der Größe, Stärke und Materialkosten für den Bau großer Plattformen für Bohrinseln im Golf und für die großen weißen Tanks berechnete, in denen man große Mengen Erdöl und andere Chemikalien lagerte. »Als ich ein Junge war, hielt man am Straßenrand den Daumen raus und wurde mitgenommen. Hatte man einen Wagen, nahm man Anhalter mit. Wenn jemand Hunger hatte, gabst du ihm zu essen. Es existierte eine Gemeinschaft. Wissen Sie, was das alles untergraben hat?« Er macht eine Pause. »Der Staat.«
Wir steigen wieder in seinen roten Truck, trinken einen Schluck Wasser (er hat Plastikflaschen für uns beide mitgebracht) und fahren langsam weiter durch das Zuckerrohr, während unser Gespräch sich der Politik zuwendet. »Die meisten hier sind Cajun, katholisch, konservativ«, erklärt er mir und fügt begeistert hinzu: »Ich bin für die Tea Party!«
Zum ersten Mal hatte ich Mike Schaff einige Monate zuvor gesehen, als er bei einer Umweltschutzdemonstration in Baton Rouge auf den Stufen des Parlamentsgebäudes, dem Louisiana State Capitol, an einem Mikrofon gestanden und mit vor Emotionen brüchiger Stimme gesprochen hatte. Er gehörte zu den Opfern einer der seltsamsten und buchstäblich erschütterndsten Umweltkatastrophen des Landes, die ihm sein Zuhause und seine Gemeinde geraubt hatte: ein Einsturzkrater, der dreißig Meter hohe Bäume verschluckt und sechzehn Hektar Sumpfland von oben nach unten gekehrt hatte, wie ich später noch eingehender beschreiben werde. Das warf in meinem Kopf eine große Frage auf: Urheber dieser Katastrophe war eine Bohrfirma, die nur geringen gesetzlichen Regulierungen unterlag. Doch als Anhänger der Tea Party hatte Mike die Abschaffung aller erdenklichen staatlichen Regulierungen und drastische Kürzungen der Staatsausgaben bejubelt – einschließlich der Umweltschutzausgaben. Wie konnte er bei der Erinnerung an sein verlorenes Zuhause den Tränen nahe sein und gleichzeitig eine Welt weitgehend ohne staatliche Eingriffe fordern, sofern sie nicht das Militär und die Hurrikanhilfe betrafen? Ich war verwirrt und spürte eine Mauer zwischen uns.
Gewissermaßen war ich nach Louisiana gekommen, weil ich mich für Mauern interessierte. Nicht für sichtbare, greifbare Mauern oder Zäune wie jene, die in Belfast Katholiken und Protestanten, an der texanischen Grenze Amerikaner und Mexikaner trennen oder einst die Einwohner von Ost- und Westberlin trennten. Eine Empathiemauer ist vielmehr ein Hindernis für das Tiefenverständnis eines anderen, das uns gleichgültig oder sogar feindselig gegen Menschen macht, die andere Ansichten haben oder in anderen Verhältnissen aufgewachsen sind. In einer Zeit politischer Umbrüche greifen wir nach leicht verfügbaren Gewissheiten. Neue Informationen zwängen wir in unsere ohnehin vorhandenen Denkmuster. Wir begnügen uns damit, unsere Gegenspieler von außen zu kennen. Aber ist es auch möglich, ohne ein Abrücken von den eigenen Überzeugungen andere von innen kennenzulernen, die Wirklichkeit mit ihren Augen zu sehen, die Verknüpfungen zwischen Lebensverhältnissen, Einstellungen und Politik zu verstehen, also die Empathiemauer zu überwinden?1 Ich hielt es für machbar.
Ich hatte Mike Schaff gebeten, mir zu zeigen, wo er aufgewachsen war, weil ich, wenn möglich, verstehen wollte, wie er die Welt sah. Als ich mich ihm vorgestellt hatte, hatte ich erklärt: »Ich komme aus Berkeley, Kalifornien, ich bin Soziologin und versuche, die tiefer werdende Spaltung in unserem Land zu verstehen. Darum möchte ich meine politische Blase verlassen und die Menschen in Ihrer Blase kennenlernen.« Bei dem Wort »Spaltung« nickte Mike und stichelte dann: »Berkeley? Da seid ihr ja wohl alle Kommunisten!« Er grinste, als wollte er sagen: »Wir Cajuns haben Humor, ich hoffe, ihr auch.«
Mike machte es einem nicht schwer. Er war ein großer, kräftiger Mann mit einer Brille inmitten seines sonnengebräunten Gesichts, sprach leise, fast murmelnd in knappen Sätzen und neigte sowohl zu gefühlvollen, zuweilen selbstironischen Betrachtungen als auch zu unerschütterlichen Facebook-Statements. Zu seinem familiären Hintergrund erklärte er mir: »Meine Mum war Cajun, mein Dad Deutscher. Wir Cajuns nennen uns Coonasses. Weil ich halb Cajun, halb Deutscher bin, hat meine Mutter mich Halbarsch genannt.« Wir lachten. Mike war eines von sieben Kindern, die sein Vater mit seinem Klempnerlohn aufgezogen hatte. »Wir wussten nicht, dass wir arm waren«, sagte er – eine Äußerung, die ich von den Menschen der extremen Rechten, die ich traf, immer wieder hören sollte, wenn sie über ihre Kindheit oder die ihrer Eltern sprachen. Mike hatte den Blick eines Ingenieurs, die Liebe eines Sportsmanns zu Fischen und Wild und das Ohr eines Naturkundlers für den Ruf eines Laubfroschs. Ich kannte keine Mitglieder der Tea Party, jedenfalls keine, mit denen ich mich eingehend unterhalten hätte, und Mike kannte nicht viele Leute von meiner Sorte. »Ich bin pro Leben, pro Waffen, pro Freiheit, so zu leben, wie wir wollen, solange wir niemandem schaden. Und ich bin gegen einen aufgeblähten Staat«, erklärte Mike. »Unser Staat ist viel zu aufgebläht, zu gierig, zu inkompetent, zu gekauft und einfach nicht mehr unserer. Wir müssen zurück zu unseren lokalen Gemeinschaften, wie wir sie auf Armelise hatten. Ehrlich, dann wären wir besser dran.«
Nicht nur die Kluft zwischen den beiden großen politischen Parteien des Landes hat sich in solchen Fragen gegenüber früher vertieft, sondern auch die zwischen den politischen Einstellungen der Bürger. Als amerikanische Erwachsene bei einer Umfrage 1960 gefragt wurden, ob es sie »stören« würde, wenn ihr Kind ein Mitglied der anderen Partei heiraten sollte, antworteten nur fünf Prozent der Mitglieder beider Parteien mit Ja. Im Jahr 2010 bejahten dagegen 33 Prozent der Demokraten und 40 Prozent der Republikaner diese Frage.2 Tatsächlich ist die Parteibindung – partyism, wie manche es nennen – mittlerweile eine stärkere Quelle spaltender Vorurteile als der Rassismus.3
Wenn Amerikaner früher umzogen, so taten sie es auf der Suche nach besseren Arbeitsstellen, preiswerteren Wohnungen oder milderem Klima. Wenn sie heutzutage umziehen, tun sie es häufiger, um in der Nähe von Gleichgesinnten zu wohnen, wie Bill Bishop und Robert G. Cushing in ihrem Buch The Big Sort: Why the Clustering of Like-Minded Americans Is Tearing Us Apart feststellen.4 Menschen schotten sich in emotional unterschiedlich gestimmten Enklaven ab: Wut hier, Hoffnung und Vertrauen dort. So kaufte sich eine Gruppe libertärer Texaner ein Areal in der Salzwüste östlich von El Paso, nannte es Paulville und reservierte es für begeisterte, »freiheitsliebende« Anhänger von Ron Paul. Und je mehr sich solche Menschen auf die Gesellschaft Gleichgesinnter beschränken, umso extremer werden ihre Ansichten. Laut einer Studie des Pew Research Center von 2014, an der 10 000 Amerikaner teilnahmen, sind die politisch engagiertesten Befragten beider Seiten überzeugt, die Anhänger der »anderen Partei« verträten nicht nur eine falsche Meinung, sondern seien »so irregeleitet, dass sie eine Bedrohung für das Wohl des Landes darstellen«.5 Im Gegensatz zu früher informiert sich jede Seite zunehmend durch die Nachrichten ihrer eigenen Fernsehsender: die Rechte bei Fox News, die Linke bei MSNBC. Und damit wächst die Kluft.
Wir leben in der »Tea-Party-Ära«, wie es in der Zeitschrift New Yorker hieß. Die Tea Party hat etwa 350 000 aktive Mitglieder, wird aber laut einer anderen Pew-Umfrage von 20 Prozent der Amerikaner – 45 Millionen Menschen – unterstützt.6 Und die Spaltung zieht sich durch eine erstaunliche Themenvielfalt. Laut Umfragen sind 90 Prozent der Demokraten vom Anteil des Menschen am Klimawandel überzeugt gegenüber 59 Prozent der gemäßigten Republikaner, 38 Prozent der konservativen Republikaner und nur 29 Prozent der Tea-Party-Anhänger. Tatsächlich ist die politische Einstellung der stärkste Einzelfaktor, der die Ansichten zum Klimawandel bestimmt.7
Diese Kluft ist größer geworden, weil die Rechte weiter nach rechts gerückt ist, und nicht etwa, weil die Linke sich nach links bewegt hätte. Die republikanischen Präsidenten Eisenhower, Nixon und Ford unterstützten alle eine Verfassungsänderung, die Frauen die gleichen Rechte wie Männern einräumen sollte (Equal Rights Amendment). In ihrem Parteiprogramm von 1960 begrüßte die Republikanische Partei noch »freie Kollektivverhandlungen« zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Republikaner brüsteten sich mit »der Ausweitung des Mindestlohns auf mehrere Millionen weitere Arbeitskräfte« und mit der »Stärkung der Arbeitslosenversicherung und der Ausweitung ihrer Leistungen«.8 Unter Dwight Eisenhower lag der Steuersatz für Spitzenverdiener bei 91 Prozent, 2015 nur noch bei 40 Prozent.9 Fast alle republikanischen Kandidaten, die sich 2016 um das Präsidentenamt bewarben, griffen die gemeinnützige Organisation für Familienplanung, Planned Parenthood, scharf an. Dabei war eine ihrer Gründerinnen Peggy Goldwater, die Ehefrau des republikanischen Präsidentschaftskandidaten von 1968, Barry Goldwater. General Eisenhower forderte massive Investitionen in die Infrastruktur, heute halten nahezu alle republikanischen Kongressabgeordneten solche Maßnahmen für eine erschreckende staatliche Überregulierung. Ronald Reagan erhöhte die Staatsverschuldung und war für Waffengesetze, heute erlaubt die republikanische Gesetzgebung im Bundesstaat Texas das »offene Tragen« geladener Waffen in Kirchen und Banken. Die Konservativen von gestern erscheinen heutzutage gemäßigt oder liberal.
Derzeit fordert die extreme Rechte Kürzungen in ganzen Bereichen der Bundesregierung, beispielsweise bei den Ministerien für Bildung, Energie, Handel und Innere Angelegenheiten. Im Januar 2015 sprachen sich 58 republikanische Abgeordnete des Repräsentantenhauses für eine Abschaffung der Bundessteuerbehörde, Internal Revenue Service, aus.10 Einige Republikaner, die für den Kongress kandidieren, fordern die Abschaffung sämtlicher staatlichen Schulen.11 Im März 2015 stimmte der US-Senat, in dem die Republikaner die Mehrheit haben, mit 51 zu 49 Stimmen für eine Ergänzung des Haushaltsbeschlusses, wonach der gesamte bundeseigene Grundbesitz verkauft oder verschenkt werden sollte, sofern er nicht militärisch genutzt oder als Nationaldenkmal oder Nationalpark geschützt sei. Davon wären Wälder, Wildschutz- und Wildnisgebiete betroffen gewesen.12 Kein einziger US-Senator sprach sich 1970 gegen das Gesetz zur Reinhaltung der Luft (Clean Air Act) aus. 2014 forderte Senator David Vitter aus Louisiana, einem der Bundestaaten mit der stärksten Umweltverschmutzung, zusammen mit 95 republikanischen Kongressabgeordneten die Abschaffung der Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency, EPA).13
Die Abkehr der Tea Party vom Staat könnte durchaus auf einen breiteren Trend hindeuten. In der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre erwarteten Amerikaner staatliche Unterstützung vom Bund bei der wirtschaftlichen Erholung, nach der großen Rezession 2008 war jedoch eine Mehrheit der Amerikaner gegen solche Hilfen.14 In dem Maße, wie die politische Spaltung sich vertieft und die Meinungen sich verhärten, steht immer mehr auf dem Spiel. Weder Bürger noch Politiker führen sonderlich viele Gespräche »across the aisle«, also über Parteigrenzen hinweg, was dem erstaunlich heiklen Governance-Prozess schadet. Selbstverständlich waren die Vereinigten Staaten auch früher schon gespalten. Im Amerikanischen Bürgerkrieg führten Meinungsdifferenzen zu etwa 750 000 Todesopfern. Auch in den stürmischen 1960er Jahren kam es zu heftigen Konflikten über den Vietnamkrieg, die Bürgerrechte und Frauenrechte. Doch letztlich ist eine Demokratie auf die kollektive Fähigkeit angewiesen, Dinge in eingehenden Gesprächen zu klären. Um dorthin zu gelangen, müssen wir herausfinden, was vorgeht – besonders in der sich rasch wandelnden und stärker werdenden Rechten.
Angeregt von Thomas Franks Buch Was ist mit Kansas los? machte ich mich auf meine fünfjährige Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, bepackt mit einem großen Paradox wie mit einem Rucksack.15 Als Franks Buch 2004 erschien, lag der Spaltung zwischen rechts und links ein Paradox zugrunde. Seitdem hat sich diese Spaltung zu einer tiefen Kluft entwickelt.
In den gesamten Vereinigten Staaten gibt es in den sogenannten roten Bundesstaaten, wo also die Mehrheit Republikaner wählt, mehr Armut, mehr minderjährige Mütter, mehr Scheidungen, einen schlechteren Gesundheitszustand der Bevölkerung, mehr Fettleibigkeit, mehr unfallbedingte Todesfälle, mehr untergewichtige Neugeborene und einen geringeren Schulbesuch. Einwohner solcher »roten« Staaten sterben durchschnittlich fünf Jahre früher als die der »blauen« Staaten (wo die Mehrheit die Demokratische Partei wählt). Der Unterschied in der Lebenserwartung ist zwischen Louisiana (75,7 Jahre) und Connecticut (80,8 Jahre) ebenso groß wie zwischen den USA und Nicaragua.16 Die roten Staaten leiden auch unter einem anderen wichtigen, aber kaum bekannten Aspekt, der das biologische Eigeninteresse an Gesundheit und Leben betrifft: industrieller Umweltverschmutzung.
Louisiana ist ein Extrembeispiel für dieses Paradox. Der Bericht des Social Science Research Council, The Measure of America, stuft jeden US-Bundesstaat nach dem Stand der »menschlichen Entwicklung« ein, basierend auf Lebenserwartung, Schulbesuch, Bildungsabschluss und mittlerem Einkommen. Unter 50 Bundesstaaten belegte Louisiana den 49. Platz und bei der allgemeinen Gesundheit nur den letzten Platz.17 Laut der National Report Card von 2015 lag Louisiana bei den Lesefähigkeiten der Achtklässler auf dem 48. Platz und bei ihren Mathematikleistungen auf dem 49. Platz von 50. Nur acht von zehn Einwohnern Louisianas haben einen Highschool-Abschluss und nur sieben Prozent einen Hochschulabschluss. Laut dem Kids Count Data Book der Annie E. Casey Foundation rangierte Louisiana beim Kindeswohl auf dem 49. Platz von 50. Dieses Problem erstreckt sich über alle ethnischen Gruppen: In Maryland lebt ein Schwarzer durchschnittlich vier Jahre länger, verdient doppelt so viel und hat mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit einen Hochschulabschluss als ein Schwarzer in Louisiana. Und Weißen geht es in Louisiana schlechter als in Maryland oder in allen anderen Bundesstaaten außer Mississippi.18 Zudem hat Louisiana erhebliche Umweltprobleme: Der Bundesstaat hat eine etwa 650 Kilometer lange flache, niedrige und weiter absinkende Küste und verliert stündlich Feuchtgebiete von der Größe eines Football-Feldes. Er ist vom Ansteigen des Meeresspiegels und schweren Hurrikanen bedroht, zwei Phänomenen, die führende Wissenschaftler der Welt mit dem Klimawandel in Verbindung bringen.
Angesichts einer solchen Fülle von Problemen sollte man erwarten, dass die Menschen Bundeshilfen begrüßen würden. Tatsächlich kommt ein erheblicher Anteil des Jahresetats der roten Bundesstaaten aus Bundesmitteln: Louisiana erhält 44 Prozent seines Etats, also pro Kopf und Jahr 2400 US-Dollar vom Bund.19
Mike Schaff heißt diese Bundesmittel jedoch nicht gut und zweifelt an wissenschaftlichen Belegen für den Klimawandel. »Über Erderwärmung mache ich mir in fünfzig Jahren Gedanken«, sagt er. Mike liebt seinen Bundesstaat und das Leben in der Natur. Doch statt auf den Staat zu setzen, baut er wie andere in der Tea Party auf den freien Markt. Mikes Mutter hatte den Demokraten Ed Edwards aus Louisiana gewählt, weil er Cajun war, und Jack Kennedy, weil er Katholik war; als Mike aufwuchs, war »Demokrat« noch kein Schimpfwort. Jetzt schon. Mike war lange in einer kleinen Firma beschäftigt und befürwortet den freien Markt für Unternehmen jeder Größe. Darin offenbart sich ein weiteres Paradox: Viele Tea-Party-Anhänger arbeiten in Kleinbetrieben oder sind selbstständige Kleinunternehmer. Doch die von ihnen unterstützten Politiker treten für Gesetze ein, welche die Großkonzerne in ihrer Monopolstellung und ihren Möglichkeiten stärken, kleinere Unternehmen zu schlucken. Kleinbauern stimmen für Monsanto? Drugstore-Besitzer stimmen für Walmart? Der örtliche Buchhändler stimmt für Amazon? Wenn ich eine kleine Firma hätte, würde ich niedrigere Unternehmenssteuern sicher gut finden, aber die Monopole stärken, die mich aus dem Geschäft drängen könnten? Das konnte ich einfach nicht begreifen.
Diese Rätsel umgab ein noch größeres: Wie konnte ein System zugleich Leid verursachen und die Schuld von sich weisen? Durch unverantwortliche und beklagenswert unterregulierte Wall-Street-Investoren hatten viele Menschen 2008 ihre Ersparnisse, Häuser, Arbeitsplätze und Hoffnungen verloren. Dennoch verteidigen viele in der wachsenden kleinstädtischen Rechten Jahre später unter dem Banner der »freien Markwirtschaft« die Wall Street gegen eine staatliche »Überregulierung«. Was ging da vor?
Die beste Möglichkeit, es herauszufinden, war vielleicht, die »Große Sortierung« umzukehren, mein blaues Umfeld und meinen blauen Bundesstaat zu verlassen, in einen roten Bundesstaat zu fahren und die Empathiemauer zu überwinden versuchen.20 Meine Nachbarn und Freunde diesseits der Mauer sind alle mehr oder weniger wie ich. Sie haben mindestens einen Bachelor-Abschluss und lesen täglich die New York Times. Sie essen Biolebensmittel, trennen ihren Müll und fahren, wenn es geht, mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die meisten sind an einer der US-Küsten aufgewachsen. Manche sind Kirchgänger, viele bezeichnen sich zwar als »gläubig«, gehen jedoch nicht regelmäßig in die Kirche. Viele arbeiten im öffentlichen Dienst oder bei gemeinnützigen Organisationen und sind über das alles ebenso fassungslos wie ich. Als ich mit den Recherchen anfing, hatte ich keine engen Freunde, die in den Südstaaten geboren waren, nur einen, der in der Ölbranche arbeitete, und keinen, der in der Tea Party war.
Alec MacGillis gibt in seinem Artikel »Who Turned My Blue State Red?« in der New York Times eine faszinierende Antwort auf das große Paradox.21 Nach seiner Argumentation begrüßen die auf Medicare und Lebensmittelkarten angewiesenen Einwohner roter Bundesstaaten diese Sozialleistungen, gehen jedoch nicht zur Wahl, während diejenigen, die auf der sozialen Stufenleiter ein bisschen höher stehen – weiße Konservative –, solche Leistungen nicht brauchen, sich aber an Wahlen beteiligen – und gegen staatliche Gelder für die Armen stimmen.
Diese »Zwei-Stufen-höher«-These beantwortet die Frage sicher zu einem gewissen Teil, aber keineswegs vollständig. Zum einen nutzen die Bessergestellten, die gegen staatliche Sozialleistungen sind, sie dennoch, wie ich feststellen sollte. Praktisch jeder Tea-Party-Anhänger, den ich für dieses Buch interviewte, hat persönlich oder über ein enges Familienmitglied von einer staatlichen Leistung profitiert. Mehrere haben hilfsbedürftige alte Eltern, die keine private Pflegeversicherung besitzen, und haben sie für bedürftig erklären lassen, damit sie Leistungen aus der staatlichen Gesundheitsfürsorge Medicaid erhalten können. Ein Mann, dessen Frau an einer schweren Krankheit litt und deren Pflege ihn finanziell ruiniert hätte, ließ sich im Guten von ihr scheiden, damit sie Medicaid beziehen konnte. Der körperlich gesunde Bruder einer Frau, die dieses Verhalten missbilligte, – beide Tea-Party-Anhänger – bezog staatliche Lebensmittelhilfen (SNAP). Die meisten sagten: »Wenn es sie schon gibt, warum soll man sie dann nicht nutzen?« Viele schämten sich jedoch und baten mich, ihre Identität nicht preiszugeben, woran ich mich gehalten habe. Die Scham hinderte die Gegner staatlicher Leistungen aber nicht daran, sie in Anspruch zu nehmen.
MacGillis unterstellt, Wähler handelten tatsächlich in ihrem Eigeninteresse. Doch tun sie das wirklich? Die »Zwei-Stufen-höher«-Idee erklärt nicht, warum in roten Bundesstaaten Wähler, die selbst keine Milliardäre sind, sich gegen eine Besteuerung von Milliardären wenden, obwohl diese Steuereinnahmen dazu beitragen könnten, eine Stadtbibliothek oder Spielplätze in einem Stadtpark auszubauen. Die beste Möglichkeit, MacGillis’ Idee zu überprüfen, war meiner Ansicht nach, sich ein Problem herauszugreifen, das auch gut situierte Wähler in armen Bundesstaaten haben, und zu zeigen, dass sie auf diesem Gebiet ebenfalls staatliche Unterstützung ablehnen. Anders ausgedrückt: Die zwei Stufen höher stehenden Wähler könnten sagen: »Kürzen wir die Sozialhilfe für die Armen, denn ich bin nicht arm.« Oder: »Was kümmert mich die Verbesserung staatlicher Schulen. Mein Kind besucht eine Privatschule« – obwohl ich niemanden so habe reden hören. Sie haben jedoch andere Probleme, bei denen der Staat ihnen helfen könnte, und das bringt mich zum Schlüssellochthema dieses Buches: Umweltverschmutzung. Eine eingehende Untersuchung dieses Problemfelds müsste mir nach meiner Einschätzung die allgemeinere Sichtweise der Menschen erschließen, die ihre Reaktionen auf diese wie auch auf viele weitere Probleme speiste.
Fürs Erste wollte ich ins geografische Herz der Rechten fahren: in die Südstaaten. Nahezu ihren gesamten Zuwachs der jüngsten Zeit hat die Rechte südlich der Mason-Dixon-Linie erfahren, also der fiktiven Grenze zwischen Nord- und Südstaaten, in einem Gebiet, das die ehemaligen Konföderierten Staaten umfasst und etwa ein Drittel der US-Bevölkerung stellt. In den letzten beiden Jahrzehnten haben die Südstaaten ein Bevölkerungswachstum von 14 Prozent erlebt. Zwischen 1952 und 2000 ist die Wählerschaft der Republikaner unter den weißen Highschool-Absolventen im Süden um 20 Prozent gestiegen, unter den weißen College-Absolventen war der Anstieg noch höher.22 Landesweit gab es unter Weißen einen Rechtsruck: Zwischen 1972 und 2014 sank ihre Parteibindung an die Demokraten von 41 auf 24 Prozent, während jene an die Republikaner von 24 auf 27 Prozent stieg. (In dieser Zeit nahm auch die Zahl der Weißen ohne Parteibindung zu, die überwiegend nach rechts tendierten.) Wenn ich also die Rechte verstehen wollte, musste ich den weißen Süden kennenlernen.23
Doch wohin in die Südstaaten sollte ich fahren? Bei den Wahlen 2012 stimmten landesweit 39 Prozent der weißen Wähler für Barack Obama. In den Südstaaten waren es 29 Prozent und in Louisiana 14 Prozent – ein geringerer Anteil als in den gesamten Südstaaten.24 Laut einer Umfrage von 2011 unterstützte die Hälfte der Einwohner Louisianas die Tea Party.25 Neben South Carolina hatte Louisiana den höchsten Anteil an den Tea-Party-Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus.26
Der Zufall wollte es, dass ich eine Verbindung nach Louisiana hatte – Sally Cappel, die Schwiegermutter eines meiner ehemaligen Studenten. Sally würde mich in den weißen Süden einführen und über eine Freundin in die dortige Rechte. Sie war eine Künstlerin aus Lake Charles und progressive Demokratin, die bei den Vorwahlen 2016 Bernie Sanders favorisierte. Ihre sehr gute Freundin Shirley Slack, eine weltreisende Flugbegleiterin aus Opelousas, Louisiana, war eine begeisterte Anhängerin der Tea Party und Donald Trumps. Die beiden Frauen hatten an der Louisiana State University (unterschiedlichen) Studentinnenverbindungen angehört, hatten beide geheiratet, jeweils drei Kinder bekommen, in Lake Charles in fußläufiger Entfernung voneinander gewohnt und hatten jeweils einen Schlüssel zum Haus der anderen. Beide liebten die Kinder der anderen. Shirley kannte Sallys Eltern und fragte Sallys Mutter um Rat, wenn die beiden sich »zu sehr in die Haare gerieten«. Sie machten sich gegenseitig Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke und durchstöberten gemeinsam die Tageszeitung nach Ankündigungen bevorstehender Kulturveranstaltungen, die sie früher gemeinsam besucht hatten, als sie noch Nachbarinnen in Lake Charles waren. Als ich eines Tages in Shirleys Pension in Opelousas wohnte, fiel mir an der Wand des Gästezimmers ein Aquarell auf, das Sally als Geburtstagsgeschenk für Shirleys elfjährige Tochter gemalt hatte, die Ballerina werden wollte. Darauf stand eine Ballerina mit einem Fuß auf Zehenspitzen auf einer dicken, pastellfarbenen Wolke, den anderen hoch in die Luft gereckt, während um ihren Kopf gelbe, sternenartige Schmetterlinge flatterten. Es war das liebevolle Bild eines Kindertraums – der schließlich wahr wurde. Beide Frauen verfolgten die Fernsehnachrichten – Sally auf MSNBC mit Rachel Maddow, Shirley auf Fox News mit Charles Krauthammer, und beide besprachen die unterschiedlichen Meldungen jeweils mit ihrem gleichgesinnten Ehemann. Beide telefonieren zwei- bis dreimal wöchentlich miteinander, und ihre erwachsenen Kinder hielten Kontakt, teils über die gleiche politische Kluft hinweg. In diesem Buch geht es zwar nicht um das persönliche Leben dieser beiden Frauen, aber ohne sie hätte es nicht entstehen können, und ich glaube, ihre Freundschaft ist ein Vorbild für das, was unser Land entwickeln muss: die Fähigkeit, über Differenzen hinweg Beziehungen zu pflegen.
Zunächst las ich, was andere Denker über den Aufstieg der Rechten zu sagen hatten. An einem Extrem vertraten manche, eine Gruppe Superreicher, die ihr Vermögen schützen wollten, hätte »Bewegungsgründer« angeheuert, sich eine »Kunstrasen-Graswurzel-Anhängerschaft« zu verschaffen.27 So hatte der australische Filmemacher Taki Oldham in seinem Dokumentarfilm The Billionaires’ Tea Party herausgefunden, dass einheimische »Bürgergruppen«, die den Klimawandel infrage stellten, von Ölunternehmen finanziert wurden, und hatte behauptet, populistische Wut gegen die Regierung werde von Konzernstrategen inszeniert.28 Andere vertraten die Meinung, Superreiche hätten die Bewegung ins Leben gerufen, ohne allerdings zu behaupten, dass die Unterstützung von der Basis vorgetäuscht sei. Die Journalistin Jane Mayer von der Zeitschrift New Yorker beschreibt die Strategie der Ölmilliardäre Charles und David Koch, die allein 2016 rechte Kandidaten und Kampagnen mit 889 Millionen US-Dollar unterstützten.29 »Gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen erfordert eine horizontal und vertikal integrierte Strategie«, erklärte Charles Koch. »Sie muss sich von der Idee über Politikentwicklung, Bildung, Graswurzelbewegungen, Lobbyarbeit und Gerichtsverfahren bis zur politischen Aktion erstrecken.«30 Es war wie ein riesiges, ausgedehntes Unternehmen, das den Wald, die Papiermühle und den Verlag besitzt und Autoren bezahlt, die tendenziöse Bücher schreiben. Ein derartiges politisches »Unternehmen« konnte erstaunlichen Einfluss ausüben. Seit der Oberste Gerichtshof der USA in dem Verfahren Citizens United v. Federal Election Commission 2010 entschieden hat, dass anonyme Unternehmensspenden an politische Kandidaten in unbegrenzter Höhe zulässig sind, wird diese Möglichkeit tatsächlich sehr häufig genutzt. Von den 176 Millionen US-Dollar, die Kandidaten in der ersten Phase des Präsidentschaftswahlkampfes 2016 bekamen, stammte nahezu die Hälfte von lediglich 158 reichen Familien – 138 Millionen US-Dollar flossen an Republikaner, 20 Millionen an Demokraten.31 Über die Organisation Americans for Prosperity brachten die Koch-Brüder im Kongress die Forderung in Umlauf, die Machtbefugnisse der Umweltschutzbehörde EPA einzuschränken.
Die Armelise-Plantage, auf der Mike Schaff geboren wurde, und Bayou Corne, wo er lebte und später einmal zu sterben hoffte, lagen nur einige Kilometer von einem Teilstück des Mississippi entfernt, das mittlerweile von petrochemischen Industrieanlagen übersät war und mit gutem Grund im Volksmund »Krebsallee« hieß. Waren Sorgen über dieses Thema in Mike Schaffs Interesse? Er fand, ja. Niemand bezahlte ihn, damit er örtliche Versammlungen der Tea Party besuchte, das galt auch für seine Nachbarn, von denen viele seine Ansichten teilten.
In seinem Buch Was ist mit Kansas los? vertritt Thomas Frank, Leute wie Mike würden massiv irregeleitet. Eine Wirtschaftsagenda für Reiche werde mit sozialen Fragen als Köder verbunden. Die Forderung nach Abtreibungsverbot, Recht auf Waffenbesitz und Schulgebet bringe Mike und seine gleichgesinnten Freunde dazu, eine Wirtschaftspolitik zu unterstützen, die ihnen schade. Frank schreibt: »Sie stimmen gegen die Abtreibung – was sie kriegen, ist eine Senkung der Steuer auf Vermögenserträge. […] Sie stimmen dafür, dass uns der Staat in Ruhe lässt – was sie kriegen, sind allgegenwärtige Kartelle und Monopole, von den Medien bis zur Fleischindustrie. […] Sie stimmen dafür, dass dem Elitedenken ein Schlag versetzt wird – was sie kriegen, ist eine Gesellschaftsordnung, in der die Vermögen stärker konzentriert sind, als wir es je erlebt haben, und die Chefs Gelder einstreichen, die jede Vorstellung übersteigen.«32 Seine geliebten Bürger von Kansas werden furchtbar hinters Licht geführt, meint Frank.
Wie funktioniert diese Irreführung? Können wir klug, interessiert und gut informiert sein und uns trotzdem täuschen lassen? Mike war hochintelligent, informierte sich in diversen Nachrichtenquellen – wenngleich hauptsächlich über Fox News – und unterhielt sich mit Verwandten, Nachbarn und Freunden endlos über Politik. Er lebte wie ich in einer Enklave Gleichgesinnter. Mike hatte nicht den Eindruck, dass die von Koch finanzierte Denkmaschinerie ihn hinters Licht führte. Vielmehr fragte er sich, ob eine von George Soros finanzierte Maschinerie nicht mich täuschte. Gekaufter politischer Einfluss ist meiner Ansicht nach real, mächtig und tatsächlich am Werk, doch als Erklärung für die Überzeugungen, die jemand hat, ist Täuschung – und die unterstellte Leichtgläubigkeit – zu einfach.
Unsere Heimatenklaven spiegeln häufig eine spezielle Staatskultur wider, die Politik mit Geografie verknüpft. Diese These vertritt Colin Woodard in American Nations.33 Demnach tendieren ländliche Gegenden im Mittelwesten, im Süden und in Alaska nach rechts, während Großstädte, New England und Ost- und Westküste nach links tendieren. Neuengländer, eingebunden in eine Tradition kleinstädtischer Verwaltung und nach Europa orientiert, glauben tendenziell an eine gute Staatsführung für das »Gemeinwohl«. Einwohner der Appalachen und Texas sind eher freiheitsliebende Staatsminimalisten. Weiße in den Südstaaten, die ihre Wurzeln in einem Kastensystem sehen, halten viel von lokaler Kontrolle und lehnen Machtbefugnisse auf Bundesebene ab – da sie diese mit der Niederlage des Südens gegenüber dem Norden vor 150 Jahren in Verbindung bringen. Widerstand gegen eine Bundesbesteuerung hatte seinen Ursprung ebenfalls in den Südstaaten, merkt die Historikerin Robin Einhorn an.34 Regionale Traditionen sind selbstverständlich real, aber keineswegs so unwandelbar, wie Woodard vermutet. Die Rechte ist zwar in den Südstaaten am stärksten, aber die meisten ihrer Mitglieder gehören einer Bevölkerungsgruppe an, die sich über die gesamten Vereinigten Staaten erstreckt: weiße, ältere, verheiratete Christen mit niedrigem bis mittlerem Einkommen.35
Andere verweisen auf die Wertvorstellungen der Rechten. So argumentiert Jonathan Haidt in The Righteous Mind ganz im Gegensatz zu Thomas Frank, die Menschen seien keineswegs irregeleitet, sondern wählten in ihrem Eigeninteresse – gestützt auf kulturelle Werte.36 Während Rechte und Linke Fürsorge und Fairness wertschätzen, räumen sie nach seiner Ansicht Gehorsam gegenüber Autoritäten (Rechte) und Originalität (Linke) unterschiedliche Priorität ein. Das trifft sicher zu. Man kann Wertvorstellungen jedoch in aller Stille haben oder mit einer rasenden Wut vertreten, die eine völlig neue Partei hervorbringt. Worauf sind diese unterschiedlichen Haltungen zurückzuführen? Theda Skocpol und Vanessa Williamson führen zu Recht als Grund ein einzigartiges Zusammentreffen von Umständen an – von Faktoren, die eine bestimmte Prädisposition schaffen, und solchen, die diese Entwicklung beschleunigen. Zu den letzteren gehören vor allem die Wirtschaftskrise 2008, die staatlichen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung, die Präsidentschaft Barack Obamas und Fox News.37
Obwohl diese Studien für mich sehr hilfreich waren, vermisste ich doch einen Aspekt: ein umfassendes Verständnis der an Politik beteiligten Emotionen.38 Ich wollte wissen, was Menschen fühlen wollen, was sie ihrer Ansicht nach fühlen sollten oder nicht fühlen dürfen, und wie ihre emotionale Einstellung zu einer ganzen Reihe von Themen aussieht. Wenn wir einem Politiker zuhören, hören wir nicht nur Worte; vielmehr haben wir dabei eine gewisse Prädisposition, etwas Bestimmtes empfinden zu wollen. Einige allgemeine, emotional besetzte Ideale sind dem gesamten politischen Spektrum gemeinsam, andere nicht. Manche sind stolz auf die amerikanische Freiheitsstatue als Sinnbild für die Haltung: »Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure dicht gedrängten Massen«; andere wollen stolz sein auf ein Amerika, das die Verfassung achtet und in dem jeder sich aus eigener Kraft hocharbeiten kann.
Dabei kommen »Gefühlsregeln« ins Spiel, linke wie auch rechte. Die Rechte möchte sich von liberalen Vorstellungen, was sie empfinden sollte, befreien: Freude über frisch verheiratete Homosexuelle, Betroffenheit über die Not syrischer Flüchtlinge, keinen Ärger über zu zahlende Steuern. Die Linke sieht Vorurteile. Solche Regeln stellen den emotionalen Kern rechter Überzeugungen infrage. Und eben an diesen Kern kann ein hemmungsloser Kandidat wie der Unternehmer und Milliardär Donald Trump, der Präsidentschaftskandidat der Republikaner 2016, appellieren und beim Blick auf die Menge seiner Anhänger sagen: »Schaut euch all diese Leidenschaft an.«
Mir wurde klar, dass wir uns diesem Kern über eine »Tiefengeschichte«, wie ich es nenne, nähern können, eine Darstellung, die sich wahr anfühlt.39 Diese Tiefengeschichte sollte mich dazu bringen, mich auf den Austragungsort eines seit Langem schwelenden gesellschaftlichen Konflikts zu konzentrieren, als ob ich durch Alices Spiegel schaute. Diesen Konflikt ignoriert sowohl die Occupy-Wall-Street-Linke, die im privatwirtschaftlichen Sektor einen Klassenkonflikt zwischen dem einen Prozent Reicher und den übrigen 99 Prozent sieht, als auch die antistaatliche Rechte, die soziale Unterschiede zwischen den Klassen und »Rassen« allein auf den Charakter des Einzelnen zurückführt. Die Tiefengeschichte sollte mich zu den gefühlsmäßigen Geboten und Verboten, zum Gefühlsmanagement und den Kerngefühlen führen, die charismatische Führer schüren. Wie sich zeigen wird, hat jeder eine Tiefengeschichte.
Doch zunächst zu den Menschen. Als Erstes quartierte ich mich in Lake Charles ein, einer Stadt mit 74 000 Einwohnern im Südwesten von Louisiana, knapp fünfzig Kilometer vom Golf von Mexiko entfernt. Die Hälfte der Einwohner ist weiß, die andere Hälfte schwarz, und viele stammen von Cajuns ab. Drei Prozent der Bevölkerung ist im Ausland geboren.40 Etwa 23 Prozent der Einwohner haben einen Bachelor-Abschluss, und das mittlere Haushaltseinkommen beträgt 36 000 US-Dollar im Jahr. Lake Charles liegt im Calcasieu Parish (wegen des französischen Erbes heißen die Kreise in Louisiana nicht »County« sondern »Parish«). In der Umgebung finden 75 Festivals und Feste statt, und das Mardi Gras Museum besitzt die weltweit größte Sammlung von Karnevalskostümen. Die drei großen Spielcasinos der Stadt locken Touristen und die rasch wachsende petrochemische Industrie Arbeitskräfte an.
Nach meiner Ankunft machte ich auf verschiedenen Wegen Menschen mit weit rechts angesiedelten Ansichten ausfindig. Zunächst halfen mir Sally Cappel und Shirley Slack, vier Fokusgruppen zusammenzustellen, zwei mit Liberalen und zwei mit Anhängern der Tea Party. Jede dieser Gruppen traf sich in Sallys Küche, und nach den Sitzungen der Tea Party führte ich Interviews mit einzelnen Anhängern und gelegentlich auch mit ihren Ehepartnern und Eltern. Ich nenne es »Interview«, weil ich meine Gesprächspartner vorher bat, mir ein Formular zu unterschreiben, in dem ich ihnen meine Forschungszwecke erklärte. Doch nach den zwei- bis dreistündigen Unterhaltungen sagten viele, es sei sehr schön gewesen, mich zu besuchen, und tatsächlich erwiesen sich diese Sitzungen häufig als eine Mischung aus Interview und Besuch.
Eine Buchhalterin, die ich über eine Tea-Party-Kerngruppe kennenlernte, lud mich zu einer Reihe der allmonatlich stattfindenden Mittagessen der Republican Women of Southwest Louisiana ein und meinte scherzhaft: »Vielleicht können wir Sie ja dazu bringen, Ihre Meinung zu ändern!« Es waren gut besuchte, bestens organisierte Treffen weißer berufstätiger Frauen mittleren Alters und Teenager in roten T-Shirts, die an einem separaten Tisch saßen. Bei jedem dieser Mittagessen traf ich an meinem Tisch neue Teilnehmerinnen und verabredete mich zu Gesprächen mit ihnen, bei denen ich häufig ihre Familien und zuweilen auch ihre Nachbarn kennenlernte. Ich erhielt Einladungen in zwei christliche Privatschulen und zu Gottesdiensten und Veranstaltungen baptistischer und katholischer Gemeinden oder auch zum Eintopfessen einer Pfingstgemeinde. Eine Teilnehmerin an den republikanischen Mittagessen, die Ehefrau eines Pfarrers einer Pfingstgemeinde, stellte mich vielen Kirchenmitgliedern vor und lud mich zu einer Partie Rook mit ihren Freundinnen ein (dieser sogenannte Missionarspoker bietet Evangelikalen eine fröhliche Alternative zu Kartenspielen, die mit Glücksspiel verbunden sind). Ich lernte einen Mann kennen, dessen Großonkel dem Ku-Klux-Klan als Grand Wizard angehört hatte (weshalb sein Großvater in einen anderen Ort gezogen war), und traf eine weiße Tea-Party-Anhängerin und strenge Baptistin, die ein afroamerikanisches Baby und ein südamerikanisches Kind adoptiert hatte.
Zudem begleitete ich einen republikanischen Kandidaten für den US-Senat und seinen Tea-Party-Rivalen im Wahlkampf und erlebte dabei das Acadian Village Pig Roast in Lafayette, ein Reisfest mit Bootsparade in New Iberia, eine Veranstaltung zur Erhöhung der Wahlbeteiligung in Cowley und ein Gewerkschafts-Meet-and-Greet in Rayne. Bei jeder Wahlkampfveranstaltung unterhielt ich mich mit anderen Teilnehmern. Ein Meeresbiologe und Umweltaktivist, Mike Tritico – Sohn eines Möbelhausbesitzers und politisch nicht parteigebunden – erzählte mir, dass seine rechten Freunde seinen Aktivismus vehement ablehnten. Der große Siebzigjährige hatte etwas Lehrerhaftes und ein enzyklopädisches Wissen über die örtliche Wirtschaft; für manche war er ein Einsiedler (er lebte in einer heruntergekommenen Hütte in den Wäldern von Longville), für andere ein Heiliger, und den Aufsichtsbehörden des Bundesstaates war er ein Dorn im Auge. Ich fragte ihn, ob ich ihn begleiten und seine Gegner kennenlernen dürfe. Mike war einverstanden.
Im Laufe von fünf Jahren sammelte ich Interviews, die verschriftet 4690 Seiten füllten: Gespräche mit einem Kern von vierzig Tea-Party-Anhängern und zwanzig Personen aus verschiedenen Lebensbereichen – Lehrer, Sozialarbeiter, Anwälte und Beamte –, die meinen Blick auf meine Kerngruppe erweiterten. Aus dieser Kerngruppe suchte ich einen kleinen Personenkreis aus, der bestimmte Muster besonders gut veranschaulichte. Mit ihrer Erlaubnis begleitete ich sie, bat sie, mir zu zeigen, wo sie geboren wurden, die Schule besucht hatten, zur Kirche gingen und einkauften, hatte Spaß mit ihnen und versuchte ein Gefühl für die Einflüsse zu bekommen, denen sie ausgesetzt waren. Alle waren zwar Anhänger der Tea Party, untereinander aber sehr verschieden. Manche gingen dreimal wöchentlich in die Kirche, andere gar nicht. Manche besaßen sieben Schusswaffen, andere drei, die sie teils in Vitrinen oder in der Nachttischschublade aufbewahrten. Ebenso unterschiedlich war ihre Einstellung zur Armut. Ein Mann erzählte: »Ich habe den Wachmann in unserem örtlichen Lebensmittelladen gefragt, welche Artikel denn da so gestohlen werden. Er antwortete, hauptsächlich Reis, Bohnen und Babynahrung. Das ist ja wohl bezeichnend.« Andere hielten solche Berichte für »übertrieben«. Auch in ihren Ängsten zeigte sich eine große Bandbreite. Ein Mann erzählte mir, er habe in einem Goodwill-Laden antiquarisch ein medizinisches Handbuch gekauft für den Fall, dass die Wirtschaft »zusammenbricht und in Flammen aufgeht« und er einen gebrochenen Arm selbst richten müsse. Ein anderer legte Vorräte an, falls wir alle »zu Selbstversorgern werden müssen«, und regte seine Nachbarn an, es ebenso zu machen. Die meisten waren jedoch weniger alarmiert. Meine Kerngruppe unterschied sich auch in ihrem Misstrauen gegenüber Präsident Obama und in ihren abwertenden Äußerungen über ihn. Ein Tea-Party-Anhänger hatte auf seiner Facebook-Seite Bilder von Präsident Obama gepostet, die diesen im Stil von Fahndungsfotos einmal von vorn, einmal im Profil und mit Namensschild darunter zeigten, ein anderer hatte ihn in »Staatsunterbringung« dargestellt. Die meisten waren wütend, beunruhigt und manche betrauerten reale Verluste, aber auch in ihrer Gefühlslage wiesen sie erhebliche Unterschiede auf. (Mehr zu meinen Recherchen siehe Anhang A.)
Ich war eindeutig nicht in Berkeley, Kalifornien. Zum einen stieß ich gelegentlich auf ungewohnte Redewendungen: »So schnell, wie eine Ente einen Junikäfer frisst«, »bis zum Hintern in Alligatoren …« Ein Mann bezeichnete eine unumwundene Ausdrucksweise – ja, nein – als »Yankee reden«. Überall fanden sich große oder kleinere Kirchen, in manchen Orten in jedem Häuserblock eine. In der größten Buchhandlung von Lake Charles gab es drei Regalwände mit Bibeln in allen Farben, Formen und Größen und ledergebundene Notizbücher für das Bibelstudium. Manche Restaurants warben mit »Fastenzeit-Angeboten« für einheimische katholisch-französische Kreolen und Cajuns. Dass manche Dinge fehlten, erinnerte mich ebenfalls daran, dass ich nicht zu Hause war: Es gab keine New York Times am Zeitungsstand, so gut wie keine Bioprodukte in Lebensmittelläden oder auf Wochenmärkten, keine ausländischen Filme in den Kinos, weniger Kleinwagen, weniger kleine Kleidergrößen in den Modegeschäften, weniger Fußgänger, die in einer Fremdsprache mit ihrem Handy telefonierten – und überhaupt weniger Fußgänger. Außerdem gab es weniger gelbe Labradore und mehr Pitbulls und Bulldoggen. An Fahrradwege, farblich gekennzeichnete Recycling-Mülltonnen oder Solarpaneele auf Dächern war gar nicht zu denken. Manche Lokale boten auf der Speisekarte praktisch nur Gebratenes an. Vor den Mahlzeiten wurde nicht nach glutenfreien Vorspeisen gefragt, und das Essen begann in der Regel mit einem Gebet. Östlich von Lake Charles und an den petrochemischen Betrieben am unteren Mississippi entlang sah ich eine ganze Reihe von Reklametafeln für Anwälte, die auf Fälle von Körperverletzung spezialisiert waren (»Just call Chuck«). Als ich fernab von den Requisiten meiner Welt von den Ihren umgeben war, wurde mir klar, dass die Tea Party weniger eine offizielle politische Gruppierung ist als vielmehr eine Kultur, eine Sichtweise und Einstellung zu Land und Leuten.
Ich verglich die registrierten Studentenvereinigungen an der Louisiana State University in Baton Rouge (an der einige meiner Interviewpartner studiert hatten) mit denen an der University of California in Berkeley, an der ich lange unterrichtet hatte. An der Louisiana State (mit 375 Studentenvereinigungen auf 30 000 Studenten) fand ich studentische Ortsgruppen der Oilfield Christian Fellowship, des Agribusiness Club, der Air Waste Management Association, der Society of Petrophysics and Well Log Analysts und eine War-Gaming and Role Playing Society (WARS) – Gruppierungen, wie es sie in Berkeley nicht gab.
An der UC Berkeley (mit 1000 Studentenvereinigungen auf 37 000 Studenten) fanden sich Amnesty International, die Anti-Trafficking Coalition, Building Sustainability at Cal, Environmental Science Student Association, Global Student Embassy at Berkeley (zur Förderung der Umweltkooperation auf breiter Ebene) – für die es an der Louisiana State keine Entsprechungen gab. Mike Schaff hatte an der Louisiana State University in Monroe studiert und dort dem Schachclub, dem Circle K (Kiwanis) und einer militärischen Studentenverbindung namens Scabbard and Blade angehört. An seiner Hochschule hatten gut 150 Studentenvereinigungen für 25 000 Studierende existiert. Eine Gruppe – Cupcakes for a Cause – hatte Spendengelder zur Unterstützung von Veteraninnen gesammelt. Eine andere Gruppe, das ULM Fishing Team, hatte monatliche Wettkämpfe ausgerichtet. An der Northeastern Louisiana State University gab es unter den Studentenvereinigungen die College Republicans und die Young Americans for Liberty, aber keine College Democrats.41
In Lake Charles bemerkte ich auf einigen Pickups Aufkleber mit einer zusammengerollten Klapperschlange, die ihre Zunge herausstreckt, und der Aufschrift »Don’t Tread on Me« (»Tritt nicht auf mich«). Dieses Symbol, das ein General 1775 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg schuf, hat die Tea Party bundesweit übernommen. An der Interstate 49 fragte ein riesiges Schild zwischen Lafayette und Opelousas: »Wo ist die Geburtsurkunde?« – eine öffentliche Infragestellung des Geburtsorts von Präsident Obama, die allerdings 2011 entfernt wurde. Zwischen Longville und DeRidder verkündete ein Plakat an einer Holzhütte am Rand einer Autohandlung für gebrauchte Lkw, dies sei die »Obama-Räucherkammer«.
Überall stieß man auf Überbleibsel der Rassentrennung. So trennte auf dem Westlake-Friedhof ein Weg die Gräber Weißer und Schwarzer. Zwischen den Gräbern der Weißen war das Gras frisch gemäht, zwischen denen der Schwarzen nicht. Ein weiteres Beispiel fand sich an einer Granitstatue eines jungen Soldaten der Konföderierten vor dem alten Calcasieu Parish Courthouse, dem Gerichtsgebäude des Kreises: Eine Tafel dankte allen, die »den Süden verteidigt« hatten. Entsprechende Gedenkstätten für die Helden der Sklaven oder die Opfer von Lynchjustiz gab es nicht. Bei meinem Besuch 2016 entdeckte ich am Fuß dieses Denkmals in Lake Charles eine kleine, rot-weiß-rot gestreifte Flagge der frühen Konföderation mit dreizehn Sternen in der oberen linken Ecke. Drei der fünf Kreise im Südwesten Louisianas sind nach hochrangigen Politikern der Konföderierten im Amerikanischen Sezessionskrieg benannt, ganz zu schweigen von der Jefferson Davis Bank und der Autobahn, die seinen Namen trägt, und es gibt in diesem Bundesstaat neunzig Konföderierten-Denkmäler, von denen manche erst 2010 enthüllt wurden.42 Erst vor fünfzehn Jahren wurde in der Nähe eines Wohnwagens in Longville, wo mein Gesprächspartner Mike Tritico und seine Freunde, die ich kennenlernte, leben, ein Kreuz verbrannt – die letzte bekannte Kreuzverbrennung in diesem Bundesstaat.43 Sechs Männer wurden von der Bundesstaatsanwaltschaft angeklagt und verurteilt. Die »Rasse« schien überall in der Umgebung eine Rolle zu spielen, wurde in spontanen persönlichen Gesprächen aber so gut wie nie thematisiert.
Ich wollte nah herankommen und sah die beste Möglichkeit darin, eine Gruppe an einem Ort kennenzulernen und mich auf ein Problem zu konzentrieren. Bei dem gewählten Thema ging es, wie gesagt, nicht um eine Sache, bei der wohlhabende Wähler gegen eine staatliche Maßnahme stimmten, die sie selbst nicht brauchten. Alle, mit denen ich sprach, wollten eine saubere Umwelt. Doch in Louisiana sprang mir das große Paradox förmlich in die Augen: erhebliche Umweltverschmutzung und beträchtlicher Widerstand gegen eine staatliche Regulierung der Umweltverschmutzer. Sollte es mir tatsächlich gelingen, zu ergründen, was die entschieden rechts gesinnten Menschen denken und empfinden, wenn es um ihr Trinkwasser geht, um die Tiere, die sie jagen, die Seen, in denen sie schwimmen, die Flüsse, in denen sie angeln, die Luft, die sie atmen, dann könnte ich sie eingehender kennenlernen. Durch ihre Ansichten zu diesem Schlüssellochthema – wie stark, wenn überhaupt, sollte der Staat industrielle Umweltverschmutzer regulieren? – hoffte ich, etwas über die Sicht der Rechten zu einer größeren Themenbandbreite herauszufinden und auf diese Weise zu erfahren, wie Politik in uns allen – gefühlsmäßig – funktioniert.
Als Ölförderland mit geringer staatlicher Regulierung hat Louisiana jahrzehntelang schwere Umweltschäden erlitten. In der Zeit meiner Forschungsarbeit erlebte Lake Charles den Fracking-Boom, und die Stadt entwickelte sich bald zum Zentrum geplanter Investitionen in Südwestlouisiana von erstaunlichen 84 Milliarden US-Dollar – eine der größten Investitionen der amerikanischen Industrie. Lake Charles wurde zum Ground Zero für die amerikanische Petrochemie.44
Das industrielle Wachstum rückte ich in Interviews mit Kommunal- und Regionalvertretern ins Blickfeld: mit dem Bürgermeister des nahen Ortes Westlake und mit dem Leiter der regionalen Wirtschaftsförderungsgesellschaft Southwest Louisiana Task Force for Growth and Opportunity (die gerade den Planungsauftrag für die Unterbringung von 18 000 Arbeitskräften in »man camps« erhalten hatte; 13 000 dieser Arbeiter, darunter philippinische Rohrleitungsbauer, kamen von außerhalb des Bundesstaates).45
In Lake Charles wohnte ich in Aunt Ruby’s Bed and Breakfast. Auf dem Rand der Badewanne in meiner Unterkunft stand eine Flasche feuchtigkeitsspendender Waschlotion, auf deren Rückseite die Inhaltsstoffe zu lesen waren: Erdöl, Natriumlaurylethersulfat, Sodium Lauroamphoacetat, Ammoniumlaurylsulfat, Laurinsäure, Natriumchlorid, Hydroxypropyldimoniumchlorid. Die gleichen Inhaltsstoffe waren auch im Kunststoff meiner Sonnenbrille, meines Uhrarmbands, meines Computers und meiner Feuchtigkeitscreme zu finden. Lake Charles produzierte den Treibstoff für das Flugzeug, das mich dorthin brachte, das Benzin, mit dem ich durch die Gegend fuhr, und vieles davon wurde von Firmen in der Nähe hergestellt.
Zur Vorbereitung auf meine Reise las ich erneut Ayn Rands Buch Atlas Shrugged, eine Tea-Party-Bibel, die von dem konservativen Rundfunkexperten Rush Limbaugh und dem ehemaligen Fox-News-Kommentator Glenn Beck hoch gelobt wurde.46 Rand bezeichnet darin die Hilfe für Bedürftige als »monströse Idee«. Wohltätigkeit sei schlecht, erklärt sie, Gier gut. Wenn ihnen Ayn Rand gefiel, waren sie vermutlich ziemlich selbstsüchtig, hart und kalt, dachte ich mir und stellte mich auf das Schlimmste ein. Ich war jedoch froh, als ich viele warmherzige, offene Menschen kennenlernte, die äußerst großzügig gegenüber ihren Mitmenschen waren, unter anderem auch gegenüber einer älteren, weißen, liberalen Fremden, die ein Buch schrieb.
In Anbetracht des liberalen Rufs, den die University of California, Berkeley, besaß, hatte ich Bedenken, den Leuten zu erzählen, dass ich dort unterrichtet hatte. Insgeheim hoffte ich, meine Bekannten in Louisiana würden sich respektvoll an die 72 Nobelpreisträger und den stolzen akademischen Rang der Hochschule erinnern. Aber nein. Als ich einem Mann erzählte, dass ich in Berkeley lebte, sagte er sofort: »Ach, ihr habt da Hippies.« Ein anderer hatte auf Fox News einen Bericht über Studentenprotestete gegen die Erhöhung der Studiengebühren gesehen. Sie hatten sich aneinander gekettet und standen vor den Fernsehkameras an der Dachkante auf einem Unigebäude. Falls einer fiele, würde er alle anderen mitreißen, und ich nahm an, dass es ihnen genau darum ging. »Haben Sie gesagt, man braucht einen Notendurchschnitt von 1 um da reinzukommen?«, fragte er mich ungläubig. »Diese Sache mit der Kette scheint mir ziemlich dumm.«
Bei einem Treffen der Republican Women of Southwest Louisiana erklärte Madonna Massey, eine Gospelsängerin, über den Tisch hinweg, sie »liebe Rush Limbaugh«. Früher hatte ich Limbaugh extrem selbstherrlich gefunden und regelmäßig desinteressiert und angewidert den Sender gewechselt, sobald er im Radio kam. Jetzt sagte ich zu Madonna: »Ich würde mich gern mit Ihnen darüber unterhalten, was Sie an ihm mögen.« Als wir uns eine Woche später in einem örtlichen Starbucks zum Eistee trafen, fragte ich Madonna, was ihr an Limbaugh gefalle. »Seine Kritik an ›Femi-Nazis‹, wissen Sie, Feministinnen, Frauen, die wie Männer sein wollen.« Das ließ ich einen Moment einsinken. Nachdem sie mich gefragt hatte, was ich denke, erwiderte sie auf meine Antwort: »Aber Sie sind doch nett …« Dann gingen wir Limbaughs Schimpfworte durch (»rote Liberale«, »Umweltspinner«) und kamen schließlich auf Madonnas grundlegenden Eindruck, Limbaugh verteidige sie gegen die Schmähungen, denen sie sich durch Liberale ausgesetzt fühlte. »Ach, Liberale halten bibeltreue Südstaatler für ignorante, zurückgebliebene Hinterwäldler und Verlierer. Sie halten uns für rassistisch, sexistisch, homophob und vielleicht auch noch für fett.« Ihr Großvater hatte sich als bitterarmer Kleinpächter in Arkansas durchgeschlagen. Sie war eine talentierte Sängerin, beliebt in einer großen Gemeinde, hatte zwei Jahre eine Bibelschule besucht und war eine liebevolle Mutter zweier Kinder. In diesem Augenblick fing ich an, die Macht der Buhrufe zu begreifen, mit denen mehrheitlich demokratisch wählende (»blaue«) Bundesstaaten die Einwohner mehrheitlich republikanisch wählender (»roter«) Bundesstaaten verhöhnten. Sie empfand Limbaugh als Schutzwall gegen die Beleidigungen, mit denen die Liberalen sie und ihre Vorfahren heruntermachten. Waren diese Beleidigungen lediglich Erfindungen der rechten Medien, um Hass zu schüren, oder gab es sie in den blauen Staaten zur Genüge, fragte ich mich. Als ich Madonna das nächste Mal traf, erkundigte sie sich, ob es schwer für mich gewesen sei, mir anzuhören, was sie gesagt habe. Ich verneinte. »Ich mache das auch manchmal«, erklärte sie, »dass ich versuche, mich zurückzunehmen, um zu sehen, was ein anderer empfindet«.
Als ich mit Mike Schaff durch die Zuckerrohrfelder der ehemaligen Armelise-Plantage ging und mit Madonna in der Kirche der Pfingstgemeinde von Living Way saß, entdeckte ich im Zentrum dieses großen Paradoxes gute Menschen. Wie konnte die nette Madonna gegen staatliche Unterstützung für die Armen sein? Wie konnte ein warmherziger, kluger, nachdenklicher Mann wie Mike Schaff, ein Opfer von Konzernvergehen und willkürlicher Zerstörung, seinen Zorn so stark gegen den Staat richten? Wie konnte ein Bundesstaat, der mit zu den anfälligsten für Wetterkapriolen gehörte, ein Zentrum der Verleugnung des Klimawandels sein?