Friesenrausch - Sandra Dünschede - E-Book

Friesenrausch E-Book

Sandra Dünschede

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Beschreibung

Am Bahnhof von Niebüll wird Jan Lamprecht tot aufgefunden. Da er einige Ecstasy-Pillen bei sich trug, gehen Kommissar Dirk Thamsen und sein Team zunächst von einer Überdosis aus. Bei der Obduktion stellt sich jedoch heraus, dass sein Tod durch Fremdverschulden eingetreten sein muss. Dirk Thamsen befragt Jans Eltern, seine Mitschüler und den Direktor der Schule. Dabei trifft er auf Ablehnung und eine Mauer des Schweigens. Niemand will oder kann etwas über den Toten sagen. Kurz darauf wird Thamsen zum nächsten Tatort gerufen.

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sandra Dünschede

Friesenrausch

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Animaflora PicsStock / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3286-1

Widmung

Für Käthe – meine neue Muse

1. Kapitel

Heiner Paysen trat in die Pedale. Der Wind wehte wie so oft in Nordfriesland kräftig von vorn und erschwerte sein Vorankommen.

Hätte ich doch bloß nicht so viel Kaffee getrunken, jammerte er in Gedanken und erhob sich aus seinem Sattel, in der Hoffnung, den Druck etwas zu verringern. Vergeblich, durch die aufrechtere Position wurde der Harndrang noch stärker und Heiner Paysen musste sich konzentrieren, diesem nicht nachzugeben. Sein Shirt klebte unter der Windjacke an seinem Rücken und an der Brust, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

Endlich tauchte der Wasserturm in seinem Sichtfeld auf. Der historische Turm, der einst zur Versorgung von Dampfloks errichtet worden war und nun nach seiner Sanierung als Ein-Zimmer-Hotel diente, signalisierte ihm die Nähe seines Ziels. Heiner erlaubte sich ein Aufatmen, was mehrere Tropfen entweichen ließ. Er spannte seine Beckenbodenmuskeln an, erhöhte noch einmal das Tempo und bremste kurz darauf vor dem Fahrradständer scharf ab. Mit flattrigen Händen, von einem Fuß auf den anderen tretend, legte er das schwere Kettenschloss um den Rahmen seines Tourenrades und den metallenen Anlehnbügel, griff eilig nach seinem Rucksack, der auf dem Gepäckträger befestigt war, und lief mit großen Schritten zum Bahnhofsgebäude.

»Wenn der Zug heute pünktlich ist …« Die Anzeige über dem Zugang zu den Bahnsteigen machte seine Hoffnung zunichte. Wieder einmal hatte die Marschbahn Verspätung. Ein Stöhnen saß ihm quer im Hals, aber er traute sich nicht, es entweichen zu lassen. Schnell hastete er auf die Toilettenanlage zu und stieß die Tür auf.

Ein scharfer Geruch schlug ihm entgegen – eine Mischung aus Urin und etwas, das Heiner Paysen nicht recht einzuordnen vermochte. Er rümpfte die Nase, atmete möglichst flach, während er in seiner Hosentasche nach Kleingeld kramte, als er bemerkte, dass die Tür zur Kabine nur angelehnt war.

»Hallo?« Er trat einen Schritt näher, klopfte gegen die Tür, und als er keine Rückmeldung erhielt, zog er sie weiter auf.

Heiner Paysens Blick erfasste zunächst ein paar blaue Turnschuhe, dann sah er den dazugehörigen Körper auf der Seite zwischen Toilettenschüssel und Kabinenwand liegen.

»Das darf doch nicht wahr sein«, entfuhr es Paysen. »Hallo, aufwachen!« Er spürte, dass er seinen Harndrang nicht länger zurückhalten konnte, und stieß den am Boden Liegenden mit dem Fuß an. Der rührte sich nicht.

»Dat gifft dat ja woll nich!«

Paysen drehte sich zum Handwaschbecken um, öffnete den Reißverschluss der Hose und hob die Fersen an.

Endlich. Das immer noch quer sitzende Stöhnen entfuhr ihm, während gleichzeitig ein leichtes Plätschern zu hören war. Wie gut das tat. Heiner Paysen schüttelte die letzten Tropfen ab und schloss die Hose.

Als er sich wieder umwandte, lag der Mann immer noch unverändert da. Obwohl, Mann? Heiner Paysen beugte sich leicht über den Schlafenden. Das war ein Jugendlicher, höchstens siebzehn, auf keinen Fall volljährig. Was machte der hier? Vermissten die Eltern ihn nicht? Heiner schüttelte den Kopf, während er den Arm ausstreckte und den Jungen an der Schulter berührte.

»Junge? Hallo?«

Keine Reaktion.

»Ey, hier kannst du nicht liegen bleiben. Du gehörst to Huus.« Er packte etwas fester zu und versuchte, den Körper ein Stück zu sich zu drehen, was sich als gar nicht so einfach erwies. Wie festgeklebt erschien ihm der Junge auf dem Fliesenboden.

Dann eben auf die harte Tour, beschloss Heiner Paysen, trat einen Schritt zurück, beugte sich hinunter zu den Füßen und zog den jungen Mann aus der Kabine. Ein schabendes Geräusch ertönte und Heiner war erstaunt, wie schwer der Körper wog. So fest konnte man doch gar nicht schlafen. Selbst im Vollrausch nicht. Obwohl, Heiner Paysen schnüffelte, nach Alkohol roch der Junge eigentlich nicht.

Er richtete sich auf, ließ seinen Blick über den Körper hinauf ins Gesicht wandern und zuckte zusammen, als er bemerkte, wie ihn glanzlose Augen anstarrten.

2. Kapitel

Dirk Thamsen summte leise vor sich hin, während er Wasser in die Kaffeemaschine füllte und anschließend zwei Gläser Orangensaft, frisch aufgebackene Brötchen, einen Teller mit Aufschnitt und Marmelade auf das hölzerne Tablett drapierte. Was für ein wundervoller Morgen, dachte er, als er ein paar Weintrauben aus dem Kühlschrank nahm und damit den Teller mit dem Aufschnitt dekorierte.

Dörte und er hatten sturmfreie Bude. Lotta und Hanno hatten bei Freunden übernachtet, und Dirk wollte Dörte mit einem Frühstück im Bett überraschen. Anschließend ergab sich vielleicht … Ein schepperndes Geräusch unterbrach seine Gedanken. Sein Handy, das er auf lautlos gestellt hatte, surrte aufgrund des Vibrationsalarms über die Tischplatte und stieß mit einem »Klack« gegen das Holztablett.

»Nee, Jungs«, stöhnte Dirk auf, als er die Nummer der Dienststelle erkannte. »Es ist Sonntag, ich habe frei.« Er starrte auf das Display, bis der Anruf auf die Mailbox umgeleitet wurde und das Vibrieren stoppte. »Heute müsst ihr mal alleine klarkommen.«

Das Handy kündigte mit einem kurzen Piepton eine Sprachnachricht an, die Dirk zu ignorieren beschloss. Stattdessen beobachtete er, wie der Kaffee in die Kanne tröpfelte und dabei einen aromatischen Duft verströmte. Er liebte Kaffee. Und Dörte. Und dieser Morgen gehörte nur ihnen beiden. Als der Kaffee durchgelaufen war, füllte er zwei Tassen und stellte sie auf das Tablett, das er anschließend ins Schlafzimmer balancierte.

Dörte war bereits wach und lächelte ihm entgegen, als sie ihn mit der Frühstücksüberraschung sah. »Oh, das gab es ja schon eine Ewigkeit nicht mehr. Wir beide allein und Frühstück im Bett.«

Sie zog die Bettdecke gerade, sodass Dirk das Tablett darauf abstellen konnte.

»Das habe ich mir auch gedacht. So einen Morgen ohne Kinder sollten wir ausnutzen.« Er zwinkerte ihr zu und reichte ihr eine Tasse Kaffee, ehe er selbst vorsichtig zurück ins Bett schlüpfte.

»Mhmm«, vernahm er Dörtes wohligen Gefühlsausdruck, »herrlich.« Sie griff nach einem Brötchen und belegte es mit Salami. »Ich habe jetzt echt Hunger.«

»Na ja, es ist ja auch schon nach acht.« Er grinste. Seit er Kinder hatte, war acht Uhr für ihn eher eine späte Zeit. Früher, als Junggeselle, hatte er locker bis mittags schlafen können, aber seit Anne und Timo, seine Kinder aus erster Ehe, auf die Welt gekommen waren, hatte er so gut wie nie mehr lange geschlafen, selbst dann nicht, als die beiden älter geworden waren. Das frühe Aufstehen war zur Gewohnheit geworden, und daher war es für ihn auch keine Umstellung gewesen, als vor knapp zehn Jahren ihre gemeinsame Tochter Lotta und kurz darauf Hanno geboren worden war.

Trotzdem bedeutete das nicht, dass Dirk sich nicht nach einem ruhigen Morgen sehnte, häufig fühlte er sich zu alt für Kinder und war oft genervt vom Trubel, den sie verursachten. Umso mehr genoss er die Stille an diesem Sonntagmorgen und das gemeinsame Frühstück mit Dörte. Sie war so entspannt, fiel ihm auf, dass sie sich nicht einmal über die Krümel im Bett beschwerte. Er strich über ihren Arm, bemerkte, wie sich die feinen Härchen darauf aufstellten, lehnte sich zu ihr und … »Ring, Ring, Ring.«

Dirk zuckte zurück und stieß gegen das Tablett, sodass eines der Orangensaftgläser umfiel und die Flüssigkeit sich über die Bettdecke ergoss.

»Ring, Ring, Ring.«

»Herrgott noch mal!« Dirk wälzte sich aus dem Bett. »Wer klingelt denn in dieser Herrgottsfrühe Sturm bei uns?«

»Vielleicht ist was mit den Kindern?« Dörte sprang geradezu aus dem Bett und eilte zur Haustür.

»Oh«, hörte er ihren erstaunten Ausruf, während er sich ein Shirt überzog und in den Flur ging.

In der Haustür stand Ansgar Rolfs, sein Mitarbeiter, und schaute mit leicht gesenktem Kopf zwischen ihm und Dörte, die lediglich ein kurzes Nachthemd trug, hin und her.

»Entschuldigt bitte.« An seinem Blick erkannte Dirk, dass Ansgar die Situation erfasst hatte. »Ich wollte nicht stören, aber du bist nicht ans Telefon gegangen.«

»Es ist Sonntag.« Dirk zog leicht die Schultern nach oben.

»Ich weiß, und ich würde dich auch nicht belästigen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Es gab einen Leichenfund, und …«

»Einen Leichenfund? Wo?« Der Grund, weswegen sein Mitarbeiter ihn an seinem freien Tag störte, war wirklich keine Bagatelle. Für gewöhnlich hatten sie es in Niebüll und Umgebung mit Einbrüchen, Diebstählen, Schlägereien und Betrug zu tun. Selten gab es dabei Tote, daher war ein Leichenfund selbstverständlich Chefsache. Dirk winkte Ansgar herein, der schüttelte jedoch den Kopf. »Ich warte im Auto auf dich.«

Keine zehn Minuten später stieg Dirk Thamsen zu Ansgar Rolfs in den Wagen.

»Wo genau wurde die Leiche entdeckt?«

»Am Bahnhof, aber viel mehr weiß ich auch nicht. Nur, dass es sich um einen Jugendlichen handelt.«

»Ein Jugendlicher?« Dirk runzelte die Stirn, während Ansgar nickte und den Wagen Richtung Bahnhof lenkte. Sein Blick wanderte durch das Seitenfenster. Vielleicht ein Suizid, überlegte er. Der Ort wirkte auf viele junge Leute nicht gerade reizvoll, insbesondere nicht in den letzten Tagen, an denen sich die Sonne kaum gezeigt hatte, was die Stadt trist und öde aussehen hatte lassen. Aber warum sollte sich jemand am Bahnhof umbringen?

»Könnte ein Alkoholtoter sein«, mutmaßte nun Ansgar, der sich auch seine Gedanken zu machen schien. »Gestern war doch Abifeier, da wurde bestimmt reichlich Alkohol konsumiert, und manch einer weiß einfach nicht, wo seine Grenzen sind.«

»Möglich.« Es hatte wenig Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen und Mutmaßungen anzustellen, ohne die Umstände zu kennen, dachte Dirk, dennoch war es ihm unmöglich, das Gedankenkarussell in seinem Kopf zu stoppen. Schließlich war er selbst Vater und konnte zumindest ein Stück weit erahnen, wie es sich anfühlen mochte, wenn man ein Kind verlor.

Ansgar bog in die Bahnhofstraße ab und sogleich schob sich der Peterwagen der Kollegen von der Bereitschaft in ihr Sichtfeld. Wenige Meter entfernt befand sich ein Einsatzfahrzeug des Rettungsdienstes.

In der Bahnhofshalle drängten sich etliche Schaulustige vor der Absperrung, die die Kollegen vom Bereitschaftsdienst um die Toilettenanlage gezogen hatte, und reckten ihre Hälse. Dirk ärgerte sich über die Menschen, die dicht an dicht hinter dem rot-weißen Flatterband standen und sich am Leid eines anderen ergötzen wollten.

»Gehen Sie bitte weiter. Hier gibt es nichts zu sehen«, raunzte er die Leute an, obwohl er wusste, dass seine Worte rein gar nichts bewirken würden. Und im Grunde log er ja auch, denn es gab sehr wohl etwas zu sehen, nämlich einen Jungen, der tot auf dem Fliesenboden der Bahnhofstoilette lag, und einen Notarzt, der sich eben neben der Leiche aus seiner knienden Position in die Höhe stemmte und Dirk einen Beutel mit bunten Pillen entgegenhielt.

»Ich denke, das hier ist die Todesursache.«

Dirk nahm den kleinen durchsichtigen Beutel und betrachtete die verschiedenfarbigen Tabletten. Hatte der Junge versucht, sich auf diese Art und Weise sein Leben bunter zu machen?

»Überdosis?«

»Weiß ich nicht, vielleicht hat er noch was anderes geschluckt oder in der Kombi mit Alkohol die Dinger nicht vertragen.«

»Ich dachte nur, weil er so viele bei sich hat?«

»Na ja, vielleicht waren die nicht alle für den Eigenbedarf«, mutmaßte der Mediziner und schwang sich seinen Notfallrucksack auf den Rücken. »Fakt ist, dass es zum Herzstillstand gekommen ist, über die näheren Umstände kann ich nichts sagen. Da müsste ein Rechtsmediziner ran.«

»Hm, ja, danke.« Dirk wusste, wie schwierig es werden würde, eine Obduktion genehmigt zu bekommen, denn die bunten kleinen Pillen sprachen eigentlich für sich. Es war kein Geheimnis, dass sie auch in Niebüll im Umlauf waren. Sie hatten es in der Vergangenheit immer mal wieder mit kleineren Drogendelikten zu tun gehabt, aber an einen Todesfall mit Betäubungsmitteln konnte er sich nicht erinnern. Vielleicht war das ein Aspekt, der den Staatsanwalt überzeugen würde? Dirk seufzte. Sicherlich nicht unbedingt an einem frühen Sonntagmorgen, trotzdem musste er es versuchen. Er würde es sich nicht verzeihen, wenn er den toten Jugendlichen leichtfertig als Junkie abstempelte und als Drogentoten verbuchte. Vielleicht steckte doch mehr hinter dem Fall.

Er nickte Ansgar zu. »Rufst du die Kollegen von der SpuSi und anschließend den Bestatter?«

»Geht klar, Chef.«

Dirk warf einen letzten Blick auf die Leiche. Der Körperbau entsprach schon beinahe dem eines Erwachsenen, aber das Gesicht wies noch kindliche Züge auf. Ihm wurde bewusst, wie viel Glück er mit seinen beiden älteren Kindern gehabt hatte. Wenngleich sie nicht immer den Weg gegangen waren, den er sich für sie gewünscht hatte, wirklich Sorgen um die beiden hatte er sich nie machen müssen. Er hoffte, dass es bei Lotta und Hanno ähnlich sein würde.

»Okay, ich schau mal, ob ich den Staatsanwalt überzeugen kann, sich die Umstände näher anzuschauen. Falls nicht, könnten die Eltern …« Ihm grauste jetzt schon davor, der Familie die schreckliche Botschaft zu überbringen. »Ein Schritt nach dem anderen«, murmelte er und schob den Besuch bei den Eltern gedanklich in weite Ferne, zumal sie bisher nicht einmal den Namen des Toten kannten.

Haie reckte und streckte sich, stemmte sich vom Bett auf, um gleich darauf in die Knie zu gehen. Auf und nieder, immer wieder. So hatte es ihm sein Arzt empfohlen.

Seine Gelenke knackten, ihm wurde warm. »Acht, neun, zehn!« Haie atmete schwer aus, ehe er in seine Pantoffeln schlüpfte und hinunter in die Küche ging.

Im Haus war es still. Tom hatte bei Astrid übernachtet, und Niklas schlief vermutlich noch, weil er wieder bis spät in die Nacht mit der Playstation gespielt hatte.

Haie stellte die Kaffeemaschine an, die er bereits am Abend zuvor mit Wasser und Kaffeepulver befüllt hatte, und ging ins Bad.

Nach dem Toilettengang kämmte er sich, strich zweimal mit dem Deoroller in seine Achselhöhlen und zog sich an.

Als er das Bad verließ, war der Kaffee bereits durchgelaufen. Er gönnte sich eine Tasse und blickte zum Fenster hinaus. Der Himmel präsentierte sich auch heute wieder in mehreren Grauschattierungen. Viel Lust hinauszugehen, verspürte er nicht, aber sonntags war nun einmal Frische-Brötchen-Tag. Da führte für ihn kein Weg dran vorbei.

Er goss den restlichen Kaffee in die Thermoskanne und zog sich dann im Flur seine Jacke an. Brauchte er eine Mütze? Irgendwie sträubte Haie sich gegen eine Kopfbedeckung, nun, wo der Sommer zumindest laut Kalender quasi vor der Tür stand.

Ach watt, entschied er, notfalls hatte seine Jacke eine Kapuze. Das musste reichen.

Er holte sein E-Bike aus dem Schuppen und schob es durch den Garten zur Steege, wo er aufstieg und losradelte. Doch schon nach wenigen Metern hielt er an, um sich die Kapuze aufzusetzen, da ihm der Wind ordentlich um die Ohren pfiff.

Kurz vorm Bahnübergang bog er in den Mooringer Wäi ab, der auf die Dorfstraße führte, die er weiter Richtung Bundesstraße befuhr. Vor der Bäckerpost bremste er und stellte sein Fahrrad am Ständer ab.

Wie jeden Sonntag herrschte in dem kleinen Laden Hochbetrieb, aber heute erschien Haie das Gedränge ungewöhnlich dicht, selbst auf den Stufen zum Eingang standen Leute. »Moin«, grüßte er und reihte sich in die Warteschlange ein.

»Was ist denn hier los?«, fragte er wenige Minuten später den jungen Mann vor sich, da es nicht voranging. Nicht ein Kunde hatte bisher die Bäckerpost verlassen, dabei lief Haie bei dem Geruch von frischen Brötchen das Wasser im Mund zusammen und sein Magen meldete sich lautstark zu Wort.

Der große blonde Mann reckte seinen Kopf in die Höhe. »Keine Ahnung«, entgegnete er, »da gibt es anscheinend eine Diskussion.«

»Diskussion? Worüber denn?«

Haie sah, wie der Kunde vor ihm lediglich mit den Schultern zuckte, während er sich weiter in den Verkaufsraum schob.

Haie kratzte sich am Kopf. Die Brötchenpreise waren in der letzten Zeit gestiegen. Ob sich ein Kunde darüber beschwerte? Was verursachte bloß die lange Wartezeit?

Anders als bei der Kaufmannsfrau Helene, die an der Kasse oft über die Neuigkeiten im Dorf tratschte, waren die Mitarbeiter des kleinen Bäckerladens eigentlich nicht dafür bekannt, lange Gespräche zu führen, schon gar nicht bei solch einem Andrang. Haie versuchte, sich weiter in den Laden zu schieben, und fing sich dafür einen genervten Blick des großen Blonden ein, der gleich darauf einen Schritt zur Seite trat, da endlich ein Kunde den Bäckerladen verließ.

»Moin, Willi, sach ma, watt ist denn heut hier los?«

Der Mann im Bundeswehrparka sah ihn verblüfft an. »Ja, hast du denn noch nicht Bescheid?«

Haie runzelte die Stirn. »Bescheid? Worüber?«

»Na, in Niebüll aufm Bahnhofsklo haben sie einen Toten gefunden.«

»Waaas?«, entfuhr es Haie, und er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

»Nee, davon habe ich noch nichts gehört. Weiß man denn, wer es ist und was passiert ist?«

Willi Sörensen zuckte mit den Schultern. »Dat weiß man nicht. Schade, dass Helene heute nicht aufhat, sonst wüssten wir wohl schon mehr.«

Haie bezweifelte zwar, dass sie schlauer wären, wenn der Sparmarkt, der als Umschlagplatz für Neuigkeiten im Dorf galt, geöffnet hätte, nickte aber. Helene war auch dafür bekannt, dass sie fehlende Informationen selbst erfand.

Das brachte keineswegs mehr Licht ins Dunkel, sondern sorgte regelmäßig für Verwirrungen, oftmals sogar für Anfeindungen im Dorf. Da war es ihm lieber, unwissend zu bleiben, als irgendwelchen Gerüchten auf den Leim zu gehen. Haie war auf Spekulationen nicht angewiesen, er konnte sich bei Dirk Thamsen über die wahren Umstände erkundigen. Schließlich waren er und der Kommissar seit Jahren befreundet, und Haie hatte mehr als einmal geholfen, einen Mordfall aufzuklären. Wenn er nicht bereits Rentner wäre, hätte die Polizei ihm sicherlich schon längst ein Jobangebot gemacht. Er wusste aber auch, dass so ein Leichenfund viel Arbeit mit sich brachte und sein Anruf den Freund dabei stören würde.

Besser, er verschaffte sich ein eigenes Bild von der Lage. Haie machte kehrt und setzte sich aufs Fahrrad. Brötchen würde er heute ausnahmsweise in Niebüll besorgen.

»Ja, Herr Lehmann. Ich weiß, dass ein Bauchgefühl keine Obduktion rechtfertigt.« Wie befürchtet, war der Staatsanwalt nicht begeistert von Dirks Anruf. »Aber der Leichenfund wird hier für großen Aufruhr sorgen, und da möchte ich mir nichts vorwerfen lassen.«

Er lauschte Lehmanns Antwort, während er sich an seinen Wagen lehnte und den Blick über die Fassade des Bahnhofs wandern ließ. Er wusste, dass er keine schlagenden Argumente hatte, und machte sich innerlich bereits darauf gefasst, die Eltern auffordern zu müssen, eine Untersuchung zu beantragen. Wider Erwarten lenkte der Staatsanwalt jedoch ein.

»Wissen Sie, Thamsen, ich habe selbst Kinder. Die Eltern haben ein Recht darauf, zu erfahren, was genau passiert ist. Es wird ohnehin schwer für sie werden. So oder so.«

Dirk stieß sich angesichts der unerwarteten Reaktion vom Wagen ab. Mit dieser schnellen Entscheidung hatte er nicht gerechnet.

»Da haben Sie recht. Ich gebe gleich in Kiel Bescheid.«

Er beendete das Gespräch und wollte sich gerade dem Eingang zuwenden, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ein Fahrradfahrer näherte sich dem Bahnhof und die Gestalt kam ihm verdächtig bekannt vor.

»Hallo, Dirk, hallo!« Haie winkte ihm zu und geriet durch die Bewegung leicht ins Schlingern.

Dirk zog die Augenbrauen in die Höhe. Immer wieder wunderte er sich, wie schnell sein Freund von derlei Ereignissen erfuhr. Was allerdings bedeutete, dass sich der Leichenfund bereits bis nach Risum rumgesprochen hatte.

»Moin, Haie, was machst du denn hier?«

»Hab gehört, es gab einen Toten auf der Bahnhofstoilette.« Wie zur Bestätigung stoppte der Wagen des örtlichen Bestattungsunternehmens neben ihnen. Schweigend beobachteten sie, wie der Bestatter und ein Mitarbeiter ausstiegen, zum Heck gingen, die Klappe öffneten und mit einem Rattern eine Bahre herauszogen, auf der ein Zinksarg bedrohlich hin und her schwankte.

»Einen Moment wird es noch dauern, denke ich, erst müssen die Kollegen von der SpuSi ran,« unterbrach Dirk den Arbeitseifer der beiden. »Anschließend muss die Leiche nach Kiel in die Rechtsmedizin.«

»Nach Kiel?« Haie hatte seine Stimme wiedergefunden. »Handelt es sich denn um ein Mordopfer?«

»Das kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.«

3. Kapitel

»Was ist denn hier los?«, wunderte sich Tom Meissner, als er in die Bahnhofstraße einbog, um seine Freundin Astrid zum Zug nach Westerland zu bringen. Sie wollte heute Mittag zu einem Vortrag eines Kollegen über den Mitternachtsweg auf Sylt. Tom hätte sie gern begleitet, hatte aber Niklas versprochen, mit ihm ins Kino zu gehen.

»Ist das nicht Haie?« Astrid deutete durch die Windschutzscheibe zum Eingang des Bahnhofgebäudes hinüber, wo Haie zusammen mit Dirk Thamsen neben einem Leichenwagen stand. Tom folgte ihrem Fingerzeig und schüttelte augenblicklich den Kopf.

»Er kann es einfach nicht lassen«, entfuhr es ihm. Er parkte, öffnete die Tür und wartete, bis Astrid ebenfalls ausgestiegen war, ehe er den Wagen verriegelte. Haie war inzwischen ebenso wie Dirk im Gebäude verschwunden. Tom folgte den beiden mit schnellen Schritten und merkte gar nicht, wie Astrid zurückfiel.

In der Bahnhofshalle herrschte dichtes Gedränge, das sich augenscheinlich Richtung Toilettenanlage schob. Tom stellte sich auf Zehenspitzen und blickte über das Meer an Köpfen. Er sah, wie sich die Menge im vorderen Bereich teilte, um Dirk und Haie Platz zu machen. Er drehte sich zu Astrid um, die mittlerweile hinter ihm stand und auf den Zuganzeiger schaute.

»Geh nur, mein Zug scheint pünktlich zu sein und fährt dann gleich ab.«

Eilig küsste Tom sie auf den Mund. »Sag Bescheid, wenn ich dich abholen soll, ja?«

Astrids Nicken nahm er nur noch aus den Augenwinkeln wahr.

Es gelang ihm kaum, sich durch das Gedränge zu schieben. Immer wieder stellte sich ihm ein Bein, ein Rücken, ein ganzer Körper in den Weg. Tom kam ordentlich ins Schwitzen und roch, dass es anderen ähnlich erging. Er hoffte nur, dass sein Deo nicht versagte, wie bei manch einem der Umstehenden, die hier und da tuschelnd die Köpfe zusammensteckten. Wortfetzen wie »Drogentoter« und »Junkie« drangen an sein Ohr, und er fragte sich, was passiert sein mochte.

Nach einigem Geschiebe und Gedränge erreichte Tom schließlich das rot-weiße Absperrband, vor dem auch Haie stand.

»Hallo, Haie!«

Der Freund schenkte ihm einen flüchtigen Seitenblick.

»Ach, Tom.«

»Was ist denn hier los?«

»Da drin haben sie einen Toten entdeckt. Angeblich ein Drogenopfer.« Tom spürte Haies Hand auf seiner Schulter, als der versuchte, auf Zehenspitzen das Gleichgewicht zu halten. Ein mulmiges Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, er verspürte einen Fluchtimpuls, wollte sich abwenden, als er Dirk auf ihn und Haie zutreten sah. An seinem Gesichtsausdruck konnte Tom die Verwunderung ablesen, ihn hier anzutreffen.

»Ich hab Astrid zum Zug gebracht und Haie …«

»Kommt mal mit«, unterbrach Dirk ihn und bückte sich unter dem Flatterband hindurch. Tom folgte ihm zusammen mit Haie durch die Menge hinaus auf den Vorplatz, wo Dirk dem Freund sein Handy entgegenhielt. »Kennst du den?«

»Ja«, hörte Tom Haie sagen, »den kenne ich. Das ist Jan Lamprecht aus Fahretoft. Siehst du das große Muttermal auf der rechten Wange?«

Haie deutete auf etwas, das Tom verborgen blieb.

»Die anderen Kinder in der Grundschule haben ihn deswegen immer gehänselt. Haben gesagt, das sehe wie ein Vogelschiss aus. Hat viel durchgemacht, der Junge.«

Den wenigen Worten entnahm Tom, dass sich auf dem Handy ein Bild des Toten befand, auf dem ein ehemaliger Schüler der Risumer Grundschule zu sehen war, an der Haie viele Jahre als Hausmeister gearbeitet hatte.

»Danke, das hilft uns enorm weiter.« Dirk klopfte Haie auf die Schulter.

»Aber jetzt kannst du nichts weiter tun«, mischte sich Tom ein und fasste Haie am Ärmel seiner Jacke. Er wollte nicht, dass Haie sich wieder in polizeiliche Ermittlungen einmischte. Viel zu oft hatte sich Haie in den letzten Jahren dabei selbst in Gefahr gebracht. Tom hatte schlichtweg Angst um ihn. Haie war nicht mehr der Jüngste, auch wenn er es nicht einsehen wollte. Aber die Zeit machte auch vor ihm nicht halt, und er war nicht mehr der Jungspund, für den er sich immer noch hielt. Außerdem wollte er selbst so schnell wie möglich nach Hause.

»Hast du überhaupt schon gefrühstückt?«

Haie blickte Tom mit geröteten Wangen und weit geöffneten Augen an. An dem Ausdruck in seinem Gesicht konnte er erkennen, dass Haie sich wunderte, wie er in diesem Moment eine solch banale Frage stellen konnte. Und im Grunde genommen hatte er recht, musste Tom sich eingestehen. Nicht nur für den Jungen, sondern vermutlich auch für die Eltern hatte die Welt mit dem letzten Atemzug des Kindes aufgehört, sich zu drehen. Tom wandte sich schnell ab. Seit dem tödlichen Anschlag auf seine Frau Marlene vermied er es, mit dem Thema Tod in Berührung zu kommen, verdrängte die Endlichkeit des Seins, die einen unumkehrbaren Verlust bedeutete. Auch wenn es viele Jahre her war, der Schmerz war niemals ganz verschwunden, und an manchen Tagen kam es Tom so vor, als wäre Marlene erst gestern aus seinem Leben gerissen worden. Er vermisste sie noch immer, und dieses Gefühl, das er damals empfunden hatte, diese Leere, die sich brennend und stechend durch seine Eingeweide gewunden hatte, wollte er niemals wieder durchmachen müssen.

»Komm, Haie, hier gibt es für dich nichts mehr zu tun, oder, Herr Kommissar?«

Er hörte, wie Dirk sich räusperte. »Okay, ja, danke, Haie. Du hast uns wirklich sehr geholfen, aber jetzt müssen wir erst einmal auf die SpuSi warten. Das kann dauern. Geh ruhig frühstücken, ich melde mich bei dir.«

»Wo sind denn die Brötchen?« Niklas blickte Haie fragend an, als er in die Küche trat. Sein Patenkind hatte in der Zwischenzeit den Frühstückstisch gedeckt.

»Ich, ähm …« Haie trat von einem Fuß auf den anderen. In der Aufregung hatte er schlichtweg vergessen, welche zu besorgen. Sollte er noch einmal losradeln? Und wie konnte er Niklas das erklären? Er wollte ihn nicht mit dem Leichenfund belasten, denn ähnlich wie Tom reagierte der Junge empfindlich, wenn er mit dem Tod konfrontiert wurde.

»Es gab keine mehr.«

»Es gab keine mehr?« Niklas runzelte die Stirn.

»Ja, alles ausverkauft.«

»Das gibt es doch gar nicht.«

»Doch, doch, nicht einmal mehr Brot gab es, nur noch Kuchen, und du willst ja keinen Kuchen zum Frühstück, oder?«

»Warum nicht?«

»Niklas …«

»Ist ja schon gut, aber was essen wir denn nun?«

Haie kratzte sich am Kopf. »Knäckebrot.«

»Knäckebrot?« Niklas verzog das Gesicht.

»Mensch«, Tom öffnete schwungvoll die Tür, »bei der Bäckerpost war die Hölle los.« Er warf eine Brötchentüte auf den Küchentisch.

Niklas blickte mit großen Augen zunächst auf die Tüte und dann zu Haie, der wortlos den Inhalt in den Brotkorb schüttete.

»Ich habe vielleicht einen Hunger!« Haie setzte sich und griff nach einem Körnerbrötchen.

»Na ja«, Tom ließ sich ebenfalls auf einen der Stühle fallen, »hast ja auch schon schwer ermittelt.«

»Ermittelt?«, fragte Niklas.

»Mpfm«, entgegnete Haie, der sich schnell eine Scheibe Wurst auf das Brötchen gelegt und einen großen Bissen in den Mund gestopft hatte.

»Was ist denn passiert?« Niklas nahm sich ein Hörnchen aus dem Korb und langte nach dem Nutella-Glas.

»Nichts«, prustete Haie hervor und spuckte dabei einige Krümel über den Tisch, was von Niklas mit einem angewiderten Gesichtsausdruck kommentiert wurde.

»Und wegen nichts hast du ermittelt und deswegen die Brötchen vergessen? Ich denke, man darf nicht lügen?«

Haie spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. »Da hast du völlig recht«, stimmte Tom seinem Sohn zu. »Aber dein Patenonkel denkt, er sei für jeden x-beliebigen Toten hier in der Gegend zuständig.« Toms Ärger über Haies Einmischung in polizeiliche Ermittlungen wog anscheinend schwerer als die Furcht vor schmerzlichen Erinnerungen, wertete Haie den verbalen Angriff. Er wollte vor Niklas nicht über den Leichenfund sprechen, aber so konnte er Toms Aussage nicht stehen lassen.

»Es handelt sich nicht um einen x-beliebigen Jungen, sondern um Jan Lamprecht.«

Haie sah, wie Niklas schluckte, und bereute augenblicklich seine Reaktion.

»Jan Lamprecht? Den kenne ich. Der geht in die Oberstufe. Was ist mit dem?«

»Nichts«, presste Haie hervor.

»Nichts?

»Welchen Film wollt ihr euch denn heute anschauen?«, versuchte Haie abzulenken, doch Niklas interessierte viel mehr, was mit dem älteren Jungen aus seiner Schule war.

»Hör mal, Niklas, hast du mit dem was zu tun? Hast du gewusst, dass der Drogen nimmt?« Haie wollte das Gespräch wenigstens in eine andere Richtung lenken.

»Drogen? Meinst du diese bunten Dinger?«

Haie zuckte leicht zusammen. Er hätte nicht gedacht, dass sein Patenkind damit bisher in Berührung gekommen war.

»Niklas«, fuhr er auf, »das sind tödliche Pillen. Eine zu viel und du bist weg! Hast du da mal was mitbekommen?«

Niklas rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Na ja, ein paar aus meiner Klasse … ähm, also … ich habe mal gehört, wie sie darüber sprachen.«

»Worüber?« Haie lehnte sich ein Stück vor.

»Dass die Pillen lustig machen.«

»Lustig?« Haie sah, wie Tom die Augenbrauen nach oben zog, während er einen Schluck aus seiner Kaffeetasse nahm.

»Und weißt du, wo die herkommen, diese Tabletten?«

Niklas zuckte mit den Schultern und krauste gleich darauf die Stirn. »Ich hab mal gesehen, wie Jan jemandem so ein kleines Tütchen zugeschoben hat. Meinst du …?« Er blickte Haie mit gesenktem Kopf von unten herauf an.

»Wo hast du das gesehen?«

»Auf dem Schulhof.«

Dirk Thamsen stieg in seinen Wagen und startete den Motor. Ein Kollege auf der Dienststelle hatte ihm die Adresse von Jan Lamprechts Eltern herausgesucht. Es war an der Zeit, die traurige Nachricht zu überbringen, bevor die Angehörigen womöglich noch auf anderem Wege vom Tod ihres Sohnes erfuhren.

Er trat aufs Gaspedal, zuckte zusammen und bremste. Vor ihm querte ein Fußgänger die Straße. »Mensch«, fluchte er leise, »musst du unbedingt hier langlatschen!« Er wartete, bis der junge Mann im schwarzen Kapuzenshirt die andere Seite erreicht hatte. Kein Wunder, dass der nichts mitkriegt, kommentierte Dirk die tief ins Gesicht gezogene Kapuze, als er losfuhr.

Er lenkte den Wagen durchs Gewerbegebiet bis zum Kreisverkehr, nahm anschließend den Legerader Weg, der ihn auf die Deezbüller Straße brachte, die schließlich in die Dorfstraße in Risum mündete. Hinter dem Sparmarkt bog er in den Herrenkoog ab, vorbei an der Grundschule, die Jan Lamprecht nach Haies Angaben besucht hatte. Als ihm bewusst wurde, dass er dem ehemaligen Schulweg des toten Jungen folgte, schluckte er schwer. Wie sollte er den Eltern erklären, dass ihr Sohn nie wieder nach Hause kommen würde? Egal, was er sagte, es würde ihnen den Boden unter den Füßen wegreißen, ihr Leben zum Einsturz bringen. Das eigene Kind tot. Das musste sich anfühlen, als würde einem bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen. Er wollte sich nicht vorstellen, was er empfinden würde, wenn Timo, Anne, Lotta oder Hanno etwas zustieße. Kinder sollten nicht vor den Eltern die Welt verlassen, schon gar nicht so, dachte Dirk und stockte. Noch wussten sie nicht genau, was mit Jan Lamprecht geschehen war. Hatte er wirklich zu viele Tabletten geschluckt und war an einer Überdosis gestorben? Er hätte gerne mehr Informationen für die Eltern parat gehabt, aber die Feststellung der Todesursache würde noch dauern.

Hinter dem Bottschlotter See bog er Richtung Fahretoft ab und stoppte bald darauf an der angegebenen Adresse. Er schaltete den Motor aus und blickte zum Haus hinüber, das sich verschlafen hinter den Deich schmiegte. Die Gegend wirkte idyllisch, aber Dirk wusste, dass dies lediglich seine eigene Wahrnehmung war. Ein Jugendlicher empfand die Abgeschiedenheit womöglich ganz anders. Er stieg aus, straffte die Schultern und folgte dem leicht abschüssigen Weg zur Haustür, wo er neben dem Namensschild der Familie einen Klingelknopf fand. Als er einen Finger darauflegte, bemerkte er, wie dieser leicht zitterte. Schnell übte er Druck aus und vernahm kurze Zeit später ein klares »Ding-Dong«, welches das Haus aus seinem Schlaf erweckte. Er hörte Schritte, dann wurde die Tür geöffnet und Dirk erblickte eine schmale Frau in schwarzem Rock und weißer Rüschenbluse. Sie musste ihn kennen, denn er konnte sehen, wie sich das Blut aus ihrem Gesicht zurückzog, als sie ihn anschaute.

»Frau Lamprecht?« Er räusperte sich.

»Ist was mit Jan? Es ist etwas passiert, oder? Wo ist mein Sohn?« Mit jeder Frage wurde ihre Stimme schriller, was einen Mann an die Tür lockte, der Dirk über die Schulter der Frau hinweg musterte. Er trug einen dunklen Anzug, darunter ein weißes Hemd. Der Aufzug der beiden erweckte in Dirk den Eindruck, als wären sie zum Kirchgang bereit, was ihn verwunderte. Gab es tatsächlich noch Menschen, die an einem gewöhnlichen Sonntag den Gottesdienst besuchten? Zu Ostern, zur Konfirmation, zu Weihnachten – ja, da strömten die Leute in die Kirche, aber ansonsten waren die Zahlen der regelmäßigen Kirchgänger seit Jahren rückläufig, wie Dirk wusste. Er zwang sich, den Gedanken zur Seite zu schieben, da er in diesem Moment keine Rolle spielte.

»Darf ich reinkommen?«, fragte er zögerlich. Der Mann fasste sich als Erster und zog die Frau am Arm aus dem Türrahmen. Schweigend folgte er den beiden in die Küche, wo Herr Lamprecht seine Frau auf einen Stuhl drückte. Dirk blickte sich um. Der Raum war hell und freundlich eingerichtet. Auf der Fensterbank standen einige Orchideen, die um die Wette blühten, auf dem Tisch lagen farbenfrohe Sets, eines davon war eingedeckt. Anscheinend hatten die Eltern Jan zum Frühstück erwartet. Dirk räusperte sich.

»Frau Lamprecht, Herr Lamprecht. Ich habe keine guten Nachrichten«, begann er umständlich das Gespräch. »Also, es ist so, dass ich Ihnen leider mitteilen muss, dass Ihr Sohn heute Morgen tot aufgefunden wurde.« Sein Blick blieb an dem Holzbrett hängen, das ein bunter Pumuckl zierte. Augenscheinlich schien die Zeit stillzustehen, denn die Eltern rührten sich nicht, gaben keinen Laut von sich. Dirk wartete einen Augenblick, vielleicht mussten sie die Nachricht erst erfassen. Als es jedoch weiterhin still in der Küche blieb, räusperte er sich erneut. »Ein Bahnreisender hat Jan in Niebüll am Bahnhof gefunden. Können Sie sich vorstellen, was er dort wollte?«

Der Vater zuckte lediglich mit den Schultern, während Frau Lamprecht ihn nach wie vor anstarrte. Sie schien unter Schock zu stehen, besser, er rief einen Arzt zu Hilfe. Als er sein Handy aus der Jackentasche hervorholte, sprang sie plötzlich auf. »Ich habe ihn tausendmal angerufen, aber er ist einfach nicht rangegangen.« Sie schluchzte auf. »Und warum? Weil er tot ist?«

Dirk nickte leicht, während er überlegte, ob die Kollegen ein Handy bei der Leiche sicherstellen konnten. Am liebsten hätte er sich die Frage in seinem Merkbuch notiert, fand das in dieser Situation aber unangebracht.

»Wo war Jan denn gestern überhaupt?«

»Er wollte zur Abifeier in Niebüll.«

»Hat er denn selbst schon Abitur?« Vielleicht erklärte der Schulabschluss die Kleidung der Eltern?

»Nein, er musste die letzte Klasse wiederholen, aber seine Freunde sind ja nun fertig mit der Schule, und natürlich wollte er dabei sein … und …« Die Mutter schluchzte erneut auf und sank zurück auf den Küchenstuhl.

»Wo genau und wie haben Sie …«, Herr Lamprecht schluckte, »Jan gefunden?« Seine Hand lag auf der Schulter seiner Frau. Dirk hatte den Eindruck, er hielte sich mehr an ihr fest, als ihr Beistand zu leisten.



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