Galileo Galilei - Klaus Fischer - E-Book

Galileo Galilei E-Book

Klaus Fischer

4,8

Beschreibung

Galileo Galilei is a central figure of the scientific revolution of the modern age. His inventive genius and urge to discover are world-renowned, the debate with the church dictates Galilei's image until today. The author presents a biography on Galilei's work and achievements, which summarises the research findings so far and re-evaluates them. There are no anecdotes or life stories. It focuses on Galilei=s role in revolutionising the worldview in the 17th century, as well as the meaning of science at his time. This informed biography presents him for what he was, an outstanding explorer and inventor of the early modern age.

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Band 733

Klaus Fischer

Galileo Galilei

Biographie seines Denkens

Verlag W. Kohlhammer

 

 

»In den Wissenschaften gilt die Autorität von Tausend Meinungen weniger als ein kleiner Funken Vernunft in einem einzelnen Menschen.«

GALILEI, Briefe über Sonnenflecken

»Deshalb halte ich es für nicht sehr klug, die Güte einer Ansicht durch die Zahl ihrer Anhänger zu bewerten.«

GALILEI, Il Saggiatore

1. Auf lage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021301-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-023955-5

epub:    ISBN 978-3-17-023956-2

mobi:    ISBN 978-3-17-028357-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

1 Einleitung

2 Geistesgeschichtliche Voraussetzungen

2.1 Antikes Erbe

2.1.1 Der hierarchische Kosmos des christianisierten Aristoteles

a. Die Struktur der Materie:

b. Die materielle Struktur des Kosmos:

c. Theorie des Raumes:

d. Physikalische Bewegungslehre:

2.1.2 Eine Welt von Kreisen: Die ptolemäische Astronomie

2.1.3 Die »vergessene« Revolution: Wissenschaft in Alexandria

2.2 Das Gesicht des Gegners: Die Weltsicht des Mittelalters und der Renaissance

2.3 Leistungen der spätscholastischen Naturphilosophie

2.4 Neue Astronomie

2.5 Neue Ziele der Wissenschaft

2.6 Die Verkettung der Ordnungen zerbricht

3 Galileis neue Wissenschaft

3.1 Von der antiken Statik zu einer neuen Bewegungslehre

3.1.1 Das scholastische Erbe als Ausgangspunkt der galileischen Physik

3.1.2 Mit Archimedes gegen Aristoteles: Galileis frühe Bewegungslehre

3.1.3 Galileis Methode

3.1.4 Fortschritt oder Stagnation?

3.2 Von Archimedes zur Klassischen Mechanik

3.2.1 Auf dem Weg zu einer neuen Bewegungslehre

3.2.2 Die Mechanik der

Discorsi

3.2.3 Die methodischen Grundlagen der Galileischen Mechanik

3.3 Der Konflikt um die kopernikanische Astronomie

3.3.1 Ungewöhnliche astronomische Erscheinungen

3.3.3.1 Ein neuer Stern als Testfall des heliozentrischen Systems

3.3.3.2 Das Fernrohr und die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung

3.3.3.3 Der Streit um die Interpretation der Sonnenflecken

3.3.2 Wissenschaft und Religion: das Dekret von 1616

3.3.3 Der Streit um die Kometen von 1618

3.3.4 Der Dialog über das aristotelische und das kopernikanische Weltsystem und der Prozess von 1633

3.3.4.1 Galilei, Urban VIII. und die Jesuiten

3.3.4.2 Der wissenschaftliche Gehalt des

Dialogo

3.3.4.3 Der methodologische Status des heliozentrischen Systems und die Anklage Galileis

3.4 Der zweite Prozess gegen Galilei

4 Chronologie in Stichworten

Werke Galileis

5 Glossar

6 Anmerkungen

1         Einleitung

 

 

Galilei ist nicht nur ein bedeutender Name aus der Geschichte der Wissenschaften, er ist vor allem ein Symbol – ein Symbol für die Emanzipation der Wissenschaft von Religion, Philosophie und politischer Ideologie. Der Name »Galilei« steht für die Befreiung des wissenschaftlichen Denkens aus der Klammer jedweder Bevormundung, woher sie auch kommen möge. Dass Galilei dabei mit der Inquisition in Konflikt kam und zum Schweigen – verbunden mit lebenslangem Hausarrest – verurteilt wurde, gibt seinem Fall eine dramatische Note.

Diese Symbolfunktion des italienischen Denkers ist heute noch ebenso lebendig wie vor 300 Jahren. Dies macht nicht die gesamte, aber immerhin einen großen Teil der Bedeutung Galileis für das moderne Denken aus. Nicht für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung, aber für Galileis Funktion im sogenannten Diskurs der Moderne.

Innerhalb dieses Diskurses gibt es eine wichtige Verzweigung, in der die Beweislage umgekehrt erscheint. In ihr gilt Galilei zwar ebenfalls als ein Vorkämpfer für die Emanzipation der Wissenschaft von Religion, Ideologie, ethischem und politischem Fundamentalismus und sozialen Interessen. Aber dieser Umstand wird hier nicht mehr positiv, sondern negativ gewertet. In dieser Sicht sind die globalen Probleme der heutigen Welt vor allem der ungehemmten Entwicklung der Wissenschaft und ihrer technischen Anwendungen zuzuschreiben. Galilei gilt dann als einer derjenigen, die Wissenschaft und Technik auf diesen Pfad gebracht haben.1

Galilei hat in den Händen seiner Interpreten ein wechselvolles Schicksal gehabt. Sahen die einen2 in ihm den wahren Begründer der empiristischen Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft, so betonte eine zweite Gruppe eher den kontinuierlichen Fortschritt.3 Für sie war Galilei die Krönung einer Entwicklung, die bereits in der Spätscholastik eingesetzt hatte. In einer dritten Deutung sieht man in Galilei vor allem den rationalen Denker, der zwar eine Revolution ausgelöst hatte; aber diese Revolution war ein Ergebnis der Vernunft, nicht der Erfahrung oder des Experiments.4 Zwischen diesen Extremen gibt es auch vermittelnde Positionen.5

Die hier skizzierten Deutungstypen, die man als die »empiristische«, die »kumulative« und die »rationalistische« Auffassung bezeichnen könnte, erschöpfen nicht das Spektrum der möglichen und historisch vorfindbaren Interpretationen. Es handelt sich dabei allerdings um die vorherrschenden Muster, die auch heute noch die Diskussion bestimmen. Die Debatte hat noch keinen Konsens, sondern nur einen neuen Zyklus erreicht, in dem mit geschärftem Instrumentarium und neuem Material gearbeitet wird. Neues Material fand man beispielsweise in den teilweise erhaltenen Arbeitsunterlagen Galileis, anhand derer man erkennen kann, wie Galilei das Problem des Falls und andere Probleme mit den Mitteln des Experiments und der Mathematik lösen wollte.6

Warum beschäftigen wir uns heute noch mit Galilei. Gibt es überhaupt einen Aspekt des Lebens oder der Wissenschaft dieses großen Naturphilosophen, der in den Tausenden von Artikeln und Büchern, die bisher zu Galilei verfasst worden sind, nicht viele Male hin und her gewendet, von allen Seiten beleuchtet, gelobt, kritisiert und je nach Standpunkt mit der gleichen Entschiedenheit gutgeheißen wie verdammt worden ist?

Ja, es gibt solche Aspekte! Selbst die umfassendsten Arbeiten erzählen nicht die ganze Geschichte – »wie sie wirklich gewesen ist«. Dies gilt selbst für die Edizione Nazionale, die Antonio Favaro in 20 Bänden herausgegeben hat. Favaro hat vieles, was an handschriftlichen Notizen, Skizzen, Berechnungen erhalten ist, beiseite gelassen. Viele der unzähligen Briefe, die Galilei schrieb, sind vernichtet, verloren oder in diversen Archiven und Sammlungen unerkannt vergraben. Es ist also durchaus möglich, dass neue Quellen auftauchen. Aber dies ist nicht der einzige Grund, warum unser Bild Galileis nicht als vollständig bezeichnet werden kann.

Unbestreitbar ist es der Detailforschung im Laufe der letzten 50 Jahre gelungen, viele Fragen zu beantworten und neue Quellen zu erschließen. Unbestreitbar ist aber auch, dass sie im gleichen Zuge neue Fragen gestellt hat, die vielleicht sogar die gelösten zahlenmäßig übertreffen. Die verschiedenen Deutungen Galileis auf der Basis spezifischer Selektionen aus den vorliegenden Quellen zeigen, dass ein Verständnis dieses Forschers keineswegs eine lineare Funktion der Menge an bekannten Tatsachen über sein Leben und sein Umfeld ist. Ebenso wichtig wie neue Quellen sind neue Perspektiven und neue theoretische Gesichtspunkte. Der »laufende Diskurs« erzeugt ein Bedürfnis nach neuen Interpretationen, das in der Regel auch bedient wird. In der Wissenschaftsgeschichte wie in anderen Bereichen der Forschung äußern sich diese Gesichtspunkte der Betrachtung als Moden, Stile, Weltbilder, Paradigmen, Perspektiven, allgemein: kognitive Filter, die den Forscher davor bewahren, sich in einer Welt ungeordneter Tatsachen zu verlieren. Diese Filter wählen die für ihn bedeutsamen Tatsachen aus und sie stellen ihm Ordnungskriterien zur Verfügung, mit denen Hilfe er die Tatsachen miteinander verbindet. Ein neueres Beispiel hierfür ist die Studie von Mario Biagioli,7 der die These vertritt, dass sich Galileis Konflikte mit seinen akademischen und klerikalen Gegnern nur auf dem Hintergrund der höfischen Normen dieser Zeit begreifen lassen. Ein anderes Beispiel ist die Studie von Pietro Redondi über »Galilei den Ketzer«, in der der angebliche geheime Atomismus Galileis zum Dreh- und Angelpunkt seiner Kontroversen mit Kirche und Inquisition gemacht wird.

Um keine falschen Prioritäten zu setzen, muss aber betont werden, dass die Suche nach neuen Quellen ebenso wichtig wie die Suche nach neuen Perspektiven bleibt. Kaum ein anderes Ereignis hat die Sicht der Galileischen Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten so sehr verändert wie Stillman Drakes Entdeckung der sogenannten »Arbeitsblätter« Galileis. Hierbei geht es in der Regel um undatierte und unzusammenhängende Notizblätter, auf denen Galilei über viele Jahre hinweg die Ergebnisse seiner Experimente aufgezeichnet hat. Bei einem Hochwasser wären sie um ein Haar in dem Archiv, in dem sie unausgewertet lagerten, vernichtet worden. Dies verweist auf einen Faktor, den man nicht kalkulieren kann, der aber stets bereit ist zu intervenieren: den Zufall.

Uns geht in diesem Buch nicht um einen Beitrag zur Quellenforschung, sondern um eine Zusammenfassung und Bewertung der bisherigen Forschungsergebnisse zur intellektuellen Biographie Galileis. Episoden und Ereignisse im Leben Galileis interessieren uns nur, wenn sie in die Entwicklung seines wissenschaftlichen Denkens eingegriffen haben. Für die Persönlichkeit oder die Lebensumstände des Forschers gilt das gleiche: Wenn sie geeignet sind, Licht auf den Ablauf oder das Ergebnis bestimmter intellektueller Entwicklungen zu werfen, so finden sie Berücksichtigung, andernfalls nicht.

Entsprechend der skizzierten Auffassung von intellektueller Biographie beginnt die Darstellung nicht mit der Geburt Galileis, sondern mit der Beschreibung der mittelalterlichen »Wirklichkeit«, deren Transformation in die neuzeitliche sich mit dem Leben des Galilei schneidet und in deren Ablauf er in sehr wirksamer Weise eingreifen konnte. Gefragt wird nach den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, nach dem Weltbild der Zeit, in die er hineingeboren wurde, aber auch nach den Quellen für neue Ideen, die ihm im Prinzip zur Verfügung standen. Wir fragen weiter, wie Galilei zu seinen Ideen kam, welche Wege und Umwege sein Denken ging, was die zentralen Beweggründe und Interessen seines wissenschaftlichen Handelns waren und natürlich auch, wo er sich irrte und wo er erfolgreich war.

Im ersten Teil wird ein kurzer Abriss des wissenschaftlichen und weltanschaulichen Wandlungsprozesses vom späten Mittelalter bis zur Zeit Galileis gegeben. Ziel dieser Überlegungen ist es, möglichst klar herauszustellen, wo die sichtbaren oder verborgenen Schwachpunkte des alten Weltbildes lagen, in welcher Weise man es kritisierte und verbesserte und welche Strategien die Verteidiger der alten Ordnung verfolgten.

Der zweite Teil befasst sich mit der Rolle, die Galilei in diesem Wandlungsprozess spielte. Im Mittelpunkt stehen seine spezifischen Lösungen der astronomischen, physikalischen, methodologischen und philosophischen Probleme seiner Zeit, und zwar in der Reihenfolge, wie sie sich ihm stellten. Wir untersuchen seine wissenschaftliche Entwicklung vom Aristotelismus der frühesten Schriften über die archimedische Periode und die Impetusphysik der darauffolgenden Phase bis zu seiner spezifischen Form des Trägheitsprinzips in der Spätzeit. Dazwischen liegen die beiden Konflikte Galileis mit der Kirche, die zwar kaum einen Einfluss auf seine fachwissenschaftlichen Ideen hatten, aber für das Verhältnis von Wissenschaft und Religion von größter Bedeutung waren. Dazwischen liegen aber auch viele Kontroversen mit der aristotelischen Schulphilosophie, in der es unter anderem um die Legitimität mathematischer Argumente zur Klärung von Fragen der Naturphilosophie sowie um die Stellung der Mathematik in der Hierarchie der Wissenschaften ging.

Stellt man die Verflechtung der verschiedenen Komponenten des Galileischen Denkens in Rechnung – Astronomie, Mechanik, Theorie der Materie, Kosmologie – dann erhält man als Endresultat von Galileis Arbeit ein neues Bild der Wirklichkeit, das kaum etwas am mittelalterlichen Weltbild intakt lässt – weder die Vorstellung von der Mikrostruktur der Materie, vom Aufbau des Kosmos, von der Mechanik der irdischen und himmlischen Bewegungen, noch die Folgerungen bezüglich Erkenntnistheorie, Methodologie und Wissenschaftsauffassung. Dabei wird deutlich werden, dass das oft zitierte Bild der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit als eines Kampfes zwischen Religion und Wissenschaft an den Tatsachen vorbeigeht. Für Galilei war es ein Konflikt zwischen guter und schlechter Wissenschaft, zwischen denen, die das Neue akzeptierten und förderten und denen, die dies nicht taten, sondern aus den falschen Gründen auf die Bewahrung des Alten setzten. Unter den gegebenen Umständen war es deshalb auch ein Konflikt zwischen zwei umfassenden Kosmologien, die im 17. Jahrhundert um die intellektuelle Dominanz kämpften. Als Konflikt mit der Religion hat Galilei diese Auseinandersetzung niemals empfunden. Für ihn gab es keinen Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft. Es gab nur einen Konflikt zwischen wissenschaftlichen Neuerern, die das Wissen über die Natur erweitert haben und uninformierten Klerikern im Verbund mit orthodoxen Aristotelikern, die die kosmologischen Lehren des großen Griechen retten wollten und zu diesem Zweck einige volkstümliche Formulierungen der Bibel über astronomische Begebenheiten als Vorwand benutzten, ohne zu sehen, dass sie mit ihrem Starrsinn der Kirche letzten Endes sehr viel mehr schaden als nutzen werden. Und so kam es auch.

2         Geistesgeschichtliche Voraussetzungen

2.1        Antikes Erbe

Wer vom »mittelalterlichen Weltbild« spricht, sollte wissen, dass er ein hohes Maß an Vereinfachung und Abstraktion in Kauf nimmt. Das Weltbild des Mittelalters war bemerkenswert komplex, es gab verschiedene Interpretationen seiner Bestandteile, und es gab abweichende Meinungen, die vom akademischen Schulstreit bis zur Häresie reichten. Das Weltbild des Mittelalters war kein statisches System; im Laufe der Zeit erfuhr es Veränderungen und Umdeutungen von erheblicher Tragweite. Für die Zwecke unserer Untersuchung genügt jedoch eine Beschränkung auf die Hauptlinie der Entwicklung, also auf das, was als offizielle Lehrmeinung der Kirche und somit – bedingt durch die dominante Stellung dieser Kirche – auch als dominantes Interpretationsschema der Naturphilosophie und der Wissenschaften dieser Zeit erscheint. Auch das säkulare Denken im weitesten Sinne war von dem gleichen Weltbild – wenn auch teilweise in volkstümlichen Formen – geprägt.1

Die Entstehung und Entwicklung des mittelalterlichen Weltbildes war in hohem Maße von der antiken Überlieferung, von der Art und Weise ihrer Aufnahme und von Weg und Charakter ihrer Verbreitung im abendländischen Kulturkreis abhängig. Die Geschichte dieser Vermittlung ist ein eigenes Thema. Wir können uns damit nicht befassen.2 Was uns hier interessiert, ist vor allem das Ergebnis dieses Prozesses, so wie es sich etwa ab dem 12. Jahrhundert darstellte, d. h. während und nach der Rezeption der aristotelischen Schriften.

2.1.1      Der hierarchische Kosmos des christianisierten Aristoteles

Um das Jahr 1000 kannte Mitteleuropa nur wenige naturphilosophische Schriften aus der Antike. Die wichtigsten unter ihnen waren Platons Timaios (davon die ersten 53 Abschnitte), Arbeiten von Vitruv (De architectura), Seneca (Quaestiones naturales) und Plinius (Historia naturalis), ferner Schriften der Platonisten Macrobius und Boethius sowie der römischen Enzyklopädisten (Capella, Cassiodor, Varro etc.). Von Aristoteles kannte man im 11. Jahrhundert nur einige logische Schriften unter dem Titel Logica vetus (»Alte Logik«). Im 11. Jahrhundert setzte sich das naturphilosophische Wissen des Mittelalters aus einem eigenartigen Amalgam mehrerer Quellen zusammen. Einmal natürlich aus der Überlieferung der Bibel und ihrer Interpretation durch die Kirchenväter, die alles andere als einheitlich war und bereits die Saat für spätere Schulstreitigkeiten enthielt. Eine andere Quelle der hochmittelalterlichen Naturphilosophie war ein christlich interpretierter Neoplatonismus, wie er durch die unter anderem von Albertus Magnus und Thomas von Aquin geschätzten Arbeiten des Pseudo-Dionysos tradiert wurde.

Außer diesen beiden Quellen wäre noch eine dritte zu nennen, deren Gewicht im 12. Jahrhundert enorm zunimmt: das aristotelische Lehrgebäude. Durch die Übersetzungen, die im Laufe des 12. Jahrhunderts in Sizilien und in Spanien (Toledo) zumeist aus dem Arabischen angefertigt wurden, tat sich dem Mittelalter eine neue Welt auf, die intellektuell aufregend, aber für die christliche Religion problematisch war. Aristoteles Schriften wurden zunächst mehrfach verboten – unter anderem 1277 durch den Bischof von Paris, Etienne Tempier. Aber der Geist war aus der Flasche, das neue Wissen konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Schließlich fanden Albertus Magnus und Thomas von Aquin nach Überwindung vielfacher Widerstände einen zwischen christlicher Theologie und heidnischer Naturphilosophie, der die Belange sowohl des Glaubens als auch der Vernunft im Urteil der meisten Zeitgenossen zufriedenstellend berücksichtigte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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