Gargantis - Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea - Thomas Taylor - E-Book

Gargantis - Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea E-Book

Thomas Taylor

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Beschreibung

Wer "Malamander" mochte, wird "Gargantis" lieben! Thomas Taylor lässt die Freunde Herbie und Vi ein neues Abenteuer in Eerie-on-Sea erleben – ein packender Schmöker.

Seit dem Kampf gegen den sagenumwobenen Malamander sind Herbie Lemon, Sachenfinder im Grand Nautilus Hotel, und Violet Parma, das Mädchen ohne Eltern, beste Freunde. Herbie wacht über sein Fundbüro, während Violet in der fantastischen Bücher-Apotheke eine neue Heimat gefunden hat. Es könnte alles so friedlich sein! Aber wer das glaubt, war noch nicht in Eerie-on-Sea. Jedenfalls nicht im Winter. Über dem Meer braut sich ein gewaltiger Sturm zusammen, der die kleine Stadt zu zerstören droht. Mag man den alten Legenden glauben, muss Gargantis, der Sturmfisch, getötet werden, um Eerie-on-Sea zu retten. Ein weiteres Abenteuer, wie gemacht für Herbie und Violet…

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Wer "Malamander" mochte, wird "Gargantis" lieben! Thomas Taylor lässt die Freunde Herbie und Vi ein neues Abenteuer in Eerie-on-Sea erleben – ein packender Schmöker.

Seit dem Kampf gegen den sagenumwobenen Malamander sind Herbie Lemon, Sachenfinder im Grand Nautilus Hotel, und Violet Parma, das Mädchen ohne Eltern, beste Freunde. Herbie wacht über sein Fundbüro, während Violet in der fantastischen Bücher-Apotheke eine neue Heimat gefunden hat. Es könnte alles so friedlich sein! Aber wer das glaubt, war noch nicht in Eerie-on-Sea. Jedenfalls nicht im Winter. Über dem Meer braut sich ein gewaltiger Sturm zusammen, der die kleine Stadt zu zerstören droht. Mag man den alten Legenden glauben, muss Gargantis, der Sturmfisch, getötet werden, um Eerie-on-Sea zu retten. Ein weiteres Abenteuer, wie gemacht für Herbie und Violet…

Thomas Taylor

Gargantis

Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea

Aus dem Englischen von Claudia Max

Carl Hanser Verlag

Für Max – T.T.

Kapuzenmann

Wenn es etwas massenhaft in Hotels gibt, dann Fremde. Man könnte auch sagen, sie sind im Fremdengeschäft. In keinem Hotel der Welt allerdings liegen fremd und befremdlich so nahe beieinander wie im Grand Nautilus Hotel.

Dieser Typ zum Beispiel. Der gerade aus dem Sturm hereingekommen ist. Der gerade über den verlassenen Marmorboden der Eingangshalle läuft. Siehst du ihn? Sein Gesicht verbirgt sich in der riesigen Kapuze einer langen Wachsjacke, von der das Regenwasser herunterläuft. Nicht mal, als er mit der Rezeptionistin spricht, zieht er die Kapuze zurück, und auch sein Gepäck – eine Holzschatulle mit Metallbeschlägen, die er mit einer behandschuhten Hand umklammert – lässt er keine Sekunde los.

Wer ist er? Was hat er für eine Geschichte?

Was befindet sich in der Schatulle?

Das werden wir vielleicht nie erfahren. Und das ist auch in Ordnung. Menschen haben ein Recht auf Privatsphäre. Privatsphäre ist noch etwas, was es in Hotels massenhaft gibt. Außerdem hat dieser Mann etwas Unheimliches an sich, etwas Bedrohliches, weshalb ich ehrlich gesagt gar nicht Bescheid wissen will. Von mir aus kann er gern auf seinem Zimmer verschwinden und dort – weit weg von mir – die finsteren und geheimen Dinge tun, deretwegen er hergekommen ist. Er nimmt seinen Schlüssel, tritt von der Rezeption zurück …

… und läuft in meine Richtung!

Ich richte mich auf und rücke meine Kappe zurecht.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«, frage ich, als der Mann in der überlangen Jacke vor dem Tresen meines Kabäuschens stehen bleibt. Als ich aufblicke, sehe ich nur Dunkelheit in der herunterhängenden Kapuze. Meine Kappe rutscht mir den Hinterkopf hinunter, ich schiebe sie wieder hoch.

»Herbert Lemon.« Die Stimme aus der Kapuze lässt mich zusammenzucken. Von dem unnatürlichen Tonfall kriege ich Gänsehaut.

»G-ganz richtig, Sir«, antworte ich. »Ich bin Herbie Lemon, Sachenfinder des Grand Nautilus Hotels, zu Ihren Diensten. Haben Sie etwas verloren?«

Plötzlich ist ein KER-KER-BUMM! zu hören, als draußen ein Donnerschlag durch die Stadt fegt. Der gleichzeitige Blitz hebt die Dunkelheit in der Kapuze des Mannes noch mehr hervor. Der Wind peitscht den Regen gegen die Fensterscheiben, die Hotellampen flackern.

Der Mann rührt sich nicht und lässt Regenwasser auf meinen Tresen tropfen.

»Re-re-regenschirm vielleicht?«, schlage ich vor.

Ich schiele auf die Schatulle mit den Metallbeschlägen, die der Mann in der Hand hält. In das Ding passt kaum Wechselunterwäsche.

»Oder vielleicht Gepäck?«

Meine Stimme ist mittlerweile fast nur noch ein Quieken.

Als sich der Mann vorbeugt, verschwindet mein Kopf beinahe unter seiner Kapuze. Meine Nasenlöcher füllen sich mit dem Gestank von nasser Jacke und fischigem Atem.

»Frage mich nicht, was ich verloren habe, Herbert Lemon«, ertönt die Stimme des Mannes, es klingt, als würde er jedes Wort mit großer Anstrengung sprechen. »Frage mich lieber, was ich gefunden habe.«

Da kracht erneut ein Donnerschlag, im Hotel gehen die Lichter aus.

Ich weiß, was du jetzt denkst. Ja, du – der du gemütlich zu Hause hockst, dein Buch anstierst und darauf wartest, dass mir etwas Schreckliches zustößt. Du denkst, dass ich jetzt vor Angst durchdrehe. Und ich gebe zu, ich ziehe es in Erwägung. Aber Sachenfinder im Grand Nautilus Hotel wird man schließlich nur, wenn man gelernt hat, sich professionell zu verhalten.

Ja, okay, ich bin vielleicht nicht der größte Held, aber ich bin hier an meinem Platz, hinter meinem auf Hochglanz gewienerten Tresen, der Herr über meine eigene kleine Welt aus verlorenem Eigentum, in einer adretten Uniform mit glänzenden Knöpfen. Deshalb sitze ich, als die Lichter wieder angehen, exakt an der gleichen Stelle wie vorher, umklammere meine Sachenfinder-Kappe mit beiden Händen und … blinzle ins Leere.

Denn der Kapuzenmann ist natürlich verschwunden.

Spinner und Verrückte

Die zweite Regel beim Sachenfinden lautet: Ruhig bleiben und es mit einem Lächeln versuchen.

Ernsthaft, du würdest staunen, was so alles in meinem Fundbüro landet: Krimskrams, Dingsdabumsdas, aller möglicher Firlefanz. Einmal hat sich sogar ein lebendes menschliches Wesen bei mir abgegeben, aber das ist eine andere Geschichte. Man muss einfach damit klarkommen, cool bleiben und so tun, als gehörten der römische Helm, die Nasenmuscheln oder der im Wintergarten vergessene blutverschmierte Kerzenständer zum Tagesgeschäft eines Sachenfinders.

Als die Hotellichter wieder angehen und sichtbar wird, dass Kapuzenmann nicht nur verschwunden ist, sondern einen Gegenstand auf dem Tresen hat liegen lassen, denke ich deshalb an das zweite Gesetz.

»Sie wollten bloß etwas abgeben?«, frage ich den leeren Raum, wo gerade eben noch der Mann gestanden hat. »Wozu dann das unheimliche Getue?«

Als ich mich aus meinem Kabäuschen lehne, entdecke ich eine Regenwasserspur, die die Haupttreppe hinaufführt. Wenn ich wollte, könnte ich ihr folgen und herausfinden, in welchem Zimmer Kapuzenmann wohnt.

Wenn ich denn wollte.

Und das Ding auf meinem Tresen? Tja, schau selbst.

Es ist ein Schneckenhaus.

Ein seltsames stacheliges Schneckenhaus – perlmuttweiß, die Spiraldrehungen enden in einer Spitze. Auf der Spirale sitzen in regelmäßigen Abständen kleine, leicht gebogene Stacheln. Ich nehme das Schneckenhaus und spähe in das trompetenförmige Ende. Es kommt mir schwerer vor, als es sein sollte, und als ich es schüttle, erklingt ein deutliches metallisches Klimpern. Auf einer Seite ist ein kleines Loch mit Messingrand. Ist da etwas drin? Ich halte das Schneckenhaus vorsichtig an mein Ohr.

»Ich höre das Meer«, sage ich nervös zu mir selbst und gluckse leise. »Dann muss es wohl leer sein, oder?«

»Oder Ihr Kopf«, antwortet eine nervige Stimme, und ich lasse vor Überraschung fast das Schneckenhaus fallen. Mr Mollusc, der Hoteldirektor, kommt hinter einem großen Farntopf neben meinem Kabäuschen hervor und nimmt mir das Schneckenhaus aus der Hand.

»Das glänzt aber.« Seine Augen leuchten auf. »Womöglich ganz schön was wert. Was tun Sie mit so etwas, Lemon?«

»Es wurde abgegeben, Sir«, erwidere ich. »Von diesem neuen Gast.«

Meine Bemerkung sorgt dafür, dass sich der scheußliche Schnurrbart vom ollen Mollusc aufstellt, er ist kurz davor, mir das Schneckenhaus wieder zuzuwerfen.

»Sie haben mit ihm gesprochen?«, will er wissen und deutet mit einem ängstlichen Kopfnicken auf die Treppe. »Er hat mit Ihnen gesprochen?«

Ich zucke mit den Schultern und hoffe, dass dies als Antwort genügt.

Mollusc fährt sich mit der Hand durchs dünne Haar.

»Warum kommen immer die befremdlichsten Gäste zu uns?«, fragt er, im Wesentlichen sich selbst.

Ich zucke noch einmal mit den Schultern.

Ganz ehrlich, diese Frage kann er sich doch mittlerweile selbst beantworten. Der Sommer ist bloß noch eine verblasste Erinnerung, und Eerie-on-Sea gibt schon so lange nicht mehr vor, ein normaler Badeort zu sein, dass ich mich frage, ob es das überhaupt noch kann, wenn wieder Touristen kommen. Der Winter nimmt kein Ende, und ein heftigerer Sturm, als ich je einen gesehen habe, umschließt die Bucht und verwandelt das Meer in ein wütendes Tier, der Wind zieht einem den Zahnschmelz von den Zähnen. Um diese Jahreszeit nehmen nur noch Spinner und Verrückte die lange Reise nach Eerie-on-Sea auf sich. Und wo sonst als im Grand Nautilus Hotel sollen diese Spinner und Verrückten absteigen?

»Hmm, haben Sie mit ihm gesprochen, Sir?«, wage ich zu fragen. »Seine Stimme war ein wenig … Sie wissen schon. Fanden Sie seine Stimme auch ein wenig … Sie wissen schon?«

»Werden Sie hier nicht frech!«, schnauzt mich Mr Mollusc an, als er sich wieder an seine Position erinnert. »Sie haben ein neues Fundstück, um das Sie sich kümmern müssen, Junge. Ohne jeden Zweifel von großem Wert. Wenn Sie sich freundlicherweise an die Arbeit machen würden.«

Er dreht sich auf dem Absatz um und geht mit großen Schritten davon.

Von der anderen Seite der Lobby sieht mich Amber Griss, die Hotelrezeptionistin, mit einem Lächeln an, das zu sagen scheint: »Ach, kümmere dich nicht weiter um ihn, Herbie. Du weißt ja, wie er ist.« Die hochgezogene Augenbraue fügt hinzu: »Aber lass dich nicht dabei erwischen, dass du so ein Gesicht ziehst!«

Ich grinse also ein »Ups! Da hast du recht!« zurück und wuchte das schwere alte Verzeichnis herunter.

In diesem Verzeichnis haben ich und alle Sachenfinder vor mir festgehalten, was im Fundbüro abgeliefert wurde, ebenso alles, was erfolgreich zurückgegeben wurde. Es ist riesig. Ich schlage es auf und blättere zur nächsten leeren Stelle. Dort trage ich die Zeit und das Datum ein und dann die Worte SELTSAMES SCHNECKENHAUS. Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, was ich sonst noch dazuschreiben soll.

Einige der Hoteluhren, die schnelleren, schlagen sieben Uhr abends. Es war ein langer Tag, deshalb schreibe ich bloß NACHFORSCHUNGEN BEGANNEN GEGEN SIEBEN neben SELTSAMES SCHNECKENHAUS. Danach lasse ich das Verzeichnis mit einem dumpfen Schlag zuklappen, drehe das Schild auf meinem Tresen auf GESCHLOSSEN und trage das befremdliche Schneckenhaus in meinen Keller hinunter.

Der Keller ist das wahre Herz des Fundbüros: ein ganzer Flügel des Hotelkellers, den Generationen von Sachenfindern ihr Zuhause genannt haben und der mittlerweile zu einer funkelnden Höhle von Kuriositäten geworden ist. Jemand hat das Fundbüro mal als »Aladins Wunderkammer« bezeichnet, aber das stimmt nicht.

Es ist meine.

Ich schiebe ein Holzscheit in meinen kleinen Ofen, hänge meine Kappe an ein gebogenes bronzenes Dingsda und lasse mich in meinen riesengroßen Ohrensessel fallen. Durch den Schornstein pfeift ein stürmischer Wind, ein mächtiger Donnerschlag lässt die Wände wackeln, aber hier unten kann mir der Sturm nichts anhaben. Ich nehme meine größte Lupe – ebenfalls ein Fundstück – und mache mein Auge riesengroß, als ich das eigentümliche Schneckenhaus inspiziere. Vor allem das kleine Loch mit der Messingeinfassung.

»Was Interessantes?«, fragt eine Stimme. Zum zweiten Mal fällt mir vor Überraschung fast das Schneckenhaus aus der Hand.

»Kannst du das bitte sein lassen?«, rufe ich, als sich die Schatten bewegen und Violet Parma in den Feuerschein tritt und sich neben mich setzt. Sie hält eine große weiße Katze im Arm.

»Was denn?«, fragt sie.

»Einfach so hervorzuspringen! Ich dachte gerade, ich hätte den Keller für mich allein, und dann tauchst du hinter den vergessenen Pyjamas auf und verdirbst alles.«

»Du hast gesagt, ich könne jederzeit vorbeikommen«, schmollt Violet und reckt leicht das Kinn. »Und es gab sogar eine Zeit, da hast du mich eingeladen, hier unten zu wohnen, weißt du noch?«

Beides stimmt, auch wenn Zweiteres am Ende etwas anders lief.

Aber Moment, vermutlich fragst du dich, wer Violet Parma ist? Es sei denn, du warst schon mal in Eerie-on-Sea und hast bereits alle Geschichten über sie gehört. Und falls dem so ist, dann lass dir gesagt sein, dass diese Geschichten alle wahr sind. Das weiß ich, weil ich die meisten miterlebt habe. Doch was auch immer du gehört hast oder was auch immer ich sage und was auch immer du von diesem verstrubbelten, braunäugigen Mädchen mit Katze hältst, das einzig wirklich Wichtige ist: Violet ist meine beste Freundin hier in Eerie, und sie weiß, wie sie mein Kellerfenster aufkriegt.

»Außerdem«, sagt Violet, »ist der Sturm noch schlimmer geworden. Der arme Erwin hier wurde von den Pfoten gehoben und wäre fast ins Meer gefegt worden! Ich dachte, du hast bestimmt nichts dagegen, wenn wir uns eine Weile hier unten verkriechen.« Sie setzt Erwin – das ist übrigens die Katze – in seine Lieblingskiste mit vergessenen Schals, die ich neben dem Ofen stehen habe.

»Du hast etwas Neues«, fügt Violet hinzu und starrt erwartungsvoll auf das schimmernde Schneckenhaus in meinen Händen.

»Es hat ein Loch an der Seite.« Ich drehe es um. »Ich wollte gerade reinschauen, um zu sehen …«

»Super Idee!« Violet nimmt mir das Schneckenhaus und die Lupe aus der Hand. Jetzt ist sie diejenige mit dem Riesenauge und späht in das Schneckenhausloch.

»Da ist auch etwas drin.«

»Was für eine Art etwas?« Ich beschließe, nicht zu protestieren.

»Ganz unten in dem Loch.« Als sie sich über die Lupe beugt, sieht Violets Auge größer aus als je zuvor. »Da ist ein Stück Metall, so ein kleiner vierkantiger Stift. Wie dieses Ding, wenn man bei einer altmodischen Uhr in das Loch für den Schlüsselaufzieher schaut.«

»Das Ding, das man mit einem Schlüssel dreht?«

»Genau«, bestätigt Violet. »Du hast doch solche Schlüssel, oder? Herbie, ich glaube, dieses Schneckenhaus hat einen Aufziehmechanismus!«

Ich öffne den großen Werkzeugkasten neben meiner Arbeitsbank, hole ein großes Marmeladenglas heraus und schütte den Inhalt vorsichtig in den Lichtkegel meiner verstellbaren Lampe. Aus dem Glas fallen alle möglichen Schlüssel. Ich muss ein bisschen herumstochern, aber irgendwann finde ich einen Messingaufzieher, der haargenau in das Schneckenhausloch passt.

»Und?«, will Violet wissen, als ich den Schlüssel hineinstecke. »Worauf wartest du noch?«

»Vielleicht sollten wir das lieber lassen«, erwidere ich. Ich denke an den unheimlichen Mann, der dieses Schneckenhaus zurückgelassen hat, an seine erschreckende Stimme und die heruntergezogene Kapuze. »Ich soll Gegenstände sicher aufbewahren, Vi, nicht mit ihnen herumspielen. Vielleicht ist es nicht in Ordnung, dieses Schneckenhaus aufzuziehen.«

»Meinst du das ernst?« Violet sieht mich fragend an. »Wie kannst du nicht neugierig sein, was das Schneckenhaus macht?«

»Ich bin neugierig, aber …«

Ich spähe zu Erwin hinüber und stelle fest, dass der Kater, der eigentlich den Eindruck macht, als würde er tief schlafen, ein eisblaues Auge offen hat und uns aufmerksam anstarrt. Erwin scheint wie üblich auf Violets Seite zu stehen.

»Ich frage mich bloß …«

»Ach gib schon her.« Violet nimmt das Schneckenhaus wieder an sich.

Sie dreht den Schlüssel.

Seemannslied

Violet dreht den Schlüssel dreimal kräftig um …

Tick-tick-tick-TICK, tick-tick-tick-TICK, tick-tick-tick-TICK

Nichts geschieht.

Sie legt das stachelige Schneckenhaus auf das Tischchen neben meinem Sessel.

Es geschieht immer noch nichts.

»Moment mal«, sagt sie. »Hörst du das? Es tut irgendetwas.«

Ich spitze die Ohren, und ja, aus dem Schneckenhaus kommt tatsächlich ein leises Surren – als würden sich winzige Rädchen in Stellung bringen.

Dann richtet sich das Schneckenhaus auf.

Beziehungsweise hebt sich einen Fingerbreit über das Tischchen, als sich ein kleiner Messingarm aus der Trompete nach unten streckt und das Schneckenhaus hochstemmt. Dann beginnt die Musik – eine klimpernde Melodie, die durch die Luft schwebt, während sich das Schneckenhaus auf dem Messingarm dreht. An dem schimmernden Gehäuse bricht sich der Schein meiner Kellerlampe, die widergespiegelten Lichtpunkte tanzen über die Decke.

»Wie wunderschön!« Violet hält die Luft an. »Und die Melodie kommt mir irgendwie bekannt vor …«

»Sollte sie auch«, sage ich. »Das ist ein Shanty.«

»Ein was?«

»Ein Seemannslied. Etwas, das die Fischer singen. Du hast es bestimmt schon mal gehört, wenn sie ihre Boote an den Strand ziehen. Oder am Kai herumlungern. Sie singen immer.«

»Aber es klingt anders«, widerspricht Violet. »Das hier ist hübscher. Magischer.«

Die Musik endet, und das Schneckenhaus hört auf, sich zu drehen. Es sinkt wieder auf den Tisch.

»Es ist also eine Spieldose«, stelle ich fest und überlege, ob ich diese Tatsache ebenfalls in das Verzeichnis eintragen soll. »Vielleicht lässt sich der rechtmäßige Besitzer so leichter finden …«

Das Schneckenhaus stellt sich wieder auf.

Und damit meine ich, dass es dieses Mal TATSÄCHLICH aufsteht, und zwar auf vier Messingbeinchen, die sich von innen mit einem metallischen KLACK! aufklappen! Jedes von ihnen ähnelt einem Krebsbein. Violet und ich hatten uns vorgebeugt, um die Musik zu hören, und weichen überrascht zurück. Selbst Erwin setzt sich in seiner Kiste mit Schals auf und faucht erschrocken. Das Schneckenhaus dreht sich in meine Richtung, als wolle es mich anschauen, allerdings kann ich kein Auge entdecken. Anschließend schwenkt es zu Violet. Ein fünftes Messinganhängsel schiebt sich heraus, dieses endet wie bei einem Krebs in einer winzigen Schere. Der Arm winkt zwischen uns hin und her, die kleine Schere schnipp-schnapp-schnappt dabei auf eine Weise, die ich nur als bedrohlich beschreiben kann.

»Gib mir den Eimer dort«, bitte ich Violet so gelassen wie möglich.

»Warum?«, lautet ihre Antwort. »Ist dir übel?«

»Nein«, nuschle ich. »Die dritte Regel des Sachenfindens. Hatte ich vergessen. Gib mir den Eimer. Schnell!«

Violet greift nach einem alten Holzeimer mit Kleiderbügeln. Ich reiße ihn ihr aus der Hand, schleudere die Bügel auf den Boden und stürze mich auf das Schneckenhaus.

Zu spät! Das Ding scheint mich irgendwie zu spüren, vielleicht ist es auch einfach der falsche Zeitpunkt, denn das Schneckenhaus springt genau in dem Moment von dem Tischchen, als ich ihm den Eimer überstülpen will, und flitzt über den Boden davon. Ich stürze hinterher, verfehle es aber noch einmal, und muss hilflos zusehen, wie der kleine Aufzieh-Einsiedlerkrebs – denn genau so sieht das Ding für mich aus – die Kiste mit den vergessenen Büchern hochsaust und über sie hinweghuscht. In meiner Verzweiflung schleudere ich den Eimer nach dem Krebs, und er fällt auf den Boden.

Violet springt vor und stürzt sich mit einem alten Wollpulli in der Hand auf ihn. Einen Moment lang kämpft sie mit ihm in dem Pullover, ich höre das metallische Klacken und Surren, als sich der mechanische Einsiedlerkrebs zu befreien versucht. Dann regt sich der Pullover nicht mehr.

»Hab ihn!«, triumphiert Violet.

»Meinst du, er ist jetzt wirklich nicht mehr aufgezogen?«

Violet zuckt mit den Schultern.

»Zumindest wehrt er sich nicht mehr.«

»Vielleicht.« Als ich ihr den Pullover abnehme, passe ich auf, dass unser kleiner Aufzieh-Gefangener nicht ausbüxt. »Aber ich gehe kein Risiko ein. Wenn jemand kommt und dieses Aufzieh-Schneckenhaus abholen will, möchte ich nicht gestehen müssen, dass es davongerannt ist und irgendwo in meinem Fundbüro sein Unwesen treibt. Diese Schere gefällt mir überhaupt nicht.«

Ich stopfe den Pullover – mitsamt Schneckenhaus – in den Eimer, stelle diesen verkehrt herum auf den Boden und beschwere ihn mit etlichen dicken Büchern. Falls die Mechanik immer noch ein bisschen Schwung vom Aufziehen hat, sollte ihn das daran hindern, irgendwohin zu verschwinden.

»Und wie heißt sie?«, fragt Violet.

»Die Spieluhr?«

»Nein, ich meine die dritte Regel für Sachenfinder. Wie lautet die?«

»Die dritte Regel lautet« – ich werfe ihr einen meiner extrem beeindruckenden Blicke zu – »Unerwarte das Erwartete.«

»Sollte es nicht andersherum heißen?«

»Ha!«, erwidere ich. »Genau das habe ich von dir unerwartet.«

»Alles klar.« Violet verdreht die Augen. »Wo hast du dieses Schneckenhaus überhaupt her?«

»Wurde abgegeben.« Ich lasse mich wieder in meinen Sessel fallen. »Neuer Gast, gerade erst angekommen. Er muss es, ähm, irgendwo gefunden haben.«

»Das weißt du nicht?«, fragt Vi von der anderen Seite des Ofens. »Hast du ihn etwa nicht gefragt, wo er es herhat? Du hast dich nicht nach den Details erkundigt? Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich.«

Ich überlege, ob ich es erklären und Violet erzählen soll, wie merkwürdig und finster der gesichtslose Gast mit seiner tief gezogenen Kapuze und der gruseligen Stimme war, aber es ist mir zu mühsam. Vor allem, weil Violet ärgerlicherweise recht hat. Ich hätte Kapuzenmann hinterherrennen und mehr herausfinden sollen. Wie soll ich das dämliche Schneckenhaus seiner rechtmäßigen Besitzerin oder seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben, wenn ich die Spur nicht verfolge, solange sie heiß ist? Ich brauche bloß morgen früh bei dem Mann an die Tür zu klopfen und nachzufragen. Jetzt würde ich allerdings wirklich gern das Thema wechseln und bin ich froh, als Violet es mir abnimmt.

»Hast du Hunger?«, fragt sie. »Es ist ewig her, dass wir bei Seegol Fish ’n’ Chips essen waren.«

Bei der Erwähnung der köstlichen Pommes von Seegol schlägt mein Magen einen kleinen erwartungsvollen Salto. Meine Ohren melden meinem Hirn allerdings stürmisches Wetter, weshalb mein Hirn ein Signal an meinen Magen sendet, es lieber zu vergessen. Mein Magen schlägt trotzdem noch einen kleinen Salto.

»Ich würde ja gern gehen«, antworte ich. »Aber der Sturm …«

»Ist ein Ungeheuer«, räumt Violet ein und stößt einen Pfiff aus. »Aber draußen zu sein, während er tobt, ist auch aufregend. So was hab ich noch nie erlebt. Außerdem ist es nicht weit zu Seegol.«

Tja, dem wirst du zustimmen, falls du schon mal einen Stadtplan von Eerie-on-Sea gesehen hast. Aber oben auf dem Pier zu sein, während sich am Himmel die Blitze verzweigen …

»Los, komm schon, Herbie!«, quengelt Violet und springt auf. »Es wird sich wie ein neues Abenteuer anfühlen.«

»Na gut.« Ich stehe auf und nehme meinen Mantel. Meine Kellerecke mit dem flackernden Feuer sieht mit einem Mal gemütlicher aus als je zuvor. »Und falls der Sturm richtig schlimm ist, können wir die Pommes ja mit hierhernehmen.«

Ich klettere weniger aus dem Kellerfenster, als dass ich herausgezogen werde. Der Wind scheint mich in die Lüfte heben zu wollen. Violet und ich stemmen uns dagegen, ihr dunkler Lockenschopf steht wie eine sturmgepeitschte Hecke von einer Kopfseite ab. Bevor ich etwas sagen kann, fegt ein Windstoß meine Worte davon und versucht gleichzeitig, mir die Mandeln herauszureißen. Ich schließe also lieber den Mund und denke an die Pommes. Wir stolpern über das Pflaster zum Kai, und der Anblick dahinter lässt uns verblüfft die Augen zusammenkneifen.

Das Meer verschlingt gerade den Pier.

Oder versucht es zumindest: Wellen, die aussehen wie der Kiefer irgendeiner riesenhaften urgewaltigen Kreatur, mampfen seine viktorianische Eisenkonstruktion. Sie brechen sich in Gischtfontänen, die auf die bebenden Bohlen eindreschen. Lichtergirlanden tanzen wie verrückt im Wind, während das Neonschild – auf dem in zischenden bonbonbunten Buchstaben EERIE-ON-SEA steht – heftiger knistert und blinkt als jemals zuvor. Darüber brodelt der Sturm in einer blutergussfarbenen Wolkenkuppel, in der elektrische Blitze aufleuchten.

Nur die Lichter von Seegols Diner – dem Fish ’n’ Chips-Imbiss in der Mitte des Piers – leuchten unerschütterlich und beruhigend.

Ich schaue Violet an, ihre Augen strahlen vor Aufregung. Sie steigt, sich an der Kaimauer festhaltend, die Treppe zum Pier hinunter. Doch plötzlich bleibt sie stehen, schlägt ihren Mantel wie Flügel auf und wartet, dass er sich mit der wütenden Luft füllt, und dann, genau im richtigen Moment …

… springt sie!

Unglaublich, der Sturm hält sie nicht nur in der Luft, er hebt sie sogar leicht hoch. Violet Parma fliegt!

Bis die Schwerkraft es mitkriegt und sie wieder herunterholt. Violet landet geschickt auf dem Pier und schließt den Mantel, damit der Sturm sie nicht länger hin und her rüttelt. Sie gibt mir ein Zeichen, ihrem Beispiel zu folgen.

Ich schlage meinen Mantel weit auf und sehe zum blitzenden Himmel hoch.

Einen Augenblick lang fühle ich mich wie Batman.

Dann sehe ich etwas.

Ein Umriss – ein gewaltiger, sich hin und her wälzender Schatten, unvorstellbar groß – windet sich durch die Sturmwolken über Eerie-on-Sea.

»!«, schreie ich, alle Gedanken an Batman sind wie weggefegt.

Der Wind, als bekäme er mit, dass ich meine Chance zu fliegen vertue, schubst mich zurück an die Kaimauer, wo er mich festspießt wie ein aufgepikstes seltenes Insekt und mir Gischt ins Gesicht klatscht. Ich brauche meine ganze Kraft, um mich von der Mauer zu lösen und meinen Mantel zu schließen. Dann stolpere ich die Stufen hinunter auf Violet zu. Sie versucht, ein Lachen zu unterdrücken.

Mit zusammengekniffenen Augen blicke ich zum Himmel und reibe mir die Augen. Dort sind nur flackernde Wolken und ein taumelnder Sturm. Bestimmt war dort auch nie etwas anderes.

Violet packt mich am Arm und zieht mich über den bebenden Pier zu Seegols Imbiss.

Wettergegerbte Stammgäste

Wir müssen gegen die steife Brise ankämpfen, um die Eingangstür des Imbisses aufzubekommen, und als wir endlich hineinschlüpfen, knallt der Wind die Tür hinter uns zu.

»Oh, welcher Heldenmut!« Die Stimme mit dem Akzent kennen wir gut, Mr Seegol grüßt uns hinter seinem Tresen, der gleichzeitig seine Küche ist – eine Insel aus blank geschrubbtem Stahl mit zischenden Fritteusen und warmem Licht. Ringsum stehen Tische und Stühle. An ihnen sitzen ein paar Leute – wettergegerbte Stammgäste, die sich nicht durch ein »Lüftchen« von ihrem golden frittierten Fisch und Kannen mit starkem Tee abhalten lassen. Draußen wütet der Sturm, als würde ihn das beleidigen. Er rüttelt an den Fenstern und heult um die Tür wie Banshee, die Todesbotin aus den alten Legenden.

Wir setzen uns und atmen den tröstlichen Duft frisch frittierter Pommes ein, bis Seegol zu uns an den Tisch kommt.

»Ist das nicht unglaublich?«, fragt er.

»Das Wetter?«, frage ich zurück.

»Natürlich das Wetter!«, ruft Seegol. »Schau dir das Meer an, Herbie! Im Moment sollte eigentlich Ebbe sein, aber der Wind ist so stark, dass er das Meer wieder hochgeblasen hat!«

Als wolle der Wind Seegols Aussage bekräftigen, kippt er den gesamten Imbiss erst auf eine Seite, dann auf die andere und lässt sämtliche Salz- und Pfefferstreuer über die Tischplatten schlittern.

»Sie haben doch bestimmt schon andere Stürme erlebt.« Violet klammert sich an ihrem Stuhl fest. »Schließlich leben Sie hier draußen auf dem Pier. Der war doch immer schon ein wackeliges altes Ding.«

Seegol droht ihr mit dem Finger.

»So schlimm war es noch nie«, sagt er. Plötzlich fällt mir ein Anflug von echter Besorgnis hinter seiner üblichen fröhlichen Miene auf. »Das geht schon seit Tagen so, aber der Wind scheint bloß noch stärker zu werden! Und manchmal, wenn ich zu den Wolken hochschaue, sehe ich … Ich glaube, ich sehe …«

»Was sehen Sie?«, frage ich.

Seegol überlegt kurz.

»Ach, nichts weiter. Es ist schwer, irgendetwas zu erkennen, wenn Gargantis erwacht.«

»Gigantis was erwacht?« Ich schaffe es fast ohne Quieken.

Da Seegol gedankenverloren auf die Fenster starrt, von denen das Wasser herabströmt, antwortet Violet für ihn.

»Wenn Gargantis erwacht«, erklärt sie. »Es ist eine alte Redensart in Eerie. Die Fischer verwenden sie für richtig schlechtes Wetter. Gargantis ist hier in der Stadt bloß ein Wort für ›Sturm‹.«

»Woher weißt du das?« Ich bin überrascht, dass Violet mir etwas über Eerie-on-Sea erzählt. Sie lebt doch erst seit ein paar Monaten hier.

»Ich habe es in einem Buch gelesen«, erwidert sie selbstzufrieden.

»Gargantis im Schlummer, droht Eerie kein Kummer«, sagt Seegol, als würde er etwas zitieren. »Gargantis’ Erwachen lässt Eerie krachen …«

»… und alles stürzt ins Meer«, beendet Violet seinen Satz.

Mr Seegol ringt sich ein Lächeln ab. »Aber ihr seid wegen der Pommes hier, nicht wegen alter Redensarten oder irgendwelchen Aberglaubens.«

»Pommes!«, rufe ich, um endlich auf wichtigere Dinge zurückzukommen. »Ja, bitte! Reicht das, Mr Seegol?«

Ich ziehe einen silbernen Serviettenring aus der Manteltasche und rolle ihn über den Tisch. Mr Seegol nimmt den Ring und dreht ihn im Licht hin und her.

»Viktorianisch.« Ich deute mit einem Kopfnicken auf den Gegenstand in Mr Seegols Hand. »Nettes Schnörkelmuster. Bloß leicht verbeult. Er wurde vor hundert Jahren im Fundbüro abgegeben, deshalb habe ich ihn heute Morgen endgültig aus dem Verzeichnis ausgetragen. Da jetzt bestimmt niemand mehr kommen wird, um ihn abzuholen, gehört er mir, so lauten die Regeln. Reicht der für Pommes, Mr Seegol? Und vielleicht noch für ein paar von diesen knusprigen Garnelenspießen?«

Seegol reibt den Serviettenring an seinem Ärmel, bis er glänzt, und sieht zufrieden aus.

»Irgendwann solltest du mal mich zahlen lassen«, sagt Violet zu mir. »Ich habe ja jetzt auch einen Job.«

»Job?« Mr Seegol sieht Violet überrascht an. »Du hast einen Job?«

»Violet wohnt jetzt in der Bücher-Apotheke«, erkläre ich. Damit ist der eigenwillige Buchladen von Eerie-on-Sea gemeint. »Sie ist Jenny Hannivers Assistentin und hilft Besuchern, den fantastischen mechanischen Meeraffen zu befragen. Ich wollte sagen, sie hilft ihm, Bücher für sie zu finden.«

»Der Meeraffe!« Auf Seegols Gesicht breitet sich ein Ausdruck aus, als würde er sich entfernt erinnern. »Den Meeraffen habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

»Dann sollten Sie uns bei Gelegenheit besuchen«, sagt Violet, »und schauen, was Ihnen der Meeraffe vorschlägt.«

»Ja, vielleicht, vielleicht …« Der Imbissbesitzer lächelt ein trauriges Lächeln und geht mit einer leichten Verbeugung in seine Küche zurück, um Kartoffelschnitze in die Fritteuse zu werfen.

»Er wird niemals in die Bücher-Apotheke kommen, oder?«, flüstert mir Violet zu und sieht ihm hinterher.

Ich gebe keine Antwort. Jeder weiß, dass Mr Seegol sich nie weit vom Pier entfernt.

»Aber du solltest auch mal wieder, Herbie«, sagt Violet dann. »Wann warst du doch gleich zum letzten Mal da?«

»Ich?«, frage ich zurück. »Aber ich besuche Erwin und dich ständig im Buchladen.«

»Ich meine nicht zu Besuch kommen. Sondern den Meeraffen um Rat fragen. Wann hast du ihn zum letzten Mal gebeten, ein Buch für dich auszusuchen, Herbert Lemon?«

Mir klappt die Kinnlade herunter. Erst nach ein, zwei Momenten fällt mir wieder ein, wie ich den Mund schließen muss.

»Herbie?«

»Ich … Ich hatte doch schon ein Buch von ihm«, bringe ich irgendwann heraus. »Einmal. Damals, als ich in Eerie-on-Sea angekommen bin. Ich brauche nicht noch eines, danke.«

»Aber das ist Jahre her!« Violet sieht erstaunt aus. »Soll das heißen, du hast seitdem nie wieder eine Münze in den Hut des Meeraffen geworfen?«

Ich verschränke die Arme und schweige. Die Sache mit dem Meeraffen ist die: Er gibt einem nie das Buch, das man haben möchte – oh nein, das wäre zu einfach. Und er wählt auch nicht das Buch, das man erwarten würde. Nein, man bekommt das Buch, das man braucht, zumindest behauptet das Jenny Hanniver. Und weißt du, genau damit habe ich ein Problem.

»Welches war es?«, will Violet wissen, als könne sie meine Gedanken lesen. »Komm schon, Herbie! Es ist doch offensichtlich, dass dir die Wahl des Meeraffen nicht gefallen hat. Welches Buch war es denn?«

»Ich dachte, das soll man für sich behalten«, brumme ich schließlich. »Welches Buch man bekommen hat.«

»Na ja, nicht immer. Es kommt darauf an. Seit der Sturm tobt, schauen in letzter Zeit viele Fischer bei uns vorbei. Da ein paar von ihnen den Meeraffen seit Jahren nicht besucht haben, helfe ich ihnen.«

»Die Fischer?« Ich bin froh, das Thema zu wechseln. »Seit wann geben die sich mit Büchern ab?«

»Hey, jeder gibt sich mit Büchern ab.« Violet mustert mich streng. »Sie müssen bloß das richtige finden, mehr nicht. Abgesehen davon haben die Fischer von Eerie gerade viel Zeit. Bei diesem Sturm können sie nicht aufs Meer hinausfahren, der Wind würde ihre Segel zerfetzen. Und bei dem einen Motorboot, das es versucht hat, explodierte der Motor durch einen Blitzeinschlag. Die Fischer haben Hausarrest.«

»Wahrscheinlich sitzen sie eher im Pub.« Ich grinse. »Und dort wird nicht viel gelesen.«

»Das ist nicht lustig, Herbie«, erwidert Violet. »Ein Fischer wäre fast ertrunken. Und jetzt bekommen die Stadtbewohner Angst wegen der Sturmbeben und so.«

»Sturmbeben?«

»Echt jetzt, Herbie!«, ruft Violet. »Es ist dir doch bestimmt schon aufgefallen. Selbst unten in deinem Keller. Der Sturm ist so heftig, dass er den Boden beben lässt. Im Eerie-Felsen zeigen sich erste Risse.«

»Aber wie kann ein Sturm so etwas bewirken?«

»Vielleicht findest du die Antwort darauf in einem Buch.« Violet lächelt zuckersüß. »Wie ich schon sagte, du brauchst einfach bloß das richtige Buch, mehr nicht.«

Sie mustert mich mit hochgezogener Augenbraue.

»Ich werde es dir nicht verraten, Violet«, fahre ich sie an. »Ich habe vom Meeraffen ein schlechtes Buch bekommen. Das ist alles. Scheint manchmal zu passieren, und mir ist es passiert. Ich überlasse also deinen Meeraffen den Fischern und Touristen, schönen Dank auch. Basta.«

»Herbie!«

Aber von wegen Herbie, dieses Mal nicht. Bestimmt kennt nicht einmal Jenny den Namen des schrecklichen Buchs, das mir bei meiner Ankunft in Eerie-on-Sea zugeteilt wurde. Und so soll es auch bleiben.

Was für eine Erleichterung, dass unsere Pommes kommen.

Kater in der Kiste

Als wir ins Fundbüro zurückkommen, merken wir sofort, dass etwas nicht stimmt. Na ja, nicht ganz sofort – es dauert einen Moment, bis wir den brennenden Schmerz des Sturms aus unseren Ohren geschüttelt und Luft geholt haben. Aber dann fällt es uns auf.

»Was ist das?« Violet hebt etwas vom Boden auf.

»Sieht wie Holzspäne aus.« Ich bemerke noch mehr davon auf dem zerschlissenen Teppich.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Zeug nicht herumgelegen hat, als wir gegangen sind.« Violet hebt noch mehr Späne und Splitter auf. »Auch nicht diese ganzen Wollfussel.«

»Wolle?«

»Ja, schau hier.« Violet streckt die Hand aus und zeigt sie mir. »Und das sieht wie weißes Fell aus …«

Ihre Stimme versagt, wir starren uns an. Dann drehen wir uns beide um und sehen zu der Kiste mit vergessenen Schals neben dem Ofen.

»Erwin!«

Der Kater ist nicht im Keller.

Violet rennt zur Kiste und kramt in den Schals herum, obwohl sich eine dicke alte Mieze wie Erwin natürlich nicht darin verstecken könnte. Er ist weg.

»Aber er kann nicht weg sein«, sagt Violet.

»Natürlich kann er das«, erwidere ich. »Vielleicht hat er sich heimlich ins Hotel hochgeschlichen oder versteckt sich irgendwo anders im Keller.«

»Was könnte passiert sein? Wo kommen diese ganzen Holzsplitter und die zerfetzte Wolle her?«

»Katzen haben manchmal ihre schwachen fünf Minuten«, beruhige ich sie, aber schon während ich es sage, weiß ich, dass es nicht stimmt. Erwin ist keine dieser Katzen. Ich bücke mich nach einem weiteren weißen Fellbüschel und betrachte es durch die Lupe.

»Oh nein …«

»Was?«, will Violet wissen.

»Dieses Fell? Die Enden sind gerade. Als sei es abgeschnitten worden …«

»Abgeschnitten?«

Wir drehen uns wieder langsam um, dieses Mal blicken wir auf den umgedrehten Eimer, unter dem wir den seltsamen Aufzieh-Einsiedlerkrebs eingesperrt haben. Er steht auf demselben Platz wie zuvor, der Stapel schwerer Bücher liegt noch darauf. Doch bei einem Blick auf die Rückseite erkennen wir sofort, wo die ganzen Holzspäne herkommen. Auf einer Seite des Eimers ist ein gezacktes Loch, als habe etwas Kleines, Entschlossenes seinen Fluchtweg herausgeschnitten, -gebohrt und -gesägt. Dort liegt auch ein Haufen zerfetzter Wolle – die Überreste des alten Pullovers.

Violet nimmt die Bücher hoch, tritt den Eimer um und verteilt dabei überall Wollfussel. Aber nirgendwo ein Zeichen von dem kleinen Aufzieh-Apparat.

»Meinst du …?« Violet blickt sich um. Sie hält die schweren Bücher, als könne sie ihre Zerquetschfähigkeiten jeden Moment brauchen. »Meinst du, dieses, dieses Ding versteckt sich auch irgendwo im Keller?«

Ich nehme meine Sachenfinder-Kappe vom Haken und bringe es fertig, nicht zusammenzuzucken, als das Gummiband gegen mein Ohr schnalzt.

»Zuallererst müssen wir uns um Erwin kümmern«, sage ich. »Schau mal dort drüben!«

Ich deute auf den großen hölzernen Werkzeugkasten, aus dem ich früher am Abend den Aufziehschlüssel genommen hatte. Dort liegt am meisten weißes Fell auf dem Boden.

»Hast du den Kasten zugemacht?«, fragt Vi. »Herbie, ich dachte, du hättest ihn offen gelassen!«

»Hab ich auch.«

Wir eilen zu dem Kasten, Violet streckt die Hand nach dem Deckel aus, doch dann zögert sie.

»Was, wenn wir ihn öffnen und …?« Sie dreht sich zu mir. »Was, wenn der arme Erwin …?«

»Aber was, wenn nicht?«, erwidere ich.

»Ja, aber was, wenn?« Violet ringt die Hände. »Solange wir nicht nachsehen, ist er zumindest vielleicht nicht …«

»Richtig, aber im Moment IST er und IST NICHT gleichzeitig, was nicht gut für einen Kater ist. Mach den Kasten auf, Vi!«

Genau in diesem Moment hören wir unter dem Deckel ein sehr durchdringendes und sehr ungeduldiges »MIAU« – die Art Miau, die eher nach einem genervten Menschen klingt als nach einem miauenden Kater.

Violet klappt den Kasten auf.

Und da sitzt Erwin zwischen Schraubenziehern und Zangen und ölverschmierten Lappen und sieht sehr kläglich und fehl am Platz aus. Überall in seinem dichten langen Fell fehlen Büschel. Als sei er davongerannt, während ihm jemand einen Haarschnitt verpassen wollte. Auf einer Seite seiner Nase sind die Schnurrhaare abgeschnitten. Er legt die Ohren an, in seinem Blick liegt Empörung.

»Erwin!«, stößt Violet aus und nimmt ihn auf den Arm.

Man sagt ja, Katzen könnten nicht lächeln, aber Erwins erboste Miene verfliegt, als Violet anfängt, ihn zu betüdeln. Er schließt selig die Augen und stimmt erleichtert und zufrieden ein sattes Schnurren an.

»Oh, Erwin«, flüstert ihm Violet ins Ohr. »Wenn du bloß reden und uns erzählen könntest, was passiert ist …« Dann sieht sie mich an und grinst, denn … tja, denn Erwin ist immer für eine Überraschung gut. Ein Blick auf den Kater, der stürmisch den Kopf an Violets Kinn reibt, verrät mir allerdings, dass er gerade nicht in Plauderlaune ist.

»Aber es ist sowieso ziemlich eindeutig, was passiert ist«, sagt Violet. »Erwin wurde von diesem Aufzieh-Einsiedlerkrebs angefallen. Aber kann er sich wirklich mit diesem winzigen Scherenarm durch den Eimer geschnitten haben?«

»Wer sagt, dass er nur den hat?«, gebe ich zu bedenken. »In diesem Schneckenhaus kann alles Mögliche stecken. Wer weiß, vielleicht ist es ein wandelndes Schweizer Taschenmesser.«

»Jetzt kommt bestimmt gleich ›Hab ich es dir nicht gesagt‹?« Violet weicht meinem Blick aus.

»Nicht nötig. Das hast du mir ja schon abgenommen. Aber echt jetzt, Vi, nur weil sich etwas aufziehen lässt oder weil irgendein Knopf gedrückt oder irgendein Hebel umgelegt werden kann, bedeutet das noch lange nicht, dass man es tun sollte.«