Shadowghast - Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea - Thomas Taylor - E-Book

Shadowghast - Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea E-Book

Thomas Taylor

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Beschreibung

Ein Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen kann! Thomas Taylor lässt die Freunde Herbie und Violet ein neues Abenteuer in Eerie-on-Sea erleben.

In Eerie-on-Sea, wo die Winter unwirtlicher und die Legenden lebendiger sind als anderswo, ist auch Halloween schauriger. Denn hier begeht man die Ghastly Night, die Gruselnacht, in der ein böser Geist Jagd macht auf die Schatten der Menschen ... Genau das Richtige für die abenteuerlustige Violet, die es liebt, mysteriöse Rätsel zu lösen! Ihr bester Freund Herbie könnte auf diese Art Abenteuer getrost verzichten. Doch als das Gerücht die Runde macht, der schaurige Shadowghast streiche durch die Gassen der Stadt, und als tatsächlich mehr und mehr Bewohner spurlos verschwinden, ist auch für Herbie klar: Hier gibt es ein dunkles Geheimnis zu lüften, um ganz Eerie-on-Sea zu retten.

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Thomas Taylor

SHADOWGHAST

Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea

Aus dem Englischen von Claudia Max

Hanser

Für Benjy – T. T.

Der Abend vor Allerheiligen

Erinnerst du dich noch an deine erste Ghastly Night?

An das erste Mal, als du diese Halloween-Show gesehen hast, die es so nur in Eerie-on-Sea gibt?

An das erste Mal, als du dich mit deinen Freunden und deiner Familie auf dem Pier getroffen hast und ihr in der kalten Abendluft aneinandergerückt seid, und an das Schimmern der Zwirbeldrahtkerzen, während ihr darauf gewartet habt, dass der Zauber beginnen würde?

Vielleicht hat dich dein Dad auf den Schultern getragen und du hattest einen kandierten Apfel in einer Hand, eine Wunderkerze in der anderen? Vielleicht hast du auch unter dem Mantel deiner Mum hervorgespäht, als der Puppenspieler die Laterne angezündet hat.

Weißt du noch, wie du in den unheimlichen Lichtstrahl geblinzelt hast?

Weißt du noch, wie der seltsame Rauch in deiner Nase gekitzelt hat?

Weißt du noch, wie du staunend zugesehen hast, als die Hände des Schaustellers Schattenfiguren zauberten – Umrisse und Trugbilder, die über dir in der dunstigen Herbstluft herumkrochen und -hüpften?

Und hast du ihn gesehen?

Hast du einen Blick erhascht auf diesen zusätzlichen Schatten – der nichts mit den geschickten Fingern des Schaustellers zu tun hatte?

Diesen Schatten, der nicht der Schatten von irgendetwas war?

Die krumme Gestalt, die mit finsterer Freude am Rand des Lichtstrahls herumtollte und nie genau dort war, wo du sie vermutet hättest – falls du dich nach ihr umgedreht hättest. Doch sie war die ganze Zeit da und jagte und ärgerte die anderen Schattenfiguren des Schaustellers, schnappte sich eine nach der anderen, bis die Vorstellung vorbei war.

Und der Rauch sich in einem Kräuseln auflöste.

Und sämtliche Schatten verschwunden waren.

Und nur noch das Zischen der Laterne zu hören war und das Knarren des Piers und das Tosen des grenzenlosen Ozeans.

Und? Weißt du noch?

Hast du je den Shadowghast gesehen, diesen gruseligen Schatten?

Aber was rede ich da?

Natürlich hast du ihn nicht gesehen!

Vermutlich hast du noch nie von der Ghastly Night gehört oder den Zwirbeldrahtkerzen oder sonst irgendetwas.

Es sei denn, du warst schon mal in Eerie-on-Sea und hast zu viele Fragen gestellt. Doch selbst dann hast du bestimmt diese merkwürdige Tradition vergessen, die wir hier haben und die zufällig auf die Nacht fällt, die überall sonst auf der Welt als Halloween bekannt ist. Und bist vermutlich wie die meisten Leute um diese Jahreszeit viel zu beschäftigt damit, Kürbisse zu schnitzen oder dir ein Kostüm für deine Runde Süßes oder Saures auszudenken, um dich groß um die komischen altmodischen Bräuche einer kleinen Küstenstadt zu kümmern. Zu beschäftigt, um an Kobolde und Gespenster zu glauben und dir Gedanken zu machen wegen der einen Legende über einen bösen Geist, die vielleicht tatsächlich wahr ist.

Und das ist in Ordnung.

Für dich.

Würdest du in Eerie leben, sähe das anders aus. Würdest du zurückbleiben, wenn die Sommertouristen abgereist sind und die bonbonfarbenen Werbeschilder für Strandvergnügungen im Winterdunkel verblassen, dann wüsstest du, warum. Wenn die Tage kürzer und die Schatten länger geworden sind, würdest auch du ein bisschen schneller durch die stürmischen Straßen laufen. Und wenn schließlich der Oktober zu Ende wäre, würdest du ebenfalls eine schützende Zwirbeldrahtkerze aufstellen.

Nur für alle Fälle.

Nur für den Fall, dass in diesem Jahr keiner an die Ghastly Night denkt und kein Schausteller eine Laterne auf dem Pier anzündet, um Schattenfiguren herbeizuzaubern und sie der Dunkelheit anzubieten. Schließlich wird erzählt, dass der Shadowghast, sollte dies je passieren, aus Wut über die Beleidigung lebende Wesen statt Schatten jagen würde.

Aber du lächelst gerade.

Du hältst den Shadowghast noch immer für einen albernen Aberglauben.

Für einen billigen Lichttrick.

Aber denke daran: Jede Legende enthält ein Fünkchen Wahrheit. Und wenn man in den immer dunkler werdenden Straßen von Eerie-on-Sea vor den Schatten davonläuft, dann braucht es oft nicht mehr als ein Fünkchen, egal wie winzig es ist.

Es sei denn, dieser Lichttrick ist eigentlich ein Trick der Dunkelheit.

Geburtstagsfrühstück

Manche Wörter gehören einfach zusammen, oder? So wie Zauber und Laterne oder seltsam und Schatten oder Kamin und Geschichte. Jetzt im Morgenlicht und in der Wärme des Hotelspeisesaals scheint es allerdings keine Worte zu geben, die so gut zusammenpassen wie warm und gebutterter Toast.

Und ich muss es schließlich wissen. Was Frühstück anbelangt, bin ich, Herbert Lemon – Sachenfinder des Grand Nautilus Hotels –, sozusagen Fachmann. Genau aus diesem Grund ducke ich mich gerade hinter den riesigen Farntopf und presse die Nase möglichst fachmännisch gegen die Glasscheiben des Speisesaals, wo das Küchenpersonal Tabletts voller Köstlichkeiten auf eine Anrichte stellt.

Heute ist nämlich ein besonderer Tag und das Frühstück, das hier vor meinen Augen aufgefahren wird, ist das genialste Frühstück überhaupt. Der Duft tanzt meine Nasenlöcher hinauf und lässt meinen Gaumen kribbeln.

Du glaubst mir nicht? Dann komm vorbei und drück dir die Nase neben mir an der Scheibe platt und schau dir mit eigenen Augen die Berge von gebrutzelten Würstchen an, die Stapel von Speckscheiben, die Hügel von heißen knusprigen Kartoffelpuffern. Die Eier, als Spiegelei mit flüssigem Eigelb oder als perfekt fluffiges pfeffriges Rührei; die honigglasierten Champignonköpfe, die gebratenen Tomaten und die kochend heißen gebackenen Bohnen; den Toast, frittiert oder warm und gebuttert (ja!); die Körbe mit ofenwarmem, knusprig goldenem Gebäck; die Waffeln und den Ahornsirup; die zuckerglitzernden und mit der hausgemachten Himbeermarmelade des Küchenchefs gefüllten Krapfen.

In der Mitte, über dem Tafelsilber und dem hauchdünnen Porzellan und den altmodischen Messern und Gabeln thront eine gigantische Kristallschale, die bis zum sahnigen Rand mit einem festlichen und himmlischen Sherry Trifle gefüllt und mit einer einzigen kandierten Kirsche garniert ist.

Kein Wunder, dass die Scheibe schon völlig beschlagen ist! Ich wette, deine auch.

Du musst wissen, heute ist der Geburtstag von Lady Kraken. Und Lady Kraken, die Besitzerin des Grand Nautilus Hotels, hat schon vor langer Zeit bestimmt, dass es an ihrem Geburtstag ein besonderes Frühstück gibt und alle – alle –, die im Hotel arbeiten, dazu eingeladen sind.

Die gnädige Frau selbst wird allerdings nicht daran teilnehmen. Wie immer, seit sie zur Einsiedlerin geworden ist. Doch erst wenn ihr Frühstück – ein hart gekochtes Ei mit einem Fingerhut gemahlenem Kreuzkümmel – unter einer glänzenden Silberhaube in ihre Privatgemächer im sechsten Stock hinaufgetragen und ihr mit einem Tässchen schwarzem Kaffee serviert worden ist, darf sich der Rest von uns den Bauch vollschlagen. Zumindest theoretisch. Die Sache hat nämlich einen Haken …

»Sputen Sie sich!«, mahnt Mr Mollusc verdrießlich und unterstreicht seinen Befehl mit einem feuchtkalten Händeklatschen. »Bringen wir es hinter uns. Je schneller Sie alle wieder Ihrer Arbeit nachgehen, desto besser.«

Ich ziehe den Kopf ein, als er durch den Speisesaal stolziert und sich in Vorfreude auf den Speck und die Plunderteilchen den Schnurrbart zwirbelt. Du musst wissen, Lady Kraken spendiert uns zwar allen an diesem Morgen Frühstück, doch Mr Mollusc, der Hoteldirektor, entscheidet, wer als Erster essen darf.

Beziehungsweise als Letzter …

»Hast du Angst, dass du nichts abbekommst?«, fragt eine Frauenstimme hinter mir, was mich zusammenfahren lässt. Offenbar hat mich ein Hotelgast hinter dem Farntopf entdeckt! Ich sollte mich umdrehen und mich erkundigen, ob sie etwas benötigt, aber ich starre gebannt auf den Speisesaal, wo sich die Frühstückssituation alarmierend verändert.

Mr Mollusc hat am besten Tisch Platz genommen und gibt den Kellnern Zeichen, seinen Teller mit Würstchen und Eiern zu beladen. Am anderen Ende des Saals stellen sich die Zimmermädchen – die als Nächste drankommen – bereits zu einer hungrigen Schlange auf.

»Na ja, letztes Jahr habe ich nichts abgekriegt!«, erkläre ich der Person hinter mir. »Und das Jahr davor auch nicht. Es ist schon fast eine Tradition, dass ich bei Lady Krakens Geburtstagsfrühstück leer ausgehe.«

»Oh«, sagt die Stimme. »Das ist aber traurig.«

»Na ja, vielleicht kriege ich ein Croissant ab«, räume ich ein, als ich einen Kellner drei der buttrigen Hörnchen neben den Ellbogen des Direktors stellen sehe. »Falls denn welche übrig bleiben. Allerdings erst, nachdem sie ein, zwei Tage herumgelegen haben und altbacken und zäh wie Gummi sind.«

»Dieses Jahr wird es anders sein, Herbie«, erklärt die Stimme. Es ist eine nette Stimme, sie hat was von dunklem Honig und lässt meinen ganzen Nacken kribbeln. »Versprochen.«

Ich spüre, wie eine Hand meine Kappe zurechtrückt und mir auf die Schulter klopft. Ich erstarre.

Die Frühstücksgerüche sind einem schwachen Parfumduft gewichen, doch bevor ich einmal kräftig schnüffeln kann, ist er auch schon verflogen. Ich stehe da und will dieses Parfum noch einmal riechen. Aber als ich mich umdrehe, um herauszufinden, wer gerade gesprochen hat, sind da nur noch die Farnwedel, hinter denen ich mich zu verstecken geglaubt habe. Als ich in die Eingangshalle gehen will, um nachzusehen, wer es gewesen ist, verheddere ich mich in der lästigen Pflanze.

An der Rezeption checken gerade Gäste ein. Ein beleibter, rotgesichtiger Mann mit einem Homburger Hut bekommt von der Hotelrezeptionistin Amber Griss mehrere Schlüssel ausgehändigt; hinter ihm stehen zwei große von Kopf bis Fuß schwarz gekleidete und mit Schachteln und Kisten beladene Männer. Keiner von ihnen scheint mir der Typ »nette Stimme und Parfum« zu sein.

Dahinter, neben dem Messing-Aufzug, wartet allerdings eine vierte Person, eine Frau, die mir den Rücken zudreht. Sie ist groß und schlank und hat rabenschwarze Haare; ihr schwarzer bestickter Mantel fängt das Licht auf seltsame Weise ein. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, dass sich die Frau umdrehen solle, aber das tut sie nicht.

Und dann geschieht etwas Merkwürdiges.

Die Wolken über Eerie-on-Sea teilen sich und durch eines der hohen Hotelfenster fällt ein goldener Sonnenstrahl auf die Gruppe.

Und ich sehe …

Etwas!

Etwas, was nicht stimmt an dieser Szene, an der Art, wie das Licht hereinscheint oder wie die Schatten fallen oder …

Ich reibe mir die Augen und blinzle, um den merkwürdigen Eindruck zu verscheuchen, doch genau in diesem Moment kommt der Lift und die Frau mit den rabenschwarzen Haaren steigt ein. Die Männer mit dem Gepäck drängen hinterher. Die Aufzugstür schließt sich und weg sind sie.

Ich reibe mir noch einmal die Augen. Vielleicht bin ich vor lauter Hunger schon ein bisschen plemplem.

Aber ich muss ständig an die Frau mit den rabenschwarzen Haaren denken.

Wer ist sie? Und was hat sie mit ihrem Versprechen gemeint?

»Und woher wusste sie meinen Namen?«, frage ich laut.

Mr Mummery

Die ersten schrägen Vögel sind also schon da?«, erkundige ich mich an der Rezeption bei Amber Griss.

Amber antwortet mit einem warnenden Tsss.

»Pass auf, Herbie, dass dich Mr Mollusc nicht so über unsere Gäste reden hört.«

Sie fügt nicht hinzu »selbst wenn es stimmt«, aber das braucht sie auch nicht. Wir wissen beide, dass Lady Krakens Geburtstag Ende Oktober den Beginn der Wintersaison einläutet. Nun werden wir monatelang keine mit Schaufel und Eimer ausgerüsteten Touristen mehr zu Gesicht bekommen. Was wir zu sehen bekommen werden, wenn sich die Stadt für ihren Winterschlaf bereit macht und das Wetter schlecht wird, tja … das werden wir wohl abwarten müssen, oder? Eines steht allerdings fest: In Eerie-on-Sea sehen wir im Winter immer etwas. Ob wir wollen oder nicht.

»Wer sind sie?«, frage ich und versuche, im Gästebuch, in das Amber gerade schreibt, einen Namen zu erspähen. »Diese neuen Gäste? Sie hatten ziemlich komisch aussehendes Gepäck.«

»Das ist irgendeine Theatertruppe.« Amber klappt das Buch schnell zu und lässt ihren Kugelschreiber klicken.

»Aber haben sie schon mal hier gewohnt?« Ich rätsle immer noch, woher die Frau mit den rabenschwarzen Haaren meinen Namen wusste.

»Mir sind sie nicht bekannt«, erwidert Amber. »Ich weiß nur, dass sie eingeladen wurden, dieses Jahr die Ghastly-Night-Show zu übernehmen.«

»Wirklich?«, frage ich.

»Es war Lady Krakens Idee«, erklärt Amber. »Sie findet es an der Zeit, dass wir das Ding wie in alten Zeiten wieder gebührend im Theater auf dem Pier feiern …«

Amber redet nicht weiter, sie hebt warnend eine Augenbraue, als sie etwas hinter mir erspäht.

Ich schlucke, ich weiß genau, was jetzt kommt.

Dann überlege ich fieberhaft, wie ich mir den Anschein geben kann, beschäftigt zu sein, doch mit schief sitzender Sachenfinder-Kappe am Empfangstresen zu lehnen und die Hände in den Hosentaschen zu haben gibt nicht viel her.

»Herbert Lemon!«, ertönt die durchdringende Stimme von Mr Mollusc hinter mir. »Was tun Sie da? Vielmehr was tun Sie nicht? Nur weil Sie keine vernünftige Aufgabe haben, heißt das noch lange nicht, dass Sie Miss Griss von ihrer abhalten können.«

Ich drehe mich um und rücke langsam meine Mütze zurecht. Der Hoteldirektor baut sich vor mir auf, sein Schnurrbart sträubt sich erbost. Seine Krawatte ist mit Eigelb bekleckert.

»Ich habe sehr wohl gearbeitet«, erwidere ich. »Ich habe Amber … Miss Griss wollte ich sagen … gerade angeboten, die Rezeption zu übernehmen, damit sie sich an dem leckeren Geburtstagsbuffet bedienen kann. Sie soll schließlich nicht leer ausgehen, Sir. Stellen Sie sich nur vor, Sir, nichts von diesem Frühstück abzubekommen! Wäre das nicht traurig, Sir?«

Ich knipse mein fleißigstes und verdienstvollstes Gesicht an.

»Nun, wenn das so ist …«, erwidert Mr Mollusc, ohne sich um mein Gesicht zu scheren. »Dann sollten Sie tatsächlich jetzt zum Frühstück gehen, Miss Griss. Noch ist ein bisschen was übrig, aber wahrscheinlich nicht mehr lange – als Nächstes kommen die Leute aus der Wäscherei dran und danach verputzt vermutlich die Küchenbrigade den Rest. Ich würde vorschlagen, Sie beeilen sich, Miss Griss. Der Speck ist bereits aufgegessen.«

»!«, rutscht es mir heraus, ich kann mich nicht beherrschen. Speck und aufgegessen sind zwei Wörter, die nie gut zusammenpassen. »Sir …!«

Mollusc scheucht Amber mit einer Handbewegung davon, ohne sich um mich zu kümmern.

»Ich werde mich höchstpersönlich um den Empfangstresen kümmern«, erklärt er, als tue er allen damit einen Riesengefallen. Er lässt sich auf Ambers Stuhl fallen und mustert mich mit einem Auge. »Und ich schlage vor, Sie gehen zu Ihrem Fundbürotresen und kümmern sich um den, Junge.«

»Aber …!«

»Keine Abers!«, bringt mich Mr Mollusc zum Schweigen. »Und es wird auch nicht durch das Kellerfenster davongeschlichen. Oh ja, Mr Lemon, ich weiß natürlich Bescheid. Und ich bin sehr in Versuchung, die Hotelmülltonnen vor dieses Fenster stellen zu lassen, damit Sie und Ihre lästige Freundin nicht mehr ständig rein- und rausklettern. Das hier ist ein respektables Hotel, keine Einbrecherschule. Und nun Marsch!«

Und so werde ich einfach weggeschickt. Ich trotte zu meinem Kabäuschen zurück, meine Füße sind schwer, mein Bauch ist mal wieder eine geburtstagsfrühstücksfreie Zone.

Von wegen dieses Jahr würde anders werden!

Falls du schon mal im Grand Nautilus Hotel warst, kennst du bestimmt mein Kabäuschen. Es befindet sich in der marmorgefliesten Eingangshalle gegenüber der Rezeption. Es ist eine kleine bogenförmige Wandnische mit einem hoch- und runterklappbaren Tresen, damit ich hinein- und herauskomme. Das Kabäuschen ist der einzige Teil des Fundbüros, den die Gäste zu sehen bekommen, vermutlich wirkt es nicht besonders beeindruckend. Aber falls du schon mal zu Gast hier warst und während deines Aufenthalts etwas verloren hast, standest du vermutlich wenigstens einmal an meinem Tresen, hast die Klingel geläutet und darauf gewartet, dass meine Wenigkeit erscheint und dir hilft. Und ich wette, falls du etwas als verloren gemeldet hast, habe ich es höchstwahrscheinlich für dich gefunden. Denn – was immer du von der ollen Molluskenfratze gehört haben magst – ich mache meinen Job ziemlich gut.

Ich klappe den Tresen hoch und lasse mich auf meinen Stuhl plumpsen.

Ein zusammengefaltetes Blatt, auf das ein großes HL für Herbert Lemon gekritzelt ist, wartet auf mich. Eine Nachricht? Ich öffne es und lese, was dort steht:

Herbie, komm schnell! Es ist ein Notfall!!

Sachenfinder dringend benötigt!!! Bring Au-fein mit!!!!

Violet x

Ich stoße einen Seufzer aus. Nicht schon wieder!

Violet – meine allerbeste Freundin in Eerie-on-Sea – hatte keinen tollen Sommer. Sie kam letztes Jahr im tiefsten Winter hier an und hat mich prompt in zwei – zwei! – Riesenabenteuer verwickelt, bei denen du weiche Knie bekämst, wenn du sie hören würdest. Abenteuer, die bei ihr zu der Erwartung geführt haben, dass das Leben in Eerie-on-Sea ununterbrochen geheimnisvoll und aufregend ist. Doch die langen Eiscreme-Monate von Mai bis September – mit den Touristen und Liegestühlen und sandigen Badehosen – waren eine Enttäuschung für Violet. Seit Wochen hält sie verzweifelt Ausschau nach einem neuen Eerie-Abenteuer, und jede Notiz, in der sie mir mitteilt, dass sie angeblich eines gefunden hat, ist mit mehr Ausrufezeichen versehen als die vorherige.

Momentan bin ich allerdings gerade überhaupt nicht in der Stimmung dafür. Bei einem weiteren Blick auf die Aufzugstür überkommen mich Erinnerungen an das betörende Parfum der geheimnisvollen Frau mit den rabenschwarzen Haaren. Ich werde später zu Violet gehen.

Mein Blick fällt auf das weiße schimmernde Schneckenhaus neben mir.

»Hallo, Au-fein!« Ich nehme es vom Regal und puste ein paar Sandkörner aus dem mit Messing eingefassten Schlüsselloch an der Seite.

Es mag dir komisch erscheinen, dass ein Schneckenhaus einen Namen hat (und ein Schlüsselloch!), aber dieses Schneckenhaus ist besonders. Es hat nicht nur ein raffiniertes Uhrwerk in sich, du solltest auch wissen, dass ich diesem Schneckenhaus etwas versprochen habe.

Au-fein – das ist die Kurzform von »aufziehbarer Einsiedlerkrebs« (»auf« von »aufzieh« und »ein« von »Einsiedlerkrebs«) – ist einer der vielen verlorenen Gegenstände in meinem Fundbüro. Ich muss mich um ihn kümmern, bis ich seine rechtmäßige Besitzerin oder seinen rechtmäßigen Besitzer gefunden habe. Im Laufe des Sommers habe ich ihn vorsichtig gereinigt, aber im Moment kann ich mich nicht so recht überwinden, ihn mit dem Schlüssel aufzuziehen. Das letzte Mal Aufziehen war der Auftakt zu einem der erwähnten Riesenabenteuer.

Violet liegt mir seit Monaten in den Ohren, es noch einmal zu tun.

Ich nehme einen feinen Schraubenzieher und versuche, ein paar Sandkörner aus dem fantastisch komplexen Uhrwerkmechanismus des aufziehbaren Einsiedlerkrebses herauszubekommen. Dabei denke ich die ganze Zeit daran, was die Frau mit den rabenschwarzen Haaren wohl sagen würde, wenn sie vorbeikäme und sähe, wie ich ein so schönes und kompliziertes kleines Gerät repariere …

Ich lege Au-fein auf den Tresen und seufze.

Offenbar kann ich mich heute auf gar nichts konzentrieren.

Als ich auf die Klingel auf meinem Tisch schaue, ertappe ich mich bei Fantastereien, dass die Frau mit den rabenschwarzen Haaren gleich läuten und um meine Hilfe bitten wird. Das würde mir gefallen. Und ich würde mich auch sofort an die Arbeit machen und fantastisch sein und ihr helfen, und Mr Mollusc würde zähneknirschend dastehen, weil sie mich anlächeln und für alle hörbar sagen würde: »Oh, Herbie, du bist der tollste Sachenfinder, dem ich je begegnet bin« und »Dieses Jahr wird es anders sein, Herbie, versprochen«. Der Tagtraum gefällt mir so gut, dass ich förmlich sehen kann, wie sich ihre schlanke Hand ausstreckt und meinen Klingelknopf hell und fröhlich –

TING!

Meine Klingel bimmelt schrill, ich rutsche mit dem Ellbogen ab und blinzle sie überrascht an.

Da ist tatsächlich eine Hand, allerdings ist sie alles andere als schlank.

TING! bimmelt die Klingel noch einmal, als der rote Wurstfinger den Knopf ein zweites Mal kurz und missmutig antippt.

»Haben Sie geöffnet?«, fragt eine Stimme. »Auf dem Schild steht, dass Sie geöffnet haben.«

Ich blicke hoch. Statt der geheimnisvollen Frau mit den rabenschwarzen Haaren starrt mich der beleibte Herr mit dem Homburger Hut böse an. Sein Anblick jagt mir einen solchen Schrecken ein, dass mir die Kappe über die Augen rutscht.

»Dieses Jahr wird es anders sein!«, platze ich heraus. Ich schiebe die Kappe zurück. »Ich wollte sagen, ja, ich habe geöffnet. Herbert Lemon, Sachenfinder, zu Ihren Diensten.«

»Hmm«, sagt der Mann. »Machst ja nicht gerade viel her, was?«

Da ich nicht recht weiß, was ich darauf erwidern soll, nehme ich mir einen Moment und schaue mir den Mann genauer an. Er ist noch rotgesichtiger, als ich dachte, und trägt einen dunkelgrauen Anzug, dessen Weste seinen Bauch nur dank der drei extrem angespannten Knöpfe bedeckt. Er sieht nicht wie ein Schauspieler aus, der für eine Show in die Stadt gekommen ist. Sondern eher wie ein Banker, der hier ist, um sie dichtzumachen und alle rauszuschmeißen, weil die Miete nicht gezahlt wurde.

»Ich gebe mein Bestes«, erkläre ich irgendwann. »Ich könnte aufstehen, falls das weiterhilft.«

»Würde es«, erwidert er barsch. »Ich wurde hergeschickt, um Sie zu holen. Ich …«

Doch bevor er weiterreden kann, schiebt sich Mr Mollusc neben ihm ins Bild.

»Entschuldigen Sie bitte, mein Herr, belästigt Sie der Junge?«

»Nein, noch nicht«, antwortet der Mann mit Hut.

»Sind Sie sicher?« Mollusc ist sichtlich enttäuscht. »Er ist ein Meister im Vertuschen.«

»Ja, den Eindruck macht er.« Der Mann mustert mich mit zusammengekniffenen Augen, als seien gerade seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden. Dann dreht er sich um. »Und Sie sind?«

»Mr Mollusc. Ich leite dieses Hotel.«

»Aha«, schnaubt der Mann mit Hut, seine Miene hellt sich ein wenig auf. »Und ich bin Mr Mummery, Impresario. Sehr erfreut, Mr Mollusc.«

»Sehr erfreut, Mr Mummery«, erwidert der Direktor. Mollusc und Mummery schütteln sich die Hände und nicken einander zu, und ich habe das ungute Gefühl, dass ich der Geburtsstunde eines schrecklichen Komikerduos zuschaue. Garantiert werden sich die beiden Männer nach der Begrüßung umdrehen und mich mit demselben Ausdruck von Zweifel und Verachtung mustern.

»Ähm«, melde ich mich, als ich es an der Zeit finde, auch mal was zu sagen. Ich mustere Mr Mummery mit hochgezogener Augenbraue. »Sagten Sie gerade, man habe nach mir geschickt?«

»In der Tat«, erwidert Mummery. »Allerdings gegen meinen Rat, muss ich hinzufügen. Sie sollen mit mir in den sechsten Stock kommen, Herbert Lemon, in die Privatgemächer von Lady Kraken. Es ist Zeit für Ihre Befragung. Alle warten schon.«

»Befragung?« Ich spüre, wie mir die Kappe erneut über die Augen rutscht. »Aber … Wie …? Was …?«

»Kein Grund, so erschrocken auszusehen«, sagt Mr Mummery. »Ich bin sicher, dass Sie sich bestens vorbereitet haben. Und nun kommen Sie mit.«

»Hat der Junge …?«, fragt Mr Mollusc atemlos und ausgesprochen hoffnungsvoll. »Hat der Junge etwas ausgefressen?«

»Das« – Mr Mummery späht über seine rote Knollennase zu mir – »wird sich noch herausstellen.«

Als er mit energischen Schritten zum imposanten Messingaufzug des Grand Nautilus Hotel geht, erwartet er eindeutig, dass ich ihm folge.

Und was bleibt mir anderes übrig?

Unter dem triumphierenden Blick von Mr Mollusc eile ich ihm hinterher.

Rauch und Spiegel

Benommen trete ich in den Lift. Als ich aussteige, bin ich immer noch benommen. Was geht hier vor sich? Wieso Befragung? Ich habe nichts getan!

Oder doch?

Wenigstens wird Lady Kraken dabei sein, mache ich mir Mut. Meine Arbeitgeberin mag so verdreht sein wie eine Schüssel Spaghetti und ebenso feurig scharf wie die dazugehörige Chilisauce, aber sie wird nicht zulassen, dass mir etwas geschieht.

Oder doch?

Oh Blasentang!

Als ich meinem geheimnisvollen Begleiter den korallenroten und meeresblauen Korridor bis zur Tür der Jules-Verne-Suite folge, finde ich endlich einen Satz in meinem Hirn, der einigermaßen gerade genug ist, um ihn auszusprechen.

»Ich habe mich nicht vorbereitet«, erkläre ich. »Ich weiß überhaupt nicht, worum es hier geht!«

»Haben Sie nicht?« Mr Mummery bleibt stehen und dreht sich um. »Sie haben sich nicht vorbereitet? Aber Sie sind Herbert Lemon, oder? Sachenfinder im Grand Nautilus Hotel?«

»Ja, schon, aber …«

»Sie sind der Junge, der in einer Zitronenkiste in Eerie-on-Sea an Land gespült wurde? Der schiffbrüchige Junge, der keine Erinnerung an sein früheres Leben hat?«

Ich nicke und sehe ihn mit großen Augen an.

»Dann liegt hier kein Missverständnis vor«, erwidert Mr Mummery. »Dann sind Sie der Anwärter.«

»Anwärter? Ich warte auf nichts!«

»Womöglich nicht.« Mr Mummery schnieft ungeduldig, als sei das bloß ein lästiges Detail. »Aber Sie wurden viele Jahre lang gesucht. Meine Arbeitgeberin hat die letzten Wochen mit Ihrer Arbeitgeberin korrespondiert und nun sind wir endlich hier, um Sie persönlich ins Kreuzverhör zu nehmen. Versuchen Sie bitte, ein wenig überzeugender zu sein, sonst war unsere Reise umsonst.«

Er dreht sich um und geht weiter den Flur hinunter.

»Wer …?«, frage ich, als ich ihm hinterherrenne. »Wer ist Ihre Arbeitgeberin?«

»Was das anbelangt …«, antwortet Mr Mummery in einem Ton, der vermuten lässt, dass er genug hat von meinen Fragen. »Sie werden sie gleich kennenlernen. Ich würde vorschlagen, Sie rücken Ihre Kappe zurecht und hören mit dem Gezappel auf, Junge.«

Er zieht an der Kordel neben den Türflügeln zu Lady Krakens Suite und löst das Dong einer entfernten Glocke aus. Einen Augenblick später flackert auf der Tafel neben der Tür eine Glühbirne und beleuchtet die winzigen verschnörkelten Buchstaben:

HEREIN

Die Türflügel schwingen auf und ich stehe vor der dahinterliegenden Düsternis.

Mr Mummery schiebt mich in die Suite.

Als Erstes sehe ich den großen runden Tisch in der Mitte von Lady Krakens Salon. Normalerweise ist er mit einer Staubschicht bedeckt wie so ziemlich alle Besitztümer der Hoteleigentümerin, doch heute ist eine gemusterte Tischdecke darübergebreitet. Und auf der Tischdecke stehen Teetassen, eine kunstvoll verzierte Teekanne und ein Teller mit unberührten goldenen Teilchen, die genauso aussehen wie die des Küchenchefs. Trotz allem anderen schafft es mein Magen, bei ihrem Anblick ein hungriges Gluckern von sich zu geben.

»Ah, da sind Sie ja, Mr Lemon«, sagt eine krächzende alte Stimme und Lady Kraken rollt mit ihrem antiken elektrischen Rollstuhl ins Licht der Lampe. »Was haben Sie vorzubringen, hm?«

»Ähm …« Ich öffne und schließe den Mund, bis mir eine Antwort einfällt. »Herzlichen Glückwunsch, Lady Kraken?«

»Guter Junge.« Die alte Dame legt den faltigen Kopf schief. »Sie haben sich das besondere Frühstück bestimmt schmecken lassen? Die ganzen Schlemmereien? Den Trifle? Ich bin heute hundert und irgendwas geworden!«

Sie verzieht ihr runzliges Gesicht zu einem Schildkrötenlächeln.

Ich will gerade »Welches Frühstück?« rufen, doch auf Lady Ks Gesicht liegt ein Ausdruck, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Für ihre Stimme gilt dasselbe. Und auch wenn ich dieses Etwas nicht benennen kann, bleibt das Gefühl zurück, dass sich plötzlich alles geändert hat.

»Kommen Sie näher, Herbie«, fährt Lady Kraken fort. »Sie brauchen nicht an Ihren Knöpfen herumzuspielen, Junge. Hier ist jemand, der Sie sehen möchte.«

Ich trete also einen Schritt vor. Dann drehe ich mich um.

In dem hohen Ohrensessel gegenüber von Lady Kraken sitzt die Frau mit den rabenschwarzen Haaren. Sie trägt noch immer ihren ebenfalls in Rabenschwarzschattierungen schillernden Mantel; er ist so kunstvoll bestickt, dass man kaum darauf schauen kann. Ihr stolzes blasses Gesicht erinnert mich an eine Märchenkönigin, ihre dunklen Augen glänzen. Sie erhebt sich, ohne den Blick von mir zu nehmen.

»Der Lemon-Junge«, stellt Mr Mummery meine Wenigkeit vor, als bestünde da irgendein Zweifel. »Möchten Sie, dass ich die Fragen stelle, Caliastra?«

»Nein«, erwidert die Frau. »Warten Sie unten und nehmen Sie Rictus und Tristo mit. Von nun an komme ich allein zurecht.«

Ich sehe mich zunehmend verängstigt in dem düsteren Salon um. Warum sind die Vorhänge zugezogen? Dann bemerke ich die beiden Männer, die ich zuvor mit dem Gepäck gesehen habe, im Dunkeln nebeneinandersitzen. Sie tragen noch immer die gleichen engen schwarzen Anzüge, ihre Gesichter sind unnatürlich weiß und schrecklich, ihre Augen starr auf mich gerichtet.

»Wie Sie wünschen, Caliastra«, erwidert Mr Mummery und wirft mir einen letzten, unergründlichen Blick zu. Dann gibt er den beiden Männern in Schwarz ein Zeichen, ihm zu folgen, und die drei verlassen das Zimmer.

Caliastra.

Ich wiederhole das Wort in Gedanken, rolle die ungewohnten Silben von einer Seite auf die andere. Wenn das der Name der Frau mit den rabenschwarzen Haaren ist, dann habe ich ihn garantiert noch nie gehört. Das hier – was immer es ist – muss ein Missverständnis sein. Ich werde gleich am Anfang ein paar Entschuldigungen vorbringen, sicher ist sicher.

»Kann ich einfach sagen, dass es mir sehr leidtut?«, setze ich an und weiche zurück. »Es war nicht meine Absicht. Und ich werde es nie wieder tun. Und ich werde alles aufräumen und/oder mich entschuldigen, ganz wie Sie wünschen. Abgesehen davon war ich es nicht. Ich war nicht mal dabei!«

Ich stolpere rückwärts gegen einen Sessel und wirble eine Staubwolke auf.

»Aber mein lieber Junge!«, ruft die Frau namens Caliastra. »Niemand wirft dir etwas vor.« Das umwerfende Lächeln auf ihrem Gesicht ist genauso wundervoll, wie ich es mir unten in meinem Kabäuschen vorgestellt habe. »Vielleicht kommt das alles zu schnell«, fährt sie fort und wendet sich zu Lady Kraken. »Vielleicht hätte ich ein, zwei Tage warten sollen, bevor ich mich ihm vorstelle? Andererseits habe ich schon so lange gewartet.«

»Vielleicht«, antwortet Lady Kraken mit einem Schulterzucken und lässt die Rattanlehne ihres Rollstuhls wie ein Spukhaus knarren. »Aber meiner Meinung nach sagt man bei Einfaltspinseln am besten einfach, was Sache ist.«

Caliastra nickt. Sie zieht die Vorderseite ihres Mantels glatt und wischt imaginäre Krümel von der makellosen schwarzen Fläche. Genau wie ich, wenn ich nervös bin und einen guten Eindruck machen will. Ich nutze die Gelegenheit, um sie eingehender zu betrachten – ihre markanten Züge, ihre lange Nase und hohen Wangenknochen. Es ist das Gesicht von jemandem, der es gewohnt ist, Befehle zu erteilen. Warum sollte sich jemand wie sie für die Gedanken eines strubbeligen und leicht zerknitterten Sachenfinders wie mir interessieren?

»Herbie?«, sagt sie. »Darf ich dich Herbie nennen?«

Ich nicke und halte meine Kappe fest.

»Ich bin Caliastra«, stellt sich die Frau vor. »Aber das ist nicht mein richtiger Name. Sondern mein Künstlerinnenname. Vielleicht hast du ihn schon mal gehört?«

Habe ich nicht. Ich versuche, höflich auszusehen, aber vermutlich blinzle ich dafür zu viel.

»Das macht nichts.« Es scheint Caliastra wirklich nichts zu bedeuten. »Das ist der Name, unter dem man mich in London, Paris, New York kennt – überall, wo ich auftrete. Auch wenn mein Ruhm noch nicht bis zum Keller des Grand Nautilus Hotels vorgedrungen zu sein scheint, freue ich mich, sagen zu können, dass ich mit meiner kleinen Zaubershow einigen Erfolg habe.«

»Zauber?«, frage ich atemlos. »Sind Sie eine … eine …?«

Etwas verändert sich an Caliastra, während ich mich abmühe, das Wort herauszubekommen. Sie mustert mich mit verschlagenem Blick und streckt – die Handfläche nach außen, die Finger gespreizt – die Hand aus. Dann dreht sie sie hin und her, damit ich sehen kann, dass beide Seiten leer sind. Sie schiebt den Ärmel zurück und entblößt ein nacktes Handgelenk.

Und schnippt mit den Fingern.

Aus dem Nichts taucht eine Spielkarte – die Herzkönigin –zwischen ihren schlanken Fingern auf. Sie schnipst noch einmal und nun fliegt die Karte und dreht sich wie wild. Nach einer geschickten Runde durch den Raum – einmal, zweimal – kehrt sie in Caliastras Hand zurück, die sich nicht bewegt hat. Als sie die Karte aus der Luft greift und noch einmal schnippt, blitzt plötzlich explosives Licht auf.

Schwefelgeruch belästigt meine Nase, ich blinzle.

Als ich noch einmal hinschaue, ist die Karte …

… verschwunden!

Caliastra hält mir die Hand entgegen, damit ich nachschauen kann: Sie ist genauso leer wie am Anfang. Sie blickt fragend auf meine Sachenfinder-Kappe.

Echt jetzt?

Ich greife ungläubig nach oben und nehme meine Kappe ab.

Da ist etwas.

Es ist die Spielkarte.

»Heiliger Bimbam!«, krächzt Lady Kraken.

»Die Herzkönigin«, flüstere ich und starre die Karte in meiner Hand an. Dann schaue ich zu der Frau mit den rabenschwarzen Haaren und dem umwerfenden Lächeln. »Sie sind eine Zauberkünstlerin!«

»Das bin ich«, bestätigt Caliastra und verbeugt sich formvollendet. »Aber ebenso wenig wie Caliastra mein richtiger Name ist, ist Herbert Lemon – Herbie – deiner.«

Ich bringe keinen Ton heraus. Als ich die Kappe wieder aufsetzen will, verfehle ich meinen Kopf.

»Aber ich kenne deinen richtigen Namen, Herbie«, sagt sie. »Ich weiß, wer du wirklich bist, weil …«

Caliastra redet nicht weiter, ihre Worte kommen stockend heraus, so gerührt ist sie.

Sie braucht einen Moment, bis sie sich gefangen hat, dann redet sie weiter.

»Kannst du dich an irgendetwas aus deinem früheren Leben erinnern, Herbie? Hast du Erinnerungen an deine Mutter?«

Caliastra

Meine Mutter.«

Ich wiederhole die Worte tonlos und vergesse, ein Fragezeichen anzuhängen, als habe das Wort Mutter – das so gut zu fast allen anderen Wörtern im Wörterbuch passt – absolut nichts mit mir zu tun. Mein Kopf explodiert gerade und ich habe nur noch Augen für die Frau, die mit einem Gesichtsausdruck vor mir steht, den ich nicht beschreiben kann.

»Ja«, antwortet diese Frau flüsternd.

»Was?« Lady Kraken schnappt nach Luft. »Was?«

Ich fange zu zittern an.

»Ich wollte sagen, ja, ich habe sie gekannt«, fügt Caliastra hastig hinzu. »Ich … Ich kannte deine Mutter, Herbie. Wir standen uns … sehr nah. Ja, so nah, wie man sich nur stehen kann. Sie war meine … Schwester.«

Mir wird noch etwas anderes bewusst. Meine Welt dreht sich nun zwar nicht mehr ganz so schwindelerregend schnell, aber es ist trotzdem etwas Bedeutsames.

»Das heißt …«, setze ich an.

»Ja, Herbie«, sagt Caliastra und schaut zu Lady Kraken, als wolle sie sich rückversichern. Die Augen der alten Dame sind bloß noch misstrauische Schlitze.

»Dann bist du also meine Tante.«

Da macht sie mich wieder mit diesem Lächeln sprachlos.

»Endlich habe ich dich gefunden, mein Junge. Ich bin hier, um dich nach Hause zu holen.«

»Jetzt aber mal nicht ganz so vorschnell, nicht wahr?«, unterbricht Lady Kraken mein Schweigen. Und da erkenne ich das »Etwas« in der Stimme meiner Arbeitgeberin, das Etwas, das ich zuvor nicht benennen konnte. Lady Kraken hat das Hotel viele Jahre regiert, und was sie sagt, gilt für alle, bis hinunter zu mir. Doch nun ist plötzlich jemand da, der ihren Anspruch auf mich verdrängt.

Vorausgesetzt, dieser Anspruch stimmt.

»Herbert Lemon war mein Sachenfinder, seit dem Tag, als er in Eerie angespült wurde«, erklärt Lady Kraken. »Und auch wenn er einer der einfältigsten Einfaltspinsel schlechthin ist und noch dazu ein Dummkopf, trage ich die Verantwortung für ihn. Da kann nicht einfach irgendjemand daherkommen und Anspruch auf ihn erheben. Jedenfalls nicht«, fügt Lady K hinzu, als wolle sie an einem Punkt nachgeben, »ohne Beweise.«

»Selbstverständlich.« Die Zauberkünstlerin lehnt sich in ihrem Sessel zurück und schlägt die Beine übereinander. »Und es würde mir nicht im Traum einfallen, in Ihrem Hotel aufzukreuzen und Ihnen das hier zu erzählen, ohne Gründe dafür zu haben. In einer Geschichte wäre das vermutlich der Moment, in dem ich sein erdbeerförmiges Muttermal erwähnen würde.«

»Ich habe ein erdbeerförmiges Muttermal?« Ich suche in Gedanken meinen Körper ab und überlege, ob ich je etwas dergleichen im Badezimmerspiegel gesehen habe, bin aber einigermaßen sicher, dass dem nicht so ist. Es sei denn, es ist irgendwo versteckt, wo ich bisher noch nie nachgesehen habe. Ich spüre, wie mein Gesicht die Röte eines ganzen Korbs Erdbeeren annimmt.

»Nein!« Caliastra kichert fröhlich. »Aber du hast eine V-förmige Narbe auf deinem linken Unterarm. Richtig, Herbie?«

Ich starre Lady Kraken an. Sie mustert mich mit schief gelegtem Kopf. Dann wandern unsere Augen zu meinem linken Arm, der vom Ärmel meiner Uniform verdeckt wird. Lady K dreht ihre Lampe, sodass das Licht auf meinen Arm fällt. Ich ziehe den Ärmel hoch.

Und dort auf meinem Arm ist ein kleines weißes V vernarbter Haut.

»Vielleicht ist es auch ein ›L‹«, wendet Lady Kraken ein. »›L‹ für Lemon.«

Doch mit einem Mal klingt sie weniger sicher.

»Woher weißt du das?«, frage ich Caliastra. »Ich habe mich immer gefragt, woher ich sie habe.«

»Es ist vor vielen Jahren passiert.« Die Zauberkünstlerin ist plötzlich ernst. »Ein dummer Unfall.« Sie sieht mir in die Augen. »Deine Mutter meinte, die Narbe würde dich fürs Leben zeichnen. Und sie hat recht behalten.«

»Haben Sie dieses Mal jemals irgendjemandem gezeigt, Junge?«, will Lady Kraken wissen. »Denken Sie nach. Es ist wichtig.«

Ich schüttle den Kopf.

»Pah! Das beweist ja wohl überhaupt nichts.« Lady K dreht sich mit surrenden Elektromotoren zu Caliastra um. »Von der Narbe können Sie von jemandem im Hotel erfahren haben. Ist das wirklich Ihr bester Beweis? Ihrer Korrespondenz nach hatte ich zumindest eine Geburtsurkunde erwartet.«

»Die habe ich leider nicht«, räumt Caliastra ein und hält die Hände hoch. Ich frage mich, ob sie noch einen Zaubertrick vorführen wird, doch dieses Mal sind die leeren Handflächen rein metaphorisch. Sie wendet sich zu mir.

»Herbie, welche Erinnerungen hast du an den Tag, an dem du in Eerie-on-Sea ankamst?«

Ich rufe die verschwommenen Erinnerungen auf, wie ich mich vor vielen Jahren an eine Kiste geklammert habe, während mich die Wellen hin und her warfen. Falls du schon mal in Eerie-on-Sea warst, hast du die Geschichte von dem schiffbrüchigen Jungen vielleicht gehört – von dem Jungen, der in einer Kiste Zitronen an Land gespült wurde und sich nicht erinnern konnte, woher er kam. Ich denke mal, ich bin so was wie eine Legende hier in der Stadt. Allerdings habe ich nur eine so flüchtige, abgenutzte Erinnerung an den Vorfall, dass ich alle möglichen Einzelheiten hinzufügen und sie tatsächlich glauben könnte.

»Ich weiß nur noch, dass ich allein war«, erwidere ich. »Ich war der einzige Überlebende eines Schiffbruchs.«

»Nein, Herbie.« Caliastras Augen blitzen. »Du warst nicht der einzige Überlebende. Es gab noch andere.«

»Wirklich?«

»Ein paar, ja«, fährt die Zauberkünstlerin fort. »Ein paar Leute konnten von der Seenotrettung aus dem Meer geborgen werden, bevor sie gefressen … bevor sie untergingen. Und manche haben es geschafft, zu einem Rettungsboot zu schwimmen. Wie ich.«

»Du!« Mir fliegt fast die Kappe vom Kopf. »Du warst auch auf dem Schiff? Auf demselben Schiff wie ich?«

Caliastras Gesicht wirkt entschlossen, als versuche sie, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen.

»Diese Nacht werde ich nie vergessen«, sagt sie. »Das Knirschen des Eisbergs, als er den Schiffsrumpf aufriss, das Geräusch des Wassers, als es die Gänge überflutete, die Schreie … Aber ich sollte dir die Einzelheiten ersparen. Was du brauchst, ist ein Beweis für unsere Verbindung, keine Horrorgeschichten. Herbie, was kann ich dir sagen, damit du mir glaubst, dass ich bin, wer ich zu sein behaupte?«

Die Antwort weiß ich sofort. Ich mag keine Erinnerungen an mein Leben vor Eerie-on-Sea haben, aber etwas konnte ich – wider Erwarten – herausfinden: den Namen des Schiffes, auf dem ich war, des Schiffes, das den Eisberg gerammt hat und untergegangen ist.

Ich habe ihn bei dem letzten großen Abenteuer mit Violet herausgefunden, um die Zeit herum, als Au-fein bei mir gelandet ist. Doch das Wichtigste daran ist gerade: Meines Wissens gibt es nur zwei andere Menschen auf der Welt, die den Namen des Schiffes kennen, und Violet würde ihn niemals verraten.

Und die andere Person? Tja, die ist tot.

Eine völlig Fremde kann einfach nicht wissen, dass ich an Bord des Kreuzfahrtschiffes SS Fantastic war.

»Den Namen des Schiffes«, sage ich. »Sag mir den Namen des Schiffes.«

Caliastra nickt.

»Und?«, bohrt Lady Kraken nach.