Malamander - Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea - Thomas Taylor - E-Book + Hörbuch
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Malamander - Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea E-Book und Hörbuch

Thomas Taylor

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Beschreibung

Herbie, Violet und Hakenhand – Thomas Taylor erzählt ein rasantes Abenteuer voll eigenwilliger Gestalten. In Eerie-on-Sea ist das Unmögliche möglich!

Wenn du zum ersten Mal nach Eerie-on-Sea kommst, siehst du nichts als einen verschlafenen Badeort. Doch der Schein trügt. Vor der Küste treibt der Malamander sein Unwesen. Jeder hier ist dem legendären Seeungeheuer auf der Spur, aber jeder aus einem anderen Grund. Es gibt Mrs Hanniver von der Bücher-Apotheke, die für jedes Unglück die richtige Lektüre zur Hand hat. Es gibt Hakenhand, vor dem du dich besser in Acht nimmst. Vor allem aber gibt es Herbie Lemon, den 12-jährigen Sachenfinder aus dem Grand Nautilus Hotel, der jedes Fundstück zurück in die richtigen Hände bringt. Eines Tages findet er ein Mädchen: Violet ist wild entschlossen, den Malamander aufzuspüren – er ist die letzte Verbindung zu ihren verschollenen Eltern.

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Zeit:6 Std. 54 min

Sprecher:Peter Kaempfe
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Wenn du zum ersten Mal nach Eerie-on-Sea kommst, siehst du nichts als einen verschlafenen Badeort. Doch der Schein trügt. Vor der Küste treibt der Malamander sein Unwesen. Jeder hier ist dem legendären Seeungeheuer auf der Spur, aber jeder aus einem anderen Grund. Es gibt Mrs Hanniver von der Bücher-Apotheke, die für jedes Unglück die richtige Lektüre zur Hand hat. Es gibt Hakenhand, vor dem du dich besser in Acht nimmst. Vor allem aber gibt es Herbie Lemon, den 12-jährigen Sachenfinder aus dem Grand Nautilus Hotel, der jedes Fundstück zurück in die richtigen Hände bringt. Eines Tages findet er ein Mädchen: Violet ist wild entschlossen, den Malamander aufzuspüren – er ist die letzte Verbindung zu ihren verschollenen Eltern.

Thomas Taylor

Malamander

Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea

Aus dem Englischen von Claudia Max

Carl Hanser Verlag

Für Celia – T.T.

Eerie-on-Sea

Wahrscheinlich warst du schon mal in Eerie-on-Sea und hast es bloß nicht gewusst.

Es war Sommer. Es gab Eiscreme, und da waren Liegestühle und eine Möwe, die dir die Pommes gemopst hat. Wahrscheinlich hast du mit deiner Mum in den Gezeitentümpeln zwischen den Felsen herumgestochert, und dein Vater hat eine merkwürdige Muschel gefunden. Erinnerst du dich? Und ich wette, du hattest den Tag am Meer schon vergessen, als du dich ins Auto gesetzt und die Wörter CHEERIE-on-SEA angestarrt hast – die in Buchstaben aus Glühbirnen über dem Pier hingen.

Es ist so ein Ort.

Im Sommer.

Aber du solltest mal hier sein, wenn die ersten Winterstürme toben und die Buchstaben C und H vom Pier wehen, so wie immer im November. Und das fröhliche Cheerie-on-Sea zum düsteren heulenden Eerie-on-Sea wird. Wenn Schwaden von Meernebel wie riesige gespenstische Tentakel die Straßen hinaufziehen und die Salzwassergischt an den Fenstern des Grand Nautilus Hotels rüttelt. Dann kommen kaum noch Besucher nach Eerie-on-Sea. Und selbst die Einheimischen meiden den Strand, sobald es dunkel wird und der Wind um die Maw Rocks heult, die wie steinerne Zähne in einem großen Maul aus dem Wasser ragen, und um das Wrack des Schlachtschiffes Leviathan, wo man – schwören manche – den ölverschmierten Malamander herumkriechen sieht.

Aber vermutlich glaubst du nicht an den Malamander. Vielleicht denkst du, so etwas wie einen Fischmenschen kann es nicht geben. Und das ist in Ordnung. Halte dich an Eiscreme und Liegestühle. Vielleicht ist die Geschichte sowieso nichts für dich. Ja, tu dir einen Gefallen und lies nicht weiter. Klapp dieses Buch zu und steck es in eine alte Blechdose. Wickle eine schwere Kette darum und wirf sie vom Pier. Vergiss, dass du jemals von Eerie-on-Sea gehört hast. Kehr zu deinem normalen Leben zurück – werde erwachsen, heirate, gründe eine Familie. Und wenn deine Kinder laufen können, fahr mit ihnen einen Tag ans Meer. Im Sommer natürlich. Macht einen Strandspaziergang, und findet selbst eine merkwürdige Muschel. Bückt euch und hebt sie auf. Allerdings hängt sie an etwas …

An einer alten Blechdose.

Das Schloss ist abgerissen und die Kette verschwunden. Hat das Meer das getan? Ihr öffnet die Dose und stellt fest …

… dass sie leer ist.

Nur Seepocken und Tang und noch etwas. Etwas wie … Schleim?

Ihr hört ein Geräusch hinter euch – ein Geräusch wie näher kommende Schritte. Glibberige Schritte, die wie Flossen klingen und näher kommen.

Ihr dreht euch um.

Was seht ihr?

Wirklich?

Tja, vielleicht ist diese Geschichte ja doch was für dich.

Das Grand Nautilus Hotel

Ich heiße übrigens Herbert Lemon. Die meisten nennen mich Herbie. Wie man an meiner Kappe sehen kann, bin ich der Sachenfinder des Grand Nautilus Hotels. Irgendjemand hat mir mal erzählt, dass die meisten Hotels keinen Sachenfinder beschäftigen, aber das kann nicht stimmen. Was tun die mit all den verloren gegangenen Gegenständen? Und wie bekommen die Leute sie zurück?

Vermutlich bin ich noch ein wenig jung für einen so wichtigen Posten, aber Lady Kraken – die Besitzerin des Hotels – hat mich höchstpersönlich ernannt. Und so kann selbst Mr Mollusc, der Hoteldirektor, nichts dagegen tun. Würde er allerdings gern – er hasst alles, was dem Hotel kein Geld einbringt. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er das Fundbüro bei seiner Ernennung zum Direktor auf der Stelle abgeschafft und mein Kabäuschen in der Empfangshalle ein für alle Mal zunageln lassen. Und dann wäre ich dem Mädchen nie begegnet.

Dem Mädchen, das plötzlich durch mein Fenster hereinkletterte.

Dem Mädchen, das sagte: »Versteck mich!«

*

»Versteck mich!«

Ich mustere sie von oben bis unten. Na ja, hauptsächlich oben – sie ist am Griff des Kellerfensters hängen geblieben, und die sitzen knapp unter der Decke. Sollte sie eine Einbrecherin sein, dann jedenfalls keine besonders gute.

»Bitte!«

Ich befreie sie und werde fast zerquetscht, als sie herunterplumpst. Weil es schneit, kommt auch gleich noch eine ganze Menge Winter hinterher.

Wir rappeln uns auf, und nun stehe ich ihr gegenüber: einem Mädchen in einem verfilzten Pullover. Sie trägt eine Wollpudelmütze über dem dicken Lockenschopf und sieht aus, als wolle sie etwas sagen, doch sie überlegt es sich anders, als sie die lauten Stimmen über uns hört. Laute Stimmen, die näher kommen. Das Mädchen reißt ängstlich die Augen auf.

»Hier rein!«, flüstere ich und ziehe sie zu einem großen Schrankkoffer, der seit Jahrzehnten im Fundbüro steht, ohne dass jemand Anspruch auf ihn erhoben hätte. Bevor sie etwas erwidern kann, schubse ich sie hinein und klappe den Deckel zu.

Nun sind die Stimmen direkt vor meinem Kabäuschen – der scheinheilig schleimende Mr Mollusc, der jemand Schwierigen zu besänftigen versucht. Ich schnappe mir ein paar verlorene Taschen, Regenschirme und irgendwelchen Krimskrams und werfe alles auf den Schrankkoffer – hoffentlich sehen sie aus, als würden sie schon jahrelang dort liegen. Dann fängt die Klingel auf meinem Tresen wie verrückt zu ting-ting-tingen an. Ich rücke meine Kappe zurecht, flitze die Treppe zu meinem Kabäuschen hoch und setze mein Wie-kann-ich-Ihnen-behilflich-sein-Gesicht auf, als wäre gerade überhaupt nichts Seltsames passiert.

Als Erstes sehe ich Mr Mollusc, der gerade versucht, Haare über die kahle Stelle auf seinem Kopf zu streichen. »Es handelt sich bestimmt um ein Missverständnis«, stottert er. »Wenn Sie mir gestatten nachzuforschen …«

Jemanden wie sein Gegenüber habe ich noch nie gesehen. Es ist ein Mann in einem langen schwarzen Überzieher, von dem Wasser heruntertropft. Er beugt sich über den Tresen wie ein schiefer Monolith, sein Gesicht ist eine unheilvolle Felswand, und die Augen werden von der Krempe einer ramponierten Kapitänsmütze verdeckt. Er stößt mit steifem Finger auf den Knopf meiner Klingel, als würde er mit einem Messer zustechen. Als ich zum Tresen komme, hält er inne und beugt sich noch weiter vor, bis ich in seinem Schatten stehe.

»Wo …?«, fragt er mit einer Stimme wie zwei nasse, aneinanderreibende Granitplatten. »Mädchen. Wo?«

»Ähm.« Ich räuspere mich und rede in dem piekfeinen Ton, den Mr Mollusc von mir erwartet, wenn ich mit Gästen spreche. »Dürfte ich erfahren, von wem hier die Rede ist, Sir?«

Der Mund des fremden Mannes, der in dem tropfenden knochengelben Bart nicht viel mehr ist als ein breites, umgedrehtes V, öffnet sich mit einem Zischen. Mir fällt der Seetang in seinem Bart auf, an den angelaufenen Messingknöpfen seines Überziehers hängt noch mehr davon. Er riecht, als würde gleich etwas Schreckliches passieren.

»WO?«

Ich schlucke. Was soll ich tun? Ich passe bloß auf verlorenes Eigentum auf. Für etwas wie das hier bin ich nicht ausgebildet.

»Mein verehrter Herr«, schnurrt die Stimme von Mr Mollusc. »Ich bin höchst zuversichtlich, dass wir das klären können. Was genau haben Sie denn verloren?«

Der Mann zieht den Kopf aus meinem Kabäuschen und baut sich vor Mr Mollusc auf. Er schiebt den rechten Jackenärmel hoch. Als Mr Mollusc an der Stelle, wo die Hand sein sollte, einen eisernen Bootshaken mit einer langen glänzenden Spitze erspäht, schreckt er zurück.

»Mädchen«, knurrt der Mann.

Eines muss ich Mr Mollusc lassen: Er weiß, wann eine Schlacht verloren ist. Da er gegen diesen massigen Eindringling sowieso keine Chance hat, stellt er sich auf dessen Seite. Und geht stattdessen lieber auf mich los.

»Herbert Lemon! Haben Sie ein Mädchen dort unten?«

Nun bauen sie sich beide vor mir auf.

Ich schüttle den Kopf. Mein Wie-kann-ich-Ihnen-behilflich-sein-Gesicht verschwindet, und ich setze stattdessen mein Unschuldslächeln auf. »Nein«, bringe ich quiekend heraus. Ich hasse es, wenn meine Stimme so klingt. »Im Keller verstecken sich keine Mädchen. Nicht ein einziges.«

Genau in diesem Moment ist hinter mir ein leises Rumpeln zu hören. Es klingt haargenau so, als würde es sich jemand, der sich in einem Schrankkoffer versteckt, gemütlicher machen.

Ups.

Mit einem triumphierenden Stöhnen öffnet der bärtige Seemann den Mund, die dunklen Augen funkeln unter der Mütze. Er reißt die Klappe zu meinem Kabäuschen auf und drängt mich im Vorbeigehen an die Wand. Als er sich die Treppe zum Keller hinunterquetscht, füllt er den ganzen Gang aus, er muss den Kopf einziehen und den Rücken krümmen, weil die Decke so niedrig ist.

Ich eile ihm hinterher. Nicht etwa aus Tapferkeit, ich weiß einfach nicht, was ich sonst tun soll.

Der Seemann steht in der Mitte des Raums und lässt für niemand anderen mehr Platz. Ich sehe, wie er den geschmolzenen Schnee unter dem offenen Fenster mustert. Ich sehe, wie er den Kopf dreht und den feuchten Fußspuren folgt, die geradewegs zum Schrankkoffer führen. Die Taschen und Regenschirme, die ich obendrauf geworfen hatte, sind heruntergefallen. In diesem Moment könnte ebenso gut ein Schild über dem Koffer blinken, auf dem steht: JAA-HAA! SIE IST HIER DRIN!

Als Mr Mollusc sich zu uns gesellt, bemerkt er die Spuren ebenfalls und läuft purpurrot an. »Herbert Lemon! Also, ich sollte …!«

Was er sollte, finde ich nicht heraus, denn als Nächstes hebt der Seemann den Haken, der seine Hand ersetzt, und rammt das Metall mit einem dumpfen Krachen in den Deckel des Schrankkoffers. Mir dreht sich der Magen um. Er zerrt ihn heraus und holt noch einmal aus, dann noch einmal. Der Kofferdeckel zerbricht mit jedem Stoß mehr, es regnet Holzsplitter. Schließlich beginnt der Koffer selbst auseinanderzufallen. Der Mann reißt ihn mit seiner gesunden Hand auf, und zum Vorschein kommt …

… nichts!

Na ja, nicht ganz nichts. In dem Trümmerhaufen sitzt eine sehr überrascht aussehende Spinne. Und eine Wollpudelmütze liegt da. Als die Spinne davonhuscht, würde ich ihr am liebsten hinterherlaufen. Nun bleibt uns nur noch die Mütze zum Anstarren. Es ist sehr eindeutig die leuchtend bunte Mütze des Mädchens. Von ihr selbst fehlt allerdings jede Spur.

Mit einer langsamen, wohlüberlegten Bewegung spießt Hakenhand die Mütze auf. Er dreht sich mit Donnerwolkenmiene zu mir um und hält sie mir entgegen. Als ich die Mütze vorsichtig herunterziehe, bringe ich irgendwie den Mut auf, nicht zu quieken.

»Bloß verlorenes Eigentum«, erkläre ich. »Die wurde, ähm, heute Morgen abgegeben. I-ich hatte noch keine Zeit, sie mit einem Schild zu versehen, mehr hat es damit nicht auf sich.«

Einen Moment lang herrscht Schweigen. Dann brüllt Hakenhand – es ist ein lauter, wortloser Zornesschrei. Die massigen Arme schwingend, beginnt er, meinen Keller zu durchsuchen. Ich ziehe mich auf die Treppe zurück. Taschen, Mäntel, Hüte, alle möglichen verlorenen Dingsda-Bumsdas – darunter einige, die schon seit Ewigkeiten hier unten gelegen haben müssen, ohne dass jemand sie zurückgefordert hat – fliegen durch die Gegend, als der wutschnaubende Mann nach dem Mädchen sucht. Aber er findet niemanden.

Sie ist verschwunden.

Violet Parma

Ein wenig später, Hakenhand ist abgezogen, Mr Mollusc ebenfalls – allerdings nicht, ohne vorher noch zu bemerken: »Warten Sie nur, wenn das Lady Kraken zu Ohren kommt.«

Ich hebe einen Holzsplitter vom Boden auf. Es ist ein Teil des Schrankkoffers. Das alte Ding wird mir fehlen – es stand hier, so lange ich zurückdenken kann. Vielleicht wäre es nie abgeholt worden, aber trotzdem, ich hasse es, wenn etwas so unwiederbringlich verloren ist.

»Hallo?«, sage ich so laut, wie ich mich traue, und blicke mich um. »Bist du hier?«

Schweigen.

Ich kämpfe mich zum Fenster durch. Es müsste zugemacht werden – mittlerweile ist es eisig hier drinnen –, doch ich beschließe, es offen zu lassen, bloß einen Spalt. Der Schnee wurde von herankriechendem Meernebel abgelöst, der gespensterähnlich in senkrechten Streifen am Fenster vorbeigleitet.

Sie ist tatsächlich verschwunden, aber wer könnte es ihr verdenken? Ich lege die Wollmütze trotzdem gut sichtbar auf die Fensterbank, man weiß nie.

Ich mache mich ans Aufräumen, doch es ist eine traurige Angelegenheit, sich all die armen verlorenen Dinge anzusehen, und nach kurzer Zeit lasse ich mich missmutig in meinen Sessel fallen. Es ist sowieso zu spät, um es ordentlich zu erledigen. Ich starre auf das kleine Fenster in der Tür meines Holzofens, in dem das erste Scheit fröhlich vor sich hin flackert. Als Sachenfinder des Hotels habe ich meinen eigenen Ofen und bekomme jeden Tag ein paar Holzscheite. Mr Mollusc geht das natürlich gegen den Strich, aber er muss sich wohl oder übel damit abfinden, denn diese Abmachung gab es schon, als Lady Kraken das Hotel übernommen hat. Und vermutlich wird sich daran auch nichts mehr ändern. Sie sagt, so bleiben die gefundenen Sachen trocken und abholbereit und in ebenso gutem Zustand wie vor ihrem Verlust. Im Winter habe ich es deshalb ziemlich gemütlich hier unten, und das Feuer hinter dem kleinen Fenster brennt fröhlich und entspannend und …

»Schläfst du hier?«, reißt mich eine Stimme aus meinen Träumen.

Das Mädchen sitzt mit der Wollmütze in der Hand auf der anderen Seite des Ofens. Sie zieht eine Augenbraue hoch. Mein Versuch, meine Kappe zurechtzurücken, sieht bestimmt albern aus – das Gummiband hat sich an meinem Ohr verfangen.

»Wie lange bist du schon hier?«, frage ich. Mir fällt auf, dass das Kellerfenster nun geschlossen ist.

Das Mädchen zuckt mit den Schultern. Zum ersten Mal kann ich sie richtig betrachten: Sie hat dunkelbraune Augen, ein hellbraunes Gesicht und einen Lockenschopf, der kaum zu bändigen ist. Sie dürfte so alt sein wie ich – also ungefähr zwölf –, aber da mein eigenes Alter ziemlich ungefähr ist, lässt sich das schwer sagen. Belustigt und mit leuchtenden Augen beobachtet sie, wie ich aus ihr schlau zu werden versuche.

Ihren zu großen Mantel erkenne ich als eine meiner Fundsachen wieder. Die Schuhe sind ihre eigenen, allerdings taugen sie nicht für den Winter und sind völlig durchnässt. Das Feuer ist fast heruntergebrannt, ich lege noch ein Scheit nach.

»Bist du …?«, setze ich an, doch sie schüttelt den Kopf, und ich unternehme einen neuen Anlauf. »Oder vielleicht …?« Aber sie lacht bloß.

»Nein, weder noch«, antwortet sie. »Ich bin keine Diebin, und ich bin ganz sicher kein Gast dieses Hotels.« Sie lächelt, offenbar scheine ich ein wenig verwirrt auszusehen. »Aber ich weiß, wer du bist«, sagt sie. »Du bist Herbert Lemon, der berühmte Sachenfinder des Grand Nautilus Hotels.«

»Berühmt?«

»Na ja, jedenfalls für mich berühmt. Ich bin viele Hundert Meilen gereist, nur um dich zu sehen, Herbert …«

»Herbie«, verbessere ich sie. Ich gebe die Sache mit der Kappe auf und nehme sie einfach ab.

»… weil ich glaube, dass du der einzige Mensch auf der Welt bist, der mir helfen kann.«

»Wirklich?«, ich kratze mich am Kopf. »Wieso das denn?«

»Weil ich verloren gegangen bin«, sagt sie. »Und gefunden werden möchte.«

*

Es kursieren viele seltsame Geschichten über das Grand Nautilus Hotel, aber vor allem eine sollte ich dir jetzt erzählen. Sie hat sich vor zwölf Jahren zugetragen, ein paar Jahre bevor ich selbst hergekommen bin, ich habe sie also nicht miterlebt. Die Geschichte handelt von einem allein im Hotel zurückgelassenen Baby, von spurlos verschwundenen Eltern, von merkwürdigen Lichtern, die an der Küste gesichtet wurden, von der Polizei, die ausschwärmte und alles abgesucht hat. Von zwei Paar Schuhen, die einem Mann und einer Frau gehört haben und die ordentlich auf dem Hafendamm abgestellt aufgefunden wurden. Und von Fußspuren im Sand, die vom Damm ins Meer führten.

Es ist eine traurige Geschichte.

Im Sand sind auch noch andere Spuren gefunden worden – seltsam geformte Abdrücke, als hätte sich etwas mit Flossen aus dem Wasser geschleppt. Doch bevor jemand sie ordnungsgemäß fotografieren konnte, kam die Flut, und dieser Teil der Geschichte ist nicht in die Akten aufgenommen worden.

Genau genommen ist das eigentlich gar keine richtige Geschichte, eher eine Legende. Mein Vorgänger hatte kurz damit zu tun, aber da man ein Baby nicht unbedingt mit einem Schild versehen und anschließend im Hotelkeller ins Regal legen kann, wurde das kleine Mädchen fortgebracht, und man hat nie wieder etwas von ihr gehört.

Bis jetzt …

*

»Okay, genau an dieser Stelle werde ich dich unterbrechen«, sage ich, denn ich ahne schon, worauf das hinauslaufen wird. »Selbst wenn du dieses sagenumwobene verlorene und mittlerweile groß gewordene Baby wärst, wüsste ich nicht, wie ich helfen könnte. Ich kümmere mich bloß um verlorene Dinge. Nicht um verlorene Personen. Was du brauchst, ist … ein Detektiv oder so was in der Art.«

»Aber ist es nicht deine Aufgabe, die Besitzer verlorener Dinge zu finden? Wie stellst du das an?«

»Na ja, manchmal gibt es Hinweise …«

»Genau! Hinweise«, wiederholt sie. »Du bist doch ein Detektiv. Ich bin auch bloß ein Hinweis.«

Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und verschränke die Arme. »So funktioniert das nicht. Wenn ich Hinweise sage, meine ich Aufkleber oder Kofferanhänger. Ich meine damit, dass jemand seine Telefonnummer in die Unterseite seines Koffers ritzt. Hast du eine eingeritzte Telefonnummer auf deiner Unterseite? Nein? Siehst du.«

»Aber ich habe das hier«, sagt das Mädchen und zieht etwas aus dem Ausschnitt seines verfilzten Pullovers. Es ist eine zusammengefaltete Postkarte, die an einem Band um ihren Hals hängt. Sie nimmt es ab und reicht mir die Karte.

Auf einer Seite ist ein Affe mit Zylinder abgebildet. Oder ist es ein Menschenaffe? Aber er ist so oder so kein normaler Affe oder Menschenaffe: Er hat den Unterkörper eines Fisches. Auf die Rückseite der Karte sind Buchstaben und Zahlen getippt.

Ich spähe zu dem Mädchen, denn diese Karte kenne ich. Aber das werde ich ihr natürlich nicht auf die Nase binden, sonst geht das ganze Detektivdings womöglich von vorne los.

»Sie lag in meinem Gitterbett«, erklärt das Mädchen. »Als man mich vor zwölf Jahren hier in einem Hotelzimmer gefunden hat. Bestimmt weißt du etwas darüber, Herbert.«

»Das mit Herbie war ernst gemeint«, sage ich und gebe ihr die Karte zurück. »Nur Mr Mollusc nennt mich Herbert.«

»Wer ist Mr Mollusc?«

»Der schreckliche Mann, der dich in den Schnee hinausjagen wird, wenn er dich hier findet. Und mich vermutlich gleich hinterher.«

»Meinst du nicht eher, falls er mich findet?«

»Pfft, einmal hat er dich schon fast gefunden«, sage ich. »Und deinetwegen hat der abscheuliche Mann mit der Hakenhand meinen Keller verwüstet. Ich bleibe also bei wenn, danke der Nachfrage.«

Sie wirkt niedergeschlagen. »Dann wirst du meinen Fall also nicht übernehmen?«

»Fall? Fall?« Ich schüttle ungläubig den Kopf. »Meine Fälle sind Koffer mit ungewaschenen Hosen darin. Aber du kannst heute Nacht hierbleiben. Es ist eisig draußen …«

Sie strahlt.

»… doch ich übernehme keine Fälle, und ich habe auch keine Ahnung, wie ich dir helfen könnte.«

»Ich heiße übrigens Violet«, sie greift nach meiner Hand und schwenkt sie auf und ab. »Violet Parma. Und ich weiß einfach: Wenn mir irgendjemand helfen kann, dann du, Herbie.«

Als hätte sie keines meiner Worte gehört! Ich sehe zu, wie sie ihre viel zu dünnen Schuhe auszieht und an den Ofen lehnt. Es hat aufgehört zu schneien, auf dem Fenster haben sich Eisblumen gebildet. Ich würde Violet gern über Hakenhand ausfragen. Ich würde sie gern fragen, wo sie all die Jahre gewesen ist. Ob sie Hunger hat, diese Violet Parma? Doch als ich den Mund öffne, ist sie schon auf einem Mantelhaufen eingeschlafen.

Vielleicht sollte ich mich besser auch aufs Ohr legen – ich habe hier unten ein Klappbett –, doch da schrillt ein lautes Ting-ting von meinem Tresen. Um diese Nachtzeit ist das so ungewöhnlich, dass ich mir vor Angst fast in die Hose mache. Als ich auf Zehenspitzen zu meinem Kabäuschen hochschleiche, ist niemand dort. Aber auf dem Tresen liegt eine zusammengefaltete Nachricht an den Sachenfinder des Grand Nautilus Hotels. Mit anderen Worten: an mich.

Ich falte den Zettel auseinander.

Lieber Herbert Lemon,

bitte kommen Sie unverzüglich in meine Suite.

Mit freundlichen Grüßen

Lady Kraken

Ich muss schlucken. Es passiert einfach so. Lady Kraken bestellt nämlich niemanden ohne triftigen Grund ein. Das Hotel läuft wie eine altehrwürdige und gut geschmierte Maschine, und der olle Mollusc liefert ihr die nötige Schmiere und noch einiges mehr. Jedes Rädchen in dieser Maschine – vom Direktor höchstpersönlich bis zum kaninchenäugigsten Zimmermädchen – kennt seinen Platz und dreht sich zuverlässig um seine persönlichen Pflichten.

Oder wird ausgetauscht.

Warten Sie nur, wenn das Lady Kraken zu Ohren kommt, hat Mr Mollusc vorhin gesagt.

Tja, wie es aussieht, ist der Fall eingetreten.

Mit leicht zitternder Hand stelle ich das GESCHLOSSEN-Schild auf meinen Tresen. Bei einem Blick in die Empfangshalle – menschenleer so spät in der Nacht – sehe ich mich in einem der alten Spiegel. Ich zupfe die Vorderseite meiner Uniform zurecht – königliches Schweinswalblau mit einer Doppelreihe Messingknöpfe – und stopfe möglichst viele widerspenstige blonde Strähnen unter meine Kappe. Besser nicht daran denken, dass ich sie vielleicht zum letzten Mal trage.

Dann gehe ich zum imposanten Messingfahrstuhl.

Die Cameraluna

Im sechsten Stock gehen die Fahrstuhltüren klappernd auf. Der Teppich hier ist dick und blaugrün, die Wände leuchten blass korallenrot. Die Decke ist so hoch, dass ich sie im eisigen Schimmern der hoch oben schwebenden Kronleuchter nicht sehen kann. Den ganzen Flur entlang hängen Porträts der Kraken-Familie – Admirale und Kapitäne aus unterschiedlichsten Zeitaltern. Sie starren von Schiffsdecks und aus Kabinen zu mir herunter, im Hintergrund schlagen gemalte Wellen gegen gemalte Felsen.

Am Ende des Flurs befinden sich die hohen Flügeltüren der Jules-Verne-Suite – Lady Krakens private Gemächer. Vorbei an der schmalen Bronzewendeltreppe, die zum Turm in der Mitte des Dachs führt, mache ich mich auf den langen Weg ins Verderben. Ich habe mich immer gefragt, was dort oben sein mag. Nun werde ich es wohl nie erfahren.

Lady Kraken lebt mehr oder weniger wie eine Einsiedlerin. Sämtliche Anweisungen und Nachfragen werden mit einem eigenen Aufzug nach unten gebracht, ihre Mahlzeiten nehmen denselben Weg. In all den Jahren hier habe ich sie bloß ein paarmal gesehen. Ihre schlechte Laune, wenn sie sich mit den Alltagsangelegenheiten ihres Hotels befassen muss, ist berüchtigt.

Ich stehe vor der Tür. Mit zitternder Hand ziehe ich an der Seidenkordel. Das Läuten erinnert an eine entfernte Schiffsglocke. Gerade als ich überlege, ob ich mich davonmachen und so tun soll, als habe ich niemanden angetroffen, leuchtet auf der Messingplatte neben der Tür zischend eine Glühbirne auf. Darauf steht in winzigen Schnörkelbuchstaben: HEREIN.

Die Tür schwingt langsam auf.

Der riesige Raum dahinter ist von verstaubten Vorhängen verhüllt, sie verdecken die Fenster und rollen wie Wellen über den Boden. Von der Decke fällt ein kalter Lichtkegel mit wirbelnden Staubpartikeln auf einen runden Tisch in der Mitte des Raums. Daneben sitzt in einem Rollstuhl aus glänzender Bronze und Rattangeflecht eine alte Dame mit Turban. Das faltige Gesicht in der Seidenrobe lässt mich an eine Schildkröte denken. Sie winkt mich mit einer klauenähnlichen Hand heran, hinter mir schließt sich die Tür.

»Aha, Mr Lemon«, begrüßt mich Lady Kraken, als ich zögernd warte. »Stehen Sie hier nicht wie ein Fragezeichen herum, Junge. Kommen Sie näher!«

Als ich auf sie zugehe, ziehe ich meine Sachenfinder-Kappe vom Kopf. Das Gummiband schnalzt und reißt mir fast ein Auge aus.

»Mrs, ähm, Lady Madam.« Ich reibe mein Auge und versuche eine Verbeugung.

Sie lacht los. »Das ist alles nicht nötig! Kommen Sie an den Tisch, Mr Lemon. Erzählen Sie mir, was Sie hier sehen.«

Ich gehe auf den Tisch zu. Der merkwürdige Lichtstrahl erinnert mich an einen Filmprojektor, allerdings kommt das Licht hier von oben. Ich will fragen, was das alles zu bedeuten hat, aber ich muss erst mal Luft holen. »Das ist der Pier!«

Und ganz richtig, die bewegte Projektion auf dem Tisch zeigt den Pier von Eerie-on-Sea aus der Vogelperspektive. Allerdings ist es nicht einfach bloß ein Foto – sondern ein dreidimensionales Gebilde aus funkelnden Staubpartikeln. Unter dem perfekten Modell des Piers wälzt sich das schwarze Meer.

»Selbstverständlich ist es der Pier«, gackert Lady Kraken. »Und dort – schauen Sie – macht Mr Seegol gerade seine Imbissbude für heute dicht.«

Und es stimmt. In der Mitte des Piers tritt gerade ein winziger, kugelrunder Mr Seegol aus dem Fish-’n’-Chips-Imbiss. Er hält einen Eimer und blickt auf das dunkel und silbern herumwirbelnde Wasser. So steht er eine ganze Weile da und stemmt sich gegen den Wind, als lausche er auf etwas. Dann stellt er den Eimer im Dunkeln ab und stapft in seinen Laden zurück. Kurz darauf erlischt das fröhliche Licht in Seegols Diner.

»Armer Mann«, sagt Lady Kraken. »Er scheint immer noch zu warten.«

»Aber was ist das?«, ich bestaune die magische Projektion. »Warum können wir das hier drinnen sehen?«

Lady Kraken hebt einen knochigen Finger und deutet nach oben. »Wegen meiner Cameraluna«, erklärt sie. »Im Turm. Sie zeigt mir alles, was in unserer seltsamen kleinen Stadt vor sich geht.«

Ich sehe sie fragend an und weiß nicht, was ich erwidern soll. Was ist eine Cameraluna?

»Lassen Sie uns einen Moment genauer hinschauen«, schlägt Lady Kraken vor und dreht ein Messingrad an der schwarzen Steuerbox auf der Armlehne ihres Rollstuhls. Das Modell von Seegols Diner wird größer und nimmt nun fast die ganze Tischplatte ein. Gleichzeitig verblasst es, kaum etwas lässt sich noch deutlich erkennen. Lady Kraken beugt sich weiter vor. »Nun, was glauben Sie, Mr Lemon, womit wir es hier zu tun haben?« Mit gekrümmtem Finger deutet sie auf einen Fleck Dunkelheit auf der einen Seite des Piers.

Ich beuge mich ebenfalls vor. Was ich wohl zu sehen bekomme? Und was wird von mir erwartet? Das Bild wird blasser, dann wieder deutlicher, und plötzlich entdecke ich es: Auf dem Pier kauert etwas, das dunkler ist als die Schatten. Etwas Großes. Es beginnt auf den Imbiss zuzulaufen – nein … zuzukriechen. Es wirkt menschlich, bis auf …

»Ist das ein Schwanz?«, frage ich schwer atmend.

Zwei lampenähnliche Kugeln blinzeln im Dunkeln.

»Sind das Augen?«

»Sie sehen ihn also?« Lady Kraken greift nach meinem Arm. »Mr Lemon, sagen Sie mir, dass wir nicht träumen!«

Die Gestalt bäumt sich auf, und ich erkenne Reihen, die zitternde Stacheln sein könnten, und etwas, das eine zupackende Klaue sein könnte. Doch bevor ich sicher sein kann, flackert das Bild auf dem Tisch, verblasst ein letztes Mal und erlischt schließlich. Genau wie die Lichtsäule von der Decke. Die Staubpartikel fallen in sich zusammen.

»Verflucht seien die Wolken!«, schreit die alte Dame auf und bewegt das Messingrad hektisch hin und her. Doch nichts geschieht. Der Tisch ist einfach wieder ein gewöhnlicher Tisch mit einer dicken Staubschicht.

Es ist nun sehr dunkel, doch neben uns steht eine heruntergedrehte Paraffinlampe. Ich drehe sie mit einem höflichen kleinen Hüsteln heller, bis der Raum von warmem Licht erfüllt ist. Lady Kraken starrt weiterhin auf den Tisch.

»Haben Sie ihn gesehen, Mr Lemon?«, fragt sie noch einmal. »Haben wir ihn gesehen?«

Ich kratze mich am Kopf. »Ich habe etwas gesehen«, bestätige ich. »Aber ich verstehe immer noch nicht, wie ich überhaupt irgendetwas sehen konnte. Was ist eine Cam… eine Cameraluna?«

Lady Kraken lässt das Messingrad los und kneift die Augen zusammen, als würde sie mich zum ersten Mal richtig sehen. »Im Turm auf dem Dach befinden sich Objektive. Sie bündeln das Mondlicht und projizieren es nach unten. Vom Turm überblickt man die gesamte Stadt. Nun ja, fast die gesamte Stadt …«

Die alte Dame nimmt die Paraffinlampe und hält sie hoch. Als sie mit ihrem Rollstuhl auf mich zukommt, spüre ich die Schatten hinter mir länger werden.

»Helfen Sie mir auf die Sprünge, Mr Lemon«, sagt Lady Kraken. »Wie lange sind Sie schon hier?«

»Hmm. Seit fünf Minuten?«

»Nein!« Lady Kraken verdreht ein runzliges Auge (aber nur eines). »Mimen Sie nicht den Einfaltspinsel, Junge! Ich möchte wissen, wie lange sind Sie schon bei uns im Hotel?«

»Na ja …« Ich nehme die Finger zu Hilfe und zähle die Saisons zusammen. »Fünf Jahre. Fast auf den Tag genau.«

»Fünf Jahre!« Lady K blinzelt und hält die Lampe tiefer. »Sind es tatsächlich schon fünf Jahre? Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Sie wurden am Strand gefunden, nicht wahr? Sie waren in einer Grapefruitkiste angetrieben.«

»Äh, es waren Zitronen, gnädige Frau«, verbessere ich sie. »Eine Kiste Zitronen.

»Ach ja, natürlich. Und Sie haben sich geweigert, irgendjemandem Ihren Namen zu verraten.«

»Ich konnte mich nicht an meinen Namen erinnern!«, platze ich heraus. »Und das kann ich immer noch nicht.

»Ja, in der Tat.« Lady Kraken nickt. »Deshalb haben wir Ihnen einen gegeben. Lemon – nach der Zitronenkiste.«

Ich erwidere nichts. Denn ich muss zugeben, der Name Herbert Lemon passt irgendwie zu mir.

»Und da niemand eine Idee hatte, was wir mit Ihnen anstellen sollten«, fährt Lady Kraken fort, »und unser letzter Sachenfinder verschwunden war, haben wir Ihnen auch gleich eine Arbeit gegeben. Ich war immer der Meinung, dass die Position mit einem Kind besetzt werden sollte. Sie waren allerdings das jüngste, das wir je hatten.«

Gleich passiert es, denke ich unweigerlich.

»Aber ich frage mich, Mr Lemon«, sagt Lady K und kneift die Augen zusammen, bis sie fast geschlossen sind, »sind Sie wirklich glücklich hier?«

Ich öffne den Mund und will etwas erwidern, doch es kommt nichts heraus.

Bin ich wirklich glücklich hier?

Also richtig glücklich?

In meinem Kopf tanzen Bilder der letzten Jahre – die liebevollen Gesichter der Hotelangestellten, die sich um mich kümmern, die Stammgäste, die freundlich zu mir sind, die Art, wie der Schnurrbart vom ollen Mollusc vor Wut zittert, wenn er es mitbekommt, aber nichts dagegen tun kann. Warum sollte ich nicht glücklich sein? Trotzdem ist da die Zitronenkiste. Und eine geheimnisvolle Leerstelle in meinem Gedächtnis, was meine skurrile Ankunft in Eerie-on-Sea anbelangt.

»Ich kann ehrlich behaupten, Lady Kraken«, sage ich nach einer Weile, »dass der Tag, an dem Sie mich zum Sachenfinder gemacht haben, der schönste Tag meines Lebens war.«

An den ich mich erinnern kann, füge ich hinzu, allerdings nur in Gedanken.

Lady Krakens Gesicht verzieht sich zu einem trägen Lächeln – das von einem Ohr zum anderen reicht und sie noch mehr wie eine Schildkröte aussehen lässt. »Aha, gut. Dann haben Sie sicherlich nichts dagegen, wenn ich Ihren Pflichten noch ein paar kleine Extraaufgaben hinzufüge, oder, Mr Lemon?«

Und natürlich bleibt mir nichts anderes übrig, als zu nicken.

»Sie müssen wissen«, Lady K beugt sich noch ein wenig vor, dann senkt sie die Stimme: »Es gibt einen einzigen Ort in dieser Stadt, den ich mit meiner Cameraluna nicht sehen kann, und das ist das Innere meines Hotels. Doch Sie, Mr Lemon – Sie könnten meine Augen und Ohren sein, nicht wahr?

Ich nicke wieder und schaffe es, ein Quieken zu unterdrücken.

»Und Sie würden mir erzählen – das würden Sie doch, Mr Lemon? –, wenn sich etwas Merkwürdiges im Grand Hotel Nautilus zutragen sollte? Sie hätten keine Geheimnisse vor mir, Jungchen, nicht wahr?« Lady Kraken bedenkt mich mit einem langen, faltigen Starren, und ich schwöre, ich spüre es bis in den hintersten Winkel meines Schädels.

»Sie würden es mir erzählen, wenn irgendwelche seltsamen Besucher in Ihrem Fundbüro aufgetaucht wären. Zum Beispiel ein Mann mit einem Bootshaken statt einer Hand?«

»Wie es der Zufall will, war tatsächlich so jemand …«

»Dann stimmt es also!«, sagt Lady K und schnappt nach Luft. »Er ist zurückgekommen!«

»Er … Er sagte, er hätte irgendetwas verloren.«

»Etwas?« Lady Krakens Stimme ist ein heiseres, aufgeregtes Flüstern, sie packt mich erneut am Arm. »Was für ein Irgendetwas denn?«

»Nun ja, genauer gesagt eher ein Irgendjemand«, erwidere ich. »Ein Mädchen, hat er gesagt. Also habe ich ihm erklärt, ich würde mich nicht um Menschen kümmern, sondern nur um Dinge. Und da hat er gesagt –«

»Ein Mädchen?« Lady Kraken lehnt sich überrascht zurück und lässt mich los. »Was für eine Art Mädchen?«

»Na ja, eines, das verloren gegangen ist, nehme ich an.«

»Herbert Lemon.« Lady Kraken hebt einen krummen Finger, um mich zum Schweigen zu bringen. »Das ist jetzt wichtig. Hat er das Mädchen gefunden?«

Ich sehe sie wieder an. Eine leise Stimme in meinem Kopf warnt mich, dass ich sehr aufpassen muss, was ich als Nächstes sage. Und das macht meine Antwort umso überraschender.

»Nein«, erwidere ich. »Da war kein Mädchen.«

Verlorenes Gepäck