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Smørrebrød und Carlsberg, Lego und Gemütlichkeit: Thomas Borchert, seit über dreißig Jahren mit einer Dänin verheiratet, führt uns liebevoll und hintergründig in seine Wahlheimat ein. Wo 7500 Kilometer Küste zum Verweilen einladen, Babys angeblich mit einer Fahrradklingel auf die Welt kommen und das sommerhus gerne an Besucher aus dem Nachbarland vermietet wird. Er streift durch Kopenhagen, wo Starkoch René Redzepi das berühmte »Noma« betreibt und im »Freistaat Christiania« die Hippies regieren. Nimmt von Bornholm bis Møn die 406 Inseln unter die Lupe. Blickt auf Exportschlager wie Jussi Adler-Olsen, Lars von Trier und Mads Mikkelsen. Und verrät, was die beliebte TV-Serie »Borgen« mit den populistischen Machenschaften in Christiansborg tatsächlich gemeinsam hat; ob die Dänen wirklich so glücklich sind und was wir außer Hygge sonst noch von ihnen lernen können …
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Der Verlag dankt für die Genehmigung zum Abdruck der Passage auf S. 167/168 aus: Hans Henny Jahnn, Werke und Tagebücher in sieben Bänden, Hamburg 1974, © Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1974; und der Passage auf S. 185/186 aus: Siegfried Lenz, Zaungast, München 2006, © Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2002.
ISBN 978-3-492-97620-6
März 2017
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke | Agentur für Autoren und Verlage, www.AenneGlienkeAgentur.de
Redaktion: Ulrike Gallwitz, Freiburg
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Coverkonzeption: Büro Hamburg
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de
Coverabbildungen: Helsingør auf Seeland (vorne; Radius Images/Mauritius Images)
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Alle Dänen kennen Svante und seine Lieder. Er freut sich über die aufgehende Sonne, »rot und rund«, vor dem Sommerhaus am Wasser. Während Nina noch duscht, wird schon mal ein Käsebrot gefuttert. Das schmeckt. Dann singt er den Refrain:
Das Leben könnte schlechter sein.
Und gleich kommt auch der Kaffee rein.
Nina drückt ihm, noch nass und nackt, ein Küsschen auf den Mund, ehe sie ihr Haar richtet. Grund genug für die Wiederholung:
Livet er ikke det værste man har.
Og om lidt er kaffen klar.
»Svantes glücklicher Tag« steht in jedem Liederbuch und gehört zum Schulpensum. Alternative Nationalhymne wäre vielleicht zu hoch gegriffen für das Lied. Benny Andersen, Lieblingslyriker der Dänen, hat es 1973 geschrieben. Das Land erkennt sich im kleinen morgendlichen Glück von Svante wieder und fühlt sich wohl im eigenen Nest. Alte und Junge, Arme und – so wird behauptet – sogar Reiche können hier mit Käsebrot und Küsschen am frühen Morgen zufrieden und auch glücklich sein. Ob das wohl stimmt?
Dänemark hat drei Haupteingänge: bei Flensburg über die Festlandgrenze nach Jütland. Auf der Ostsee per Schiff Richtung Kopenhagen über die Fährstationen Rødby und Gedser. Vom schwedischen Malmö aus über die elegante Øresund-Brücke, das Prachtportal, direkt in die Hauptstadt. Das reicht auch für dieses überschaubare Land. Mittendrin wird die Sache allerdings etwas komplizierter.
Ob sie die Fähre schaffen, ist für Bente Antonsen und Jørgen Møller eine wichtige Frage. Die letzte zurück auf ihre kleine Insel Fejø legt ziemlich knapp nach dem Opernbesuch in Søllested ab. Oper auf dem Dorf? »Sie läuft im Kino per Liveübertragung aus dem Königlichen Theater in Kopenhagen. Als ob wir selbst dabei wären. Aber danach müssen wir uns beeilen.« Sie haben es immer geschafft, erzählen beide vor dem Haus mit Blick aufs Meer bei Kaffee und wienerbrød, dem dänischen Plundergebäck. Wenn sie mit den Kindern in Kopenhagen beim Kaffee zusammensitzen, liegt gleich viermal Inselhüpfen hinter ihnen. Von Fejø über Lolland, Falster und Farø nach Seeland.
Wollen sie aufs Festland, vielleicht wegen einer Konfirmation oder Silberhochzeit in Jütland, müssen sie sogar fünfmal über das Wasser. 406 Inseln hat dieses Land. Am Ende wird das Festlokal daran zu erkennen sein, dass vor dem Eingang ein Dannebrog, Dänemarks Nationalflagge, rot-weiß flattert. Das ist Sitte bei den kolossal vielen Familienfesten.
Auf der Karte sieht es so aus: links das länglich schmale Jütland mit der Nordsee auf der einen Seite. Auf der anderen die Ostsee samt einem Sammelsurium von Inseln und auf der größten – Seeland – am östlichen Rand schließlich Kopenhagen. Dann kommt wieder Wasser und dann Schweden. »Das Meer ist der gemeinsame Feind der Dänen, es teilt unser winziges Land in zwei Hälften«, klagte 1887 Edvard Brandes, Mitbegründer der Zeitung Politiken. Dabei hatten seine Wikingervorfahren das Inselreich doch gerade als beschlagene Seefahrer für ein paar Hundert Jahre zur Großmacht werden lassen. Danach war es permanent in Richtung »winzig« gegangen, bis Brandes die geografischen Gegebenheiten nur noch niederschmetternd fand. Die Landgrenze Jütlands zum übermächtigen deutschen Nachbarn sei »verführerisch für den Preußen, sich auch das Bajonett zu schnappen, wenn er schon das Gewehr hat«, weil das dänische Festland wie ein Wurmfortsatz an den mächtigen Nachbarn anschließt. Östlich davon sehe es mit den vielen Inseln nicht besser aus: »Die andere Hälfte liegt zerstückelt da, außerhalb Europas und des Weltverkehrs, schwer zu erreichen, unbefruchtet vom Handel, ausgeschlossen vom internationalen Verkehr und der Leuchtkraft der Ideen.«
Gelindert haben dieses Handicap in tausend Jahren dänischer Geschichte die Fähren. Dabei ging es nicht immer nur um eine möglichst schnelle Verbindung zur nächsten Insel. 1523 nutzte König Christian II. – so geht jedenfalls eine weitverbreitete Legende – die Überfahrt zwischen Jütland und Fünen zum Grübeln: Kampf gegen die Feinde auf dem Festland oder Flucht auf eine Insel? Immer wieder soll der Wankelmütige dem Fährenkapitän auf dem Kleinen Belt den Befehl zum Wenden gegeben und ihn dann widerrufen haben, ehe er sich am Ende für die Flucht entschied. Danach ging alles schief.
Dänen bemühen die Geschichte aus dem Roman »Der Fall des Königs«, geschrieben vom Nobelpreisträger Johannes V. Jensen, gern zur Illustration von Wankelmut als angeblich nationaler Eigenart, geboren aus einem unseligen Mix von Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen. Ich finde Dänen überhaupt nicht wankelmütiger als andere.
1819 zog der Schustersohn Hans Christian Andersen aus Odense auf Fünen los nach Kopenhagen auf Seeland. Der Grünschnabel träumte von Ruhm als Balletttänzer oder Schauspieler. Das mit den Märchen war dann eine Notlösung und sein erstes Hindernis auf dem Weg zum Ruhm der Große Belt. Mindestens eine Nacht hatte man vor dem Sprung über 25 Kilometer Wasser auf die Fähre zu warten, bei schlechtem Wind eventuell deutlich länger. Noch ein halbes Jahrhundert später fand es ein Reisender hier ganz unromantisch, wenn »die Überfahrt zwischen Nyborg und Korsør zwei Tage dauert und man in der Mitte bei zwanzig Grad Frost auf Sprogø übernachten muss«.
Nach und nach wurde das alles besser. Aber die Frage »Nåede de færgen?– Haben Sie die Fähre erreicht?« blieb für die Verbindung zwischen West- und Ostdänemark immer eine entscheidende. Damit überschrieb 1925 auch Johannes V. Jensen seine berühmte Novelle über Mann und Frau auf dem Weg von Jütland nach Kopenhagen. Das Paar kommt mit der Fähre auf Fünen an und jagt auf dem Motorrad halsbrecherisch über die Insel, um die nächste Überfahrt nach Seeland zu schaffen. Jeder in Dänemark kennt das Problem und die daraus folgende Gewissensfrage: Bleifuß fahren oder eventuell die nächste Fähre verpassen?
Als Jensens Schriftstellerkollege Klaus Rifbjerg knapp ein Jahrhundert später mit der Geschichte »Vi nåede færgen! – Wir haben die Fähre erreicht!« antwortete, war das schon ein wehmütiger Rückblick. Die 20 Kilometer lange Brücke über den Großen Belt hat das Land zum Jahrtausendwechsel zusammengeschweißt. Ein revolutionärer Sieg über die Geografie, diese und all die anderen gewaltigen Brücken. Das Land ist nicht mehr zerstückelt. Verkehr, Handel und auch die »Leuchtkraft der Ideen« können ungehindert fließen. Von den größeren Inseln fehlt nur dem abgelegenen Bornholm eine feste Verbindung zur Nachbarschaft. Die »Sonneninsel«, näher an Schweden und Polen als an Dänemark, steuern dafür Highspeedfähren an.
Als junger Mann mit Ehrgeiz könnte Andersen heutzutage in 75 Minuten zwischen Odense und Kopenhagen über den Belt pendeln, wie es so viele Studenten und Berufstätige täglich tun. Ihr Fahrrad nehmen sie in der Bahn mit. Oder, die bessere Variante, sie haben je eines an beiden Bahnhöfen stehen. Odense schlägt Kopenhagen um Längen als Fahrradparadies. Bekommen Studenten einen Wohnheimplatz, drückt man ihnen mit dem Zimmerschlüssel auch gleich ein Fahrrad in die Hand. Das ist in der Miete inbegriffen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen und Dänemarks CO2-Bilanz nach unten ziehen. Hinaus zum Campus geht es auf einer Fahrradautobahn mit tempoförderndem Belag, grüner Welle vor den Autos, Luftpumpenstationen und allerlei anderen Raffinessen. Wer könnte da widerstehen? Mein Freund Henning begründet seine Entscheidung für dieses Fortbewegungsmittel psychologisch: »Man kommt auf dem Rad besser gelaunt an.«
Geschwindigkeit ist eben nicht alles, und auch die Fähre ist für die Dänen immer mehr gewesen als nur ein notwendiges Übel. So feierte Rifbjerg die vielen Überfahrten als »eine Freistatt«, als »die Stunde, in der nichts Böses passieren konnte, vielleicht bis auf das Unglück, möglicherweise von einem Möwenklacks getroffen zu werden«. Danach setzt man die Reise »in behaglich aufgefrischter Stimmung« fort. Rifbjergs Kollegin Hanne Marie Svendsen sieht die Fähre »als ein bewegliches Inselreich außerhalb der Grenzen der Normalität, das zugleich sammelt und verbindet«. Im Fährenrestaurant findet sie familien Danmark vereint, ohne Unterschied von Klasse, Alter oder sonst etwas. Das Selbstbild als Familie taucht oft auf, wenn Dänen sich gegenseitig erklären, warum sie so zufrieden sind in ihrem Land.
In der Familie gibt es aber auch mal Streit. Eine Ministerin bekam vor etlichen Jahren Riesenärger, skandal!, als sie telefonisch eine Fähre vom Ablegen abhielt, um noch mitzukommen. Kronprinz Frederik bekam vor Kurzem Riesenärger, als er sich trotz Sperrung wegen Sturm über die Große-Belt-Brücke chauffieren ließ. Die anderen mussten warten. Beides gehört sich nicht, wenn alle gleich sind.
Pyt, egal, die Brücke ist ja nur sehr selten gesperrt. Die Fährenkultur lebt dennoch weiter, vor allem durch die kleineren Inseln, die für ihre Bewohner – oder auf dem Weg zum Sommerhaus – nicht anders zu erreichen sind. Hier winkt nach wie vor die Stunde, in der nichts Böses passieren kann.
Fähre und Fahrrad passen gut zu diesem Land. Aber wo anfangen, wenn man sich Dänemark nähern möchte? Im Zentrum oder in der Peripherie? Und was ist Zentrum? In Kopenhagen leben rund 20 Prozent der Bevölkerung. Andererseits ist die Hauptstadt geografisch an den Rand gequetscht. Das war nicht immer so. Auch das westliche Schweden gehörte zur einstigen Großmacht Dänemark, bis es 1658, wie später noch so vieles mehr, verloren ging.
Vielleicht ist es besser, in Dänemarks Westen zu beginnen? Dafür sollten sich alle entscheiden, die das Land radelnd erkunden möchten, denn der Wind weht meistens von der Nordsee Richtung Kopenhagen. Auf ihn kann man sich ohne einen einzigen Berg, der diesen Namen verdient, immer verlassen.
Jyderne, die Jütländer, sind sicher, dass bei ihnen das Herz des Landes schlägt und danskheden, das Dänische an sich, klarer durchkommt als bei den Hauptstädtern: ohne Lamento zupackend, traditionsbewusst und nach wie vor bäuerlich orientiert. Im südlichen Jütland, gleich hinter der Grenze zu Schleswig-Holstein, trifft man auf eine deutsche Minderheit.
Ich lebe abwechselnd in Kopenhagen und auf der Insel Falster. Aus praktischen Gründen bevorzuge ich den Fehmarnbelt als Zugang von Deutschland. Ganz Eilige ärgern sich über diese letzte Lücke nach der Großen-Belt-Verbindung und der Øresund-Brücke zwischen Dänemark und dem Rest der Welt. Ein 20 Kilometer langer Tunnel ist beschlossene Sache, wird aber nach immer neuen Verzögerungen mindestens bis 2026 auf sich warten lassen.
Damit kann ich gut leben. Rollt der Wagen in Rødby von der Fähre, verändert sich das Gefühl von Tempo: In Deutschland herrscht Stress auf der immer zu vollen Autobahn mit 180-km/h-Rasern. In Dänemark spürt man Ruhe und Gelassenheit. Hier scheinen alle zufrieden mit der gesetzlich vorgeschriebenen Langsamkeit ohne Platzangst. Immer im »menschlichen Maß«, um schon mal einen hippen und auch seriös interessanten Terminus zur Erklärung von Kopenhagens enormer Anziehungskraft vorwegzunehmen.
In dieser Gebrauchsanweisung gehen wir auf eine Dänemarkreise von Süd nach Nord mit vielen Stopps zum etwas genaueren Hinschauen. Wir kommen mit der Ostseefähre in Gedser an, bewegen uns inselweise hoch in die Metropole. Kopenhagen, oder København, möchte lässig und entspannt erobert werden. Danach, gleich nebenan, ein Besuch bei 41 Königsgräbern im Dom von Roskilde. Am Rand der Kleinstadt mischen wir uns unter die 130000 Teilnehmer von Dänemarks größtem Familienfest. Später ein Abstecher in den Osten nach Bornholm und dann mit Schwung der Sprung westwärts über den Großen und den Kleinen Belt zum Finale: Jütland verdient Zeit und lockt mit Muße an seinen Nordseestränden. Kurz vor der Grenze bei Flensburg winkt schon eine opulente Kaffeetafel – oder droht, je nachdem, wie man zu Kuchen in gigantischen Mengen steht.
In diesem Kapitel radeln wir vom südlichsten Zipfel Dänemarks bei Gedser bis nach Kopenhagen. Drei Inseln liegen vor uns: Falster, Møn und Seeland. Auf kleinen Landstraßen, Waldwegen und entlang der Küste werden der Wind, Vogelgezwitscher und das Rollen der Räder unsere Geräuschkulisse sein und ein paar Geschichten zwischendurch. In der Mitte legen wir eine Übernachtung am Præstø-Fjord ein. Da kenne ich jemanden mit einem reetgedeckten Landhaus, der den Schlüssel unter den größten Stein am Blumenbeet gelegt hat. Als wir ihn beim ersten Mal nicht finden konnten und anriefen, kam die Antwort: Schmeißt einfach eine Fensterscheibe ein. Det ordner sig. Das passt schon. Kleine Lehrstunde in entspanntem dänischen Pragmatismus.
Es folgten viele weitere. Den Kommentar überlasse ich Barack Obama, der seine »Vorliebe für gefühlsmäßig ausbalancierte Pragmatiker« bekundet hat und meinte, »wenn alle so wären wie diese Skandinavier, wäre das Ganze viel leichter«. Neben den Dänen gehören per Definition noch Schweden und Norweger zu diesem kleinen und beliebten Teil der Menschheit. Aus den anderen beiden Ländern ist schon mal zu hören, dass Skandinavien ja erst richtig bei ihnen anfange mit all der Weite, Wildnis und klirrenden Winterkälte.
Davon ist man hier an Gedser Odde, der Gedser Landzunge, im äußersten Süden vom Norden tatsächlich weit weg. Umso näher liegt Deutschland. Gerade gleitet die Kronprins Frederik nach knapp zwei Stunden Überfahrt aus Rostock in den Hafen ein. Hinter dem Schiff steigt eine Wand aus 156 Windrädern aus dem glitzernden Wasser. Über 40 Prozent des dänischen Stroms werden vom Wind produziert. 2020 soll es die Hälfte sein. Platz genug ist ja auf dem Wasser vor so viel Küste. Nicht alle Dänen sind begeistert vom Anblick dieser Windradwälder.
Wir radeln los bei schönstem Frühsommerwetter. Auch der Wind, seitlich von Ost, milde und warm auf der Haut, meint es gut mit uns. Bis zur Nordspitze Dänemarks bei Skagen hätten wir gerade mal 360 Kilometer Luftlinie vor uns. Das ganze Land ist ungefähr so groß wie Niedersachsen und hat ein Zehntel der Fläche Schwedens. Die Kornfelder am Leuchtturm von Gedser zeigen, was die Dänen mit ihrer knappen Landmenge anstellen: So gut wie jeder Quadratmeter ist für die Landwirtschaft zurechtgestutzt. Man vergisst es oft, weil die Ergebnisse überwiegend angenehm anzuschauen sind. Der Korrespondent Per Nyholm, der meistens in grandiosen Städten wie Rom oder Istanbul lebt, bereist seine Heimat oft und meint: »Es ist offenkundig, dass die dänische Natur nicht grandios ist, vielleicht abgesehen von hier und da mal einer Steilküste und der Heide. Dafür hat sie Anmut.«
Das gilt noch nicht für die riesigen Ackerflächen hier am Anfang unserer Reise. Dafür entschädigt eine andere angenehme Eigenart: Falster ist flach wie eine Flunder. Die Nachbarinsel Lolland befand der Dänemarkfan Kurt Tucholsky für »flach wie ein Eierkuchen«. Wir rollen vorbei am 15 Kilometer langen, endlos breiten Ostseestrand von Marielyst. Auf der anderen Seite vom Deich breitet sich eine Großstadt voller Sommerhäuser aus. Marielyst liegt im Winter still und gähnend leer da. In der Hochsaison füllen für ein paar Wochen 50 000 Urlauber den Ort, der aber erstaunlich still bleibt. Man kann sich auf den waldigen Grundstücken gut voreinander verstecken.
Angefangen hatte alles 1872 mit einer Sturmflut, die 80 Menschen das Leben kostete und Unmengen Sand anspülte. Plötzlich waren hier fantastische Strände. Erst mietete sich das gehobene Bürgertum im Badehotel Marielyst Østersøbad ein. Wie Waben an einen Bienenstock kamen immer und immer mehr Ferienhäuser dazu. Individualisten mögen die Nase rümpfen. Durch die historische Brille betrachtet, war die Anlage einer von vielen durchschlagenden Erfolgen der dänischen Sozialdemokraten. Schon in der Zwischenkriegszeit konnten sich auch Arbeiter einen Wochenend- und Ferienplatz in solchen Sommerfrischen leisten.
Immer noch hat Marielyst diese Aura von Gleichheit für alle, auch wenn ein bisschen optische Täuschung mitspielt. Neben hübsch angestrichenen, aber simplen alten Hütten stehen teure neue Hightechkonstruktionen. Sie mischen sich mit den billigen Häusern auf denselben genormten Grundstücksgrößen, alle mit demselben unsichtbaren Schild »Hier regieren Hängematte, Grill und Rasenmäher« über der Einfahrt. Auch für die Neubauten gilt: Man protzt nicht mit dem, was man hat. Das Grundgefühl von lighed, Gleichheit, hat mich in Dänemark ganz schnell am Haken gehabt. Da zappele ich immer noch gerne, auch wenn der Eindruck sich bei genauem Hinsehen zunehmend als Illusion erweist.
Wie viele Leute wieder ihre Dannebrog-Fahnen oder -Wimpel gehisst haben! Als Nutzer und sogar zeitweiliger Besitzer eines Sommerhauses (bei Roskilde) bin ich mit der dänischen Begeisterung für die eigene Flagge nie warm geworden. Nach ein paar Monaten waren wir uns in der Familie einig, dass der Dannebrog mitsamt seiner acht Meter hohen Fahnenstange für immer verschwinden sollte. Außerdem stand der Mast mitten auf dem Rasen und störte beim Fußballspielen.
Unsere Sommerhausnachbarn sahen mit erstaunten bis missbilligenden Blicken zu, wie ich nach dem Kippen der Stange auch noch das Betonfundament auszubuddeln begann: »Was soll das denn?« Wie kann man keinen Fahnenmast wollen und keine Fahne obendran?
Während ich an diese Episode denken muss, liefert die Natur hinter Marielyst zu den rot-weißen Farbtupfern mit lässiger Hand das erste große Panoramabild. Wir radeln, immer am Wasser entlang, durch schmale Waldstreifen im zarten Grün der noch jungen Buchenblätter, vorbei an jetzt schmalen, einsamen Stränden. Bei Corselitze klettert man zwei Meter über Felssteine hinunter, nutzt einen davon als Rückenlehne und kann ein bisschen ausruhen vom Pedaletreten. Einen schöneren Strand kenne ich in ganz Dänemark nicht. Hans Christian Andersen hat es 1850 wohl ähnlich gesehen:
Offener Strand bei Corselitze!
Aus dem Herzen muss man gehen,
Leicht so wie Berliner Witze,
Wellen uns umspielen.
Man kann schwimmen, planschen, sitzen,
Neugeboren auferstehen!
Offener Strand bei Corselitze,
Dänische Buchen schützen ihn.
Auch wenn die Reime in der deutschen Übersetzung nicht so swingen wie im Dänischen und die Polizei ausgerechnet heute eine Schießübung am Strand abhält: »Neugeboren auferstehen« ist nicht die schlechteste Verfassung für die Weiterfahrt. Mich bringt diese Umgebung zum Singen. Auf einer Lichtung breiten sich die ersten Felder in leuchtendem Gelb aus. Rechts die Ostsee, links ein Meer aus Raps. Kurz vor Stubbekøbing ragt ein großer Gedenkstein aus Granit aus dem Gras: »Hier stand das Borrehuset. Bewohnt von Marie Grubbe 1705–1718. Grundstück freigegraben 1941.«
Die Adelstochter musste als 17-Jährige den (unehelichen) Königssohn und norwegischen Statthalter Ulrik Frederik Gyldenløve heiraten. »Eine unglückliche Verbindung, beide hatten andere Partner, die Ehe wurde 1670 geschieden«, umschreibt die Schautafel den Skandal, dass eine Frau jener Zeit offen mit Liebhabern verkehrte. Nach der Scheidung brennt Marie mit dem Mann ihrer Schwester durch. Zurück kommt sie allein und bettelarm. Beides regelt umgehend die Vernunftheirat mit einem Adelsmann, bis sich Marie Grubbe in den jungen und starken Kutscher Søren Sørensen Møller verliebt. Mit 48 folgen die zweite Scheidung, die dritte Ehe und ein ganz anderes Leben. Der Ehemann trinkt viel und schlägt sich gerne. 13 Jahre lang leben beide im Borrehuset von der Arbeit am Fähranleger mit Kneipe. Dann bringt Søren im Suff einen Seemann um und verschwindet in Ketten zur Zwangsarbeit nach Kopenhagen. Marie muss weiterschuften, zum ersten Mal in ihrem Leben ohne einen Mann an der Seite.
1711 kehrt der »Nationaldichter« Ludvig Holberg auf der Flucht vor der in der Hauptstadt wütenden Pest bei ihr ein und hört die Geschichte. Marie Grubbe schließt mit dem Kommentar, dass sie trotz bitterer Armut und Erniedrigungen nichts bereue: »Ich habe richtig gewählt.« Holberg schrieb: »Sie war viel froher mit Søren als mit ihrem ersten Mann, dem Vornehmsten und Galantesten im ganzen Land.« Hans Christian Andersen schilderte Marie Grubbe hundert Jahre später als stark und selbstbewusst. Sie wird nicht ganz unkompliziert gewesen sein. Einig sind sich alle, dass der Kutscher die Adelsfrau erotisch stark angezogen haben muss. Gerade wieder sind zwei neue feministische Romane über die legendäre Frau erschienen.
Hundert Meter weiter wartet der nächste aufgegebene Fähranleger mit Geschichte, diesmal leider ohne Gedenktafel. Hier versteckten sich am 2. Oktober 1943 die Kopenhagener Familien Hannover und Marcus, alle zusammen 21 Menschen, auf einem Fischkutter. Wie fast alle dänischen Juden konnten sie sich ins neutrale und aufnahmebereite Schweden retten, als die deutschen Besatzer die Deportation angeordnet hatten – insgesamt gelang über 7000 Menschen die Flucht. Der Historiker Bo Lidegaard erzählt in »Die Ausnahme« die Geschichte dieser großartig gelungenen Rettungsaktion und dabei auch detailliert den verschlungenen Umweg der beiden Familien über Falster. Die meisten setzten nördlich von Kopenhagen über den Øresund, nachdem sie gerade noch rechtzeitig gewarnt werden konnten. Dänen halfen überall, Fischer stellten ihre Boote gegen Bezahlung bereit. Die Besatzer verfolgten die Flüchtenden nicht mit letzter Konsequenz, weil sie das recht friedfertige Verhältnis zu dem »weich« besetzten Nachbarland und willigen Lebensmittellieferanten für die Wehrmacht nicht aufs Spiel setzen wollten.
Wir lassen auch diesen Fähranleger hinter uns und fahren die Hauptstraße in Stubbekøbing ab. Gähnende Leere, wo Geschäfte und Menschen sein sollten. Auf Falster und Lolland fällt es schwerer als irgendwo sonst in Dänemark, an den Glanzbildern »alle sind gleich« und »glückliche Dänen« festzuhalten. Auf Lolland steht jedes zehnte Haus leer. Die Menschen sterben im Durchschnitt fünf Jahre eher als die Hauptstädter und haben nur halb so viel Geld im Portemonnaie wie ihre Landsleute in besser gestellten Gegenden. »Til salg«, »zum Verkauf«, steht vor sehr vielen Häusern, den besseren und den verfallenden. Man wird sie einfach nicht los. Wer einmal, zu rührend niedrigen Preisen, eine Immobilie gekauft hat, ist mit ein bisschen Pech stavnsbunden: wie ein Erbuntertäniger zum Bleiben verdammt.
Wir trudeln die paar Meter zum Hafen hinunter. Die Fähre Ida für die kurze Überfahrt Richtung Møn ist klein, die Beflaggung am Anleger und an Bord dafür riesig. Es flattert so viel in Rot-Weiß, dass man das Schiff kaum sieht. Ob heute wieder einer dieser vielen flagdage, Flaggentage, sei, mit irgendeinem royalen Geburtstag oder so, frage ich. Der junge Fährmann schüttelt beim Hochklappen des Schlagbaums den Kopf: »Das ist nur, weil wir mit Ida unterwegs sind.« Aber überall in den Gärten seien die Dannebrogs doch auch oben am Mast, wende ich ein. Eine Mitreisende hat mich mit meinem klitzekleinen Akzent als ahnungslosen Ausländer entlarvt: »So ist es Sitte bei uns, wenn der Nachbar Geburtstag hat. Einfach ein Gruß.«
Die Fähre legt an. Noch drei Kilometer auf einem Damm – links Seevögel, rechts Seevögel, in der Mitte wir mit den Insektenschwärmen –, dann ist Møn erreicht. Ein bisschen hügeliger wird es hier, aber ohne Last für uns Pedalritter. Erst bestaunen wir die Mittelalterkirche Fanefjord mit ihren 500 Jahre alten Kalkmalereien, eine von den vielen weißen dänischen Landkirchen auf einer freien Anhöhe, von denen manche kurz vor dem tausendsten Geburtstag stehen. Dann kommt das Straßenschild: »Advarsel: høns«, »Warnung: Hühner«, mit dem Piktogramm einer friedlich vor sich hinpickenden Henne. Möglicherweise ein Beispiel für den dänischen Humor, den angeblich kein Außenstehender voll erfassen kann.
In Deutschland kennt man Møn wegen Günter Grass und der Kreidefelsen. Der Dichter hatte ein kleines Fachwerkhaus an der Nordwestspitze, nicht weit von Møns munterem Hauptort Stege. Wir setzen uns für eine Kaffeepause vor der Hafenbrücke in die Sonne. Noch mal 20 Kilometer weiter, am entgegengesetzten Inselende, erhebt sich die berühmte Steilküste: Møns Klint, die 130 Meter hohe und fast sieben Kilometer lange Kreidewand, entstand vor 70 Millionen Jahren auf dem Meeresgrund. Sie zeigt Dänen die geologische Frühgeschichte ihres Landes: Schicht auf Schicht hat sich Kalk abgelagert, bis die Eiszeit die heutige Landschaft formte und der weiße Grund unter Moränen, Sand und Kies begraben war. Auf der Ostseite von Møn ist der Kalk sichtbar geblieben. Auch Schreckliches ist zu berichten über Felseinstürze. Es wird sie immer geben. Alle waren traurig, als das Wahrzeichen Sommerspiret, die allein stehende Sommerspitze, zusammenkrachte.
In Lutz Seilers Roman »Kruso« werden die Insel und ihr Naturwunder zum Synonym für Freiheit: »Das tiefe Licht der Sonne hob die Kreideklinten Møns wie ein Wunder aus dem Meer. Tatsächlich schien die Insel der Sehnsucht in den letzten Wochen gewachsen zu sein oder näher gerückt.« Von der DDR-Insel Hiddensee konnte man die weißen Felsen über 50 Kilometer Entfernung klar erkennen. Es ist nicht beim sehnsüchtigen Blick geblieben. Fischer am Møn-Hafen Klintholm haben viele Geschichten zu erzählen über die Ankunft von Flüchtlingen in Faltbooten, auf Surfbrettern und mit Trabi-Motor am Boot. Aber sie fanden auch Ertrunkene in ihren Netzen. Die hohen Zahlen überraschen: Mindestens 164 Menschen kamen bei Fluchtversuchen aus der DDR in der Ostsee um. Kopenhagen ist mit dem dänischen Teil dieses Kapitels immer »diskret« umgegangen, um den Handel mit der DDR nicht zu gefährden.
Von Møn wechseln wir über die 750 Meter lange Dronning-Alexandrine-Brücke nach Seeland. Mitten im Krieg haben die Dänen sie 1943 eingeweiht. Anderswo wurden Brücken in dieser Zeit eher weggesprengt. Aber was hieß »mitten im Krieg« in diesem Land? Als Hitler den Einmarsch der Wehrmacht in Dänemark und Norwegen am 9. April 1940 befahl, verbot die Regierung in Kopenhagen sofort jeden militärischen Widerstand. Sie garantierte den neuen Herren die Lieferung von Butter und allerlei mehr für deren Kriegswirtschaft. Dafür durfte sie nach innen halbwegs autonom weiterregieren. Das hielt zwar nicht ganz bis zur Befreiung im Mai 1945, aber sehr wenig wurde in Dänemark zerstört. In meinen ersten dänischen Jahren war eine frappierende neue Erfahrung, dass bei Familiengeschichten die Jahre 1940 bis 1945 in aller Regel keine besondere Rolle spielten. Das Alltagsleben ging für die allermeisten einfach weiter. Mit Ausnahmen, versteht sich, wie für die Juden, die 1943 fliehen mussten, und für Widerstandskämpfer, die ihr Leben riskierten und sich aktiv gegen die samarbejdspolitik, die Zusammenarbeitspolitik, ihrer Regierung mit den Nazis stellten.
Auf Seeland angekommen, sind es nur noch 20 Kilometer bis zum Tagesziel. Jetzt plötzlich, wieder zwischen Rapsfeldern, idyllischen Fachwerkhäusern mit Strohdach und Ententeich, Gutshöfen im Renaissancestil, Buchen- oder Pappelalleen, weiß gekalkten Kirchen: eine Steigung, bei der man über das Absitzen nachdenkt. Natürlich bleiben wir im Sattel, das wäre zu peinlich. Zumal eine Frau quer zu uns den Horizont von links nach rechts atemberaubend schnell abradelt. Sie muss wohl eines von diesen Rädern mit Akkuantrieb haben. Oder ist sie einfach eine von den vielen starken Däninnen?
Vor dem Etappenziel streifen wir noch kurz das verschlafene Præstø am gleichnamigen Fjord. Der Hafen ist ausschließlich mit Segel- und Motorbooten besetzt. Auf denen machen sich die Wikingergene nur noch begrenzt bemerkbar. Die lystbådehavne, wörtlich übersetzt »Lustboothäfen«, strahlen träge Lässigkeit aus. Vor allem, wenn die Segler nach dem Anlegen bei Sonne und einem Drink an Bord herumsitzen und das Gefühl für Zeit woanders deponiert zu haben scheinen.
Sonst ist das Städtchen pures 19. Jahrhundert. Oder noch früher. Kein Krieg hat in den letzten 400 Jahren Zerstörung gebracht, dafür die Pest, immer mal Brände und zuletzt am Stadtrand erstaunlich viele hässliche Super- sowie Baumärkte. Kehrt man Præstøs Aldi den Rücken zu, weist eine Weidenallee mit schmalem Trampelpfad in der Mitte den Weg zum Herrensitz Nysø. Die simple Drehung reicht, um sich 150 Jahre zurückversetzt zu fühlen. Jetzt fehlt nur noch der Märchendichter Andersen, der auf dem Weg zum Wochenmarkt den Zylinder hebt und artig »god dag« wünscht. Er verachtete die Provinzler in Præstø von Herzen, ließ sich aber gern den Sommer über von der Familie Stampe auf deren Gut beköstigen.
Nicht nur platonisch verliebte sich Andersen in den jungen Henrik Stampe. »Nie habe ich mein ganzes ungeteiltes Herz jemandem so offenbart wie Dir«, schreibt ihm der Angebetete. Andersen notiert im Tagebuch: »Henrik zärtlich zu mir. – Henrik Eifersucht leidend. – Er ist nicht wie früher. Ist die Liebe vorbei?« Der Dichter führte auch penibel und voller Gewissensbisse Buch über seinen Drang zu Autoerotik in der aufregenden Zeit, wie der Namensvetter Jens Andersen in seiner schönen Biografie über den berühmtesten aller dänischen Künstler erzählt.